Daringham Hall - Die Entscheidung - Kathryn Taylor - E-Book

Daringham Hall - Die Entscheidung E-Book

Kathryn Taylor

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Beschreibung

Ben Sterling kann es sich selbst kaum erklären: Seit er auf Daringham Hall eintraf, ist nichts in seinem Leben mehr wie vorher. Und das liegt nicht nur daran, dass seine lange verschollene Familie ihn auf ihrem Landsitz in East Anglia so unerwartet freundlich aufnimmt - auch seine Gefühle für die Tierärztin Kate bringen den sonst so beherrschten Unternehmer aus dem Gleichgewicht. Soll er wirklich glauben, dass er in England eine Zukunft hat? Noch ahnt er nicht, dass jemand im Hintergrund weiter Intrigen spinnt - und dass ausgerechnet Kate ihn dazu bringen wird, seine Entscheidung für Daringham Hall noch einmal zu überdenken ...

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Inhalt

Cover

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

1

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Über die Autorin

Kathryn Taylor begann schon als Kind zu schreiben – ihre erste Geschichte veröffentlichte sie bereits mit elf. Von da an wusste sie, dass sie irgendwann als Schriftstellerin ihr Geld verdienen wollte. Nach einigen beruflichen Umwegen und einem privaten Happy End ging ihr Traum in Erfüllung: Bereits mit ihrem zweiten Roman hatte sie nicht nur viele begeisterte Leser im In-und Ausland gewonnen, sie eroberte auch prompt Platz 2 der Spiegel-Bestsellerliste. Mit Daringham Hall – Das Erbe startet sie eine neue Trilogie über große Gefühle und lang verborgene Geheimnisse auf einem englischen Landgut.

KATHRYN TAYLOR

DIEENTSCHEIDUNG

Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titelillustration: Sandra Taufer, München, unter Verwendung von

Bildern von © SalomeNJ/shutterstock; Gyvafoto/shutterstock;

Sari ONeal/shutterstock; LanKS/shutterstock; Alex Sun/shutterstock

Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München

E-Book-Produktion: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-0691-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Greta

Prolog

»Oh mein Gott.« Fassungslos starrte Kate auf die Papiere, die vor ihr auf dem zierlichen Sekretär lagen. Sie hatte den Inhalt nur überflogen, aber es war völlig eindeutig, was sie da in den Händen hielt. Jetzt ließ sich das, was sie so lange für unmöglich gehalten hatte, nicht mehr länger leugnen.

Tränen traten ihr in die Augen, während sie mit den Fingerspitzen über das Foto des Jungen fuhr, das an eine der Unterlagen angeheftet war. Wie hatte das nur all die Jahre verborgen bleiben können?

Irgendwo im Herrenhaus schlug eine Tür zu, und das Geräusch erinnerte Kate daran, dass sie sich ohne Erlaubnis hier oben in den Privaträumen der Camdens aufhielt. Eilig schob sie die Unterlagen zusammen und steckte sie zurück in den vergilbten braunen Umschlag. Sie hatte ihn in einer der Schubladen des Sekretärs gefunden, weiter unten zwar, aber dennoch nicht versteckt. Jeder hätte zufällig darauf stoßen und die Ungeheuerlichkeit aufdecken können, die sein Inhalt enthüllte. Oder … Kate schluckte schwer. Vielleicht hatten sie es alle gewusst und dennoch geschwiegen?

Sie nahm den Umschlag und wollte gehen, zögerte jedoch, weil sie plötzlich daran denken musste, welche Konsequenzen ihr Handeln haben würde. Die Papiere mochten geschehenes Unrecht beweisen, aber sie einfach mitzunehmen war ein Vertrauensbruch, den die Camdens ihr vielleicht nicht verzeihen würden. Das konnte ihr Verhältnis zu ihnen ein für alle Mal zerstören. Und Ben? Was würde er tun, wenn er es erfuhr?

Kates Hände fingen an zu zittern, und Angst legte sich wie eine eisige Faust um ihr Herz. Aber sie hatte keine Wahl. Die Wahrheit musste endlich ans Licht …

»Miss Huckley?«

Erschrocken fuhr Kate herum und sah, dass eines der Hausmädchen in der halb geöffneten Tür stand und sie erstaunt betrachtete, weil sie sich – zu Recht – fragte, was sie hier tat. Kate presste den Umschlag gegen ihre Brust und lächelte gezwungen.

»Oh, hallo Alice. Ich bin schon wieder weg. Ich … sollte nur schnell etwas holen«, log sie und ging dabei zur Tür, schob sich hastig an der jungen Frau vorbei, um ihrem skeptischen Blick zu entgehen. Dann lief sie durch den Flur zu der schmalen Dienstbotentreppe, über die sie gekommen war.

Sie hatte diesen Weg schon oft benutzt, kannte ihn genauso gut wie jeden anderen Winkel von Daringham Hall, in dem sie sich immer zuhause gefühlt hatte. Als sie jetzt die Stufen hinunterlief, kam sie sich jedoch vor wie eine Diebin, die sich davonstahl aus einer Welt, die nicht mehr ihre war.

Am Treppenabsatz hielt sie kurz inne, dann wandte sie sich nach rechts und ging auf direktem Weg in die Bibliothek.

In dem großen, lichtdurchfluteten Raum, den Kate immer schon besonders geliebt hatte, saß allerdings nur Sir Rupert in einem der Ledersessel, und der bullige Butler Kirkby, der stets ein bisschen wirkte, als würde er mit seinen muskulösen Armen seine schwarzweiße Uniform sprengen, räumte gerade gebrauchte Teetassen auf ein Tablett. Beide Männer blickten überrascht auf, weil Kate – entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten – nicht angeklopft hatte.

»Wo ist Ben?«, fragte sie, zu aufgewühlt für höfliche Floskeln. »War er hier?«

Sir Rupert nickte. »Er ist eben erst gegangen. Du müsstest ihn noch erwischen, wenn du dich beeilst. Ich glaube, er wollte in den Garten.«

Das Lächeln, das über das Gesicht des alten Baronets huschte, war sofort wieder verschwunden, und sein Blick ging ins Leere. Der sonst so aufrechte, rüstige Mann wirkte verhärmt, saß gebeugt da.

Es brach Kate das Herz, ihn so zu sehen. Aber ging es ihnen nicht allen so? Sie selbst stand auch noch unter Schock, konnte nicht fassen, was passiert war. Niemand von ihnen wusste, wie es jetzt weitergehen sollte mit Daringham Hall. Nur eins stand fest: dass ganz viel von Ben abhing und davon, wie er sich entscheiden würde …

»Alles in Ordnung, Kate?«, fragte Sir Rupert, und als sie aufblickte, betrachtete er sie besorgt. »Was hast du da?«

Kate drückte den Umschlag instinktiv ein bisschen dichter an ihre Brust.

»Ich … muss wirklich dringend mit Ben sprechen«, sagte sie ausweichend und nickte Sir Rupert nur noch kurz zu, bevor sie schnell Kirkby folgte, der das volle Teetablett raustrug.

Sie benutzte den Seitenausgang, von dem sie glaubte, dass auch Ben ihn genommen hatte, und betrat den prächtigen, parkähnlichen Garten. Doch heute hatte sie keinen Blick für die wunderschön arrangierten Blumenbeete und die kunstvoll in Form gebrachten Buchsbaumhecken, sondern nur für den großen, dunkelblonden Mann, der das Ende des Gartens schon fast erreicht hatte. Er ging nicht schnell, schlenderte eher nachdenklich über den Weg, der zu den Ställen führte.

