Daphnis und Chloe - Longos - E-Book

Daphnis und Chloe E-Book

Longos

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Beschreibung

Der erste erotische Roman der Weltliteratur

Kurt Steinmanns Übersetzungen von Homers «Odyssee» und «Ilias» wurden viel gelobt und ausgezeichnet. Nun zeigt er, dass er auch in Fragen der Liebe den richtigen Ton zu treffen weiß. Diese wurde selten zartfühlender, heiterer und unschuldiger beschrieben als in Longos' «Daphnis und Chloe». Als Findelkinder von zwei Hirtenfamilien aufgenommen, wachsen die beiden titelgebenden Helden in der idyllischen Berglandschaft der Insel Lesbos auf. Spielerisch entdecken sie über Jahre hinweg ihre Körper und ihre Leidenschaft, ehe sich am Ende all ihre Wünsche erfüllen. Longos` zauberhafter Liebesroman ist eines der inspirierendsten Zeugnisse antiker Literatur mit unzähligen Bearbeitungen des Themas durch Kunst, Musik und Literatur.

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Seitenzahl: 174

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«Man thut wohl, es alle Jahre einmal zu lesen.» Johann Wolfgang von Goethe

Als Findelkinder von zwei Hirtenfamilien aufgenommen, wachsen die beiden Jugendlichen Daphnis und Chloe in der idyllischen Berglandschaft der Insel Lesbos auf. Spielerisch und im Einklang mit den Jahreszeiten entdecken sie über viele Monate hinweg ihre Körper und ihre Leidenschaft. Alle anfängliche Unbeholfenheit in praktischen Fragen der Liebe weicht, als sie sich paarende Tiere zum Vorbild nehmen, die Natur gleichsam zu ihrem bukolischen Kamasutra machen.

Daphnis und Chloe, Liebes-, Entwicklungs- und Hirtenroman in einem, besticht durch seine unverkrampfte Freude am Sinnlichen und Natürlichen. Selbst präzise geschilderte Liebeslektionen, die dem Buch einst den Vorwurf der Frivolität einbrachten, sind durchdrungen von größtmöglicher Dezenz und wissender Ironie. Longos’ zartfühlendes, über 1800 Jahre altes Meisterwerk – hier vorgelegt in eine kundigen Neuübersetzung von Kurt Steinmann – singt das hohe Lied der Liebe und feiert den Zauber der Natur.

LONGOS

DAPHNIS UND CHLOE

Ein Liebesroman

Aus dem Griechischen übersetzt und mit einem Nachwortvon Kurt Steinmann

MANESSE VERLAG

Vorrede

Als ich auf Lesbos1 jagen war, erblickte ich in einem Nymphenhain2 ein Schaustück, wie ich es schöner nie gesehen hatte, ein Gemälde3, das eine Liebesgeschichte darstellte. Schön war zwar auch der Hain: baumreich, blumenprangend und üppig bewässert. Eine einzelne Quelle nährte alles, die Blumen wie die Bäume. Aber noch entzückender war das Bild, zeigte es doch außergewöhnliche Kunstfertigkeit und die Wechselfälle einer Liebe. So kamen denn aufgrund seiner hohen Wertschätzung auch viele Fremde dorthin, teils, um zu den Nymphen zu beten, teils, um das Bild zu betrachten. Gebärende Frauen waren darauf dargestellt und andere, die Babys schmucke Windeln4 anlegten, ausgesetzte Kinder, Mutterschafe, die sie nährten, Hirten, die sie aufhoben, junge Leute, die einen Liebesbund schlossen, ein Überfall von Piraten, ein Einfall von Kriegsfeinden. Während ich nun noch viele andere Szenen, die alle um die Liebe kreisten, staunend betrachtete, ergriff mich der brennende Wunsch, wetteifernd mit dem Gemälde dessen Inhalt in Worte zu fassen.

