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Eingeladen hat Marie-Louise niemanden, und doch klingelt ihr »Hausfreund« David, ausgestattet mit Blumen und Champagner, schon vor dem Frühstück. Sie ist noch im Pyjama. Angekündigt hat sich hingegen ihr eineiiger Zwilling, der neuerdings Marius heißt, um gemeinsam den runden Geburtstag zu feiern. Nur kommt er nicht allein. Seine Freundin Olivia weckt allerhand Begehrlichkeiten, und großen Hunger hat sie auch. Die Haushälterin Ivana führt unbemerkt Regie, behält die Ruhe und alles im Blick. Eine exzentrisch überfüllte Architektenvilla im Wienerwald wird zur Bühne dieser zunehmend schrillen Dinnerparty, die vom Pizzaservice beliefert wird. Die Stimmung ist ebenso angespannt wie erotisch aufgeladen. Es wird laufend nachgeschenkt und vor allem gestritten. Darüber, wie man wurde, was man ist, was gesagt werden darf und zu befürchten wäre und wohin das alles führen kann. Irgendwann fällt ein Schuss. Ob Marie-Luise am nächsten Tag zum Damenschach gehen kann, ist durchaus ungewiss. Dieser satirische Roman überzeichnet und entlarvt schwungvoll den grotesken Leerlauf der öffentlichen Rede. Eine intelligente, gegenwärtige Komödie in fünf Akten, die auch von den Sehnsüchten ihrer liebenswürdigen Figuren erzählt.
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Seitenzahl: 226
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Zertrampelte Rosen, zerschmetterte Vasen, eine Puppe im Pool. Fünf erhitzte Figuren feiern Geburtstag – mitten im Wald. Sie essen zu wenig, trinken zu viel, verheddern sich gesprächsweise. Und bei Tagesanbruch vermag niemand zu sagen, ob sie sich retten werden…
Finn Job
Damenschach
Roman
Verlag Klaus Wagenbach Berlin
How have you made division of yourself?
William Shakespeare, Twelfth Night
Alles wurde schlimmer, als die Frauen keine Männer mehr sein wollten. Alles wurde schlimmer, als niemand mehr bereit war, Verantwortung zu übernehmen, da unversehens alle verantwortlich waren.
Marie-Louise schaut aus dem Fenster, auf das langsam sich erhellende Grau, auf den abgedeckten Pool und auf die Kiefern, deren jede für sich recht mickrig aussieht, die in der Summe aber fast einen Wald ergeben. Wieder hat sie nicht geschlafen. Sie dehnt ihre Schultern und überlegt, ob sie mit ihren Übungen beginnen soll, verharrt aber in ihrer unbequemen Position und starrt weiter nach draußen. Der Nebel scheint direkt aus den Kiefern zu steigen.
Alles wurde schlimmer, als selbst die Männer keine Männer mehr sein wollten.
Wie ein kalter, zäher Brei steigt der Nebel empor und formiert sich mit den tiefhängenden Wolken zu einer unguten Masse, die droht, den Garten, sogar das Haus zu verschlucken.
Es kommen härtere Tage. Seit ihrer Schulzeit hatte Marie-Louise diese Gedichte nicht mehr gelesen und heute, in dieser Nacht, war sie aufgesprungen und wie von Sinnen ihre Regale abgerannt, bis sie das zerknickte Büchlein fand. Der Nebel kommt näher, und nur noch die vordersten und mickrigsten Kiefern bäumen sich gegen ihn auf. Bald wird man nichts mehr sehen, und auch sie würde verschluckt.
Niemand will mehr ein Mann sein, niemand außer ihrer Schwester.
Marie-Louise fragt sich, warum sie Ingeborg Bachmann so lange vergessen hatte und wie das möglich gewesen war. Die ganze Nacht hat sie über ihren Gedichten gesessen, gelegen, war mit ihnen gelaufen und gegen sie, hat sie umstandslos aufgesogen wie damals, als Schülerin. Wie eine Schülerin hat sie gelesen. Barfüßig geht sie über das Parkett und fragt sich, wie sie je hatte ohne Fußbodenheizung leben können, geht nicht zurück zu ihrem Bett, geht zu ihrem Schrank und in ihn hinein. Sie macht kein Licht, denn sie weiß, wie sie aussieht, oder meint es zu wissen. Es ist schließlich nicht so, dass man mit fünfzig völlig anders aussieht als noch am Tag zuvor. Marie-Louise tastet nach einem Pullover aus Merinowolle und streift ihn über ihren schmalen, noch immer festen Körper.