Kates Herz stolperte kurz, so wie immer, wenn sie ihn sah. Dann erinnerte sie sich wieder daran, weshalb sie ihn sprechen musste, und eilte ihm nach.

»Ben!«

Er hörte sie und drehte sich um, und als ihre Blicke sich trafen, spürte Kate ein Ziehen in der Brust, das ihr für einen Moment den Atem nahm. Innerlich bebend ging sie auf ihn zu und blieb vor ihm stehen, so dicht, dass sie nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um ihn zu berühren. Was sie erschreckend gerne getan hätte.

»Wo willst du hin?«, erkundigte sie sich atemlos.

Er zuckte mit den Schultern. »Ich muss ein bisschen laufen, den Kopf freikriegen«, erwiderte er ausweichend, und Kate spürte einen Stich, als sie die dunklen Schatten unter seinen Augen sah. Das Ganze ging ihm viel näher, als er sie alle glauben machen wollte. »Und was tust du hier?«

Sie holte tief Luft. »Ich … denke, das hier solltest du lesen«, sagte sie und reichte ihm den Umschlag, den er mit einem Stirnrunzeln entgegennahm.

»Was ist das?«

Kate antwortete nicht darauf, sah nur schweigend zu, wie er die Papiere herauszog. Der Ausdruck auf seinem Gesicht wechselte, während er las, wurde dunkler. Wütender. Als er schließlich den Kopf wieder hob und sie seinen grauen Augen begegnete, spürte Kate, wie sich erneut eine eisige Hand um ihr Herz legte.

Weil sie nicht sicher war, ob sie je wieder so viel für einen Mann empfinden würde wie für Ben. Und weil es sehr gut sein konnte, dass nicht nur Daringham Hall, sondern auch sie ihn gerade für immer verloren hatte.

1

Drei Wochen zuvor

Die Tür knarrte leise, als Ben sie aufzog, und er wollte in den dunklen Spalt dahinter blicken. Doch ihm quoll plötzlich eine so dicke Staubwolke entgegen, dass er husten musste. Dieser verdammte alte Kasten! Gab es hier eigentlich irgendetwas, das nicht verstaub …

Etwas fiel ihm entgegen, streifte seine Schulter, bevor er eine Chance hatte, es abzuwehren. Dann ertönte ein lautes Klirren, das durch den langen Flur hallte, und Scherben verteilten sich um seine Füße.

Es dauerte einen Moment, bis er begriff, was passiert war: Hinter der Tür, die er in der Flurwand entdeckt hatte – eine von diesen übertapezierten Geheimtüren, die man auf den ersten Blick kaum wahrnahm –, befand sich eine kleine Kammer. Sie war leer – bis auf den altmodischen Strohbesen, der mit dem Kopf nach oben darin gestanden hatte und herausgefallen war. Ohne den Kontakt mit Bens Schulter wäre vielleicht nichts passiert, aber so war er abgelenkt worden und hatte eine große Vase vom Sideboard neben der Tür gestoßen. Und diese, ein ziemliches Ungetüm aus blau-weißem Porzellan, lag jetzt in tausend Teile zerbrochen neben dem Besen auf dem feinen Fischgrätparkett.

»Sch …«

Ben konnte sich gerade noch davon abhalten, das Wort auszusprechen, das ihm auf der Zunge lag, weil sich eilige Schritte näherten. Eine Sekunde später bog der bullige Butler der Camdens um die Ecke, dicht gefolgt von einem der Hausmädchen, das ihn mit großen Augen anstarrte. Vermutlich nicht mal wegen des plötzlichen Lärms – so guckten die Angestellten auf Daringham Hall Ben meistens an, wenn sie ihm begegneten.

»Alles in Ordnung, Mr Sterling?«, fragte Kirkby auf seine stets ruhige, höfliche Art. Doch auf seiner breiten Stirn hatte sich eine senkrechte Falte gebildet, was Ben nicht unbedingt als gutes Zeichen wertete. Wahrscheinlich hatte er gerade irgendein unwiederbringlich kostbares Einzelstück zerstört und sich damit noch ein bisschen unbeliebter gemacht, als er sowieso schon war. Falls das überhaupt ging …

»Mit mir schon, aber ich fürchte, von der Vase kann man das nicht behaupten«, erwiderte er und verzog das Gesicht.

Kirkby entlockte diese Bemerkung jedoch kein Lächeln. »Hol ein Kehrblech«, wies er die junge Frau an, die loslief und wenige Augenblicke später mit dem Gewünschten und einem kleinen Eimer zurück war.

Rasch begann sie damit, die Scherben um Ben herum aufzusammeln, und auch wenn ihm klar war, dass das zu ihrem Job gehörte, fühlte er sich dadurch noch ein bisschen schlechter.

»Geben Sie her, ich mach das!« Er wollte nach dem Kehrblech greifen, doch die junge Frau zog es weg und starrte ihn verunsichert an.

»Jemma erledigt das schon, Mr Sterling«, erklärte Kirkby mit fester, fast ein bisschen scharfer Stimme, und Ben gab den Versuch auf, die Regeln in diesem Haus außer Kraft zu setzen. Stattdessen trat er einen Schritt zurück, um Jemma – genau, das war ihr Name – etwas mehr Platz zu machen. Über ihren Kopf hinweg blickte er Kirkby an, der ihn mit einem wachsamen Ausdruck in den Augen musterte.

»Haben Sie etwas gesucht, Mr Sterling?«

Gute Frage, dachte Ben. Natürlich suchte er etwas, nämlich Antworten. Aber er hatte nicht erwartet, sie hinter dieser komischen Geheimtür in einem der langen Flure des Herrenhauses zu finden. Die hatte er lediglich aus Neugier geöffnet – etwas, das dem Butler offenbar ein Dorn im Auge war. Ben würde sich jedoch nicht davon abhalten lassen, den Dingen auf den Grund zu gehen, solange er hier war. Deshalb erwiderte er Kirkbys Blick herausfordernd.

»Keinen Besen jedenfalls«, gab er zurück, weil er nicht fand, dass er dem Butler eine Erklärung schuldete, und deutete auf den Eimer, den das Hausmädchen gerade wegtrug. »Den Schaden werde ich natürlich bezahlen.« Selbst wenn das Ding teuer gewesen sein sollte, war er vermögend genug dafür. Und auf gar keinen Fall würde er den Camdens etwas schuldig bleiben.

Kirkby schien das jedoch nicht zu entspannen, denn auf seiner breiten Stirn bildete sich erneut eine tiefe Falte.

»Die Vase war ein Erbstück aus dem Besitz von Lady Eliza«, erklärte er, und Ben stöhnte innerlich auf. Die Aussicht, sich wegen dieses Missgeschicks jetzt auch noch mit der Grand Dame von Daringham Hall auseinandersetzen zu müssen, war nicht besonders verlockend.

