Dark Horse Mountain - Kyra Dittmann - E-Book

Dark Horse Mountain E-Book

Kyra Dittmann

4,9

Beschreibung

Na super. Wegen ihrer Fünf in Englisch wird Roxy in den Sommerferien zu ihrem bislang unbekannten Vater auf dessen Pferderanch in Amerika verbannt. Und Roxy HASST Tiere. Und Stallgeruch erst recht. Das wird kein bisschen besser, als sie Cale kennenlernt, der sich um die Pferde kümmert und verdammt gut aussieht, sie aber für eine komplette Idiotin hält. Dabei checkt Roxy als einzige, dass auf der Ranch etwas nicht stimmt: Warum verschwinden immer wieder Pferde von den Weiden – und warum verlaufen alle Ermittlungen im Sande? Nur ein Wesen gibt es, von dem Roxy sich in dieser Einöde verstanden fühlt. Und das ist ausgerechnet der völlig unberechenbare Hengst Hot Coffee, der niemanden an sich heranlässt. Außer Roxy. Was ist sein Geheimnis? Nach und nach deckt Roxy die Machenschaften einer kaltblütigen Pferdemafia auf ... und gerät in große Gefahr.

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Kyra Dittmann

Dark Horse Mountain

ISBN eBook: 978-3-649-62526-1

© 2016 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,

Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Text: Kyra Dittmann,

Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie, Zürich

Lektorat: Frauke Reitze

www.coppenrath.de

Das Buch erscheint unter der ISBN 978-3-649-62344-1

Prolog

Energisch lenkte er den Wagen über den holprigen Weg. Verdammt, warum spielte ausgerechnet heute das Wetter nicht mit?! In der Vorhersage war starker Regen gemeldet worden, der für sein Vorhaben durchaus nützlich sein konnte. Von Sturm und Gewitter hatte der affige Wetterfritze allerdings nichts gesagt.

Ein heftiger Ruck erschütterte die Achse, als der Hänger durch ein Schlagloch fuhr. Der anhaltende Regen hatte die Unebenheiten der Straße noch weiter ausgeschwemmt – der Tag war für das Vorhaben doch nicht so glücklich gewählt. Aber sein Auftraggeber hatte ordentlich Druck ausgeübt und würde die Summe sogar verdoppeln, falls es ihm gelang, den Hengst bis zur nächsten Auktion herbeizuschaffen. Al Shahib wollte von jeder Farbvariante ein Pferd in seinem Stall stehen sehen, das war ihm vierzigtausend Dirham extra wert. Mehr als zehntausend Dollar. Die Araber waren wirklich verrückt. Als Geschäftspartner mochte er die Russen deutlich lieber. Aber ob Russen, Araber oder spleenige Europäer – leider war er nicht in der Position, selbst bestimmen zu können, mit wem er verhandeln wollte. Er unterstand immer noch dem Rancher. Nach diesem Deal würde sich das hoffentlich ändern.

Ein Wasserschwall ergoss sich über die Windschutzscheibe, als eine besonders starke Böe durch die Bäume am Wegrand fegte. Die Stämme bogen sich und die Äste schlugen gefährlich tief aus. Er konnte gerade noch ausweichen und verhindern, dass der Hänger stärker ins Schlingern geriet.

Den unberechenbaren Hengst, der sich darin befand, hatte er nur widerwillig mitgenommen. Wenige Pferde behielten so hartnäckig ihren Willen wie er. Die meisten brachen nach ein paar Monaten seines »Trainings« ein und wurden zu sanften Lämmern. Die Käufer merkten zum Glück erst zu spät, dass dabei meist die Eleganz der Tiere verloren ging. Ein gebrochener Wille beeinträchtigte auf Dauer eben auch das Äußere: Das Fell verlor seinen Glanz, die Muskeln bildeten sich zurück und die Augen blickten nur noch trüb und stur geradeaus.

Aber ihm konnte das egal sein. Hauptsache, die Bezahlung stimmte. Pferde bedeuteten ihm ohnehin nichts – sie waren nutzloses Vieh, das weder Milch noch Fleisch lieferte und damit kaum einem Zweck diente. Ein Glück, dass es dennoch genug dumme Menschen gab, die viel Geld für die hochgepriesene Schönheit dieser Tiere auf die Theke legten. Solange das alles in sein Portemonnaie wanderte, würde er sich nicht beschweren.

Er krampfte die Finger fester um das Lenkrad. Der Regen nahm zu. Er musste den Scheibenwischer auf Höchstleistung stellen, damit er überhaupt noch etwas sehen konnte. Gefährlich nahe tauchte der Graben neben ihm auf – beinahe wäre er von der schlammigen Straße abgekommen. Verbissen lenkte er den Geländewagen zurück in die Mitte der Spur, als plötzlich ein Baum auf ihn herabsauste.

Er riss das Lenkrad herum, geriet ins Schleudern und spürte, wie ihm der Hänger den Boden unter dem Arsch wegzog. Der Wagen kippte zur Seite und überschlug sich. Mit einem ohrenbetäubenden Krach riss die Kupplung aus ihrer Verankerung, und aus den Augenwinkeln sah er gerade noch, wie der Anhänger an seinem Fahrzeug vorbeischoss. Dann raubte der Aufprall ihm die Sicht. Der Airbag explodierte wie ein Faustschlag vor seiner Nase und fing die Splitter der Windschutzscheibe ab. Das Seitenfenster barst, die Karosserie drückte sich ein und der Motor erstarb mit einem klagenden Laut.

Verfluchte Scheiße!

Er rappelte sich auf. Mit großer Anstrengung gelang es ihm, aus dem verzogenen Wagen zu klettern. Immerhin waren seine Knochen heil geblieben! Das Auto samt Hänger konnte er allerdings vergessen. Und wie sollte er bloß seinem Chef erklären, dass er mitten in der Nacht mit dem teuersten Zuchthengst durch den Orkan gefahren war? Er würde sich einen neuen Job suchen müssen, bei dem er sein lukratives Nebengeschäft weiter betreiben konnte.

Er lief zu dem Hänger, der im Graben gelandet war. Leises Poltern drang aus dem Inneren. Das Tier lebte offensichtlich noch.

Er rutschte durch den Matsch die Böschung hinunter und fingerte fluchend an der Verriegelung der Heckklappe herum. Nur mit Mühe gelang es ihm, den Hebel umzulegen und die Laderampe zu öffnen.

Das Pferd lag auf der Seite und stierte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Er musste den Gaul unbedingt wieder auf die Beine kriegen! Ein totes Pferd brachte keinen Cent. Mit einem kräftigen Schlag gegen die Klappe versetzte er dem Tier einen derartigen Schreck, dass es mühsam auf die Beine kam und sich mit schlitternden Hufen aus dem Hänger kämpfte.

Der Strick, mit dem er es angebunden hatte, hing noch an einem Teil der Seitenwand fest, die hinter dem verstörten Pferd herschleifte. Er trat heftig auf das Brett und wie vom Blitz getroffen blieb das Tier in Schockstarre stehen. Sein rotbraunes Fell glänzte dunkel im Regen. Schlammspuren zogen sich über den zitternden Körper.

Er musste sich eine wirklich gute Ausrede zurechtlegen, um diesen Unfall zu erklären. Aber außer dem tosenden Unwetter war der verdammte Gaul der einzige Zeuge dessen, was in dieser Nacht passiert war.

Kapitel 1

Böse Vorahnungen

»Fuck!« Das war das Einzige, was mir dazu einfiel.

Ich starrte auf das Blatt Papier, das vor mir lag und soeben mein Schicksal besiegelt hatte. »Nicht versetzt« stand in kleinen Druckbuchstaben unter den Noten, als wäre es nicht mehr als eine unbedeutende Nebensache.

»Und?« Amelie stieß mir ihren Ellbogen in die Rippen.

»Und was?«, gab ich unwirsch zurück. Ich hatte im Moment wenig Lust, meine Nicht-Versetzung zu diskutieren. Nicht mal mit meiner besten Freundin.

»Hast du es geschafft? Du meintest doch, die Höcker-Mühlendorf würde es sich noch mal überlegen.«

»Hat sie nicht.«

Amelies entsetzter Gesichtsausdruck war wie ein Spiegel meiner Gedanken. Schnell schaute ich weg. Allein die Vorstellung, in eine andere Klasse als Amelie zu kommen, trieb mir die Tränen in die Augen.

»Guck doch nicht so«, murmelte ich und zuckte mit den Schultern, um Amelie zu zeigen, wie gleichgültig mir dieses Stück Papier war.

Ich hatte es sowieso gewusst.