Ich machte also jemanden ausfindig, der das Bild deuten konnte, und arbeitete vier Bücher aus: als Weihegeschenk für Eros, die Nymphen und Pan5und allen Menschen zum bezaubernden Besitz, der Kranke heilen, Trauernde trösten, in der Liebe Erfahrene hold erinnern und darin noch Unerfahrene einführen wird.

Denn noch keiner ist dem Eros völlig entronnen oder wird ihm je entrinnen, solange es Schönheit gibt und Augen, die sehen. Uns6 aber verleihe der Gott, besonnen die Liebesgeschichte anderer aufzuschreiben.

Erstes Buch

Es liegt eine Stadt auf Lesbos, Mytilene7, groß und schön. Sie ist nämlich von Kanälen durchschnitten, in die das Meer sanft einströmt, und geschmückt mit Brücken aus poliertem weißem Stein. Fast glaubt man, keine Stadt zu sehen, sondern ein Eiland. Nun lag ungefähr zweihundert Stadien8 von dieser Stadt Mytilene entfernt das Landgut eines reichen Mannes, ein wunderschöner Besitz: das Wild ernährende Berge, Weizen tragende Ebenen, Rebhügel, Weideflächen für Schafe und Ziegen. Und das Meer umspülte den weichen Sand der lang gestreckten Küste.

Als auf diesem Grundstück ein Ziegenhirte namens Lamon9 einst seine Herde weidete, fand er einen kleinen Knaben, der von einer seiner Ziegen genährt wurde. Es gab da einen Eichenwald und ein dorniges Dickicht, üppig wuchernden Efeu und weiches Gras, auf dem das Bübchen lag. Dorthin lief die Ziege unablässig, verschwand oft, ließ ihr Zicklein im Stich und verweilte bei dem Kind. Lamon verfolgte dieses Hin-und-her-Rennen aufmerksam und fasste Mitleid mit dem vernachlässigten Zicklein. Und als einmal die Sonne zur Mittagszeit ihre höchste Kraft erreicht hatte, ging er der Spur nach und sah die Ziege über dem Bübchen stehen, die Beine behutsam gespreizt, um es nicht mit ihren Klauen zu zertreten und ihm keinen Schaden zuzufügen. Das Kind aber sog wie aus einer Mutterbrust die zuströmende Milch. Aus gutem Grund verblüfft, trat er nahe heran und fand ein Bübchen, groß und schön, in besseren Windeln, als es das Los eines ausgesetzten Kindes erwarten ließe. Neben ihm lagen nämlich ein purpurgefärbtes Mäntelchen, eine goldene Spange und ein Dolch mit elfenbeinernem Griff.

Lamons erster Gedanke war, einzig die Erkennungszeichen10 wegzutragen, ohne sich weiter um das Neugeborene zu kümmern. Dann aber wurde ihm bewusst, wie beschämend es wäre, wenn er weniger Menschlichkeit aufbrächte als eine Ziege, er wartete die Nacht ab und trug alles, die Erkennungszeichen, das Bübchen und die Ziege, zu Myrtale11, seiner Frau. Als diese nun verdutzt fragte, ob Ziegen auch Kinder zur Welt brächten, schilderte er ihr alles: wie er das ausgesetzte Kind gefunden, wie er sein Stillen beobachtet und wie er sich geschämt habe, es dem Tod preiszugeben. Sein Entschluss fand ihren Beifall, und so versteckten sie die Gegenstände, die zusammen mit dem Bübchen ausgesetzt worden waren, nannten ihn ihr Eigen und übertrugen der Ziege, ihn großzuziehen. Damit aber auch der Name des kleinen Buben nach einem Hirten klinge, beschlossen sie, ihn Daphnis12 zu nennen.