Dein Blick spurt im Nebel. Sieh dich nicht um. Kaffee, Musik, Fokus und Zerstreuung! Rameau vielleicht oder Mozart, etwas Heiteres, das ordnet. Aber zunächst Kaffee – nein, Espresso, denn Espresso ist Kaffee in Abstraktion, und Marie-Louise ist heute nach Abstraktion. Sie stellt die kleine dicke Tasse unter die Maschine, drückt auf einen Knopf, und während die schwarze Flüssigkeit zu tröpfeln beginnt, wird ihr bewusst, dass sie es ist, die ein Mann sein will, dass sie dafür ihr Geschlecht gar nicht wird wechseln müssen, da sie schließlich dieses Haus hat – dieses Haus, das Geld und die Affären mit Männern, Jungs, die halb so alt sind wie sie. Vielleicht ist Marie-Louise bereits ein Mann, sie hat die nötige Strenge gegen sich selbst. Eigentümlich beschwingt durch diesen Gedanken, führt sie den abstrakten Kaffee an ihre Lippen, trinkt selbstzufrieden einen kleinen Schluck und sucht auf ihrem Telefon nach einer diesem neuen Morgen würdigen Musik – Pachelbel, natürlich.
Sowie die ersten Töne des Cembalos erklingen, tänzelt Marie-Louise zurück zum Fenster, denn der Nebel hat seinen Schrecken verloren. Sie trinkt ihren Espresso und sieht ins nunmehr zartere Grau. Erst seitdem Thomas tot ist, fühlt sie sich hier wirklich zu Hause. Erst seitdem Thomas tot ist, ist dieses Haus ihr Haus, ihre Burg. Sie ist groß und weiß, ihre Burg, mit großen breiten Fenstern, flachen Dächern und hellen weiten Fluren, in die das Licht gedämpft von oben herabsickert. Manchmal sieht man auf dem Weg zum Bad einen Bussard seine Runden ziehen. Thomas hat sie entworfen, ihre Burg, aber das ist nun unerheblich.
Jag die Hunde zurück. Wirf die Fische ins Meer. Heute wird sie ihre Zwillingsschwester wiedersehen, zum ersten Mal seit Jahren wird sie sie wiedersehen. Oder vielmehr, ihren Zwillingsbruder wird sie wiedersehen – wird ihn das erste Mal sehen. Sie wird in ihr eigenes Gesicht sehen, nur dass dieses Gesicht sich dazu entschlossen hat, ein Mann zu sein. Kein Mann wie Marie-Louise es ist, sondern ein richtiger, ein leibhaftiger Mann, dem ein Bart sprießt und der als Mann angesprochen werden will. Wie wird diese Stimme klingen, die Stimme des Mannes, der ihre Schwester war und der nur wenige Minuten nach ihr, achteinhalb Minuten um genau zu sein, das Licht der Welt erblickt hat?
Es klopft an der Tür. »Madame?«
»Ich komme gleich, Ivana. Ich bin wach und brauche kein Frühstück«, hört Marie-Louise sich ungewöhnlich harsch rufen, obgleich ihre Haushälterin keine Schuld trifft. Ivana wird es nicht plötzlich einfallen, ein Mann zu sein.
Marie-Louise schlüpft in eine legere Hose, in ihre ausgetretenen Stiefel und wirft sich Thomas’ alten Mantel über. Von ihrem Balkon führt eine Treppe in den Garten, in den Nebel, die es ihr ermöglicht, Ivana zu umgehen, ihren Blick, in dem Marie-Louise einen Vorwurf erahnt, den es womöglich gar nicht gibt. Der Nebel legt sich kalt auf ihr Gesicht, und nach wenigen Metern sieht sie nur noch ihre Füße, ihre dicken, ausgetretenen Stiefel und wie sie durch das feuchte Gras irren.
Es ist noch früh, doch schon kommt der erste Anruf – Mutter. Marie-Louise wartet, bis es aufhört zu klingeln, und beeilt sich sodann, ihr Telefon auszuschalten. An Geburtstagen muss man sein Telefon ausschalten. Absichtslos hat sie den schmalen Gehweg gefunden, der vom Hauptgebäude zum Poolhaus führt, die kleinen runden Platten. Marie-Louise seufzt, denn nun wäre es sinnlos, weiterzulaufen. Sie wird erwachsen sein und zurückgehen, duschen und sich angemessen kleiden.
