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Die Studentin Savannah Stone, die nebenbei in der Privatdetektei ihres Onkels arbeitet, wird von ihm in die Dominikanische Republik geschickt. Dort soll sie den dunklen Machenschaften von Daniel Thompson, einem Geschäftspartner ihres Vaters, auf den Grund gehen. Beide glauben, dass Thompson in den Todesfall seiner Angestellten, einer jungen Prostituierten, verwickelt ist. Um Savannahs Vater aus Thompsons betrügerischen Geschäften rauszuhalten, muss Savannah also Beweise sammeln, um den Geschäften ein Ende zu machen und ihren Vater zu entlasten. Als sie eines Nachts dem vermeintlichen Mörder und Außenseiter, der von allen auf der Insel Old Dirty Ryan genannt wird, gegenüber steht und dieser den Lauf seines Gewehres in ihr Gesicht hält, beginnt für Savannah ein Wettlauf gegen die Zeit, in einem Wirrwarr aus Fakten, Schmierereien und Lügen den Mord an der Prostituierten aufzudecken.
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Seitenzahl: 520
Veröffentlichungsjahr: 2019
ROBERTA LA ROSA
***
DARK PARADISE
Untergetaucht
© 2019 Roberta La Rosa
Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7482-2873-8
Hardcover:
978-3-7482-2874-5
e-Book:
978-3-7482-2875-2
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Dieses Buch widme ich meinem Ehemann.
Danke, dass du mich immer unterstützt meine Träume zu verwirklichen.
Prolog
Brrrrrr Brrrrrr Brrrrrr
Meine Tasche fing mitten in der Vorlesung an zu vibrieren.
„Willst du nicht rangehen?“ Carol, meine Banknachbarin und Freundin stupste mich sanft am Oberarm.
Ich sah runter zu meiner braunen ledernen Tasche, die auf dem Boden neben dem Tischbein lehnte.
Vorne, an der übergroßen Tafel, stand die Professorin neben einem Tageslichtprojektor und hielt einen Vortrag über mittelalterliche Bauwerke.
Ich sah Carol wieder an und winkte ab.
„Das hat später noch Zeit.“ Flüsterte ich ihr zu.
Die Professorin sah kurz zu mir herüber.
Anscheinend hatte sie mein vibrierendes Handy ebenfalls gehört, ließ sich aber nicht weiter stören und setzte ihren Vortrag fort.
Immer wieder schob sie Ihre Brille an dem mittleren Haltebügel zu Recht, während Ihre Stimme durch den Saal hallte, der gerade mal halb voll mit aufmerksam zuhörenden Studenten war.
Der eine oder andere machte sich ein paar Notizen auf einem DIN A 4-Block. Andere wiederum saßen so lässig da, als sähen sie sich gerade ihre Lieblingsserie auf Netflix an. Manche von ihnen starrten wie gebannt auf die Professorin, die immer wieder einzelne Schlagwörter an die dunkle Tafel kritzelte. Das löste jedes Mal eine Art Kettenreaktion aus. Sobald sie sich an die Tafel wandte und anfing zu kritzeln, kritzelte der Rest des Saals auf ihren Blöcken mit.
Mein Handy war nach wenigen Sekunden verstummt. Ein wenig erleichtert konzentrierte ich mich wieder auf den Vortrag, während ich mir nebenher ein paar Notizen machte.
Jeden Tag wenn ich hier saß, wusste ich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Ich liebte die Uni.
Und ich liebte das Studium. Der Geruch von Büchern hatte etwas Magisches. Jedes Mal wenn ich in einem Buch blätterte, die Seiten zwischen meinen Fingern spürte, wusste ich, dass ich etwas Wertvolles in der Hand hielt, das meinen Wissensdurst befriedigte.
Was ich allerdings noch mehr liebte, war die Kunst wunderschöne Gebäude zu kreieren.
Die schönsten Erinnerungen aus meiner Teenagerzeit waren die, als ich mit meinen Eltern um die halbe Welt reiste. Wenn wir unsere Stadttouren machten, achtete ich auf die wunderschönen Fassaden alter oder neuer Bauwerke. Egal ob es Kirchen, Monumente oder ganz normale Häuser waren. In jedem dieser Gebäude passierte das echte Leben.