Okay, einen kleinen Funken Hoffnung hatte ich noch gehabt. Meine ganze Zuversicht hatte ich dabei in Frau Höcker-Mühlendrudorf gelegt, die nicht nur vom Namen her an ein Kamel erinnerte. Sie trug zu jeder Jahreszeit riesige ausgelatschte Ökosandalen, und ich war mir sicher, dass sie eine komplette Schulwoche lang reden konnte, ohne auch nur einen Schluck Wasser zu trinken. Im Unterricht ließ sie sich aber leicht beeinflussen. Eine einzige vorgetäuschte Migräne-Attacke hatte einmal dazu geführt, dass sie eine geplante Klassenarbeit verschob. Mein Versprechen, mich im nächsten Schuljahr ganz bestimmt mehr anzustrengen, hatte sie offensichtlich leider weniger beeindruckt.

Es ließ sich drehen und wenden, wie man wollte, es änderte nichts an der unverrückbaren Tatsache: Ich war nicht in die Jahrgangsstufe 10 versetzt worden.

»Mensch, Roxy, du musst unbedingt die Nachprüfung schaffen, sonst sind wir nicht mehr in einer Klasse!«, stieß Amelie hervor.

Ich nickte gequält. Am liebsten hätte ich so schnell wie möglich das Thema gewechselt, doch Amelie ließ nicht locker. »Was sagt denn deine Mutter eigentlich dazu?«

Ich schluckte. Die unvermeidliche Frage schwebte wie eine Spionage-Drohne über mir, die jeden Moment einen feindlichen Angriff planen konnte. Was hätte ich nicht alles darum gegeben, wenn ich die Antwort schon gekannt hätte! In letzter Zeit waren Mams’ Reaktionen oft ziemlich seltsam gewesen – auch bei deutlich harmloseren Vorfällen.

Ich hob den Kopf und sah meine allerbeste Freundin an. Leider konnte sie sich – außer, wenn es um die Frage ging, wie lange sie abends wegbleiben durfte – in keines meiner elterlichen Probleme hineinversetzen. Ihre Mutter war nett und unkompliziert und ihr Vater vor allem: echt. Amelie musste sich nicht ständig mit einem neuen Freund ihrer Mutter herumärgern, der versuchte, ihren nicht vorhandenen Dad zu ersetzen.

Die aktuelle Eroberung meiner Mutter hieß Gero und war ein spießiger Schönling, den sie nun auch noch heiraten wollte. Zum besseren Kennenlernen hatte der perfekte Gero gleich mal einen Maledivenurlaub für uns alle gebucht. Mir wurde jetzt schon übel bei dem Gedanken, drei Wochen lang Mams’ verliebte Turtelei ertragen zu müssen.

Ich seufzte. »Ich werde es spätestens in einer Stunde erfahren, wenn meine Mutter von der Arbeit kommt. Begeistert wird sie jedenfalls nicht sein.«

»Meinst du, dass sie dir trotzdem erlaubt, mit auf die Malediven zu fahren?«, hakte Amelie nach. »Am Ende musst du die Ferien komplett mit Lernen verbringen. Ich meine, eine Fünf in Chemie und eine in Bio gehen ja noch, aber eine Fünf in Englisch, wo doch dein Vater Amerikaner …«

»Mein Vater existiert seit ziemlich genau vierzehn Jahren nicht mehr in meinem Leben«, unterbrach ich sie schnell, bevor sie das Thema vertiefen konnte, über das ich wirklich am allerwenigsten reden wollte.

Natürlich war mir klar, dass meiner Mutter die Englischnote keineswegs egal sein würde, bloß weil mein amerikanischer Vater sich kurz nach meiner Geburt als verantwortungsloser Idiot entpuppt und seitdem nie mehr gemeldet hatte.

»Kommst du trotzdem mit zu Mäx?«, fragte Amelie vorsichtig.

Der Kloß, der mir im Hals saß, schwoll schmerzhaft an. Jedes Jahr feierte ich mit meinen Freundinnen den Beginn der großen Ferien bei Mäx, unserem Lieblingslokal in der Innenstadt. Ich sah schnell zur Seite und blinzelte ein paar Mal. Diesmal hatte ich nichts zu feiern. Und ich wollte meiner Mutter die unangenehme Neuigkeit so schnell wie möglich überbringen.

In diesem Moment stürmte Clarissa an unseren Tisch. Der erlösende Schulgong übertönte ihr Gekreische und verdrängte mit einem Schlag die Tränen, die mir bei Amelies Frage wieder in die Augen geschossen waren. Erleichtert registrierte ich, dass dieses grausame Schuljahr zu Ende ging. Ich durfte nur unter keinen Umständen darüber nachdenken, dass ich es wahrscheinlich noch einmal wiederholen musste.

»Ich habe sieben Einsen!«, quietschte Clarissa. »Ich fasse es nicht. Das ist die absolute Hochphase meiner Schulkarriere.«

Der Kloß in meinem Hals verwandelte sich in akuten Brechreiz. Wie tröstlich, dass es auf dieser Welt jemanden gab, der einen Ausgleich zu meiner unverkennbaren Tiefphase schuf!

»In diesem Jahr habe ich mir meinen Burger bei Mäx wirklich verdient. Nick und Jonas wollen auch mitkommen.« Sie kicherte aufgeregt. »Nick war gerade übrigens einfach umwerfend. Wie er mich angesehen hat … ich bin dahingeschmolzen wie Eis an einem Sommertag!«

Ich verdrehte die Augen und Amelie warf mir einen entschuldigenden Blick zu. Clarissa wusste sehr wohl, dass ich ebenfalls auf Nick stand. Schließlich war das unsere einzige Gemeinsamkeit – abgesehen von der Freundschaft zu Amelie. Leider beachtete Nick allerdings einzig und allein Clarissa, die mir ihren Triumph bei jeder Gelegenheit unter die Nase rieb.

»Dummerweise kann ich heute nicht dabei sein, wenn Clarissa sich verflüssigt«, sagte ich und brachte immerhin ein gequältes Lächeln zustande.

»Ach, komm doch mit, Roxy. Bitte!«, drängte Amelie.

»Nein, ich glaube nicht. Es ist besser, wenn ich meine Beichte bei Mams schnellstmöglich hinter mich bringe.«

Amelie sah mich traurig an, während Clarissa einen unübersehbaren Freudensprung gerade noch abbremste. »Das ist ja to… – äh«, sie räusperte sich, »… total schade.«

Ich widerstand der Versuchung, ihr meinen Tacker in den Fuß zu rammen. Ich musste hier dringend weg, bevor sich meine Mordgelüste verfestigten! Eine glorreich glänzende Clarissa neben meinem unerreichbaren Schwarm Nick überstieg heute definitiv meine Kräfte.

Energisch stopfte ich das Zeugnis in meine Schultasche. Wozu ein Schutzumschlag? Ich sah keinen Grund dafür, darauf zu achten, dass es nicht zerknitterte. Den Schutz würde wohl eher ich benötigen, wenn Mams erfuhr, dass ich ihre Unterschrift auf den blauen Briefen gefälscht hatte …

»Hey, Roxy, warte!« Amelie zog an meinem Arm.

Ich blieb stehen.

»Was ist mit morgen? Unser Termin im Nagelstudio?« Sie wirkte regelrecht verzweifelt.

»Wäre ja schade, wenn der verfällt. Vielleicht könntest du den an mich abtreten?«, mischte sich Clarissa ein.

Ich wollte mir nicht anmerken lassen, wie sehr es mich verletzte, wenn Amelie mit Clarissa dorthin ging. Auch wenn ich gerade ohne Zweifel andere Probleme hatte, aber diesen Triumph gönnte ich ihr nun wirklich nicht.

»Ja, sicher«, erwiderte ich daher betont gleichgültig. »Das wäre echt zu schade.« In Gedanken fügte ich hinzu, dass das sowieso das Erste sein würde, das Mams mir streichen würde, wenn sie mein Zeugnis sah.

Wenn ich geahnt hätte, was mich tatsächlich zu Hause erwartete, hätte ich mich allerdings doch für eine Henkersmahlzeit bei Mäx entschieden und sogar Clarissas Gesellschaft mit einem Lächeln hingenommen …

»Das meinst du nicht ernst, oder?« Ich fühlte, wie jegliche Farbe aus meinem Gesicht wich, als ob jemand einen Abfluss in mir geöffnet hätte.

»Das ist nichts, worüber ich scherzen würde, Roxolana.«

Mams’ Blick glich dem einer Richterin, die gerade ein Todesurteil sprach. Und so kam ich mir auch vor – wie eine Verurteilte.