Sie hat das Haus, ihre Burg, schon fast erreicht, als sie den Vogel sieht. Er ist schwarz und hat einen langen roten Schnabel, gebogen wie bei einer Pestmaske. Marie-Louise denkt an Venedig, an das Umherschippern zwischen dem Palazzo Gritti, der Oper und San Michele. Immer hatte Thomas im Palazzo Gritti wohnen wollen und schließlich die Toteninsel anvisiert, hatte sie scheinbar anvisieren müssen, mitunter mehrmals während eines Aufenthalts. Irgendwann war Marie-Louise nicht mehr mitgekommen, war im Hotel geblieben und hatte ihren Stendhal gelesen – war schließlich gar nicht mehr mit Thomas ausgegangen. Italien war ihr einfach zu viel, und nur durch die Augen eines Franzosen konnte sie dieses Land überhaupt ertragen. Der Vogel zuckt, scheint noch zu leben, doch ein Flügel steht von seinem Körper ab.
»Eine Alpenkrähe. Wie hast du es denn nach Österreich geschafft?«, murmelt Marie-Louise und tritt so fest nach dem Vogel, dass er aufschreit und in den Nebel fliegt. Als sie den Aufprall hört, ist er schon verschwunden. Befriedigt läuft sie weiter, schreitet vielmehr.
»Habe großes Frühstück gemacht, Frühstück für Madame. Madame muss sich stärken für großen Tag.« Ivana hat die Hände in ihre Flanken gestemmt und sieht Marie-Louise herausfordernd an. »Happy Birthday!«
Dieses Madame hat David ihr beigebracht, um Marie-Louise zu ärgern; sie bedankt sich widerwillig und setzt sich an die Insel ihrer schlecht gealterten dänischen Küche. Warum sieht alles, sobald es zehn Jahre alt ist, so grässlich aus? Marie-Louise wird sich eine neue Küche kaufen, gleich nächste Woche.
»Soll ich Madame dicken Mantel ausziehen? Ist zu warm für dicken Mantel.«
»Nein danke, Ivana.«
Die Haushälterin stellt ein monumentales Tablett aus englischem Silber auf die Insel. »Dachte, Madame will vielleicht in Bett frühstücken. Ist okay, wenn ich Frühstück auf Tablett lasse?«
»Ist okay. Danke, Ivana.« Marie-Louise kann sich nicht erinnern, dieses Tablett je gesehen zu haben, und englisches Silber war ihr schon immer zuwider. Auch hat sie sich noch nie für Frühstück im Bett, geschweige denn für Frühstück überhaupt interessiert. Ivana geht allmählich zu weit.
»Sie müssen Palatschinken kosten. Habe ausprobiert neues Rezept.«
Marie-Louise sucht inmitten der Beeren, Croissants und Kännchen nach den Pfannkuchen, findet diese schließlich unter einem glibberigen Berg aus Marillenmarmelade und nimmt einen Bissen. »Vielen Dank, Ivana. Sehr lecker.«
Ivana lächelt und nickt, macht jedoch keine Anstalten zu verschwinden, sondern bleibt auf der anderen Seite der Insel stehen.
Wenn Madame Auer nicht bald mehr isst, wird es heute Abend wieder ein Fiasko geben. Ivana kann sich noch sehr gut an den letzten Besuch der Schwester erinnern. Sie wird nicht weichen, ehe die Herrin des Hauses, ehe Madame, wenigstens einen der Palatschinken gegessen hat. Es kostet sie schon genug Überwindung, diese Jacke zu dulden. Frau Auer wird sich erkälten, sie scheint ohnehin völlig neben der Spur; ihr mittellanges blondes Haar steht nach allen Seiten, und die dunklen Augenringe betonen ihre hohlen Wangen in ungesundem Maß. Ist das Blut an ihrem Stiefel? Ivana hat das schöne Tablett auf einem Flohmarkt gefunden und selbst bezahlt, von ihrem eigenen Geld, von dem Geld, das sie bei Frau Auer verdient. Die ganze Nacht hat Ivana sie in der Bibliothek hin und her rennen hören. Ivana liest lieber mit den Augen als mit den Füßen, doch ist Ivana nicht hier, um zu urteilen.
»Darf ich jetzt duschen gehen?«
»Madame darf alles tun, was Madame tun will.«
Marie-Louise muss lachen, muss wahrhaftig lachen und bleibt sitzen. So schlecht hat der Pfannkuchen nicht geschmeckt. Sie gießt sich ein Glas Blutorangensaft ein, ein halbes Glas.