Eine Familie die in einem liebevoll eingerichteten zu Hause ihren Alltag lebte, ein Pfarrer der sonntags seine Messe in einer hundert Jahre alten Kirche hielt oder die bekannten Gladiatorenkämpfe im römischen Kolosseum, die ich in einem Souvenirbuch nachgeschlagen hatte.
Damals, zu meinem vierzehnten Geburtstag, bekam ich von meinen Eltern eine Stadttour durch Venedig geschenkt. Ich hatte immer noch die liebevoll gestalteten Balkone, die Gassen mit den halbverrotteten Fassaden und den aufeinander gepferchten kleinen Häuschen vor meinem inneren Auge. Es war, als ob man in eine andere Welt tauchte.
Seitdem stand fest, dass ich eines Tages mir diese Kunst zu eigen machen und wunderschöne Gebäude kreieren wollte.
Auch, wenn ich mit meinem Studium mit 27 Jahren etwas spät begonnen hatte, wusste ich, dass es nie zu spät war seine Träume zu verwirklichen.
Um es kurz zu erklären; ich war davor auf die schiefe Bahn geraten, hatte deswegen Ärger mit meiner Familie und daher keinen Nerv und nicht die finanziellen Mittel, meinem Traum hinterher zu eifern.
Also holte ich jetzt alles nach und gab mir Mühe, in meinem Leben alles aufzuarbeiten, was ich verpasst hatte.
Im Moment befand ich mich im vierten Semester. Ich hatte also noch vier vor mir und war voller guter Hoffnung dass ich es diesmal schaffen würde.
Wenn ich an meine Zukunft dachte, dann sah ich mich in meinem eigenen Architekturbüro sitzen, hinter einem hochwertigen Zeichentisch, während ich eifrig Häuser und Gebäude entwarf. Abends würde ich in eine wunderschöne Villa nach Hause kommen, wo ich die Beine auf wunderschöne Möbel hochlegen und dabei eine selbstgemachte Margerita trinken würde.
Genau das war mein Fünf-Jahres Plan. Jeder erfolgreiche Mensch hatte einen, damit er seine Ziele Schritt für Schritt verfolgen konnte, ohne von seinem Weg abzukommen.
Darum ging es im Leben. Einen guten Job zu haben und gutes Geld verdienen, damit man eine gewisse Lebensqualität erhielt.
Jedenfalls hatten mir meine Eltern jahrelang eingetrichtert, dass es im Leben genau darum ging. Mein Vater sagte immer, wenn du dich unabhängig von anderen machen kannst, dann bist du frei. Und dazu braucht man einen angesehen Beruf und eine Menge Geld.
Hätte ich mich schon früher um mein Leben besser gekümmert, hätte ich mein Ziel längst erreicht.
Ich sah mich im Hörsaal um.
Hinter mir saß mein Kommilitone Ron, der bestimmt um die vierzig war. Eine Reihe vor mir saß Betty, weit über fünfzig und bereits Uroma.
Das gab mir ein wenig Trost, dass man eben nie zu alt war, um auf seinen Zug zu springen, das man Leben nennt.
Man muss eben nur daran festhalten.
Mein Opa unterstützte meinen Dad mit folgenden Worten: Wissen ist Macht und Macht ist das einzige, dass dich im Krieg über Wasser hält. Zugegeben, den Spruch hatte er sich teilweise selbst zusammen gereimt. Aber je älter ich wurde, desto mehr verstand ich seine Worte.
Mein Handy summte erneut.
Eigentlich wollte ich es ignorieren, doch es schien wohl was Wichtiges zu sein. Carol grinste mich an.
Obwohl es gerade ein ziemlich schlechter Zeitpunkt war, und die Professorin mich bereits leicht genervt ansah, zog ich es aus der Tasche und warf einen schnellen Blick darauf.
Karens Name prangerte quer über dem Display.
Das bedeutete nichts Gutes. Sie wusste dass ich in der Uni war und sie würde nie anrufen, wenn es nichts Wichtiges gäbe.
Ich stand auf, schlängelte mich an meinen Banknachbarn vorbei und verließ hastig den Saal.
Vorsichtig zog ich die schwere Tür hinter mir, als ich im Flur stehen blieb und auf die Annahmetaste drückte.
„Ich bin gerade mitten in einer Vorlesung, ich hoffe es ist wichtig….“ Rief ich hinein.
„Komm bitte schnell nach Hause, Savannah…“ ihre Stimme klang etwas gehetzt und leicht panisch.