»Du meinst, ich darf nicht mit euch in Urlaub fahren und soll stattdessen eine Sprachreise nach England machen?«

»Genau das meine ich.«

»Aber …«

Ich fühlte mich ausgeschlossen, obwohl ich den gemeinsamen Ferien mit Gero nicht ernsthaft hinterhertrauerte. Doch die Vorstellung, allein ein Sprachcamp im verregneten England zu besuchen, war – trotz der einzigartigen Lebenserfahrungen und der wundervollen Eindrücke, die meine Mutter betonte – noch deutlich weniger verlockend.

»Du musst bestimmt Stornierungsgebühren zahlen und in England würde ich niemanden kennen …« Ich suchte verzweifelt nach Argumenten.

An Mams’ Blick konnte ich sehen, dass ich ihren wunden Punkt getroffen hatte: Innerlich kämpfte sie mit ihrem schlechten Gewissen. Ha, diese Runde würde an mich gehen! Unter stillem Jubelgeschrei packte ich in Gedanken schon meinen Koffer: Bikini, Hotpants, Ladekabel …

Ein Maledivenurlaub mit Gero war immer noch besser, als die halben Ferien mit Lernen zwischen lauter fremden Gesichtern zu verbringen.

»Ich finde es auch schade, dass wir in den Ferien auf Roxy verzichten müssen«, mischte sich Gero plötzlich ein.

Bislang hatte er der Szene schweigend zugesehen und nur Mams’ Rede hin und wieder mit einem Nicken bestärkt. Ich konnte kaum glauben, dass er jetzt für mich Partei ergriff. Wasserfeste Sonnencreme, Concealer …, fügte ich lautlos hinzu.

»Aber ich bin ganz deiner Meinung, Lana. Wir sollten dafür sorgen, dass Roxy ihr Englisch verbessert, damit das kommende Schuljahr erfolgreicher verläuft.«

Meine Mutter nickte unnachgiebig. »Mein Entschluss steht fest. Der Maledivenurlaub ist für dich gestrichen, Roxy.«

Ich zerriss meine heimliche Auflistung vor meinem inneren Auge in kleine Fetzen.

»Und die Stornogebühren übernehme ich.« Gero warf einen triumphierenden Blick in die Runde, als ob er gerade einen Bombenvorschlag gemacht hätte.

»Das ist aber unglaublich nett von dir, Gero.« Mams’ Gesicht hellte sich auf. »Wie lieb!«

Wahnsinnig nett. Ich hätte beinahe losgelacht, schüttelte mich aber gerade noch rechtzeitig. Was natürlich sowieso keiner beachtete. Doch man soll niemals glauben, dass es nicht noch schlimmer kommen könnte!

Meine Mutter griff nach Geros Hand und drückte sie. »Da wir gerade dabei sind, unsere Geheimnisse zu lüften …«

Mein ungutes Bauchgefühl setzte zum Vulkanausbruch an.

Gero lächelte milde.

»Wir wollten dir schon länger etwas sagen, Roxy.« Sie tauschten einen verliebten Blick, der meine Eingeweide zusammenpresste. »Ich habe nicht geglaubt, dass ich noch einmal eine echte Familie haben würde, nachdem dein Vater …«

Ich starrte Mams an. Sie wollte doch jetzt nicht wirklich von diesem Thema anfangen. Bitte nicht!

»Also, Gero hat mir gezeigt, dass es sich lohnt, auf den Richtigen zu warten. Wir sind jetzt eine kleine Familie, aus der wir gern eine etwas größere machen würden.«

»Was?«, keuchte ich.

Mams strahlte. »Du bekommst ein Geschwisterchen, Roxy. Wir werden eine richtige, große Familie!«

Ich war hin- und hergerissen zwischen dem Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden, und einer kurz bevorstehenden Explosion in meinem Magen.

»Das ist ja wundervoll«, stieß ich hervor und stürzte Hals über Kopf aus dem Zimmer.

Es gelang mir gerade noch, die Tür hinter mir zuzuschlagen, bevor ich losheulte. Wie heiße Lava stieg die bittere Wahrheit dieser Nachricht in mir auf: Sobald eine zauberhafte kleine Schwester oder ein niedlicher kleiner Bruder unsere sogenannte Familie vervollständigte, wäre ich komplett abgemeldet und überflüssig. Dessen war ich mir sicher.

Blind vor Tränen und vor Wut auf das verflixte Stück Papier, das der Auslöser für diesen Schlamassel war, stolperte ich den Flur entlang und fiel über Geros Aktentasche, die mitten im Weg stand. Das Zeugnis glitt mir aus der Hand, als ich mit ausgestreckten Armen über den Teppich schlitterte. Der antike Sekretär bremste meine Rutschpartie mit einem unsanften Rums, während das Zeugnis vor meinen Augen in dem schmalen Schlitz unter dem Möbelstück verschwand.

Ich wischte mir die Tränen ab. Am liebsten hätte ich das blöde Dokument dort liegen gelassen. Leider wusste ich, dass Mams’ Unterschrift darauf mindestens ebenso wichtig war wie das Schriftstück an sich, wenn ich zur Nachprüfung zugelassen werden wollte. Stöhnend versuchte ich, meinen Arm unter den Sekretär zu schieben. Ich konnte das weiße Papier in der Ecke aufblitzen sehen, aber es gelang mir nicht, es herauszuziehen.

Mist!

Genervt rappelte ich mich auf und versuchte, das Monstrum ein Stück von der Wand abzurücken. Ich zog mit meinem ganzen Gewicht, bis ich kaum noch Gefühl in den Fingern hatte. Minutenlang starrte ich frustriert auf den betonschweren Sekretär, bevor ich es noch einmal versuchte, all meine Energie zusammennahm und wie eine Irre an dem Schrank zerrte. Endlich bewegte er sich immerhin so viel, dass ich dahinter greifen konnte. Erleichtert zog ich das Zeugnis hervor.

Gerade wollte ich den Sekretär zurückschieben, als mir auffiel, dass ich noch ein weiteres Stück Papier in Händen hielt. Einen Brief. An meine Mutter adressiert. Ich drehte den Umschlag um – und erstarrte mitten in der Bewegung.

Liam West, Wyoming.

Der Name meines Vaters brannte in meinen Augen wie ätzende Tinte. Ich musste schon wieder blinzeln.

Mit zittrigen Fingern öffnete ich den Umschlag. Meine Neugier war stärker als die Angst vor dem, was ich lesen würde.

Das Datum auf dem Briefkopf lag gut ein halbes Jahr zurück.

Mein Puls überschlug sich. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, in einer Zeitschleife gefangen zu sein, in der ich immer wieder dieselbe Fassungslosigkeit durchlebte. Mein Vater hatte sich nach vierzehn Jahren zum ersten Mal wieder gemeldet. Ich konnte nicht sagen, was ich dabei empfand. Aber zumindest wusste ich jetzt, wo ich meine Sommerferien verbringen wollte …

Kapitel 2

Welcome to Wyoming

Die Turbinengeräusche der Maschine übertönten das Knurren in meinem Magen. Ich hatte bis auf ein labbriges, unverschämt teures Brötchen bei meinem letzten Zwischenstopp nichts mehr gegessen. Gute zwölfeinhalb Stunden Flug lagen nun hinter mir. Ich fühlte mich nicht nur zeitmäßig am Ende der Welt.

Müde lehnte ich den Kopf gegen den sterilen Sitzbezug. Der Ausblick aus dem Flugzeugfenster stellte meinen Entschluss, die Ferien in Wyoming zu verbringen, deutlich infrage. Warum noch mal hatte ich gedacht, diese Einöde sei besser als ein Sprachcamp im grauen, aber bestimmt lebhafteren England? Die Gefühle, die das bevorstehende Treffen mit meinem Vater in mir wachrief, hätten zudem zwiespältiger nicht sein können.

Eine Weile versuchte ich mir vorzustellen, ich würde auf den Malediven landen. Doch meine Fantasie war ein lausiger Lügner und so drängten sich Steppenlandschaften und Rinderherden immer wieder vor kilometerlange Sandstrände und knackige, braun gebrannte Surfer. Ich stöhnte entnervt.

»Ist dir schlecht, Liebes?«, fragte die ältere Dame neben mir auf Englisch.

Darauf fiel mir spontan keine passende Antwort ein. Tatsächlich wuchs das unbehagliche Gefühl in meinem Magen mit jedem Kilometer, den ich mich meinem Ziel näherte.