Schon zwei Jahre waren ins Land gegangen, als ein Schäfer eines angrenzenden Grundstücks, Dryas13 mit Namen, beim Hüten seiner Herde auf ähnliche Fundstücke und einen ähnlichen Anblick stieß. Es gab da eine Nymphengrotte: ein mächtiger Fels, der innen hohl, außen abgerundet war. Die Statuen der Nymphen waren aus Stein gefertigt, ihre Füße unbeschuht, die Arme bis zu den Schultern unverhüllt, die Haare fielen lose in den Nacken, ein Gürtel zog sich um die Hüfte, ein Lächeln umspielte die Augenbrauen. Die ganze Statuengruppe stellte einen Reigentanz dar, und genau in der Mitte des wuchtigen Felsens ging es in die Grotte. Aus einer Quelle sprudelndes Wasser bildete einen dahinfließenden Bach, sodass sich, da viel weiches Gras von dem Nass durchtränkt wurde, vor der Grotte eine saftige Wiese entlangzog. Auch Melkeimer, Querpfeifen, Pan- und Rohrflöten, Weihegeschenke älterer Hirten, hingen in der Grotte.

In dieses Nymphenheiligtum lief nun immer wieder ein Schaf, das kürzlich geworfen hatte, und erweckte dabei mehrmals einen verlorenen Eindruck. In der Absicht, es zu züchtigen und zu seinen früheren guten Gewohnheiten zurückzubringen, bog Dryas eine grüne Weidenrute wie zu einer Schlinge und ging zu dem Felsen, um es dort zu fangen. Als er aber hinzutrat, erblickte er nichts von dem, was er erwartet hatte, sondern das Schaf, wie es ganz nach Menschenart seine Zitzen zu reichlichem Aussaugen der Milch darbot, und ein Kind, das ohne zu weinen, gierig abwechselnd bald an der einen, bald an der anderen Zitze seinen Mund ansetzte, der rein und schimmernd war, da das Schaf mit seiner Zunge das Gesicht des Kindes sauber leckte, sobald es sich an der flüssigen Nahrung gesättigt hatte. Das Kind war ein Mädchen, und auch bei ihm lagen Windeln und Erkennungszeichen: ein golddurchwirktes Stirnband, vergoldete Sandalen und goldene Knöchelspangen.

Da er glaubte, die Götter hätten bei diesem Fund irgendwie die Hände mit im Spiel, und ihn das Beispiel des Schafes gelehrt hatte, Mitleid mit dem Kindlein und Liebe zu empfinden, hob er das Mädchen auf und hielt es in seiner Armbeuge, verstaute die Erkennungszeichen in seiner Hirtentasche und flehte zu den Nymphen um Segen beim Aufziehen ihres Schützlings. Und als es Zeit war, die Herde heimzutreiben, ging er in seine Hütte, erzählte seiner Frau, was er gesehen, zeigte ihr, was er gefunden hatte, gebot ihr, das Kind für ihr Töchterchen zu halten und wie ihr eigenes aufzuziehen, ohne jemandem die Wahrheit zu verraten. Nape14 nun – denn so hieß sie – war sofort wie eine Mutter, liebte das Kindlein, als fürchtete sie, vom Schaf an Ansehen übertroffen zu werden, und gab ihm ebenfalls einen Hirtennamen zur Beglaubigung, nämlich Chloe15.

Diese Kinder wuchsen sehr schnell heran, und an ihnen entfaltete sich eine Schönheit, welche die von Landkindern weit in den Schatten stellte. Und schon war Daphnis fünfzehn Jahre alt, Chloe zwei Jahre jünger, als Dryas und Lamon in ein und derselben Nacht folgenden Traum hatten: Es schien ihnen, die Nymphen – jene in der Grotte, in der die Quelle war und wo Dryas das Mädchen gefunden hatte – übergäben Daphnis und Chloe einem sehr quirligen und hübschen Knaben16, der Flügel an den Schultern hatte und kleine Pfeile samt einem winzigen Bogen trug. Dieser Knabe berührte beide mit ein und demselben Pfeil und gebot ihnen, fortan Herden zu hüten: Daphnis die Ziegen-, Chloe die Schafherde.