Seit er sich vor drei Tagen entschieden hatte, das Angebot von Ralph Camden anzunehmen und auf unbestimmte Zeit zu bleiben, begegneten ihm die Familienmitglieder sehr unterschiedlich. Die meisten schienen nicht recht zu wissen, wie sie mit ihm umgehen sollten, aber sie versuchten zumindest, ihm neutral zu begegnen. Nicht so Lady Eliza. Die alte Dame stritt nach wie vor vehement ab, dass Ben ihr ältester Enkel war, und hatte bei ihren wenigen Begegnungen keinen Hehl daraus gemacht, wie sehr sie ihn hasste. Aber letztlich war Ben das nur recht. Bei ihr wusste er wenigstens, woran er war. Die anderen richtig einzuschätzen fiel ihm viel schwerer.

»Es ist trotzdem nicht zu ändern, dass dieses Erbstück jetzt leider kaputt ist«, erwiderte er. »Sie soll mir einfach eine Summe nennen, vielleicht tröstet sie das über den Verlust hinweg.«

Kirkby schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, das wird …«

»Das wird nicht nötig sein«, sagte eine Stimme hinter ihnen, und als Ben sich umdrehte, sah er Ivy Carter-Andrews auf sie zukommen, die älteste Tochter von Ralph Camdens Schwester Claire. Ihr rotes, kurzes Haar leuchtete im Licht der Nachmittagssonne, die durch das Fenster am Ende des Flurs fiel, und auf ihrem Gesicht lag wie so oft ein resoluter Ausdruck, als sie sich jetzt vor dem Butler aufbaute. »Wir werden Grandma das nämlich gar nicht erzählen. So was kann doch mal passieren, und ganz abgesehen davon, dass das Ding scheußlich war, wird ihr wahrscheinlich nicht mal auffallen, dass es weg ist. Also müssen wir sie deshalb doch nicht unnötig aufregen, nicht wahr, Kirkby?«

»Wie Sie meinen, Miss Ivy«, antwortete der Butler mit einem Gesichtsausdruck, der nicht verriet, was er von dieser Lösung hielt.

»Und falls sie es doch merkt«, fuhr Ivy fort und hob die Hand, als Ben gerade ansetzen wollte zu protestieren, »dann erklären Sie ihr einfach, dass ich es war.«

Sie grinste, als Ben sie genauso verständnislos ansah wie Kirkby, und bückte sich dann nach dem Besen, betrachtete ihn versonnen. »Das war meine Falle für Kate. Wir haben als Kinder oft hier gespielt, und ich erinnere mich noch gut, dass ich damals diesen Besen in die kleine Kammer gestellt habe. Er sollte herausfallen und Kate erschrecken, wenn sie die Tür öffnet. Aber sie hat das offenbar nie entdeckt, und dann habe ich es irgendwann vergessen.« Entschuldigend zuckte sie mit den Schultern. »Wenn also jemand für die kaputte Vase verantwortlich ist, dann ich.«

Ben blickte in ihr offenes, lächelndes Gesicht und schaffte es nicht, an seinem Misstrauen festzuhalten. Es war schwer, sich Ivys sympathischer Art zu entziehen, und er fühlte sich ihr näher als den anderen, vielleicht weil er ihr tatsächlich glauben konnte, dass sie ihn als neuen Cousin akzeptierte. Und weil sie Kates beste Freundin war …

Kate. Allein die Erwähnung ihres Namens löste wieder dieses Gefühl in ihm aus, das ihn einfach nicht losließ, spülte es zurück an die Oberfläche. Dass er etwas verloren hatte, dass etwas fehlte, das vorher richtig gewesen war. Und jetzt falsch. Dabei war es verdammt noch mal genau umgekehrt!

»Ich wusste gar nicht, dass du so eine Fallenstellerin bist. Die arme Kate kann einem ja richtig leidtun.« Er lächelte, selbst wenn es ihm schwerfiel, und hasste es, dass er sich sehr gerne danach erkundigt hätte, wie es Kate ging. Und er hasste es noch mehr, dass er es nicht wusste, weil er sie seit jenem Abend vor drei Tagen nicht mehr gesehen hatte.

»Oh, du solltest sie nicht unterschätzen. Sie hat gelernt, gut auf sich achtzugeben«, erwiderte Ivy, ernster als vorher, und in ihren Worten schien eine Warnung zu liegen. Doch dann lächelte sie wieder und fügte hinzu: »Ich bin übrigens gerade auf dem Weg zu ihr in den Stall. Falls du ihr deine Beileidsbekundungen selbst überbringen willst, könntest du mich begleiten.«

Ben war versucht. Sehr versucht sogar. Aber dann fiel ihm wieder ein, dass es nicht ging.

»Ich bin mit Ralph verabredet«, sagte er und sah auf seine Armbanduhr, die anzeigte, dass es genau halb vier Uhr war. »Jetzt.«

»Oh.« Ivy lächelte weiter, doch Ben war plötzlich sicher, dass er Sorge in ihren Augen sah. »Das ist natürlich wichtiger.«

»Soll ich Ihnen den Weg zu Mr Camdens Arbeitszimmer zeigen?«, erkundigte sich Kirkby, der immer noch bei ihnen stand und offenbar sehr genau wusste, wo das Treffen stattfinden sollte. Ben wunderte das kein bisschen. Dem Butler schien absolut nichts zu entgehen, was in diesem Haus passierte.

Er schüttelte den Kopf. »Nicht nötig. Ich weiß, wo es ist.«

Das stimmte nicht ganz. Er war zwar ziemlich sicher, dass sich das Zimmer am Ende des Flurs befand, der an diesen angrenzte. Aber dieses Haus war erschreckend groß, und vielleicht täuschte er sich auch. Was allerdings nicht bedeutete, dass er deshalb Kirkbys Hilfe annehmen würde, der ohnehin schon ständig und überall auftauchte, wo er gerade war. Fast so, als hätte er den Auftrag, ihn zu überwachen – ein Gedanke, der Ben nicht gefiel und über den er nachgrübelte, als er allein durch den Flur weiterging.

Konnte er es den Camdens verdenken, wenn es so war? Wahrscheinlich trauten sie ihm so wenig wie er ihnen. Dafür war die Situation für sie alle einfach noch zu neu und ungewohnt.

Ben schüttelte den Kopf, weil er manchmal selbst nicht begriff, was ihn zu diesem Schritt bewogen hatte. Als er vor gut einem Monat hergekommen war, hatte er nur ein einziges Ziel gekannt: Rache. Er war ganz sicher gewesen, dass die Camdens seinen Hass verdienten. Jetzt war er das nicht mehr, deshalb hatte er seinen Plan auf Eis gelegt – zumindest so lange, bis er herausgefunden hatte, ob er dieser Familie trauen konnte. Seiner Familie, auch wenn es ihm immer noch schwer fiel, das zu glauben. Und vor allem seinem Vater, der ihm so unerwartet freundlich begegnet war.

Meinte Ralph Camden es wirklich ernst mit seinem Angebot und wollte eine Beziehung zu ihm aufbauen? Oder war das alles nur ein Trick, um ihn einzulullen und von seinem eigentlichen Vorhaben abzulenken? Vielleicht würde ihm das Gespräch, zu dem er unterwegs war, mehr Aufschluss darüber geben.

Als Ben sich dem Zimmer näherte, von dem er annahm, dass es Ralphs Arbeitszimmer war, sah er, dass die Tür einen Spalt weit aufstand. Jemand sprach drinnen, er hörte deutlich eine Stimme und erkannte, dass es Ralphs war, was ihn unwillkürlich lächeln ließ. Dann hatte sein Orientierungssinn ihn also nicht im Stich gelassen.