Meine Sitznachbarin hielt mir mit besorgtem Gesichtsausdruck eine kleine Papiertüte unter die Nase und strich mir fürsorglich über den Arm. »Meine Enkelin leidet auch unter Reiseübelkeit. Das Wichtigste dabei ist Ablenkung. Wohin willst du denn?«

Vielleicht hätte sie mich besser fragen sollen, woher ich kam. Denn auch wenn sie langsam sprach und ich sie zu meiner Überraschung sogar verstanden hatte, hieß das ja wohl noch lange nicht, dass ich ihr antworten konnte! Oder musste jeder, der in die USA reiste, etwa automatisch die englische Sprache beherrschen?

»Wyoming«, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch und schob die Tüte von mir weg. Obwohl ich kurz überlegte, ob ich nicht vielleicht ganz in diesem Beutel verschwinden könnte.

In diesem Augenblick setzte das Flugzeug mit einem harten Ruck auf amerikanischem Boden auf. Die endlose Weite der Steppe raste an mir vorbei. Langweilige Grasflächen zogen sich, soweit das Auge reichte, bis zu der Bergkette am Horizont, die diesen Ort wie eine riesige Mauer vom Rest der Welt abschnitt. Die Befürchtung, die Boeing könnte versehentlich auf dem falschen Flugplatz gelandet sein, beschlich mich wie ein böses Omen.

»Where are we?«, fragte ich im Flüsterton, unsicher, ob ich die Antwort hören wollte. Mein erster englischer Satz außerhalb der Schule!

»Wyoming. Where else?«, sagte die alte Dame fröhlich.

»Do you live here?«, wagte ich zu fragen.

Die Frau lächelte. »Meine Tochter wohnt hier mit ihrer Familie. Wir sehen uns nur zwei Mal im Jahr. Es gibt nichts Schöneres für mich, als nach Wyoming zurückzukommen.«

Ihre rundlichen Wangen überzog eine rosige Farbe, während sie nun eine Lobeshymne nach der anderen auf diesen wüstenähnlichen Staat sang. Und obwohl ich zu meiner Überraschung fast alles verstand, konnte ich doch keines ihrer Worte nachvollziehen. Weder ihre Freude darüber, ihre Familie wiederzusehen, noch ihre Begeisterung für die angeblich atemberaubende Landschaft berührten mein Herz. Ich fühlte mich komplett verloren.

Zum Glück unterbrach der Captain ihren Glücksmonolog und verkündete, dass wir unser Ziel erreicht hatten und in wenigen Minuten aussteigen konnten.

Ich lächelte der Dame höflich zu und faltete mich aus dem engen Sitz heraus. Hinter mir drängte sich bereits eine Horde Menschen, die es offensichtlich kaum erwarten konnte, den Boden von Wyoming zu betreten. Ich dagegen erwog die Möglichkeit, mich unter einem der Sitze zu verstecken und einfach darauf zu warten, dass der Flieger mich wieder in zivilisiertere Länder beförderte. Jemand quetschte sich rücksichtslos an mir vorbei und riss mich aus meinen Gedanken, indem er mir die Kante seines überdimensionalen Handgepäcks in den Oberschenkel hieb. Ich zuckte zusammen und unterdrückte einen Schmerzenslaut. Na super! Wenn die Amerikaner nur annährend so furchtbar waren wie ihr Land, standen mir ganz sicher traumhafte Ferien bevor.

Eine gefühlte Ewigkeit später hatte ich die nervenaufreibende Kontrolle passiert und meinen Koffer vom Band geangelt. Ich zerrte das zementsackschwere Gepäck hinter mir her in Richtung Ausgang und überlegte, woran ich meinen Vater eigentlich erkennen sollte. Ob ich ihn überhaupt erkennen würde. Das einzige Foto, das ich besaß, zeigte einen jungen Mann mit strubbeligen dunklen Haaren und steingrauen Augen. Ich hatte keinerlei Ähnlichkeit mit mir feststellen können – meine Augen leuchteten strahlend blau wie die von Mams.

Der Gedanke an meine Mutter und unseren Streit versetzte mir einen Stich. Schnell wischte ich die Erinnerung beiseite. Vermutlich sollte ich einfach froh sein, dass ich mit fünfzehn nicht aussah wie ein mehr als doppelt so alter Mann, sagte ich mir und gab den Versuch auf, mir meinen Dad vorzustellen. Er würde sich ja wohl bemerkbar machen.

Die Menschentraube, die den Ausgang blockierte, löste sich schneller auf als erwartet. Zurück blieben ein paar vereinzelte Gestalten, die absolut nicht nach Liam West aussahen: eine übergewichtige, sehr farbenfroh gekleidete Frau mit wahnsinnig viel Gepäck; ein alter, klappriger Opa, der sich kaum auf den Beinen halten konnte; eine Öko-Familie mit vier kleinen Schmuddelkindern; ein junger Typ mit Cowboyhut auf einer Bank (der durchaus als optischer Ersatz für die sonnengebräunten Surfer auf den Malediven durchgehen konnte) und eine große, schlanke Frau, die im Vergleich zu den anderen geradezu normal wirkte. Meine Hoffnung wuchs, dass Dad vielleicht eine nette Freundin hatte, die mich abholen kam. Ich wandte mich in ihre Richtung und holte schon Luft, um sie anzusprechen, als ein ungefähr zehnjähriger Junge an mir vorbeistürmte und ihr um den Hals fiel.

Enttäuscht blieb ich stehen. Auch die Dame aus dem Flugzeug war nirgendwo mehr zu sehen. Ich seufzte leise und drehte mich einmal im Kreis. Hatte mein Vater mich vergessen? Angst mischte sich unter meine Unsicherheit. Was sollte ich jetzt tun, allein am Ende der Welt?

»Hey, komm mit.«

Erschrocken fuhr ich herum. Der Surfer-Ersatz stand vor mir, schob sich seinen Cowboyhut aus dem Gesicht und musterte mich mit kühlem Blick. Es gelang mir, den Mund wieder zu schließen, aus dem ich sowieso keinen Ton heraus bekam. Der Typ war etwas älter als ich und hatte ein schmales Gesicht mit klaren Linien. Eine gerade Nase, die sich leicht nach unten bog, kräftige Augenbrauen, die seinen dunklen Augen einen wütenden Blick verliehen, und volle Lippen, die er fest zusammenpresste. Er war garantiert nicht mein Dad und ganz sicher auch kein Surfer – dafür aber sichtlich alles andere als erfreut, mich hier abzuholen.

»Du bist doch die Deutsche, oder?«, fragte er barsch.

Ich schluckte gegen meine Wortlosigkeit an. »Äh, ja.«

»Na, dann mach schon. Ich hab lange genug gewartet.« Er drehte sich um und stapfte davon.

»Wie wär’s mit einem einfachen Hi?«, fauchte ich hinter ihm her, als ich meine spärlichen Sprachkenntnisse wiedergefunden hatte. Der Kerl sah vielleicht göttlich aus, verhielt sich aber ganz und gar nicht anbetungswürdig!

Ich starrte auf meinen Koffer und mein Ärger schwoll an. Wie charmant! Ein wahrer Gentleman, dieser Typ! Nicht mal mein Gepäck nahm er mir ab, nachdem er schon keine Sekunde mit einer Begrüßung verschwendet hatte. Ich packte den Griff meines Trolleys und beeilte mich, den Cowboy einzuholen. Offensichtlich legte er es darauf an, mich unterwegs versehentlich zu verlieren.

Der alte Jeep, den er ansteuerte, hätte bei uns nicht mal die Auffahrrampe zum TÜV passieren dürfen, doch der Typ öffnete den Kofferraum mit einer so einladenden Bewegung, als wäre es eine Stretch-Limousine. Er wartete gar nicht ab, ob es mir gelang, mein Gepäck hineinzuhieven. Desinteressiert schwang er sich auf den Fahrersitz, knallte die Tür zu und startete den Motor. Eine ölige Qualmwolke puffte mir entgegen. Hustend stopfte ich meinen Trolley in das Auto, schlug die Kofferraumtür zu und hätte dem alten Vehikel sowie seinem Fahrer am liebsten einen kräftigen Tritt in den Hintern verpasst.

»Warum hat mein Vater mich nicht selbst abgeholt?«, blaffte ich beim Einsteigen. Der Gedanke, dass er sich womöglich doch nicht so sehr auf mich freuen könnte, wie sein Brief es vermuten lassen hatte, nistete sich äußerst unangenehm in meinem Kopf ein.