„Was ist los?“
„Dein Onkel hatte einen Herzinfarkt…“
Kapitel 1
Der Rasen leuchtete in einem prächtig satten Grün. Die Rosensträucher vor dem Haus blühten in Ihren schönsten Farben und die Bäume wiegten ihre Kronen sanft hin und her. Ich stand hinter dem Fenster in der Küche und betrachtete den großen Garten vor dem Anwesen, das von einer Steinmauer umrandet war. Der Gärtner machte sich gerade an den Hortensienhecken, vorne am Tor, wo ein Kieselweg zum Haus entlangführte, zu schaffen.
Auf dem Küchentisch waren meine Bücher und Unterlagen verbreitet, die darauf warteten mit großartigen Ideen ausgefüllt zu werden. Ich musste ein paar Skizzen für die Uni anfertigen und erhoffte mir dennoch ein wenig Inspiration, auch wenn ich nebenbei noch eine andere Aufgabe zu erfüllen hatte.
Das Pfeifen des Wasserkochers riss mich aus meinen Gedanken. Ich drehte mich zur dunklen Granit Theke und schaltete ihn aus. Dann goss ich Wasser in eine Tasse, warf einen Teebeutel hinein und stellte die Tasse auf ein vorbereitetes Tablett, auf das ich bereits einen Teller mit einem Sandwich vorbereitet hatte. Mit dem Tablett in der Hand verließ ich die Küche und marschierte durch den großen einladenden Flur die riesige offene Holztreppe hinauf, die mitten im Raum in die obere Etage führte. Oben angekommen, blieb ich vor der vierten Tür stehen. Mit dem Ellbogen stieß ich die glänzende Mahagonitür auf und trat erst rückwärts hinein und drehte mich dann um, als ich im Raum stand.
Der Mann, der aufrecht im Bett saß, sah gelangweilt aus dem Fenster. Er hatte sich in die Kissen zurückgelehnt und verzog keine Miene. Seine Haare waren vom Kissen leicht zerzaust, die dunklen faltigen Augenränder untermalten die Traurigkeit in seinen Augen. Seine schmalen Lippen waren aufeinander gepresst. Man sah ihm an, dass es eine Qual für ihn war, sozusagen am Bett gefesselt zu sein.
Ich näherte mich mit vorsichtigen Schritten, um den Tee nicht zu verschütten.
„Na, wie geht es dir heute?“ fragte ich, während ich das Tablett auf dem Nachttisch neben seinem Kingsize-Bett, mit hohem massiven Kopfteil aus dunklem Holz stellte.
Er drehte seinen Kopf in meine Richtung, blickte auf das Tablett und sah mich dann an.
„Erspar dir die Fragen, Kleines, sag mir lieber was die Geschäfte machen.“
Ich ließ mich seufzend neben ihn aufs Bett fallen und sah ihn an.
„Du solltest in deinem Zustand nicht an die Arbeit denken.“
„Na was soll ich denn sonst tun? Sieht nicht gerade aus, als stecke ich mitten in einem Abenteuer.“
„Sieh es doch mal positiv. Jetzt hättest du Zeit, in aller Ruhe ein Buch zu lesen.“
Er warf mir einen höhnischen Blick zu.
„Ich bin noch nicht tot, Kindchen.“
„An so etwas wollen wir gar nicht denken.“ Sagte ich aufmunternd.
Onkel James seufzte. „Und, konntest du den letzten Fall lösen?“
„Natürlich.“
„Und, hat dieser Banker seine Frau wirklich betrogen?“
Ich nickte.
„Wer war‘s?“
„Die Frau von seinem Chef.“
„Das erklärt seine Überstunden. Wollte sich vermutlich hocharbeiten.“ Das letzte Wort unterstrich er, in dem er zwei Anführungszeichen in der Luft malte.
Ich schüttelte lächelnd den Kopf und zog den Teebeutel aus der Tasse. Ich legte ihn auf der Untertasse ab und rührte den Aufguss mit dem Löffel um.
Man konnte meinen, mein Onkel James war der Erfinder des Sarkasmus.
In den letzten drei Jahren, in denen ich bei ihm wohnte, hatten wir eine enge vertrauenswürdige Bindung geschaffen. Vielleicht lag es auch daran, dass er nie geheiratet und keine Kinder hatte. Also war ich so was wie eine Ersatztochter für ihn.