Er beschleunigte seine Schritte, nur um vor der Tür abrupt wieder stehen zu bleiben.

»Wenn dieser Kerl glaubt, dass er uns kleinkriegen kann, dann hat er sich getäuscht«, hörte er Ralph voller Verachtung sagen. »Er macht sich wichtig, das ist alles. Aber er wird sehr bald herausfinden, was mit Leuten passiert, die sich mit uns anlegen.«

2

Bens Augen wurden schmal. Also doch, dachte er, und ein Teil von ihm war befriedigt. Den schmerzenden Stich, den ihm das Gehörte versetzte, ignorierte er, konzentrierte sich lieber auf die Wut, die in ihm aufstieg. Mit einem Ruck stieß er die Tür auf und betrat das Zimmer.

Regale aus poliertem Holz bedeckten die Wände, und vor dem breit eingefassten Kamin standen zwei wuchtige Ohrensessel und ein niedriger Tisch. Das Herzstück war jedoch der große Schreibtisch, an dem Ralph Camden saß und telefonierte. Als er Ben sah, erschien ein überraschter Ausdruck auf seinem Gesicht.

»Ich muss Schluss machen, Timothy. Wir sehen uns ja gleich, wenn du zurück bist«, sagte er und legte das schnurlose Telefon zurück auf den Schreibtisch. Dann erhob er sich und kam Ben mit einem Lächeln entgegen.

Er war dreiundfünfzig, das wusste Ben inzwischen, doch seine leicht gebeugten Schultern und sein müder Blick ließen ihn älter wirken, und sein dunkelblondes Haar schimmerte an den Schläfen grau.

»Schön, dass du Zeit hast!« Er streckte Ben die Hand entgegen. »Ich habe schon sehr auf die Gelegenheit gewartet, in Ruhe mit dir zu …«

»Das Theater kannst du dir sparen!«, fiel Ben ihm eisig ins Wort. »Ich mache mich nur wichtig, ja?« Er hob die Augenbrauen. »Wenn ihr das tatsächlich glaubt, dann habt ihr, fürchte ich, keine Ahnung, mit wem ihr euch angelegt habt.«

Für einen Moment starrte der ältere Mann ihn verständnislos an, dann schien er zu begreifen.

»Aber damit meinte ich doch nicht dich!«, erklärte er hastig. »Ich habe über Lewis Barton gesprochen, unseren Nachbarn drüben in Shaw Abbey. Timothy war gerade bei ihm, um mit ihm zu sprechen, weil dieser streitsüchtige Wichtigtuer schon wieder Klage gegen uns eingereicht hat. Aber er musste unverrichteter Dinge wieder fahren, weil Barton an einer gütlichen Einigung nicht interessiert ist. Darüber haben wir geredet. Mit dir hatte das gar nichts zu tun.«

Ben musterte Ralph weiter misstrauisch, doch in dessen Augen spiegelte sich nur ehrliche Bestürzung. Und die Camdens lagen tatsächlich in einem Dauer-Clinch mit dem wohlhabenden Industriellen, dem das Nachbargut gehörte, das hatte er schon mitbekommen. War das wirklich die Erklärung? Oder war Ralph Camden einfach ein sehr guter Lügner?

»Ben, du bist mir wichtig – sehr wichtig sogar«, versicherte Ralph ihm, weil er offenbar erkannte, was in ihm vorging, und für einen Moment sah es so aus, als wollte er eine Hand auf Bens Arm legen. Doch in letzter Sekunde ließ er es, lächelte stattdessen zaghaft. »Ich habe ernst gemeint, was ich gesagt habe. Ich will neu anfangen und mehr über dich wissen.« Er deutete auf die beiden Sessel vor dem Kamin. »Willst du dich nicht setzen?«

Nach kurzem Zögern folgte Ben der Aufforderung, weil er den kalten Zorn, mit dem er das Zimmer betreten hatte, nicht mehr festhalten konnte. Besser, er kehrte zu seiner ursprünglichen Taktik zurück und wartete erst einmal ab.

»Möchtest du Tee?« Ralph deutete auf die Kanne und die Tassen, die schon auf dem niedrigen Tisch bereitstanden, doch dann hielt er inne, so als wäre ihm gerade ein Gedanke gekommen. »Oder lieber einen Kaffee? Ich kann nach Kirkby klingeln und dir einen bringen lassen.«

»Nicht nötig.« Ben bevorzugte tatsächlich starken Espresso, das wusste er wieder, seit seine Amnesie verschwunden war. Aber er hatte sich während der vergangenen Wochen an das Lieblingsgetränk der Engländer gewöhnt. »Tee ist gut.«

Als sie beide ihre Tassen in der Hand hielten, entstand ein unangenehmes Schweigen, in dem sie sich nur abwartend betrachteten. Schließlich räusperte sich Ralph.

»Ich hoffe, du hattest inzwischen Zeit, dich ein bisschen einzurichten«, sagte er. »Ist alles zu deiner Zufriedenheit?«

Ben bejahte die Frage knapp, auch wenn es eigentlich nicht stimmte. Er war nicht zufrieden, das war er nie. Er wollte immer weiter, brauchte neue Herausforderungen, neue Ziele. Dann hatte man nicht so viel Zeit, über das nachzudenken, was man nicht erreicht hatte. Oder was einem immer fehlen würde …

»Und deine Firma?«, hakte Ralph nach, offenbar entschlossen, eine Unterhaltung zu führen. »Ich nehme an, du hast alles Notwendige veranlasst, damit du deinen Aufenthalt hier noch etwas verlängern kannst?«

Wieder nickte Ben. »Mein Geschäftspartner hat sich entschlossen, ebenfalls hierzubleiben. Er hat uns im ›Three Crowns‹ ein vorläufiges Büro eingerichtet, von dem aus wir arbeiten können.« Ein leichtes Lächeln spielte um seine Lippen, als er an das Chaos in Peters Zimmer dachte. Aber er vertraute seinem Freund; wenn Pete sagte, dass es funktionierte, dann tat es das auch. »Für eine Weile wird es gehen.«

»Das hoffe ich.« Ralph trank einen Schluck Tee und räusperte sich dann erneut. »Ich hätte diese Unterhaltung mit dir gerne schon früher geführt, Ben.«

Seine Stimme klang nicht vorwurfsvoll, sondern eher bedauernd, aber Ben hatte trotzdem das Gefühl, sich verteidigen zu müssen. Denn er war es gewesen, der dieses Treffen während der letzten drei Tage immer wieder verschoben hatte.

»Ich war viel unterwegs, um alles zu regeln«, erklärte er.

Ralph stieß einen Laut irgendwo zwischen Seufzen und Stöhnen aus und stand auf, ging mit schweren Schritten zu dem polierten Holzglobus, der in einer Ecke stand. Er klappte die Kuppel auf, in der sich eine kleine, aber offensichtlich gut sortierte Bar befand, und nahm eine Flasche Scotch heraus, mit der er zu seinem Platz zurückkehrte.

»Regeln musste ich auch einiges«, meinte er und goss sich einen guten Schuss des goldenen Hochprozentigen in den Tee. Dann hob er die Flasche und blickte Ben an. »Möchtest du auch?«

Ben schüttelte den Kopf und bemerkte erst jetzt, dass unter Ralphs Auge permanent ein Muskel zuckte. Er wirkte angespannt und fahrig, lachte nervös, während er die Flasche wieder abstellte.