Nach diesem Traum waren beide, Lamon und Dryas, bedrückt, weil die Findelkinder nichts weiter als Schaf- und Ziegenhirten sein sollten, war ihnen doch aufgrund der Erkennungszeichen ein besseres Los in Aussicht gestellt, weshalb sie sie auch mit feinerer Kost ernährt und sie im Lesen und Schreiben unterrichtet hatten und in allem, was auf dem Land für schön galt. Dennoch schien es ihnen das Beste, sich der Weisung der Götter zu fügen, da die Kinder durch göttliche Vorsehung gerettet worden waren. Nachdem sie einander ihren Traum mitgeteilt und dem geflügelten Knaben – denn seinen Namen wussten sie nicht zu nennen – in der Nymphengrotte ein Opfer dargebracht hatten, schickten sie die Kinder als Hirten mit den Herden hinaus, nicht ohne sie zuvor in allen Belangen gründlich zu unterweisen: wie man vor der Mittagshitze weiden müsse und wie die Tiere hüten, wenn die Gluthitze abgeklungen ist, wann man sie zur Tränke und wann in den Pferch zur Nachtruhe treiben müsse, wo sie den Hirtenstab einzusetzen hätten und wo nur die Stimme. Die Kinder übernahmen ihre Herden voller Freude, als ob sie eine große Herrschaft anträten, und liebten die Ziegen und die Schafe mehr als sonst bei Hirten üblich; sie, weil sie einem Schaf ihre Errettung verdankte, er, weil er sich erinnerte, dass ihn als ausgesetztes Kind eine Ziege genährt hatte.

Der Lenz brach an, und alle Blumen standen bald in voller Blüte, in den Wäldern, auf den Auen und in den Bergen. Da summten nun die Bienen, die Singvögel tirilierten, und die neugeborenen Lämmer und Zicklein sprangen umher. Die Lämmer tobten sich auf den Hügeln aus, auf den Auen summten die Bienen, und die Vögel erfüllten mit bezauberndem Gesang das Dickicht. Unter dem Eindruck der gewaltigen Schönheit dieser Jahreszeit, die alles in Beschlag nahm, begannen die beiden zarten, jugendlichen Geschöpfe nachzuahmen, was sie hörten und sahen. Hörten sie die Vögel singen, sangen auch sie, sahen sie die Lämmer herumtollen, hüpften sie leichtfüßig umher, und in Nachahmung der Bienen sammelten sie Blumen, steckten sich einige davon an die Brust, flochten andere zu kleinen Kränzen und brachten sie den Nymphen dar.

Sie pflegten alles gemeinsam zu tun, da sie Seite an Seite ihre Herden hüteten. Oft trieb Daphnis die Schafe zusammen, wenn sie sich verliefen, oft jagte Chloe die keckeren Ziegen von steilen Felsen herunter. Auch wachte manchmal eines über beide Herden, während das andere in sein Spiel vertieft war. Es waren Spiele, wie sie zu Hirten und Kindern passen. Sie sammelte draußen an der einen oder anderen Stelle Asphodill17-Stängel, flocht daraus eine Grillenfalle und dachte über dieser Arbeit nicht mehr an ihre Herde. Er hingegen schnitt dünnes Schilfrohr, durchbohrte es an den Knoten, verband die Rohre mit biegsamem Wachs und übte sich bis in die Nacht im Panflöten-Spiel. Dann und wann genossen sie gemeinsam Milch und Wein und legten Speis und Trank zusammen, die sie von zu Hause mitgebracht hatten. Eher hätte man die Schafe und Ziegen voneinander getrennt erleben können als Daphnis und Chloe.