»Er will ein Pferd kaufen und kommt wahrscheinlich erst übermorgen zurück. Deshalb darf ich deinen Chauffeur spielen.«

Auch das noch! Wer würde mich denn dann auf der Ranch in Empfang nehmen? Ich beschloss, weitere Fragen zu unterdrücken, und hoffte, dass die Autofahrt mich ablenken würde.

Doch Wyoming bot weit und breit nichts, das meine Enttäuschung gemildert hätte. Wir passierten ein riesiges Schild mit der Aufschrift: »WYOMING WELCOMES YOU!«. Abgesehen von dem idiotischen Rodeoreiter zierte eine lächerliche Felsenzeichnung die Holztafel, die mehr an einen missratenen Pudding erinnerte. Vermutlich waren genau das die drei Dinge, die Wyoming ausmachten: Cowboys, Pferde und Felsen. Ich rieb mir müde die Stirn und schloss die Augen. Ich würde garantiert nichts verpassen, wenn ich ein bisschen Schlaf nachholte.

Die unebene Strecke und der hart gefederte Geländewagen ließen mich jedoch nicht zur Ruhe kommen. »Gibt es hier auch richtige Straßen oder kennt ihr so was nicht?«, fragte ich gereizt. Bei meinem wachsenden Frust konnte ich mir den bissigen Kommentar nicht verkneifen – umso leichter fiel es mir überraschenderweise, die englischen Worte zu finden.

Der Cowboy, der mir nicht einmal seinen Namen verraten, geschweige denn nach meinem gefragt hatte, warf mir einen Seitenblick zu. Dann stieß er einen verächtlichen Ton aus und beachtete mich nicht weiter.

Ich klappte die Sonnenblende herunter und sah in den Spiegel. So ein Mist! Meine Wimperntusche war verschmiert, dunkle Augenringe untermalten meine blasse Haut und meine Frisur war nach den vielen Stunden im Flugzeug definitiv ruiniert. Musste der Typ mich deshalb gleich so mies behandeln? Vermutlich trugen die Mädchen hier eh alle nur Latzhosen und Cowboyhüte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es in dieser Felsenwüste auch Kosmetik- oder gar Klamottenläden gab.

Je länger wir schweigend nebeneinandersaßen, desto mehr ärgerte ich mich darüber, wie sehr mich die unverblümte Abneigung verletzte. Wer war dieser Kerl überhaupt?

Ich kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an. Bloß nicht! Mich als Heulsuse zu outen, war garantiert das Letzte, was ich wollte. Energisch hieb ich die Zähne in meine Unterlippe, bis der Schmerz mich ablenkte. Während der nächsten Kilometer starrte ich stumm aus dem Fenster und ließ die Gegend an mir vorbeiziehen. Nichts als Steppe und Berge. Nahezu auf jeder freien Fläche standen Rinder oder Pferde. Und je mehr ich sah, desto mehr verfestigte sich meine Befürchtung, dass ich mit den Einwohnern dieses Landes weniger als nichts gemeinsam hatte. Abgesehen von meinen halbamerikanischen Wurzeln natürlich.

Als wir eine kleine Stadt erreichten, stellte ich erleichtert fest, dass es zumindest einen Burgerladen gab. Doch meine Hoffnung, dass die Ranch in der Nähe lag, verebbte ebenso schnell, wie sie aufgekeimt war. Wir ließen die Häuseransammlung, wie man dieses Jackson wohl eher nennen sollte, hinter uns und fuhren weiter in Richtung der Berge am Horizont.

Irgendwann musste ich doch eingeschlafen sein. Lautes Hundegebell riss mich unsanft aus meinem Traum. Schonungslos plumpste ich von meiner Liege am Strand der Malediven und landete mit einem verstörten Blinzeln wieder auf dem rissigen Beifahrersitz des Jeeps.

Die Sonne blendete mich, und es dauerte einen Moment, bis sich meine Augen an die Umgebung gewöhnten. Vielleicht lag es auch an dem Schreck, der mich befiel, als ich erkannte, wo ich mich befand: auf einem Bauernhof! Sollte eine Ranch nicht zumindest ein klein wenig luxuriösen Countrycharme versprühen?

Um das Auto flitzten zwei riesige kläffende Köter herum, die das bisschen Mut, das ich mir für meine Ankunft bewahrt hatte, im Nullkommanichts im Staub verpuffen ließen.

»Aussteigen musst du jetzt schon allein.« Der Cowboyhut grinste spöttisch.

Mein Blick wanderte zwischen dem Haus und den Hunden hin und her. Der unfreundliche Typ sah nicht so aus, als würde er die Viecher für mich zurückpfeifen. Er lehnte mit verschränkten Armen am Kotflügel und genoss die Situation sichtlich. Ich verabscheute ihn noch mehr als zuvor – falls das überhaupt möglich war.

Meine erste und letzte Hundebekanntschaft hatte nicht gerade in Freundschaft geendet. Der blöde Dackel unserer Nachbarin hatte mich gleich bei unserer ersten Begegnung in den Knöchel gebissen. Frau Schmidt hatte ihm daraufhin eine Woche Würstchenverbot erteilt, und seitdem hasste der fiese Frodo mich ebenso sehr, wie ich ihn fürchtete.

Mit schwitzigen Fingern zog ich an dem Hebel, der die Tür aufspringen ließ. Der größere der Hunde schoss vor und steckte seine Nase in den geöffneten Spalt. Langsam schob ich meine Fußspitze hindurch und drückte die Schnauze zurück. Das belustigte Blitzen in den Augen des gemeinen Typen gab schließlich den Ausschlag, der meine Angst in Wut umschlagen ließ. Beherzt packte ich meine Tasche und hielt sie mir wie einen Schutzschild vor den Körper. Ich schloss die Augen und stieß die Tür auf.

Ein knapper Pfiff ertönte – und im Bruchteil einer Sekunde verstummte das Bellen. Stattdessen erklang ein kehliges Lachen, das sich zu schallendem Gelächter steigerte. Ich stapfte voller Zorn zum Kofferraum, schnappte mir mein Gepäck und marschierte an dem Idioten vorbei auf das Haus zu. Auf Kosten anderer Witze zu machen, war eine Sache, aber so auslachen ließ ich mich nicht.

»Wohin?«, pfefferte ich ihm im Vorbeigehen an den Kopf.

Er bemühte sich nicht einmal, seinen Spott zu verbergen. »Oben, erstes Zimmer links.«

Die Hunde lagen dem Cowboy zu Füßen und sahen mich aus treudoofen Augen an, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Das war ja wohl eindeutig inszeniert gewesen! Ohne mich noch einmal umzusehen, ging ich ins Haus.

Niemand empfing mich. Aus den angrenzenden Räumen waren keinerlei Geräusche zu hören und so stieg ich unbeirrt die Treppe hinauf. Ein langer Flur mit etlichen Türen zog sich durch das Obergeschoss. Ich steuerte die erste Tür links an, drückte die Klinke herunter und trat ein.

Der Raum war spärlich eingerichtet; er enthielt nur ein Bett und einen Schrank, eine kleine Kommode, einen Tisch und einen Stuhl. Keine Deko oder irgendwelche persönlichen Dinge. Der karge Anblick erinnerte mich an eine Knastreportage, die ich zu Hause auf Sky gesehen hatte. Der Griff des Koffers entglitt meinen Händen und das schwere Gepäck plumpste mit einem dumpfen Laut zu Boden. Ich schloss die Tür hinter mir und ließ mich aufs Bett fallen.

Wo war ich hier bloß gelandet?!

Nach einer Weile kramte ich mein Handy hervor und suchte nach einem WLAN-Signal. Nichts. Natürlich. Free Wifi konnten die Bauerntölpel hier wahrscheinlich nicht mal buchstabieren! Mit hektischen Fingerbewegungen schaltete ich die mobilen Daten wieder ein. Dabei war es mir herzlich egal, wie viel das Abrufen meiner Mails und der eingegangenen Nachrichten kostete. Ich hatte keinen Schimmer, wann ich das nächste Mal in eine zivilisierte Gegend kam, und ich musste zumindest wissen, ob meine Freundinnen versucht hatten, mich zu erreichen.

Das Ergebnis war: 526 Gruppennachrichten, 25 Mails und 37 geteilte Videos im Chat – wenn auch nicht alle ausschließlich für mich. Das Heimweh überfiel mich wie ein gefräßiges Tier, als ich die ersten Kommentare überflog. Amelie fragte mich, wie es mir ging und ob ich gut angekommen war. Ab der Hälfte des Chats jedoch drehte sich alles nur noch um die Party, die am kommenden Wochenende bei Jonas steigen sollte. Ohne mich natürlich. Enttäuscht warf ich das Handy neben mich aufs Bett. Warum bloß hatte ich mich für vier Wochen Wyoming entschieden?