»Sieh es einem alten Mann nach. Es hilft ein bisschen.« Er nahm einen großen Schluck und verzog das Gesicht. Dann schüttelte er den Kopf, und seine Augen baten um Entschuldigung, als er erneut Bens Blick suchte. »Im Moment ist alles furchtbar kompliziert.«

Das verstand Ben durchaus, schließlich war er nicht das einzige Problem, mit dem Ralph Camden gerade konfrontiert war. Dennoch wusste er nicht, ob er Mitleid mit ihm hatte. Das hing davon ab, ob er tatsächlich so unwissend war, wie er tat, wenn es um Bens Mutter ging. Vielleicht hatte er ja verdient, was ihm gerade widerfuhr, weil er Jane Sterlings Liebe grausam mit Füßen getreten hatte?

»Ich hätte damals nicht so früh aufgeben dürfen«, sagte Ralph, so als hätte er Bens Gedanken gelesen. »Ich hätte mich dafür interessieren müssen, was aus deiner Mutter geworden ist, nachdem wir uns getrennt hatten. Dann wäre vielleicht vieles anders gekommen.« Er lächelte zaghaft. »Aber jetzt habe ich wenigstens die Chance, dich kennenzulernen. Ich möchte so viel über dich wissen. Wie es dir ergangen ist und was du gemacht hast in all den Jahren. Das heißt, wenn du bereit bist, es mir zu erzählen.«

Ben konnte sich nicht dazu bringen, das Lächeln zu erwidern. »Das weiß ich noch nicht«, erklärte er und ließ in seiner Antwort mitschwingen, was alles noch zwischen ihnen stand.

Sichtlich enttäuscht stellte Ralph die Teetasse zurück auf den Tisch und lehnte sich zurück. »Du glaubst mir nicht.«

Es war eine Feststellung, aber Ben widersprach nicht, sondern musterte den älteren Mann schweigend, mit dem ihn optisch außer der gleichen hellen Haarfarbe nur wenig verband.

Nein, er glaubte das alles nicht.

Aber aus irgendeinem Grund hätte er es gerne geglaubt.

Er wusste selbst nicht, woher dieses plötzliche Bedürfnis kam, doch es war da wie eine unterschwellige Strömung, in die er immer mehr geriet, je länger er sich hier aufhielt. Er konnte Ralph Camden einfach nicht mehr so hassen wie am Anfang, als nur Wut in ihm gewesen war.

Es würde jedoch mehr brauchen als ein paar lahme Entschuldigungen, um sein Misstrauen endgültig zu überwinden. Er brauchte Fakten. Beweise dafür, dass er sich tatsächlich in den Camdens getäuscht hatte und dass sein Vater es ernst meinte mit einem Neuanfang. Deshalb fixierte Ben ihn mit der gleichen Unerbittlichkeit, die ihn bisher heil durchs Leben gebracht hatte.

»Mal angenommen, ich würde dir glauben, dass du tatsächlich nichts von meiner Existenz wusstest – was mir immer noch schwerfällt. Aber nur mal angenommen, ich tue es und gehe davon aus, dass das alles ein großes Missverständnis war. Wie weit würdest du gehen, um mich davon zu überzeugen?«

Ralph hatte bei Bens ersten Worten hoffnungsvoll ausgesehen, doch jetzt wirkte er eher ratlos.

»Wie weit müsste ich denn gehen?«, fragte er zurück, dann aber schien ihm zu dämmern, was Ben meinte. Er räusperte sich erneut. »Wenn es etwas gibt, was du wissen willst, irgendetwas, das ich tun kann, um es dir zu beweisen, dann sag es.«

Der Ausdruck in seinen blauen Augen war aufrichtig, aber Ben musste sich nicht auf sein Gefühl verlassen. Er konnte es testen.

»Ich würde gerne die Bücher sehen. Die Bilanzen. Alles, was mit dem Haus und dem Gut zusammenhängt«, sagte er und beobachtete Ralphs Gesicht, registrierte, wie kurz Erschrecken in seinen Augen aufblitzte. »Ich denke, wenn ich mir ein Bild davon machen soll, wie ihr hier lebt, dann wäre das ein guter Anfang«, schob er erklärend hinterher, doch Ralph verstand natürlich, was hinter seiner Forderung eigentlich stand – und dass er sich jetzt in einer Zwickmühle befand. Denn wenn er Ben Zugang zu derart sensiblen Daten gewährte, machte er sich angreifbar und musste darauf vertrauen, dass Ben sein Wissen nicht gegen die Familie einsetzte.

Nein, das tut er bestimmt nicht, dachte Ben und musste gegen eine unerwartete Welle der Enttäuschung ankämpfen.

Doch Ralph zuckte nur mit den Schultern. »Warum nicht?«

Er erhob sich und ging zum Schreibtisch hinüber, wo er etwas in den Computer eintippte, der zwischen all den Antiquitäten im Raum wie ein Mahnmal der Moderne wirkte.

»Hier.« Er trat einen Schritt zur Seite und deutete auf den Bildschirm. »Es ist alles in diesem Programm gespeichert. Sieh es dir an, wenn es dir so wichtig ist.«

Während Ben aufstand und um den Schreibtisch herumging, ließ er Ralph nicht aus den Augen. An dessen einladender Haltung änderte sich jedoch nichts, auch nicht, als er tatsächlich in dem großen Schreibtischstuhl Platz nahm und die geöffnete Datei auf dem Bildschirm betrachtete. Es war ein veraltetes Bilanzprogramm, das kaum noch benutzt wurde, aber Ben kannte es, weil er schon mal damit zu tun gehabt hatte. Rasch klickte er sich durch einige Seiten und orientierte sich grob über die Art, wie die Buchführung erfasst war.

»Du kennst dich mit diesen Dingen aus, oder?«, fragte Ralph, und Ben sah ihn überrascht an, weil die Frage hoffnungsvoll geklungen hatte. Fast so, als würde er sich selbst nicht als Experten sehen. Als würde er … Hilfe brauchen?

»Ein bisschen«, antwortete Ben und konzentrierte sich wieder auf die Zahlenkolonnen. Ihm blieben jedoch nur wenige Minuten, bevor ein lautes Klopfen an der Tür erklang.

»Ja, bitte?«, rief Ralph und lächelte, als sein jüngerer Bruder Timothy hereinkam. »Oh, du bist schon zurück.«

»Allerdings«, erwiderte Timothy grimmig. »Und Kirkby hat mir gesagt, dass du dich mit Mr Sterling triffst. Ich denke, bei dieser Unterhaltung sollte ich wohl besser dabei sei …«

Er hielt inne, weil ihm offenbar erst jetzt klar wurde, was Ben hinter Ralphs Schreibtisch tat. »Was zeigst du ihm denn da?«

»Ben möchte die Bücher sehen«, informierte Ralph ihn. »Damit er sich ein Bild machen kann, wie wir hier …«

»Und das erlaubst du ihm?«, unterbrach Timothy ihn völlig entgeistert. »Bist du wahnsinnig?«

Er richtete den Blick wieder auf Ben, und in seinen Augen stand kalte Wut. »Ich habe keine Ahnung, wie Sie meinen Bruder dazu gebracht haben, Mr Sterling, aber als Rechtsvertreter der Familie muss ich Sie bitten, eine derartige Einmischung in unsere Privatangelegenheiten unverzüglich zu unterlassen.« Die Drohung in seiner Stimme war nicht zu überhören.