»Hast du den selbst gepresst?«
»Nein. Schmeckt besser von Billa.«
Marie-Louise trinkt einen Schluck und mustert ihre Haushälterin, ihren grauen Rock, ihre weichen, doch niemals verwaschenen Züge, das spröde, gefärbte Haar und die Augen, Ivanas immer besonnenen Blick. Sie weiß wohl, wen sie da vor sich hat, weiß wohl, dass Ivana einzig so verstümmelt spricht, damit sie, damit Marie-Louise sich besser fühlt. Wohlan, schließlich funktioniert es oft genug.
»Ich habe eine Alpenkrähe gesehen. Und dabei dachte ich, die gäbe es nur noch in der Mongolei.«
»Alpenkrähe?« Ivana zieht zaghaft eine Augenbraue empor. »Sind Sie sicher, Madame?«
»Ziemlich sicher. Aber letztlich bist du der größere Orni.«
Jetzt ist es Ivana, die lachen muss. »Alpenkrähe es gibt nicht nur in Zentralasien. Auch in Schweiz, Irland, Marokko und Äthiopien es gibt Alpenkrähe, Madame. Auch in Spanien es gibt Alpenkrähe, in Italien und in Griechenland. In Österreich aber nicht. In Österreich es gibt nur Alpendohle.«
Ivana spricht einzig so verstümmelt, um Marie-Louise zu verhöhnen, dessen ist sie sich jetzt sicher. Wohlan, schließlich funktioniert es, Marie-Louise steht auf. Heute wird sie sich nicht weiter demütigen lassen.
»Madame, Madame! Beruhigen Sie sich.« Zumindest weiß Ivana nun, woher das Blut an Frau Auers Stiefel kommt. Sacht eilt sie um die Insel herum, hilft der Hausherrin aus der Jacke und drückt ihr auf die Schultern, drückt Marie-Louise zurück in ihren Barhocker. Alpenkrähe, Alpendohle, selbst wenn es nur eine verirrte Taube war – was macht das schon? Ivana interessiert sich überhaupt nicht für Vögel. Ivana hat bloß kein Talent zum Vergessen.
»Sie hatte einen roten Schnabel, einen langen, dünnen, roten Schnabel, gebogen wie bei einer venezianischen Pestmaske.«
»Natürlich, Madame.«
»Könnte ich noch einen Kaffee bekommen?«
»Natürlich, Madame. Wann kommt Ihre Schwester?«
»Mein Bruder kommt um 17 Uhr.«
Bruder, Schwester – was macht das schon? Ivana verschwindet hinter der Kücheninsel und hantiert an der Siebträgermaschine. Ein bisschen peinlich ist das durchaus, so eine gigantische Maschine in einem Haushalt mit nur einer Person. Die Siebträgermaschine war Frau Auers erste Anschaffung, als ihr Mann verstarb. Frau Auer hatte dann immer mehr zu kaufen begonnen und so den schönen Minimalismus ihres Gatten allmählich aufgehoben. Doch ist Ivana nicht hier, um zu urteilen. »Soll ich wieder machen Saltimbocca für Schwester?«, fragt sie. Saltimbocca ist Ivanas Leibgericht.
»Bitte nicht.«
»Hummer?«
»Meinetwegen.«
»Muss dann nochmal einkaufen allerdings.« Nun schiebt sie ihrer Madame den Kaffee entgegen, hebt erneut und bestimmter eine Braue und wartet darauf, dass Frau Auer ablehnt. Aber Frau Auer scheint sie gar nicht gehört zu haben, nicht einmal ihren Kaffee rührt sie an. »Kann sonst auch bestellen Hummer.«
»Ich mag keinen Hummer, Ivana. Das weißt du doch.«
Stimmt, das weiß Ivana.
Marie-Louise ist froh, die dicke Jacke endlich abgelegt zu haben, abgelegt bekommen zu haben. Sowie sie beginnt ihren Kaffee zu trinken, vergisst sie für einen Augenblick sogar ihren lästigen Schwesterbruder. Doch mit einem Mal schmerzt ihr Rücken und plötzlich auch ihr Kopf. Thomas war der Ansicht gewesen, unbequeme Möbel würden dem Altern vorbeugen – und tatsächlich: Er war nicht alt geworden.