Ferien ohne meine Freunde. Vermutlich würden sie sich beim Schulanfang kaum noch an mich erinnern können. Auch Mams, diese Verräterin, war insgeheim sicher froh, dass sie mit Gero allein Urlaub auf den Malediven machen konnte; und ebenso unerwünscht war ich offensichtlich hier.

Wenn ich ehrlich war, beruhte dieses Gefühl allerdings auf Gegenseitigkeit. Es lohnte sich doch im Prinzip gar nicht, meinen Dad kennenzulernen. In wenigen Wochen würde ich so oder so wieder abreisen … genau genommen konnte ich es kaum erwarten. Ich hasste Amerika schon jetzt aus tiefstem Herzen. Wyoming, Jackson, die Ranch und vor allem meinen wie immer nicht vorhandenen Vater – diese ersten Eindrücke ließen nichts, aber auch gar nichts Positives für den weiteren Verlauf der Ferien erhoffen. Ich bereute meinen Entschluss hierherzukommen mit jeder Sekunde mehr und wollte nur noch eines: so schnell wie möglich zurück nach Hause.

Kapitel 3

American Fail

Ein schriller Ton zerriss meinen Traum wie sprödes Papier. Ich schlug die Augen auf, nur um entnervt festzustellen, dass das unangenehme Geräusch auch im wirklichen Leben existierte. Grummelnd zog ich mir die Decke über den Kopf. Woher kam dieser ohrenbetäubende Lärm? Und wieso fühlte sich das Kissen so anders an als das in meinem Himmelbett?

Mit einem Schlag war ich hellwach. Wyoming!

Ich stieß die Decke weg. Wie hatte ich verdrängen können, dass ich mich auf einer abgelegenen Farm mitten im Nirgendwo befand? Widerwillig stand ich auf. Ein Blick aus dem Fenster reichte aus, um meine Erinnerung besser aufzufrischen, als mir lieb war: ein riesiger Stall, ein alter Brunnen und ein eingezäunter Platz. Nichts als öde Landschaft drum herum und in einiger Entfernung … Pferde. Ich fühlte mich wie ein schlecht bezahlter Statist in einem B-Movie-Western.

Zwei absolut identisch aussehende Mädchen bespritzten sich unter mir im Hof mit Wasser und kreischten dabei, dass mein Trommelfell ächzte. Das also war die Quelle des Übels, die Ursache für meinen abgebrochenen Traum. Und sie trugen wirklich Cowboyhüte und Latzhosen! Das konnte nur ein Witz sein.

Ich rieb mir die Augen. Wie lange hatte ich wohl geschlafen? Nicht genug, um wach zu sein, befand ich, aber anscheinend länger als alle anderen Lebewesen in dieser Wildnis. Die Sonne stand hoch am Himmel, und selbst ich Großstadtjunkie konnte erkennen, dass es bereits Mittag sein musste. Ich stöhnte. Gegen ein Frühstück hätte ich nichts einzuwenden gehabt. Aber die Verpflegung war hier vermutlich ebenso grandios wie der Empfang.

Ich kramte den kleinen Handspiegel aus meiner Tasche hervor. Eines war klar – bevor ich irgendwelchen unfreundlichen oder kreischenden fremden Menschen gegenübertreten würde, musste ich mich um mein Aussehen kümmern. Ich warf einen skeptischen Blick durch den Raum. Meine Sehnsucht nach einem angrenzenden Badezimmer verschwand durch die einzige Tür, die auf den Flur hinausführte. Am Ende musste ich mir das Bad noch mit jemandem teilen! Kurz vor dem Aufprall bremste ich meine sinkende Laune jedoch ab: Soeben hatte ich den entscheidenden Vorteil meines späten Aufstehens entdeckt. Meine Stimmung kletterte zaghaft eine Stufe höher. Die Aussicht auf eine heiße Dusche war verlockend und zumindest über einen Mangel an Duschgel musste ich mir vorerst keine Sorgen machen. Für den Fall, dass es in dieser Wüste nur Kernseife gab, hatte ich eine extragroße Flasche meines Lieblingsduschgels eingepackt: Strawberry Summerdream. Es roch nicht nur fantastisch, das Gel schäumte beim Einseifen sogar pink auf.

Voller Vorfreude zerrte ich den Reißverschluss meines Trolleys auf, der noch genauso unberührt im Raum stand, wie ich ihn abgestellt hatte. Unter lautem Surren gab der Deckel meinen gesamten Kofferinhalt frei. Meine Kleider quollen aus der Öffnung wie aufploppendes Popcorn, dazwischen quetschten sich Deo, Duschgel und Shampooflaschen hervor, die polternd über den blanken Holzboden kullerten. Mit wachsendem Schrecken starrte ich auf meine neuen Jeans, meinen Hoodie und meine Unterwäsche, worauf sich eine undefinierbare Soße verteilte. Schleim, genauer gesagt. Glibberiger, ekliger rosa Schleim. Ich bückte mich und tippte mit dem Finger hinein, um vorsichtig daran zu schnuppern. Erdbeerduft. Eindeutig. Von wegen Strawberry Summerdream – das war der reinste Albtraum!

Der Ärger über meine eigene Dummheit kämpfte in mir gegen die aufsteigenden Tränen des Frusts. Mams hatte mich gewarnt, Shampoo und Duschgel lose in den Trolley zu packen. Natürlich hatte ich ihre nervigen Mahnungen ignoriert. Ich war ja wohl alt genug, um einen Koffer zu packen! Nun ja, das hatte ich zumindest geglaubt.

In diesem Moment öffnete sich ohne Vorankündigung die Tür und ein tropfnasses Gesicht mit großen blauen Augen erschien. Das musste eines der Mädchen sein, die ich vorhin beobachtet hatte. Ich fuhr meine innere Abwehr hoch.

»Hi.« Sie lächelte. »I’m Becky.«

Ich entspannte mich etwas, während das Mädchen fröhlich drauflosplapperte. Sie sprach mit starkem amerikanischem Akzent, rollte das »r« wie den Grunzlaut eines Walrosses, der sogar Frau Höcker-Mühlendorf vor Neid hätte erblassen lassen, und redete extrem schnell.

Vermutlich stand mir mein gedankliches Fragezeichen wie mit rotem Filzstift ins Gesicht geschrieben; jedenfalls traf mich ihr amüsierter Blick. Statt des Gelächters, das ich erwartet hatte, fasste sie ihr Gequassel netterweise jedoch mit nur einem Wort zusammen: »Lunch?«

Ich nickte erleichtert.

Sie wollte die Tür gerade wieder schließen, als ihr Blick auf meinen Koffer fiel. Ihr Kichern war das Letzte, das ich hörte, bevor sie aus meinem Blickfeld verschwand. Anscheinend konnte ich hier keinem trauen. Freundlich hin oder her, jeder schien sich früher oder später über mich lustig zu machen.

Mein Entschluss stand fest, ohne Dusche und geeignetes Outfit würde ich niemandem gegenübertreten. Mein letztes Bad lag schon viel zu lange zurück. Ich seufzte. Meine Erinnerung wehte mir traurig den Mango-Vanille-Duft um die Nase, der mich nach dem Schaumbad zu Hause eingehüllt hatte. Mittlerweile hätte ihn nicht mal ein Spürhund noch erahnen können.

Keine nennenswerte Stunde später – ich hatte mich wirklich beeilt! – fühlte ich mich frisch und, soweit das den Umständen entsprechend möglich war, sogar ein bisschen zuversichtlicher, als ich die Treppe hinunterlief. Ich trug eng sitzende Shorts, die mir bis knapp über die Pobacken reichten, meine Haare wellten sich in nahezu perfekten Spirallocken, deren langen Halt ich mit Haarspray gesichert hatte, und mein neuer Concealer vertuschte die Spuren der langen Reise. Vielleicht konnte ich heute ja ein WLAN-Passwort ergattern. Ein Chat mit meinen Freundinnen würde mich garantiert aufmuntern und von der Einöde ablenken.

Der Geruch nach Pfannkuchen war es allerdings, der vorerst meine Aufmerksamkeit auf sich zog und mich mit der Nase voran in die Küche trieb. Vielleicht war mein Dad doch schon zurückgekehrt und wollte seine gestrige Abwesenheit mit echten amerikanischen Pancakes wiedergutmachen? Fast fühlte sich der Gedanke an meinen backenden Vater wie eine warme Erinnerung an. Aber das war natürlich Quatsch, schließlich hatte er Mams und mich verlassen, als ich erst ein Jahr alt gewesen war. Das hatte ich zumindest bis vor Kurzem noch geglaubt.