»Timothy!« Ralph klang alarmiert, doch er konnte seinen Bruder nicht aufhalten, der mit großen Schritten hinter den Schreibtisch trat und sich vor Ben aufbaute.

»Und mit unverzüglich meine ich jetzt sofort«, stellte er noch einmal klar, obwohl Ben die Botschaft schon beim ersten Mal verstanden hatte. Er sollte den Platz am Computer räumen, war aber sehr versucht, diese Aufforderung einfach zu ignorieren und zu sehen, wie weit Timothy gehen würde, um ihn dazu zu bringen.

Der hochgewachsene Jurist, der schlanker und sehr viel agiler war als sein älterer Bruder, zeigte seine Feindseligkeit vielleicht nicht ganz so offen wie Lady Eliza. Doch wie seine Mutter hatte auch er von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, dass er Ben als Bedrohung sah und wieder vertreiben wollte. Aber Ablehnung war Ben gewohnt, damit rechnete er. Und wenn Timothy Streit wollte, dann konnte er ihn gerne haben. Langsam erhob er sich, ohne dem Blick des anderen Mannes auszuweichen.

»Ich weiß, es fällt dir schwer, das einzugestehen, Onkel«, er betonte das letzte Wort und hob herausfordernd die Augenbrauen, »aber ich bin jetzt ein Teil dieser Familie. Und was mein Vater mit mir bespricht oder mir gestattet, geht nur ihn und mich etwas an.«

Der Ausdruck in Timothys Augen wurde noch eine Spur grimmiger, und er reckte sich ein bisschen, um die Tatsache auszugleichen, dass er nicht ganz an Bens Größe heranreichte.

»Oh doch, es geht mich etwas an«, gab er scharf zurück. »Und es braucht mehr als einen Gentest, um Mitglied dieser Familie zu werden, Mr Sterling. Sie sind hier Gast, mehr nicht. Und jetzt seien Sie bitte so gut und entschuldigen uns – ich möchte mit meinem Bruder reden. Unter vier Augen.«

Bens Misstrauen erwachte sofort wieder. War das hier verabredet, ein abgekartetes Spiel? Hielt ihm der eine Bruder ein Stück Speck hin, nur damit es ihm der andere gleich anschließend wieder wegnehmen konnte?

Er drehte sich zu seinem Vater um, der noch nichts zu Timothys Ausbruch gesagt hatte – und vergaß seinen Ärger für einen Moment, als er sah, dass Ralph erschreckend blass geworden war. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn, und er hielt sich am Schreibtisch fest, so als brauchte er eine Stütze.

»Alles in Ordnung?«, fragte Ben besorgt.

Ralph nickte. »Es geht gleich wieder«, sagte er und verzog den Mund zu etwas, das wohl ein entschuldigendes Lächeln sein sollte.

Ben schob ihm trotzdem den Schreibtischstuhl hin, und er setzte sich, sichtlich dankbar. Die Farbe kehrte nach einem Moment zurück in seine Wangen, aber er wirkte dennoch sehr angespannt und erschöpft – was Timothy zum Anlass für einen neuen Angriff nahm.

»Sie regen ihn auf«, warf er Ben vor und funkelte ihn vorwurfsvoll an. »Ich denke, es ist besser, wenn Sie jetzt gehen.«

Ben zögerte und sah zu Ralph hinunter, erwartete eigentlich, dass er jetzt endlich etwas sagte. Dass er seinem Bruder widersprach.

Doch im Blick seines Vaters entdeckte er nur Bedauern und eine Hilflosigkeit, die ihn gleichzeitig rührte und abstieß, ihn zwischen Sorge und erneut aufkeimender Wut schwanken ließ. Hatte Ralph keine Kraft, zu seinem Wort zu stehen, weil es ihm schlecht ging? Oder war er generell nicht stark genug, um sich für das einzusetzen, was ihm wichtig war?

Ben wurde bewusst, dass er sich auf gefährlichem Terrain bewegte, denn beide Möglichkeiten gingen ihm unerwartet nah. Plötzlich war er sich nicht mehr sicher, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte.

»Ja, vielleicht ist das wirklich besser«, knurrte er unwillig und ging mit großen Schritten zur Tür, wo er beinahe mit Kirkby zusammenstieß, der wie immer zu spüren schien, wann er gebraucht wurde.

»Ben!«, hörte er seinen Vater rufen, doch er ignorierte es, drängte sich an dem bulligen Butler vorbei. Er wollte nur noch raus aus diesem alten Kasten, lief durch den Flur hinunter ins Erdgeschoss und von dort auf die Terrasse, atmete tief durch.

Das war es, was er brauchte. Luft. Und einen kühlen Kopf. Den kühlen Kopf, der ihm abhandengekommen zu sein schien, seit er in England war. Oder eigentlich, seit Kate Huckley ihn mit diesem Kaminholz niedergeschlagen und ihm für Wochen das Gedächtnis geraubt hatte. Jetzt wusste er zwar wieder alles, aber einige wirklich wichtige Dinge hatte er offenbar trotzdem vergessen. Wie zum Beispiel, dass es nicht gut war, andere Menschen zu nah an sich heranzulassen …

Sein Handy klingelte in seiner Hemdtasche, und er zog es heraus. Als er sah, dass es Peter war, der ihn erreichen wollte, verdrehte er genervt die Augen. Aber er ging trotzdem dran.

»Und? Hast du das Gespräch mit Daddy schon hinter dir?« Peter sprach ziemlich laut, um die Stimmen zu übertönen, die im Hintergrund zu hören waren. Offenbar saß er – wie fast immer in den letzten Tagen – im Schankraum des »Three Crowns« in Salter’s End.

»Ja.« Ben gab sich keine Mühe zu verbergen, dass er eigentlich keine Lust hatte, darüber zu reden. Aber das schreckte Peter nicht ab.

»Na, dann ist es hoffentlich genauso mies gelaufen, wie du klingst, und du hast endlich geblickt, dass du hier nichts verloren hast. Lange halte ich es nämlich wirklich nicht mehr aus in diesem Kaff und auf dieser gottverdammten Insel. Ich werde noch wahnsinnig, wenn ich …«

»Ja, ich weiß«, stöhnte Ben, weil er diese Tirade wirklich nicht mehr hören konnte.

»Gut«, stellte Peter trocken fest. »Dann tu etwas dagegen und lass uns endlich nach Hause fliegen.«

Er gab einfach nicht auf, und für einen kurzen Moment war Ben tatsächlich versucht nachzugeben. Wenn er zurück in New York war, würde sich bestimmt alles wieder normal anfühlen. So, wie es immer gewesen war. Dann würde das, was hier passiert war, zu einer Erinnerung verblassen, die er irgendwann vergessen konnte …

Irritiert blieb er stehen, als hinter einer Baumgruppe die Stallgebäude auftauchten. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er die ganze Zeit weitergelaufen war. Zielstrebig fast, so als hätten seine Füße sich den Weg allein gesucht.

War Kate immer noch im Stall, so wie Ivy gesagt hatte?

»Ben Sterling, verdammt, jetzt antworte doch!« Petes Stimme klang jetzt wirklich ungehalten. »Was ist mit New York?«

»Ich ruf dich später noch mal an«, entgegnete Ben ausweichend und legte auf. Dann setzte er sich mit neuer Entschlossenheit in Bewegung und ging weiter auf die Ställe zu.