Obwohl er in Geschäftsangelegenheiten ständig den Kontrollfreak raus hängen ließ, war er in zwischenmenschlichen Beziehungen ziemlich gelassen. Ich hatte mich daran gewöhnt und war ihm unendlich dankbar, denn er gab mir in seiner riesigen Villa in Arizona ein Dach über dem Kopf damit ich mein Studium durchziehen konnte. Das ersparte mir zum einen die teure Miete einer Studentenwohnung und zum anderen mussten sich meine übervorsichtigen Eltern keine Sorgen um mich machen, während sie ihr Leben auf einer Insel in vollen Zügen genießen konnten.
Als Gegenleistung dazu, half ich in Onkel James‘ Privatdetektei aus und übernahm den einen oder anderen Fall, wenn es mein Studentenleben zuließ.
Manche davon waren ziemlich heikel. Es ging schließlich nicht nur um Affären, sondern auch um verzwicktere Sachen, wie Ladendiebstähle, Erbschaftsstreits und Insolvenzverfahren.
Meine Eltern, die sich derweil in der Dominikanischen Republik niedergelassen und ein Leben wie Gott in Frankreich führten, wussten natürlich nichts davon. Niemand wusste davon. Nicht mal meinen engsten Freunden hatte ich davon erzählt, dass ich ganz so nebenbei Lügner und Betrüger jagte. Vielleicht nicht gerade das, was man von einer Vorzeigetochter erwartete, aber meine Eltern hätten mir einen Strich durch die Rechnung gemacht, wenn sie davon erfahren hätten. Das war ein großes Geheimnis, dass meinen Onkel und mich noch mehr verband.
Er hielt nichts von Übervorsichtigkeit. Man musste Kindern ihren eigenen Weg gehen lassen, egal wie schwer dieser war. Diesen Vortrag hatte er meinem Vater früher bei jedem Familienessen vorgehalten und jedes Mal heimste er sich die Worte ein „Hab du erst mal Kinder!“
Meinen ersten Beschattungsauftrag bekam ich, als einer von Onkel James Leuten ins Ausland ausgewandert war. Damals hatte mein Onkel gleichzeitig einen sehr wichtigen Auftrag angenommen. Es ging um einen reichen Geschäftsmann, der zwar Insolvenz angemeldet, aber nebenbei noch andere Geldeinnahmen hatte und diese auf einem Auslandskonto versteckte hatte.
Ein Gläubiger hatte die Detektei beauftragt die Konten zu finden und Beweise dafür zu liefern. Mein Onkel hatte mich zu der Zeit einmalig um Hilfe gebeten. Obwohl ich keine Ahnung von Detektivarbeit gehabt hatte, schaffte ich es mit Onkel James Unterstützung die Konten ausfindig zu machen und den Geschäftsmann hochgehen zu lassen.
Mein erster Auftrag und danach war ich richtig scharf auf den Job.
Ich hatte Blut geleckt. Ich wollte noch mehr.
Also bin ich immer mehr eingestiegen. Habe mit der Zeit größere und gefährlichere Aufträge erfolgreich erledigt, ohne dass jemand aus meiner Familie oder von meinen Freunden, etwas von meinem zweiten Leben wusste.
Obwohl ich meinen Eltern gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte, konnte ich einfach nicht die Finger davon lassen.
Ich war es meinem Onkel schuldig. Dafür, dass ich bei ihm umsonst Leben durfte, während meine Eltern ein sorgloses Leben in einem prächtigen Bungalow direkt am Strand führten. Dabei versuchte ich hier zu Hause in Arizona das Leben zu führen, das sie sich schon immer für mich gewünscht hatten. Denn außer der Tatsache, dass meine Eltern meinen Opa pflegten, der seit fast einem Jahr so gut wie dement war, hatten sie keinerlei Verpflichtungen. Schließlich war ich ihre einzige Tochter.
Sie lebten von Opas Rente und dem gut angelegten Geld, als mein Vater noch eine Immobilienfirma besaß.
Vielleicht kam daher auch mein Faible für die Architektur. Es ist an dieser Stelle wohl unnötig zu sagen, dass meine Familie schon immer gut situiert war und wo andere auf engstem Raum lebten, die Miete zusammenkratzen mussten und ein Auto für die ganze Familie hatten, hatte meine Familie ein Auto pro Kopf, jeder seine eigene Villa und jede Menge Kohle zum Ausgeben. Bis auf den Tag, als mein Vater alles verkaufte was er hier besaß, um sich ein Maklerbüro mitten in der dominikanischen Republik hinzustellen und jeden Morgen am Strand aufzuwachen.