Mein Gefühlshoch sauste allerdings mit Vollspeed in den Keller, als ich nicht etwa meinen Dad, sondern eine mir unbekannte Frau am Herd erblickte. Ihr strahlendes Lächeln änderte nichts an meiner Ernüchterung. Wer war diese Frau? Eine Haushälterin? Eine Freundin? Etwa seine Ehefrau?

Ich starrte sie an.

Wie auch immer ich mir meinen Empfang in Wyoming vorgestellt hatte – so jedenfalls nicht. Nur Fremde um mich herum. Konnte es denn wirklich so lange dauern, ein Pferd zu kaufen? Anscheinend hielt sich das Interesse meines Vaters, mich kennenzulernen, in sehr überschaubaren Grenzen.

Die zu allem Überfluss auch noch sehr hübsche Frau sah mich mit warmherzigem Blick an. Ihre dunklen Augen zeigten keinerlei Spottlust oder Ablehnung. Sie war die Erste hier, die es vielleicht sogar verdient hatte, ihr ebenso nett gegenüberzutreten.

»Hi, Roxy, ich bin Ava«, sagte sie.

»Hi«, erwiderte ich abwartend. Mein Lächeln wirkte vermutlich ebenso aufgesetzt, wie es sich anfühlte.

Die Frau ließ sich davon nicht beirren. Sie deutete auf einen Stuhl und schob mir einen Teller hin. Ich schluckte. Vor mir standen Marmelade, Schokocreme, verschiedene Arten von Sirup, Zucker, Zimt und Früchte. Wie sollte ich da widerstehen? Mein knurrender Magen nahm mir jede weitere Überlegung ab und ich stürzte mich auf den Pancake.

Erst nachdem ich einen zweiten Pfannkuchen verdrückt und einen weiteren abgelehnt hatte, nahm die Frau namens Ava unsere halb begonnene Kommunikation wieder auf. Ich hatte immer noch Hunger, aber ich wollte ihr nicht das Gefühl geben, dass wir uns bereits angefreundet hätten. Ich wusste schließlich immer noch nicht, wer sie überhaupt war, und blieb vorsichtig.

Sie lächelte dennoch zufrieden. »Schön, dass es dir schmeckt«, sagte sie. »Dein Dad kommt leider erst spät am Abend zurück. Er muss den neuen Zuchthengst abholen, den er gekauft hat, und konnte den Termin nicht verschieben.«

»Arbeitest du hier?«, fragte ich direkt. Bevor ich mit ihr über meinen Vater sprach, wollte ich wissen, woran ich war.

In ihren Augen flackerte Unsicherheit auf. »Nein, ich wohne hier«, antwortete sie. »Schon seit ein paar Jahren. Wir sind …«

»Schon gut«, unterbrach ich sie. »Ich versteh schon.«

Ich schluckte gegen das befremdliche Gefühl in meinem Hals an. Seit ein paar Jahren. Natürlich wusste ich ebenso wenig über meinen Vater wie er über mich.

»Es tat uns beiden sehr leid, dass wir gestern nicht hier sein konnten, als du ankamst. Ich musste Becky und Lacey zu einem Hockeyturnier begleiten, und als wir zurückkamen, schliefst du schon.« Ich nickte, sagte aber nichts. »Ich habe deinem Dad jedenfalls versprochen, dass ich dir schon mal die Ranch zeige, solange er unterwegs ist. Hast du Lust?«

Ihr erwartungsvoller Blick verdrängte meinen aufkeimenden Protest. Ich interessierte mich null für diesen Bauernhof, aber das konnte ich ihr einfach nicht sagen.

Sie wusch sich die Hände, während ich das wilde Durcheinander an Töpfen und Tellern um uns herum betrachtete. Vielleicht sollte sie lieber mal hier aufräumen? Und vielleicht sollte ich vor mir selber mal zugeben, dass sie mir durchaus sympathisch war, rief ich mich selbst zur Ordnung. Ich musste ja über Dads Freundin kein vorschnelles Urteil fällen, nur weil ich Mams’ Freund nicht leiden konnte.

In diesem Moment klingelte ein Telefon. Aufgeregt suchte ich mit den Augen nach dem dazu passenden technischen Gerät. Anscheinend war Wyoming doch nicht so abgelegen, wie ich gedacht hatte, und es gab zumindest Handyempfang. Bestimmt stand auch irgendwo ein Computer mit Internet und …

»Miss Marmelade? Das ist ja schrecklich! Ich komme sofort.«

Ich sah verwundert in Avas Richtung und wusste, was kam, bevor sie es aussprechen konnte. Ihr Blick sagte alles.

»Es tut mir leid, Roxy, aber eine unserer Zuchtstuten ist verschwunden. Sie ist hochtragend. Ich hoffe nicht, dass sie durch den Zaun gegangen ist und sich verletzt hat.«

Ich kapierte nicht wirklich, was sie meinte und wer Miss Marmelade war, lächelte aber verständnisvoll.

»Die Zwillinge können dir die Ranch zeigen. Bestimmt hast du mit ihnen sowieso viel mehr Spaß.« Ava deutete nach draußen und nickte mir aufmunternd zu. »Geh doch schon mal vor, ich hole schnell meine Tasche.« Sie steckte ihr Handy ein und verschwand im Nebenzimmer.

Verunsichert stand ich auf, verließ die Küche und steuerte auf die Haustür zu. Die Hunde von gestern kamen mir in den Sinn, doch ich wollte mich nicht schon wieder dumm anstellen. Ich schloss die

Augen, atmete tief durch, wappnete mich für einen tierischen Begrüßungsansturm und öffnete die Tür.

Platsch!

Ein Schwall Wasser ergoss sich über meinen Kopf. Das nervige Gekicher, das mir meinen Traum versaut hatte, erklang jetzt ganz nah und mehrere Oktaven höher. Ich wagte nicht, die Augen zu öffnen oder mir mit den Händen durchs Gesicht zu wischen. Wasserfester Concealer war definitiv eine Marktlücke der Kosmetikbranche, die dringend mal jemand schließen sollte! Ich wollte gerade zurück ins Haus flüchten, als sich eine Hand auf meine Schulter legte.

»Becky, Lacey!« Avas Stimme klang trotz der Schärfe darin liebevoll. »Kommt her und entschuldigt euch!«

Das Kichern näherte sich. Jemand drückte mir ein raues Handtuch ins Gesicht. Der feine Glitzerstaub meines Lidschattens schmirgelte wie Schleifpapier und meine Augen brannten. Ich blinzelte, während ich versuchte, einer Erblindung entgegenzuwirken und gleichzeitig mein ruiniertes Styling zu retten. Als ich endlich wieder schmerzfrei sehen konnte, blickten mich vier unschuldige blaue Augen an. »Sorry … and welcome to Wyoming.«

»Roxy, das sind Becky und Lacey, meine Töchter.« Ava sah mich entschuldigend an. »Sie haben es nicht böse gemeint.«

Ich hatte da so meine Zweifel. Aber ihr Lächeln wirkte ehrlich und Ava drückte beschwichtigend meine Schulter. »Hey, ihr zwei«, forderte sie die beiden auf, »als Wiedergutmachung könnt ihr Roxy die Ranch …«

»Sorry, Mom, aber Kelly feiert heute ihren Geburtstag und wir werden in einer halben Stunde abgeholt.«

Mit diesen Worten flitzten sie an uns vorbei ins Haus. Ich stand im wahrsten Sinne des Wortes da wie ein begossener Pudel.

»Come on, sweetheart, kein Problem!« Ava lächelte fröhlich. »Du wirst einfach den Tag mit Cale verbringen und hilfst ihm ein bisschen bei den Pferden, ja?«

Cale? Kelly? Ich wusste nicht, von wem sie alle sprachen.

»Das ist sicher spannend für dich als Großstadtkind. Dann kannst du gleich all unsere Tiere kennenlernen.«

Tiere. Ich hätte beinahe laut gestöhnt.

»Du darfst auch reiten, wenn du möchtest.« Ava strahlte, als hätte sie die beste Idee seit Langem gehabt.

»Äh, danke … nein.« Ich schüttelte energisch den Kopf.

Ava blickte mich an, als wartete sie auf eine Erklärung. Sie fragte jedoch nicht, als diese ausblieb, und lächelte stattdessen wieder. »Schau dich erst mal um. Ich bin hoffentlich bald wieder da. Cale ist in der Scheune.« Sie schwang sich die Handtasche über die Schulter und lief zu dem rostigen Wagen, der mich gestern abgeholt hatte.