»Sie haben Milchbart, Madame.«
Marie-Louise wischt sich mit dem Handrücken durch ihr Gesicht, mechanisch. »Sei so gut und bring mir ein wenig Aspirin.«
»Complex?«
»Was sonst.«
Marie-Louise weiß manchmal nicht, ob sie das saure Pulver gegen die Schmerzen nimmt oder um wach zu werden, ob sie sich die Schmerzen allmählich ausdenkt. Dr. Pichler ist der Ansicht, sie sei gesund wie eh; schon dreimal hat sie ihn in diesem Monat kommen lassen. Thomas hatte ihr seinerzeit vorgeworfen, sie würde die Ärzte zu oft konsultieren, obgleich sie sich damals nur hin und wieder hatte untersuchen lassen. Warum sie zum Arzt gehe, wenn sie doch gar keine Symptome habe, hatte er sie stets gefragt, er, der nicht einmal zum Arzt ging, wenn er Symptome hatte – er, der ständig nach San Michele fahren musste. Der Tod sei Teil des Lebens, hatte er zuweilen gesagt. Warum könne sie sich diesem Umstand nicht fügen, warum könne sie sich diesem Umstand nicht zumindest stellen? Der Tod ist dein Leben, hatte sie schließlich geantwortet.
Bei ihrem letzten gemeinsamen Besuch in der Lagune spielte man Tosca, ihre Lieblingsoper, oder, wenn Marie-Louise ehrlich ist, die einzige Oper, die sie überhaupt mag. An einem eigentümlich klaren Februarmorgen waren sie gelandet, und schon im Motoscafo begannen sie zu streiten, während der Bug das viel zu strahlend blaue Wasser durchschnitt. Am Flughafen hatten sie sich getroffen, sie war aus Wien und er aus New York angereist, doch es war ihr so vorgekommen, als hätte sie den längeren und vor allem beschwerlicheren Weg auf sich genommen, denn zumindest hätte er im Flugzeug schlafen können; in der First Class ließ es sich schließlich immer schlafen. Sie hingegen hatte einen jener Armeleuteflüge genommen, die zu völlig unzulässigen, ja im Grunde perversen Zeiten starten und in denen man ausschließlich schlecht gelaunte und etwas zu dicke Menschen antrifft, Menschen die so wirken, als hätten sie aufgrund eines Zahlendrehers im Lotto verloren, denn eigentlich wären einmal genau die Zahlen drangekommen, die sie schon seit Jahrzehnten tippten, ihre Glückszahlen, doch genau diesmal wäre ihnen ein Fehler unterlaufen, und seitdem hätten sie das Lottospiel gänzlich aufgegeben.
Für die Wahl ihres Flugs könne er nichts, hatte Thomas gesagt und sie auf die Stirn geküsst, so wie man eigentlich eine Tochter küsst. Früher hatte er dabei zumindest den Duft ihrer Haare eingesogen, selbst wenn er vorher nicht zwei Wochen auf einem anderen Kontinent verbracht hatte. Wir hätten uns einfach später im Gritti treffen können, hatte er gesagt, gelacht und ihr dann, nur weil er ihre Enttäuschung spürte, doch noch einen flüchtigen Kuss auf den Mund gegeben. Marie-Louise hatte nichts darauf erwidert, sich eine Strähne hinters Ohr geschoben und gelächelt, da es ihr peinlich war, dass sie, nur weil sie ihn früher sehen wollte, einen Billigflieger genommen hatte.
Im Motoscafo dann, die unangemessene Februarsonne reflektierte auf dem übertrieben blauen Wasser, erzählte sie ihm, was sie in den letzten Wochen unternommen hatte, und schmückte ihre Aktivitäten so weit aus, dass manch einer von Erfindungen sprechen würde.
Das sei ja allerhand, sagte er lächelnd, dass sie sogar wieder mit dem Französischlernen begonnen hätte. Er wünschte, er hätte mehr Zeit für Sprachen. Er wünschte, er hätte überhaupt mehr Zeit. Sein Haar begann an den Seiten zu ergrauen, aber das machte ihn nur attraktiver, zumal er noch immer schlank war und sein Seidenschal so lustig im Wind flatterte. Warum sie nicht lieber Italienisch lernen möge, hörte Marie-Louise aus dieser Bemerkung heraus: ihr alter Streit, den sie immer führten, wenn sie in Venedig waren, und den sie heute ganz sicher nicht führen wollte.