Das abgedroschene an der Sache war, dass meine Eltern unter all der Business-Fassade und den grauen Anzügen meines Dads, beide begnadete Hippies waren. Sie liebten das freie Leben und die Ungezwungenheit, die sie bei meiner Geburt auf Eis gelegt hatten, weil sie auf einmal dachten, dass Kinder strenge Regeln bräuchten und mit zu viel Gelassenheit, nichts Anständiges aus Ihnen werden konnte.
Meine Mutter hatte schon immer den Traum gehabt, ein zwangloses Leben am Strand zu führen. Obwohl sie die Bewegung nicht direkt miterlebt hatten, führten meine Eltern ihr Leben auf originelle liberale Weise und waren Teil einer Hippie-Clique, die sich einmal im Monat traf, um mit einem floral lackierten Bus zum Zelten zu fahren. Ich denke, dass ich deswegen so früh gezeugt wurde, weil sie nichts von irgendeiner eingeschränkten Lebenshaltung hielten. Wie oft erzählten sie mir Geschichten von Festivals, die es auch noch Jahre nach Woodstock gegeben hatte, der Bewegung zur öffentlichen Liebe und den Abenden am Lagerfeuer, während man sich einen Joint nach dem anderen drehte und Songs von Mamas and the Papas oder von Janis Joplin sang. Ich glaube sogar, dass ich auf so einem Festival gezeugt wurde.
Das hatte ich mich aber nie getraut zu fragen.
„Du musst etwas für mich erledigen.“ Fing Onkel James an.
Ich reichte ihm die Tasse Tee und er nahm einen Schluck davon, bevor er mir die Tasse zurück reichte und ich sie wieder zurück auf den Nachttisch abstellte.
„Was gibt’s?“
„Es geht um deine Eltern.“
Wir hörten Schritte im Flur und mein Onkel verstummte.
Gleich drauf sprang mich ein kleines Fellknäuel von der Seite an. Ich schrie erschrocken auf, warf das flauschige Bündel reflexartig zu Boden und bewaffnete mich mit einem Kissen.
„Karen!“ rief ich hysterisch „Weg mit dieser Bestie!“
Karen, die Haushälterin, lachte, schnappte sich den kläffenden Chihuahua, der mich gerade ankeifte, als sei er von der Tarantel gestochen worden und nahm ihn auf den Arm.
„Ach kommen Sie, Miss Stone. Der Kleine ist doch so ein lieber Kerl.“ Sie tätschelte liebevoll seinen kleinen Kopf, während dieser mich erst mit fletschenden Zähnen anknurrte und sich im nächsten Moment wie das unschuldigste Wesen auf der Welt verhielt, als Karen ein Leckerchen aus der Tasche zauberte und den Hund auf diese Weise zum Schweigen brachte.
Seit meinem zehnten Lebensjahr, als der Nachbarshund mich gepackt und durch die Gegend geschliffen hatte, war es mit meiner Zuneigung zu Hunden aus und vorbei. Für mich persönlich waren sie unberechenbare Lebewesen. Ich traute keinem Einzigen von Ihnen. Mit den Jahren hatte ich gelernt die Straßenseite zu wechseln, jedes Mal wenn mir einer von Ihnen entgegen kam. Egal ob angeleint oder nicht.
Karen übergab meinem Onkel den Hund, dieser positionierte ihn sich liebevoll unter den Arm, als Karen nach dem Blutdruckmessgerät auf dem Nachttisch griff und bei meinem Onkel den Blutdruck maß. Ich vergewisserte mich, dass mein Onkel den Hund fest im Griff hatte, dann warf ich erleichtert das Kissen weg.
„Also, worüber wolltest du mit mir reden?“ fing ich dann an.
Onkel James wartete dass Karen fertig war und die Manschette von seinem Oberarm abnahm.
„Kannst du dich noch an Daniel Thompson erinnern?“
Ich überlegte erst und verzog dann das Gesicht.
„Dad's früherer Partner?“
„Genau den.“
Ja, natürlich erinnerte ich mich an ihn. Er war nicht nur ein guter Geschäftspartner meines Vaters, sondern auch ein guter Freund. Ich erinnere mich noch, dass er mir an Weihnachten immer Geschenke mitbrachte.