Während sie sich derartigen Spielen widmeten, ersann Eros einen Weg, die Dinge in ernstere Bahnen zu lenken, und zwar so: Eine Wölfin, die Junge aufzog, raubte oft auf den benachbarten Fluren viele Schafe aus andern Herden, da sie reichlich Futter zur Aufzucht ihrer Jungen brauchte. So kamen denn die Dorfbewohner nachts zusammen und hoben Gruben aus, einen Klafter18 breit und vier Klafter tief. Den größten Teil der ausgehobenen Erde trugen sie weit weg und verteilten sie, legten dann über das Loch lange Hölzer und streuten den Rest des Aushubs darüber, sodass es wie der frühere feste Grund aussah. Die Folge war, dass, wenn auch nur ein Hase darüber lief, er die Hölzer zerknackte, da sie zerbrechlicher als Strohhalme waren, und dann zu spät bemerkte, dass da kein fester Boden war, sondern bloß eine Nachahmung davon. Obwohl sie viele solche Gruben aushoben, in den Bergen wie in den Ebenen, glückte es ihnen nicht, die Wölfin zu fangen, denn diese spürte, wenn der Boden heimtückisch unterhöhlt war. Dagegen brachten die Gruben vielen Ziegen und Schafen den Tod und um ein Haar auch Daphnis, und das kam so:

Zwei Ziegenböcke waren hitzig geworden und kampflustig aufeinandergeprallt. Dem einen wurde bei einem heftigeren Zusammenstoß ein Horn abgebrochen, sodass er schmerzgepeinigt und wutschnaubend die Flucht ergriff. Der Sieger aber folgte ihm auf den Fuß und ließ so die Hatz kein Ende nehmen. Da es Daphnis um das zersplitterte Horn in der Seele wehtat und er sich über solch frechen Mutwillen ärgerte, ergriff er ein Stück Holz und seinen Hirtenstock und verfolgte den Verfolger. Während nun der eine zu entkommen suchte und der andere ihm zornig nachsetzte, achtete keiner genau auf das, was vor seinen Füßen lag, sondern beide stürzten in eine der Gruben, der Bock voraus und Daphnis hinterher. Daphnis rettete denn auch, dass er den Bock beim Absturz als abfedernde Stütze benutzen konnte. So wartete er nun unter Tränen, ob vielleicht jemand käme und ihn herauszöge. Chloe, die den Vorfall gesehen hatte, fand sich schnellen Laufs bei der Grube ein, und als sie entdeckte, dass er noch am Leben war, rief sie einen Rinderhirten von den benachbarten Feldern zu Hilfe. Dieser kam herüber und suchte nach einem langen Seil, an dem Daphnis sich festhalten, hochziehen lassen und so aus der Grube herausklettern sollte. Seil war keines da, Chloe aber löste ihr Brustband und gab es dem Rinderhirten, um es hinabzulassen. Und so standen die beiden am Grubenrand und zogen, während Daphnis sich mit den Händen an das Band klammerte und mit ihm nach oben kam. Sie zogen auch den unglücklichen Bock herauf, dem beide Hörner zu Bruch gegangen waren: So unerbittlich hatte der besiegte Bock sich an ihm gerächt. Diesen schenkten sie nun dem Rinderhirten zur Belohnung für die Lebensrettung, damit er ihn opfere, und denen zu Hause wollten sie, sollte jemand einen Ziegenbock vermissen, einen Angriff von Wölfen vorflunkern. Sie selbst kehrten zurück und inspizierten ihre Schaf- und Ziegenherde, und als sie sicher waren, dass Ziegen und Schafe wie üblich friedlich weideten, setzten sie sich an einem Eichenstamm nieder und sahen nach, ob Daphnis bei seinem Sturz nicht irgendeinen Teil seines Leibes blutig geschlagen hatte. Es fand sich kein Zeichen einer Wunde, keine Spur von Blut, nur die Haare waren, wie der übrige Leib, mit Erde und Schlamm beschmutzt. Er hielt es also für das Beste, sich zu waschen, ehe Lamon und Myrtale gewahr wurden, was passiert war.