Marie-Louise schwieg also, doch sie schwieg wütend, und natürlich musste Thomas das bemerken, er bemerkte dergleichen immer, und das machte sie noch wütender. Ja, Marie-Louises Puls beschleunigte sich, ihr wurde plötzlich wärmer, und auch wenn es ihr vorkam, als schwiegen sie eine lange Zeit, erhob sie bereits nach einer Minute wieder ihre Stimme. Was er sich überhaupt erlaube, sie könne schließlich machen, was sie wolle, er sei ohnehin nie zu Hause, und deshalb könne sie ebenso gut Französisch oder, warum nicht, Suaheli lernen. Mit ihm könne sie schon auf Deutsch nicht sprechen, warum sollte es ausgerechnet auf Italienisch funktionieren. Und weil Thomas nun schwieg und an ihr vorbeisah, in die Sonne und in das groteske Wasser, wurde Marie-Louise noch wütender. Italienisch sei eine infantile Sprache für Leute, die zu dumm zum Konjugieren seien. Thomas schwieg weiterhin. Ich hasse dieses Land mit seinem Kitsch und seinen Kirchen, schrie sie. Ich hasse es, dass immer alle gleich laut werden, niemand größer als eins vierzig und alles voller Müll ist.
Thomas sah weiterhin an ihr vorbei. Er hatte auch früher oft an ihr vorbeigesehen, in vergleichbaren Situationen, doch normalerweise entfalteten ihre Wutausbrüche schließlich eine kathartische Wirkung. Normalerweise hätte er schließlich zurückgeschrien, und dann wären sie auf ihr Zimmer gegangen, um sich dort erst noch ein wenig weiter anzuschreien und sich hierauf die Kleider vom – wobei, das war schon sehr lange nicht mehr vorgekommen. Normalerweise jedoch, wenn Marie-Louise ihre Tiraden bis zu einem gewissen Grad der Absurdität steigerte, musste Thomas schmunzeln, was sie für einen kurzen Moment noch weiter in Rage brachte. Dann aber hätte er sie freundlich angesehen, hätte schließlich laut zu lachen begonnen und sie mit seinem Lachen angesteckt. Nun jedoch, Marie-Louise schrie etwas von einem Volk von Mussolinis und wartete insgeheim bereits auf das erlösende Lachen, nun flog nicht einmal der Anschein eines Schmunzelns über Thomas’ Lippen.
Sie hatten bereits San Giorgio Maggiore passiert, als sie George Clooney hinter ihrem Mann auftauchen sah. An der Markusbibliothek war ein gigantisches Werbeplakat montiert, von dem herab der attraktive Schauspieler mit dem graumelierten Haar in eine gläserne Espressotasse lächelte. Und im selben Moment lächelte auch Thomas, doch diesmal steckte er Marie-Louise nicht an. Ich bin ein Klischee, schoss es ihr durch den Kopf, und sie musste an sich halten, um sich nicht in das strahlend blaue Wasser zu übergeben.
Thomas schien verwirrt, weil es nun sie war, die schwieg. Auch im Hotel schwieg sie sich aus, und weil er es nicht auszuhalten schien, dass sie sich den gängigen Abläufen verweigerte, fragte er gar nicht erst, ob sie ihn bei seinem Spaziergang durch die Stadt begleiten wolle, und verließ mit einem unbeholfenen, beinahe jugendlichen Gruß ihr Zimmer. Normalerweise wäre Marie-Louise zumindest am ersten Tag mitgekommen und hätte sich doch nur geärgert, über die Touristen, aber mehr noch über die Einheimischen, die immer verbitterter wurden, je mehr sie sich dezimierten. Thomas sah sich oft Dokumentationen an, in denen die letzten Glasbläser zu Wort kommen, oder ein Gondoliere, der bereits in der neunten Generation mit seinem Ruder in den Kanälen herumstochert. Marie-Louise hatte keine Kraft mehr, so zu tun, als fände sie dergleichen wichtig, rührend oder sonst irgendetwas, nur um zwei Stunden später Thomas und schließlich sich selbst zu hassen. Marie-Louise musste ins Bett.
Als sie erwachte, dämmerte es bereits, und für einen Augenblick erschrak sie, weil sie meinte, einen schrecklichen Fehler begangen zu haben, doch dann trat sie ans Fenster, blickte über den Canal Grande auf Peggy Guggenheims kleinen Palazzo und wurde unvermittelt ruhig und überraschend klar. Und als es zaghaft an der Tür klopfte und Thomas eintrat, um sie zum Essen einzuladen, nickte sie höflich, doch ohne Reue. Er gab sich offenkundig Mühe, denn er schlug nicht wie sonst vor, eine schäbige Osteria aufzusuchen, um dort mit ihrem Erscheinen die letzten Fischer zu brüskieren, die sich um den letzten schäbigen Tisch versammelt hatten.