Mir schwante Schlimmes, als ich mich fragte, wer wohl Cale sein mochte. Mit quietschenden Reifen fuhr der Jeep an mir vorbei und ließ mich allein zurück in der staubigen Wildnis von Wyoming.

Nur der Idiot von gestern lehnte in der Stalltür und grinste mich an.

Kapitel 4

Alles Mist!

Immerhin hatte der Cowboy nun einen Namen: Cale.

Er sah allerdings nicht so aus, als wäre er erfreut über den unerwarteten Betreuungsauftrag, und ich wünschte mich sehnlichst an den Strand der Malediven.

Nachdem auch Becky und Lacey abgeholt worden waren, hatten sich meine Chancen, einem Tag mit Cale zu entgehen, minimalisiert. Sie waren genau genommen im Staub verpufft.

»Vielleicht hättest du besser mit zu dem Kindergeburtstag fahren sollen. Ich muss heute die Boxen ausmisten und unbedingt das Stalldach reparieren, bevor es anfängt zu regnen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du mir dabei eine Hilfe bist.« Er ließ seinen Blick abschätzend über mein Outfit wandern.

»Abgesehen davon, dass es hier wohl kaum regnen wird – wer hat gesagt, dass ich dir helfen will?«

Ich unterzog ihn ebenfalls einer skeptischen Betrachtung. Die Erkenntnis, dass er dabei ziemlich gut wegkam, behielt ich aber lieber für mich.

»Ich habe jedenfalls keine Lust, deinetwegen meinen Ferienjob zu verlieren. Liam würde es nämlich nicht gefallen, wenn ich meine Arbeit nicht erledigt habe, bevor er zurückkommt.«

Liam. Ein Kribbeln zog sich über meine Kopfhaut den Nacken hinunter. Es war lange her, dass jemand den Namen meines Vaters in meiner Gegenwart ausgesprochen hatte. Doch das musste ausgerechnet Cale nicht wissen.

»Ferienjob«, äffte ich ihn nach, um von meinen eigentlichen Gedanken abzulenken. »Wer zum Teufel hat dieses Wort erfunden? Ferien und Arbeit haben ja wohl wirklich nichts miteinander zu tun.« Ich zog die Nase kraus, während ich Cales Blick auswich und stattdessen den Staub begutachtete, der meine vormals weißen Chucks unter sich begraben hatte.

»Natürlich hast du noch nie in den Ferien gearbeitet. Das wundert mich nicht.« Cales Tonfall klang abwertend. »Wie auch immer, ich werde jetzt anfangen. Du kannst mitkommen, wenn du willst, oder es bleiben lassen.«

Er wandte sich um, ohne meine Antwort abzuwarten.

Na toll. Ich verkniff mir ein sarkastisches Lachen. Von Wollen konnte nun wirklich nicht die Rede sein! Zumal Cale aussah, als ob ihn ein Nein von mir mehr erfreuen würde als die Vorstellung, mich den restlichen Tag über an der Backe zu haben. Diesen Triumph gönnte ich ihm wiederum auch nicht. Resigniert stapfte ich also hinter dem arbeitswütigen Cowboy her. Der Staub, den ich bei jedem Schritt aufwirbelte, vermischte sich mit den Resten der Wasserattacke, die in feinen Rinnsalen meine nackten Beine hinabliefen. Fast so schön wie eine Schlammpackung auf den Malediven, versuchte ich mir einzureden und blieb stehen, um wenigstens den schlimmsten Dreck wegzuwischen.

»Bei deinem Tempo werden wir allerdings morgen noch nicht fertig. Vielleicht laufen bei euch in Deutschland die Uhren anders, aber hier steht man normalerweise auf, wenn es hell wird, und fängt an zu arbeiten. Wir haben bereits Nachmittag. Also, komm endlich!«

Ich war zu perplex, um zu antworten. Obwohl ich erstaunlicherweise weder Probleme hatte, diesen Volltrottel zu verstehen, noch die passenden Vokabeln zu finden. Denn abgesehen von der primitiven Wortwahl, die er meistens benutzte, reichte ein Blick, um zu wissen, was Cale dachte. Der Ärger stand ihm ebenso deutlich ins Gesicht geschrieben wie der Spott, mit dem er mich fortwährend betrachtete. Ich biss die Zähne zusammen. So ein Blödmann! Ich würde ihm schon zeigen, dass er mich falsch einschätzte.

Wenn ich allerdings geglaubt hatte, den schlimmsten Teil des Tages schon hinter mir zu haben, hatte ich mich gründlich getäuscht. Der Gestank nach Viechern und Heu, der mir im Stall entgegenschlug, drückte empfindlich auf meine Atemwege. Cale hielt mir einen alten Holzstiel mit vier rostigen Metallzinken unter die Nase. Ein riesiges Pferd blickte mir aus der Box entgegen, auf die er zeigte. Ich wich automatisch einen Schritt zurück. »Auf gar keinen Fall!«

»Was denn? Hast du Angst? Es ist nur ein Pferd und kein Monster.«

Ich sah das belustigte Zucken in seinen Mundwinkeln – er lachte mich aus. Schon wieder! Am liebsten hätte ich ihn mit dem Gabelding aufgespießt.

»Die Boxen müssen nun mal ausgemistet werden.«

Ich schüttelte energisch den Kopf. »Wenn überhaupt, miste ich nur leere Boxen aus – ohne Pferd.«

Er musterte mich einen Augenblick lang, während er offensichtlich abwog, wie viel Zeit er in eine Diskussion mit mir investieren wollte. Dann nickte er knapp. »Okay. Da vorn steht die Schubkarre, der Misthaufen ist hinter dem Stall. Bis auf diese eine Box sind alle anderen leer, wir haben die Pferde heute auf die Weide gelassen.« Er seufzte. »Ich zeige dir besser, wie das geht. Vermutlich hast du noch nie in deinem Leben eine Mistgabel in der Hand gehabt.«

Mist schaufeln. Pah! Was wollte er mir dabei zeigen? Und für wie blöd hielt er mich eigentlich?

Eine Stunde später lief mir der Schweiß in Strömen an den Schläfen hinunter. Ich lehnte mich gegen die Boxenwand und wischte mir zum hundertsten Mal mit dem Handrücken über die Stirn. Ein Blick auf meine dreckverschmierten Hände sagte mir, dass mein Gesicht nicht besser aussehen konnte. Über den Zustand meiner Beine wollte ich erst gar nicht nachdenken. Ständig stieß ich mit den Oberschenkeln gegen die Griffe der Schubkarre, die sich ohne einen Schubs meines gesamten Körpergewichts überhaupt nicht bewegen ließ. Meine Haut juckte bestialisch und geruchstechnisch gab es längst keinen Unterschied mehr zwischen mir und dem Misthaufen.

Das Ausmisten war nicht nur anstrengend, es erwies sich sogar als Hochleistungssport. Mit gekrümmtem Rücken die Gabel in die undefinierbare Pampe aus altem Heu, Pferdepipi und dicken Haufen zu rammen, war nur der Anfang der Schinderei. Nach einem Sprint durch die Stallgasse, dann über den holprigen Weg, der sich über Steine und Schlaglöcher zum Ziel schlängelte, gipfelte die Übung im Erklimmen des Misthaufens. Mehrere schmale Bretter, die halbherzig aneinandergepuzzelt und von einem rutschigen braunen Schleim überzogen waren, führten auf ein etwas breiteres Brett, das die Spitze bildete. Von dort oben musste man es nur noch schaffen, die wacklige Fuhre umzukippen, ohne von dem Gewicht mitgerissen zu werden.

Mit wahrscheinlich hochrotem Kopf hielt ich auf die Plattform zu. Ein kurzes Verschnaufen auf halber Strecke war absolut unmöglich, da die Schubkarre ansonsten rückwärtsrollte. Ich hatte es nur ein einziges Mal ausprobiert. Danach war ich geheilt.

Meine Arme zitterten vor Anstrengung, und ich schwor mir, nach dieser Runde eine Pause einzulegen – ob das dem Cowboyhut nun passte oder nicht. Von einem siegreichen Glücksgefühl begleitet, erreichte ich den höchsten Punkt des Misthaufens. Mit Schwung kippte ich die Karre nach vorn, als mir plötzlich schwarz vor Augen wurde und ich gefährlich zu schwanken anfing. O nein! Mit großer Kraftaufwendung konnte ich gerade noch verhindern, dass ich in der schlammigen Masse neben dem Podest versank. Nur die Schubkarre war nicht mehr zu retten, die platschte neben mir in den Mist.