3

Peter Adams starrte wütend auf sein Smartphone. Er hätte es sehr gerne gegen die Wand geworfen oder seinem Frust auf eine andere drastische Weise Luft gemacht. Aber er wollte nicht, dass die Leute ihn noch mehr anstarrten, als sie das ohnehin schon taten.

Es waren nicht mehr so viele wie gerade eben noch, denn eine große Gruppe älterer englischer Frauen, die ziemlich lautstark an zusammengeschobenen Tischen Tee getrunken hatten, war gerade wieder in den bereitstehenden Reisebus gestiegen und weitergefahren. Übrig waren jetzt noch einige Dorfbewohner, die Peter hier schon öfter gesehen hatte. Und er war ziemlich sicher, dass sie sehr genau beobachteten, was er tat. Deshalb steckte er das Telefon wieder ein und ließ sich mit einem tiefen Seufzen zurück auf den Barhocker sinken, von dem er sich während des Gesprächs mit Ben erhoben hatte.

»Schlechte Neuigkeiten?« Tilly Fletcher, die hinter der Theke stand und Gläser und Tassen spülte, sah ihn fragend an.

»Eher gar keine Neuigkeiten«, erwiderte er schlecht gelaunt. »Ich hatte gedacht, dass Ben nach dem Gespräch mit seinem Vater endlich einsieht, dass er hier nichts verloren hat. Aber er ist so verdammt stur!« Er ballte die Hände zu Fäusten und presste die Zähne aufeinander. »Oh, ich könnte ihn manchmal!«

»Noch eine Cola?«, erkundigte sich Tilly und nahm das leere Glas, das vor Peter gestanden hatte. Er nickte und sah zu, wie sie es nachfüllte. Sie war schnell und sehr routiniert in allem, was sie tat, aber das musste sie auch sein, schließlich schmiss sie den Laden hier meistens ganz allein. Eben gerade noch hatte er heimlich bewundert, wie spielend sie mit den zahlreichen Bestellungen fertig geworden war, die die große Reisegruppe aufgegeben hatte. Obwohl … Er betrachtete sie genauer und sah, dass ihre Wangen erhitzt waren. Außerdem hatten sich einige Strähnen aus ihren sonst streng zurückgesteckten Haaren gelöst und umrahmten ihr Gesicht. Was es nicht unbedingt hässlicher machte …

»Ihr Freund hatte also ein Gespräch mit Ralph Camden?«, hakte sie nach, als sie das Cola-Glas vor ihm abstellte, und eine Sekunde lang ärgerte Peter sich, dass er es überhaupt erwähnt hatte.

Es war eigentlich nicht seine Art, mit Fremden über persönliche Dinge zu diskutieren. Aber Tilly gehörte zu den ganz wenigen hier, mit denen er – abgesehen von Ben – überhaupt Lust hatte zu reden. Und sie kannte die ganze Geschichte ohnehin, weil sie gut mit dieser Tierärztin befreundet war, an der Ben so einen Narren gefressen hatte. Deshalb nickte er.

»Und wie lief es?«, wollte sie wissen.

»Keine Ahnung, hat er nicht gesagt. Aber ich glaube, nicht so gut.« Peter trank einen Schluck von der Cola. »Das hoffe ich jedenfalls. Er will mich später noch mal anrufen, und dann rede ich noch mal mit ihm. Vielleicht kommt er endlich zur Vernunft, und wir können abreisen.«

Tilly schien ihm da nicht zuzustimmen, denn ihre Stirn bewölkte sich, während sie mit einem Lappen über die Theke wischte.

»Wieso lassen Sie Ihren Freund nicht einfach in Ruhe? Haben Sie nicht gesagt, dass er vierunddreißig ist? Dann braucht er ganz sicher keinen Babysitter mehr, sondern ist sehr gut in der Lage, selbst zu entscheiden, wo es ihm gefällt.«

Ihre blauen Augen funkelten ihn herausfordernd an, wie immer, wenn sie etwas ärgerte, das er gesagt hatte, und Peter spürte Wut in sich aufsteigen. Eigentlich stritt er sich gerne mit ihr – es war das Salz in der Suppe seines unfreiwilligen Aufenthaltes in diesem furchtbaren Kaff, in dem er sich sonst schon längst zu Tode gelangweilt hätte. Doch bei diesem Thema war er empfindlich.

»Es gefällt Ben hier aber nicht.«

»Ihm nicht oder Ihnen nicht?« Die resolute Engländerin hob die Augenbrauen, und ihr Gesichtsausdruck wurde spöttisch. »Wissen Sie, wenn ich es nicht besser wüsste, dann könnte ich fast den Eindruck bekommen, Sie halten sich für seinen siamesischen Zwilling. Aber Sie sind nicht an ihm festgewachsen. Wenn Sie unbedingt zurück in Ihr geliebtes New York wollen, dann fliegen Sie doch einfach ohne ihn.«

»Das geht nicht.«

»Ach, und warum nicht?«

»Weil … er mich braucht.« Peter fühlte sich auf unangenehme Weise ertappt. Eigentlich war es nämlich genau umgekehrt. Er brauchte Ben, denn die Software-Firma, die sie zusammen gegründet hatten und die Peters ganzer Lebensinhalt war, funktionierte nur deshalb so gut, weil Ben sich um alle Außenkontakte kümmerte und die Verhandlungen mit ihren Geschäftspartnern führte. Dafür musste man charmant sein und Charisma besitzen, so wie Ben. Er hatte kein Problem mit Menschen, aber Peter schon. Leute lagen ihm einfach nicht, er arbeitete lieber mit Computern – und er hatte überhaupt keine Lust, etwas daran zu ändern. Es sollte endlich alles wieder so sein wie vorher, und deshalb durfte er seinen Kumpel auf gar keinen Fall allein lassen. Jemand musste ihn schließlich daran erinnern, dass er nicht hierhergehörte. Sonst überredeten ihn diese Baronets von wo der verdammte Pfeffer wächst am Ende noch, für immer zu bleiben – ein Albtraum für Peter.

Und das Ärgerliche war, dass Tilly Fletcher das zu wissen schien, denn sie lächelte nur süffisant. Was eine neue Welle der Wut in ihm auslöste. Herrgott, diese Frau machte ihn …

Er stutzte und glaubte für einen Moment, seinen Zorn im wahrsten Sinne des Wortes rauchen zu sehen. Doch dann erkannte er, dass es tatsächlich dünne Schwaden waren, die da aus der Tür hinter Tilly zogen. Eine Sekunde später nahm er einen verbrannten Geruch war.

»Ähm, ich glaube da …« brennt was an, wollte er sagen, doch sie hatte den Geruch auch bemerkt und fuhr herum.

»Oh Gott, der Kuchen!«, rief sie und riss die Tür auf. Noch mehr Qualm drang in den Schankraum, deshalb zog Tilly sie hinter sich wieder bis auf einen Spalt zu. Einen Augenblick später hörte man sie laut und sehr undamenhaft fluchen, was einige Gäste lachen ließ.

»Na, Tilly, da scheint ja wohl mächtig was schiefgegangen zu sein«, rief ein Mann, der am anderen Ende der Theke saß, und grinste seine beiden Freunde an. »Besser, ich öffne mal ein Fenster, was?«

Er tat, was er angekündigt hatte, auch wenn keine Reaktion aus der Küche kam, dann setzten die drei Männer ihre Unterhaltung fort, ebenso wie die anderen Gäste.