Nein, Thomas führte sie in ein Sternerestaurant auf der Giudecca und schob ihr zum Dessert zwei Karten für Tosca über den Tisch, woraufhin sie so laut zu lachen begann, dass die Gespräche an den Nebentischen verstummten. Thomas griff nach ihrer Hand und sagte, er könne sich durchaus noch an seine Worte erinnern. Billige Splatteroper hatte er Tosca genannt, blutrünstige Propaganda zu Napoleons Gnaden, der es an allem fehle, wofür Monteverdi einmal angetreten war, der es an allem fehle, wofür er, Thomas, die Oper liebe. Marie-Louise zog ihre Hand zurück und unterdrückte ihr Lachen so weit, dass sie wieder atmen konnte. Dann aber willigte sie ein, mit ihm ins Motoscafo zu steigen und zum Teatro La Fenice zu fahren.
Noch ehe Tosca ihren geliebten Cavaradossi betrauerte, hatte Marie-Louise beschlossen, sich scheiden zu lassen. Thomas mochte sich für einen Abend ihren Bedürfnissen fügen, das schon, doch spätestens übermorgen würde er wieder nach San Michele fahren, und es war absurd, wie lange sie diesem sentimentalen und im Grunde lächerlichen Mann hörig gewesen war. Sie wollte nicht mehr ganze Wochen allein in ihrer Villa sitzen, nur weil er in New York, Sydney oder Kuala Lumpur einen austauschbaren Glaskasten bauen ließ. Sie hatte keine Lust mehr, hierauf für ein verlängertes Wochenende in eine sterbende Stadt bestellt zu werden, um die gekränkte Ehefrau zu spielen.
Marie-Louise würde nicht zu ihrer eigenen Mutter werden. Nein, sie würde sich eine Arbeit suchen. Doch zunächst müsste sie ihren Mann loswerden.
»Ist nicht gut, ständig dieses Complex.« Ivana stellt das Glas mit dem Schmerzmittel auf die Insel und lässt es erst nach kurzem Zögern los. Frau Auer sieht heute wirklich schlecht aus. Eigentlich muss Frau Auer ins Bett.
»Du hast nur eine Tüte ins Wasser gegeben, oder? Ich schmecke das doch.«
Aber nun klingelt es, und Ivana bleibt die Antwort lieber schuldig; sie schiebt sich zur Tür.
Marie-Louise sieht dem grauen Rock hinterher und denkt nach. Sie hat doch gar nichts bestellt. Das tschechische Stahlrohrsofa ist schon letzte Woche angekommen und der Gobelin gestern, nein, vorgestern. Sie braucht wirklich eine neue Küche. Wahrscheinlich ist nur ein Zeuge Jehovas an der Tür oder ein Ökostromanbieter – Ivana weiß immer, wie mit solchen Leuten umzugehen ist. Gerade will sich Marie-Louise auf die Suche nach ein wenig mehr von dem sauren Pulver machen, als sie ihre Haushälterin einen verzückten Schrei ausstoßen hört.
»Herr Hofer! Ist schön, Sie zu sehen.«
Marie-Louise springt von ihrem Hocker und wird sich bewusst, dass der Weg zum Gästebad, der Weg zu ihrem Trakt – dass ausnahmslos jeder Weg durch das angrenzende Vestibül führt. Fluchtwege waren immer deine Schwäche, Thomas. Überhaupt versteht sie die Vorliebe für große Wohnräume ohne Unterteilungen nicht, hat sie nie verstanden: eine Architektenmanie ohne jeden Charme. Wer will denn in seiner Küche leben? Die Stimmen kommen schon näher, als sie sich der Terrassentür entsinnt, der Terrassentür, durch die sie doch gerade erst hereinspaziert ist. Hätte Ivana ihr mehr Complex gegeben, wäre sie schneller gewesen, viel schneller.
»Grüß Gott, Geburtstagskind. Nur das Beste zum Wiegenfeste! Ich hoffe, ich störe nicht. Ivana meinte, ich würde nicht stören – störe ich?« Einen großen Strauß weißer Chrysanthemen in der einen, eine Champagnerflasche in der anderen Hand, steuert David auf sie zu. »Ich dachte, ich überrasche dich zu einem kleinen Geburtstagsfrühstück. Ivana meinte, du würdest dich freuen. Sie meinte, du würdest nicht gern allein sein an deinem Geburtstag – auch, wenn du das immer behauptest.«
Ivana bemerkt wohl den strafenden Blick Marie-Louises, einen kurzen Blick nur, denn mehr wäre unhöflich gegen den Gast. Ganz klein hat sie sich gemacht hinter den riesigen Chrysanthemen, hinter dem riesigen Herrn Hofer. Eifrig läuft sie dem großen, wohlriechenden Mann hinterher.