„Was ist mit ihm?“
Onkel James seufzte.
„Du weißt doch, dass er die Firma deines Vaters dort übernommen hat?“
Ja das wusste ich.
Daniel Thompson hatte sich damals freiwillig bereit erklärt, mit seiner Tochter mit auf die Insel zu gehen und den Job dort weiter zu machen. Nachdem mein Dad sich nun frühzeitig „zur Ruhe“ gesetzt hatte, traf er die Entscheidung Daniel Thompson die Firma zu überschreiben.
„Und? Was ist mit ihm?“
„Er ist ein verdammt linker Hund.“
„Nein! Wirklich?“ Mit übertrieben gespielter überraschter Miene, deutete ich meinem Onkel, dass dies nichts Neues für mich war.
Mein Onkel sah zu Karen rüber und schüttelte den Kopf.
„Diese Jugend….“
Ich grinste und sah Karen an, die ebenfalls grinste und meinem Onkel den Teller mit dem Sandwich übergab. Mein Onkel stieß den Teller sanft von sich. Karen stellte ihn wieder zurück, schnappte sich den Chihuahua und ließ uns allein.
„Also, pass auf. Daniel Thompson gehört die Immobilienfirma jetzt zwar, aber ich glaube dein Vater steckt finanziell noch mit drin.“
Als wäre die Energie in ihm zurückgekehrt, richtete er sich auf. Seine Augen funkelten. „Ich traue der Sache nicht ganz.“ Seine Mimik wurde ganz ernst.
„Davon weiß ich nichts.“ Entgegnete ich.
Mein Onkel zog einen Mundwinkel hoch.
„Stell dir mal vor, Kleines, ich auch nicht.“
Ich war etwas überrascht, dass mein Dad angeblich Geheimnisse vor seiner Familie hatte.
„Ich dachte, er hätte Thompson die Firma komplett überschrieben. Warum sollte er sich finanziell daran beteiligen?“ fragte ich ungläubig.
Onkel James legte den Kopf etwas schief.
„Du hast doch jetzt Semesterferien, oder?“
Sein letzter Satz klang wie eine hypothetische Frage. Wie wenn man jemanden fragte, wie es ihm ging, das wahre Wohlbefinden aber egal war.
„Worauf willst du hinaus?“
„Daniel Thompson, dieser blöde Sack… Ich glaube der treibt ganz krumme Dinge mit dem Geld und den Namen deines Vaters.“
„In welcher Hinsicht? Verkauft er Drogen statt Häuser?“ Wenn der Familie Stone eins lag, dann Sarkasmus.
„Das ist eine ernste Sache.“
„Schon gut. Also, was ist mit ihm?“
Mein Onkel schüttelte langsam den Kopf.
„Ich weiß aus sicheren Quellen, das Thompson seine Kohle in andere Firmen investiert.“
„Da ist doch nichts dabei.“
„So, und da kommen wir zum springenden Punkt.“
„Ich höre.“
„Dein Vater investiert ab und an mal in Thompsons Geschäfte. Und da er ihm hundertprozentig vertraut, bin ich mir sicher, dass er sich die Sachen nicht genau ansieht.“
„Was genau meinst du?“
Onkel James befeuchtete seine Lippen.
„Ein Kontaktmann hat mir erzählt, dass Thompson sich vor zwei Jahren ein größeres Gebäude gekauft hat. Daraus hat er dann ein Bordell gemacht.“
Ich ließ seine Worte erst mal sacken.
„Und was hat das alles mit mir zu tun?“
„Weißt du womit er es bezahlt hat? Mit dem Geld deines Vaters.“
Der letzte Satz riss mir den Boden unter den Füßen weg.
„Dad würde nie im Rotlichtmilieu investieren.“
„Da hast du es. Ich glaube eher, dass er nichts davon weiß.“
Das alles kam mir gerade wie ein schlechter Witz vor. Ein guter Mensch wie mein Dad würde sich nie in solchen Kreisen bewegen. Egal wie viel Geld es einbrachte. Er war die Art Mensch, die sofort spendete wenn jemand in unserem Umfeld in Not war oder half alten Damen über die Straße. Gut, das sollte nichts heißen. Albert Einstein soll ja angeblich schlecht in Mathe gewesen sein. Oder oft hat sich in Filmen der gutmütige Charakter als der wahre Mörder heraus gestellt. Oft ist im Leben nicht alles so wie es scheint. Aber dennoch, mein Dad? Niemals.