Peter wartete noch einen Moment, doch als Tilly nicht zurückkehrte, stand er auf und ging um die Theke herum zur Küchentür, die immer noch einen Spalt weit offen stand. Zögernd zog er sie auf und betrat den Raum dahinter.

»Hallo?«

Durch die Schwaden, die langsam durch das weit geöffnete Fenster abzogen, entdeckte er Tilly. Sie stand mit hochgezogenen Schultern neben dem Ofen und starrte auf das Backblech, das sie gerade herausgenommen hatte. Als sie sich zu ihm umdrehte, lag ein fassungsloser Ausdruck auf ihrem Gesicht.

»Das ist mir noch nie passiert«, sagte sie und zeigte auf das merkwürdige Gebilde auf dem Backblech.

Peter war auch, nachdem er näher herangetreten war, nicht ganz sicher, was es sein sollte. Hatte sie nicht von einem Kuchen gesprochen? Das, was er sah, glich eher einem kunstvoll geknüpften Gitter aus … ja, aus was? Teig war das nicht, es sah eher aus wie Styropor. Zumindest an den Stellen, die Tilly mit dem Messer aufgeschnitten hatte. Die äußere Hülle dagegen war schwarz, und wirklich essbar wirkte das Ganze auch nicht. Was sie richtig zu bestürzen schien.

»Wenn wenigstens Jazz gekommen wäre! Es ist einfach kein Verlass auf sie«, schimpfte sie, und Peter ahnte, dass sie dieses Mädchen mit den lila Haaren meinte, das ihr manchmal aushalf. »Aber eigentlich bin ich selbst schuld. Ich hätte es zu Hause ausprobieren müssen und nicht hier. Das war sowieso keine gute Idee. Geschieht mir also ganz recht.« Sie sagte es mit einem Kopfschütteln und sah so unglücklich aus, dass Peter plötzlich das Bedürfnis hatte, sie aufzumuntern.

»Ach, das kann doch mal vorkommen bei dem ganzen Stress. Schließlich mussten Sie sich gerade um diese riesige Reisegruppe kümmern. An allen Fronten gleichzeitig kämpft es sich eben schlecht.«

Überrascht hob Tilly den Kopf, schien ihn erst jetzt wirklich wahrzunehmen.

»Ja, das stimmt wohl«, sagte sie und lächelte, zumindest ein bisschen.

Peter blickte sich in der Küche um, die er zum ersten Mal von innen sah. Sie war nicht groß, aber sehr sauber und aufgeräumt, fast einladend. Alles hatte seinen Platz, die Töpfe und Pfannen, die zahlreichen Gewürze im Regal und die frischen Kräuter, die in Töpfen auf der Fensterbank wuchsen, schienen alle nur auf die Zubereitung eines neuen, leckeren Gerichts zu warten.

Das musste man Tilly Fletcher nämlich lassen: Am Herd wusste sie, was sie tat, selbst wenn dieses Backexperiment gerade ausnahmsweise mal schiefgegangen war. Peter fand dieses Dorf und die ganze Situation ziemlich unerträglich, aber so gut gegessen wie hier hatte er selten. Allein bei dem Gedanken an das Essen von gestern Abend lief ihm immer noch das Wasser im Mund zusammen.

»Kann ich nachher noch eine Portion Stew haben?«

Tilly sah kurz von ihrem Backblech auf und schüttelte den Kopf.

»Das steht heute nicht auf der Karte«, meinte sie abwesend, offensichtlich noch mit ihrem missglückten Kuchen beschäftigt.

Enttäuscht stieß Peter die Luft aus. »Und Sie könnten sich nicht durchringen, mir vielleicht trotzdem was davon zu kochen? Vielleicht …«, er überlegte kurz, »… wenn Sie dafür mein Zimmer putzen dürfen?«

Jetzt hatte er ihre Aufmerksamkeit, denn sie starrte ihn entgeistert an, vermutlich weil sie sein Angebot nicht fassen konnte. Bisher hatte er sich nämlich strikt geweigert, sie in sein Reich zu lassen, um dort sauber zu machen – ein ständiger Streitpunkt zwischen ihnen. Nur einmal, vor drei Tagen, war er zähneknirschend einen ähnlichen Deal eingegangen und hatte sie ihre Putzwut austoben lassen, weil sie ihn dafür in ihrem Wagen nach Daringham Hall gefahren hatte. Und im Nachhinein war es, wie Peter sich eingestehen musste, gar nicht so schlimm gewesen, mal wieder in einem sauberen Zimmer in frischer Bettwäsche zu schlafen. Deshalb konnte er ihr das wieder anbieten, fand er. Ihr Stew war so einen Handel auf jeden Fall wert.

»Also?«, fragte er, als sie immer noch nicht antwortete. »Abgemacht?«

Sie schüttelte den Kopf, aber nicht ablehnend, sondern nach wie vor ungläubig. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

»Mein Stew schmeckt Ihnen so gut, dass Sie mich dafür noch mal in Ihr Allerheiligstes lassen würden?«

Er nickte, froh darüber, dass sie wieder strahlte.

»Also gut. Einverstanden.« Offenbar versöhnt mit ihrem Fehlversuch griff sie nach dem Blech und trug es hinüber zur Spüle, wo sie die Reste des nicht zu identifizierenden Gebildes im Mülleimer entsorgte.

»Was sollte das eigentlich werden?«, fragte er, einfach aus Interesse und weil er noch gar keine Lust hatte, wieder zurück in den Schankraum zu gehen.

»Ein Baiser-Topping für meine Torte – der krönende Abschluss sozusagen.« Sie seufzte tief. »Ich habe das Rezept im Internet gefunden und wollte es schon mal ausprobieren, weil es ein bisschen kompliziert ist. Aber nur so habe ich dieses Jahr eine Chance gegen die perfekte Brenda Johnson. Ich will sie diesmal endlich schlagen, auch wenn das sicher nicht ganz einfach wird.«

Peter runzelte die Stirn. »Schlagen?«

»Ja, beim Backwettbewerb«, erzählte sie, sichtlich begeistert. »Er findet jedes Jahr auf dem Gemeindefest statt, und ich bin schon fünf Mal Zweite geworden. Manchmal glaube ich, dass Brenda schon deshalb mehr Punkte bekommt als ich, weil sie die Frau des Küsters ist. Aber diesmal kommen die Preisrichter an meiner Torte nicht vorbei, die wird nämlich wirklich etwas ganz Besonderes.«

»Backwettbewerb«, wiederholte Peter ein bisschen fassungslos und ließ den Blick über Tilly Fletcher gleiten. Sie war ein paar Jahre älter als er, das hatte er in einem Gespräch mitbekommen, doch das sah man ihr nicht unbedingt an. Wenn man sich ihre etwas biederen Sachen wegdachte, dann war sie sogar sehr attraktiv. Er mochte die Grübchen auf ihren Wangen und dass sie an den richtigen Stellen gerundet war. Aber wenn sie solche Dinge sagte wie gerade eben, dann kam er nicht umhin festzustellen, dass ihre Leben Lichtjahre voneinander entfernt waren. »Ist Ihnen das alles hier eigentlich nie langweilig?«