»Mein lieber David!« Marie-Louise hat sich ebenfalls in Bewegung gesetzt, jedoch nicht in Richtung der Tür, vielmehr in Richtung des Gasts, des unverhofften Gasts. Und mit jedem Schritt, den sie sich aufeinander zu bewegen, schwindet allmählich ihr Groll. »Wie könntest du mich stören, da du doch mein neuer Ehemann bist?«, ruft sie aus und küsst ihren Freund auf die Wange.
»Dein verhinderter neuer Ehemann.«
»Es ist wirklich ein Jammer mit der Emanzipation, wo wir doch ein so hübsches Alibipaar abgegeben hätten«, sagt Marie-Louise und küsst ihn auf die andere Wange. David riecht wirklich gut, und allmählich freut sie sich, ihn zu sehen.
»Ja, es ist greislich, einfach nur greislich.«
»Ein wenig überfallen fühle ich mich allerdings«, sagt Marie-Louise und greift sich theatral in ihr wirres Haar. »Darf ich kurz duschen, mich umziehen?«
»Ausnahmsweise.« David verbeugt sich und sieht seiner Freundin hinterher, wie sie den Flur entlangläuft; sie scheint verletzlicher als sonst, weniger kontrolliert. Den Witz mit dem Ehemann ist er allmählich leid, und eigentlich weiß sie das auch. Seitdem er nicht mehr mit ihr schläft, unterstellt sie ihm fortwährend, er wäre schwul. Und er hat es mit sich machen lassen, weil er dachte, sie würde wieder damit aufhören, sie sei nur eine kurze Zeit gekränkt, man könnte die Sache schließlich und endlich vergessen. Will sie sich selbst demütigen oder ihn? »Ivana, meine Liebe«, sagt er, drückt ihr die Blumen in die Hand und legt den Champagner zu den anderen Flaschen in den Weinkühlschrank. Während die Haushälterin unterschiedliche Vasen aus unterschiedlichen Schränken zaubert und sie prüfend ins Licht hält, zündet sich David eine Zigarette an.
»Madame nicht mehr mag Rauchen im Haus«, konstatiert Ivana, allerdings bloß, um es gesagt zu haben.
»Mogst an Tschick?«
Ivana schüttelt den Kopf und stellt dem Gast einen Aschenbecher aus dickem Glas auf die Insel. Sie hasst es, wenn Herr Hofer Dialekt spricht – das weiß er doch. Herr Hofer sieht aus wie Marcello Mastroianni, zumindest für Ivana, doch selbst das erlesenste Wienerisch macht aus einem Mastroianni einen Bauerntölpel. »Sehr schön, Sie zu sehen«, sagt sie. »Ich habe große Sorgen mir gemacht.«
»Aber wir haben doch telefoniert, Ivana.« David hat sich auf einen der Hocker gesetzt und sieht dem Rauch seiner Zigarette hinterher. Immer macht Ivana sich Sorgen um ihn. »Telefoniert haben wir«, sagt er erneut. »Nimm die Art-déco-Vase, die aus Messing.«
»Madame hasst diesen Vase, ist von ihrer Mutter.«
»Eben drum, Tschopperl.«
Ivana lacht, ein wenig verächtlich, füllt das Messing mit Wasser und beeilt sich, eine große Flasche aus einem der Schränke zu holen. »Wir jetzt trinken Sliwowitz.«
Ohnehin scheint sie ständig in Bewegung. Es ist, als sei sie für das menschliche Auge zu schnell, zumindest für Davids Auge. Immer hat sie irgendetwas in der Hand, macht irgendetwas auf und zu, füllt dies auf, nimmt jenes heraus und säubert eine Oberfläche. Es sind rasante und doch beiläufige Vorgänge, Vorgänge, die umso beiläufiger vollzogen werden, je rasanter sie an David vorbeiziehen – und da steht er auch schon, der Sliwowitz. »Ich habe noch gar nichts … zu mir genommen. Bitte nur ein kleines Glas.«
Es gibt keine kleinen Gläser in Ivanas Küche.
»Prost«, sagt sie.
»Živeli!«
Sie stoßen an und werfen ihre Köpfe in ihre Nacken.
»Was wir bloß machen mit Ihnen?«
David sieht der Flasche hinterher, wie sie wieder in einem der Schränke verschwindet. »Ich hasse diese Hocker. Können wir uns nicht an den Kamin setzen oder wenigstens an den Esstisch?«