„Ich kann doch sowieso nichts machen….“
„Ach ja? Glaubst du?“
Wir sahen uns einige Sekunden schweigend an.
„Ich kann jetzt nicht auf die Insel fliegen, Onkel James…“
„Auch nicht, wenn ich dir erzähle, dass eine der Prostituierten, aus dem Bordell, das Thompson gehört, tot in Ihrer Wohnung aufgefunden wurde?“
Jedes einzelne Härchen an meinem Körper richtete sich gerade auf.
„Okay, die Sache ist ziemliche heiß. Wir sind aber keine Cops. Dafür ist das Gesetz dort auf der Insel zuständig.“ Protestierte ich.
„Du hast mir glaub ich nicht zugehört, Kind. Dein Vater steht mit in den Papieren drin. Ich weiß auch, dass man ihn zwar befragt, er aber ein Alibi hatte. Und ich weiß auch, dass man einen anderen Verdächtigen aufgrund eindeutiger Beweise wieder laufen lassen hat. Aber der interessiert mich nicht.“
Ich legte den Kopf schief.
„Bis jetzt ist nichts passiert. Der Mistkerl Thompson ist gut. Richtig gut. Ich weiß nicht wie er den Schlamassel unter den Tisch kehren konnte. Anscheinend vermisst das Mädchen niemand…. Aber jemand muss ihm auf die Finger schauen. Beweise festhalten. Irgendwas ist an der Sache faul. Ich bin mir sicher, dass er was mit dem Mord zu tun hat. Und wenn er so weiter macht, landet dein Dad noch im Knast.“
„Du verlangst doch nicht von mir…..“
Doch mein Onkel nickte.
„Du weißt, dass ich jetzt keine Zeit habe, das Land zu verlassen.“
„Und ich, mein Kind sage dir, dass ich dein Ticket bereits gebucht und du bald in die Dominikanische Republik fliegst.“
Ich verstummte.
Wie verdammt noch mal, konnte mein Dad sich so in Gefahr bringen?
„Alles was ich will ist, dass du etwas findest was Thompson belastet.“ Fügte er hinzu.
Es vergingen einige Sekunden bis ich wieder etwas sagen konnte.
„Woher kommen deine Informationen? Und wie Safe sind deine Quellen?“
Mein Onkel sah mich sekundenlang an. Seine Unterlippe zitterte. Jedes Mal wenn er sich während eines Gesprächs zusammen reißen musste, erkannte ich es an dieser Geste.
„Ich lasse Thompson schon lange beschatten. Dem Mistkerl habe ich noch nie getraut. Doch mein Kontaktmann kommt nicht tief genug in seine Firma hinein. Ich brauche jemanden den er kennt und einigermaßen vertraut. Und da kommst du ins Spiel. Thompson hat dich immer gern gehabt. Du warst wie eine Nichte für ihn.“
Ich seufzte. Auf der einen Seite konnte ich meinen Vater nicht im Stich lassen. Andererseits hatte ich ihm versprochen mein Studium durchzuziehen.
„Und wenn die Semesterferien nicht ausreichen?“
„Dann setzt du einfach ein Semester aus. Wir erklären denen das schon. Was weiß ich, Notfall in der Familie oder so. Da sind wir doch immer kreativ gewesen.“
„Du weißt dass das nicht geht….“
Onkel James Mimik verhärtete sich.
„Soll ich es dir nochmal von vorne erklären, oder hast du mich soweit verstanden?“
Sein durchdringender Blick hatte schon immer eine gewisse Überzeugungskraft gehabt, die sein Gegenüber dazu brachte zu tun was er verlangte.
Ich ließ die Schultern sacken und starrte die dunkelblau gestrichene Wand neben dem Bett an. Eigentlich hatte ich keine Wahl. Da ich als Detektivin bereits genügend Erfahrung gesammelt hatte, blieb mir nichts anderes übrig. Ich konnte nicht zulassen, dass mein Vater in eine üble Szene reingezogen wurde. Schon gar nicht, wenn er riskierte ins Gefängnis zu wandern. Von der anderen Seite mal betrachtet, vielleicht konnte ich ja ein bisschen Urlaub gebrauchen. Ich konnte nebenbei an meiner Hausarbeit arbeiten, während ich am Strand lag. Hörte sich irgendwie verlockend an.