Als er nun mit Chloe die Nymphengrotte erreicht hatte, gab er ihr sein Hemd und die Hirtentasche, damit sie darauf aufpasste, trat an die Quelle und wusch sich das Haar und den ganzen Leib. Sein Haar war schwarz und dicht und sein Leib von der Sonne braun gebrannt. Es sah beinahe aus, als habe er diese Tönung durch den Schatten seines Haares angenommen. Wie Chloes Augen auf ihm ruhten, schien ihr Daphnis schön, und da er ihr zuvor nie schön vorgekommen war, dachte sie, das Bad bewirke diese Schönheit. Als sie ihm den Rücken abwusch, gab das weiche Fleisch unter ihren Händen nach, weshalb sie sich öfter unauffällig betastete, um zu prüfen, ob ihr Leib wohl zarter sei. Darauf trieben sie – denn die Sonne war am Sinken – ihre Herden heim, und Chloe verspürte nichts Außergewöhnliches, außer dass sie begehrte, Daphnis wieder beim Baden zu sehen. Als sie am nächsten Tag die Weide erreicht hatten, setzte sich Daphnis unter die gewohnte Eiche, spielte auf seiner Panflöte und behielt zugleich die Ziegen im Auge, die sich hingelagert hatten und seinen Melodien zu lauschen schienen. Chloe saß in seiner Nähe und hielt zwar ihren Blick ebenfalls auf ihre Schafherde gerichtet, mehr aber noch sah sie zu Daphnis hin, wiederum schien er ihr schön, wie er so auf der Flöte blies, und diesmal hielt sie die Musik für die Ursache seiner Schönheit, weshalb sie nach ihm auch selbst zur Syrinx19 griff, um zu schauen, ob sie wohl ebenfalls schön würde. Sie überredete ihn, wieder zu baden, sah ihm beim Baden zu, berührte ihn, nachdem sie ihm zugesehen hatte, und als sie wieder fortging, zollte sie ihm Lob – und dieses Lob war der Liebe Anfang. Was nun da mit ihr geschah, wusste die junge Frau nicht, denn sie war in ländlicher Ahnungslosigkeit aufgewachsen und hatte den Ausdruck «Liebe» noch nicht einmal aus dem Mund eines andern gehört. Missbehagen beherrschte ihre Seele, sie war nicht mehr Herrin über ihre Blicke und sprach ständig von Daphnis. Essen und Trinken bedeuteten ihr nichts, nachts lag sie wach, ihre Herde behandelte sie geringschätzig, lachte das eine, weinte das andere Mal, bald schlief sie, bald schnellte sie auf, ihr Gesicht war bleich, dann wieder feurig rot. Nicht einmal eine von einer Bremse gestochene Kuh benimmt sich so sonderbar.20

Einst, als sie allein war, überkamen sie auch Gedanken wie diese: «Jetzt bin ich krank, aber was für eine Krankheit das ist, weiß ich nicht. Ich fühle Schmerz und trage doch keine Wunde an mir. Ich bin betrübt, und doch ist mir kein Schaf verloren gegangen. Ich glühe und sitze doch tief im Schatten. Wie viele Dornensträucher haben mich schon zerkratzt, und nie brach ich in Tränen aus. Wie viele Bienen haben ihren Stachel in mich gebohrt, und doch habe ich es geschluckt. Was mir aber jetzt das Herz zersticht, ist bitterer als all das. Schön ist Daphnis, aber auch die Blumen sind es. Schön tönt seine Syrinx, aber schön auch das Lied der Nachtigallen: Doch an jenen Zauber verschwende ich keinen Gedanken. Wäre ich nur seine Syrinx, damit er seinen Atem in mich hauchte! Wäre ich doch eine Ziege, um von ihm geweidet zu werden! O gemeines Wasser! Nur den Daphnis hast du schön gemacht, ich aber habe umsonst in dir gebadet. Mit mir geht es zu Ende, ihr lieben Nymphen, auch ihr könnt das Mädchen nicht retten, das unter eurer Fürsorge heranwuchs. Wer wird euch bekränzen, wenn ich dahin bin? Wer wird die unglücklichen Lämmer aufziehen? Wer nach der schwatzhaften Grille schauen, die ich unter großer Mühsal gefangen habe, damit sie mich zirpend vor der Grotte in den Schlaf einlullt? Jetzt aber finde ich keinen Schlaf wegen Daphnis, und die Grille schwatzt vergeblich.»

So ging es ihr, so redete sie, als sie nach dem Begriff «Liebe» suchte. Dorkon aber, der Rinderhirte, der Daphnis und den Bock aus der Grube hochgezogen hatte, ein junger Bursche, dem der Bart eben zu sprießen begonnen hatte und der die Werke der Liebe und auch deren Namen kannte, hatte sich an jenem Tag augenblicklich in Chloe verliebt; nachdem mehrere Tage verstrichen waren, wurde die Liebesglut in seinem Herzen sogar noch heftiger, und da er von Daphnis – er schien ihm nur ein Knabe zu sein – nichts hielt, beschloss er, mit Geschenken oder Gewalt zu seinem Ziel zu gelangen. Er brachte ihnen demnach zuerst Geschenke: ihm eine Hirtenflöte mit neun Pfeifen, die mit Erz verbunden waren statt mit Wachs, ihr aber ein Hirschkalbfell, wie es Bacchantinnen21 tragen und das aussah, als wären die Flecken mit Farben aufgemalt. Als er nun deswegen bei ihnen als Freund galt, schenkte er Daphnis nach und nach keine Aufmerksamkeit mehr, Chloe aber brachte er Tag für Tag einen weichen Käse, einen blumenreichen Kranz oder einen reifen Apfel. Einmal brachte er ihr sogar ein neugeborenes Kalb und einen hölzernen, mit Gold verzierten Trinkbecher, dazu Nestlinge von Bergvögeln. Sie, die keine Ahnung von der raffinierten Vorgehensweise eines Liebenden hatte, nahm die Geschenke freudig an, und noch mehr freute es sie, dass auch sie Daphnis nun etwas schenken konnte. Eines Tages – denn auch Daphnis musste endlich die Werke der Liebe kennenlernen – kam es zwischen Dorkon und ihm zum Wettstreit, wer der Schönere sei,22 und Chloe waltete als Schiedsrichterin. Zur Belohnung sollte Chloe den Sieger küssen.

Dorkon sprach zuerst, und zwar so: «Ich, Mädchen, ich bin größer als Daphnis, und ich bin ein Rinderhirte, er aber ist nur ein Ziegenhirte, und folglich bin ich in dem Maße besser als er, wie Rinder besser sind als Ziegen. Außerdem bin ich weiß wie Milch, mein Haar ist amberfarben wie ein erntereifes Kornfeld, und mich hat eine Mutter genährt, nicht ein Tier. Der da aber ist klein und bartlos wie eine Frau und dunkel wie ein Wolf. Er weidet Ziegenböcke und stinkt entsetzlich nach ihnen, und er ist arm, sodass er es sich nicht einmal leisten kann, einen Hund zu halten. Und wenn gar wahr ist, was die Leute sagen, dass ihm eine Ziege ihre Milch gegeben hat, so unterscheidet er sich in nichts von den Böcklein.» Dies und Ähnliches sprach Dorkon, und dann war Daphnis an der Reihe: «Mich hat eine Ziege gesäugt – wie den Zeus. Ich weide Böcke, und die sind größer als Dorkons Rinder, keineswegs aber stinke ich nach ihnen, so wenig wie Pan, obgleich der größtenteils ein Bock ist. Ich habe genug Käse, am Spieß gebackenes Brot23 und Weißwein, wie es auch ein wohlhabender Bauer besitzt. Bartlos bin ich – ebenso wie Dionysos; dunkel bin ich – ebenso wie die Hyazinthe: Mächtiger ist Dionysos als die Satyrn24