Ich stieß einen lauten Seufzer aus.
„Was soll ich tun?“
Ich stieg in das Flugzeug, verstaute mein Handgepäck in die Klappe über den Sitz und nahm meinen Platz am Fenster ein. In meinem Kopf hörte ich noch Onkels James Stimme;
„Du fliegst in die Dominikanische Republik. Dein Vater hat bereits ein Ferienjob für dich bei Mr. Thompson arrangiert. Ich hab ihm verklickert, dass ich es gut fände, wenn du erst mal lernst dein eigenes Geld zu verdienen. Und da hat er mir ausnahmsweise mal zugestimmt “
Ich lehnte mich in den Sitz zurück und betrachtete den Abflug aus dem Flugzeugfenster, nachdem die Stewardess die üblichen Sicherheitsregeln erklärt hatte. Die Landschaft unter mir wurde allmählich immer kleiner.
„Nutze die Zeit bei ihm im Büro, um herauszufinden was vor sich geht. Soviel ich weiß, hat er keine Assistentin, also hast du alle Zeit der Welt um in Ruhe seine Akten zu durchstöbern.“
Ich zog den IPod aus der Tasche und steckte mir die Kopfhörerstöpsel in beide Ohren.
„Durchsuche Akten, Konten, eben alles was du findest. Mach Bilder davon und notier dir alles. Finde heraus wer das Mädchen ermordet hat und wenn es Thompson selbst war, dann wandert der Kerl in den Knast und dein Vater hat Ruhe.“
Durch meine Kopfhörer drang ein angesagter Sommer-Hit.
„Du bekommst von meinem Kontaktmann ein Päckchen. Du weißt schon, da sind ein paar Sachen zu deiner Sicherheit drin. Das muss streng geheim bleiben.“
Bäume verschmolzen zu grünen Flecken. Von hier oben sah man die sauber abgetrennten Grundstücksgrenzen.
„Wenn etwas schief läuft, weißt du was du zu tun hast.“
Ich schloss die Augen und bereitete mich mental auf meinen bevorstehenden Job vor, während der Typ in meinem IPod etwas von einem süßen Mädchen sang.
Kapitel 2
Der Monitor über dem Sitz vor mir zeigte den Flugweg an. Noch etwa vier Stunden bis zur Landung. Um kurz vor 20 Uhr würde ich in Punta Cana landen.
Um mir noch ein wenig die Zeit zu vertreiben, blätterte ich vorsichtig die zusammengehefteten Kopien einer Infomappe durch, die Onkel James von unserem Kontaktmann von der Insel bekommen hatte.
Das ermordete Mädchen hieß Valentina Fuentes. Geschätzte 20 Jahre alt, aus Kuba. Sie war vor ihrem Tod etwas länger als ein Jahr auf der Insel gewesen und arbeitete als Prostituierte in Thompsons Bordell. Angeblich wurde sie vergewaltigt und ermordet und etwa vier Wochen später in ihrer Wohnung aufgefunden, als ihre Leiche bereits teilweise verwest war.
Ich verzog das Gesicht und las den Satz noch einmal.
Vier Wochen.
Eine halb verweste Leiche.
Mir gefror das Blut in den Adern.
Das Ganze war etwa ein halbes Jahr her.
Da es kein offizieller Polizeibericht war, gab es keine genauen Fakten zu ihrem Tod. Onkel James war noch drauf und dran, jemanden bei der örtlichen Polizei anzuschmieren, um an Valentinas vollständige Akte ranzukommen. Solange musste ich mit dem arbeiten was ich hatte.
Die nächsten zusammen gehefteten Seiten waren Angaben zu Thompsons Geschäften. Es waren die Gewinne notiert, die Thompsons Immobilienfirma abwarf. Dann ein Kaufvertrag von dem Gebäude, das er gekauft und zu dem besagten Bordell umgestaltet hatte. Auf den nächsten Seiten waren DIN A 4 große schwarzweiß Fotos in verschiedenen Situationen gedruckt worden.
Es war Thompson. Das erste Foto zeigte, wie er mit einem Mädchen, das bestimmt zwanzig Jahre jünger war als er, aus einem Gebäude rausläuft. Das nächste zeigte, wie er mit einer anderen jungen Frau, des etwa selben Alters in ein Cabrio steigt und dann wie er sie vor einem Haus küsst. Ich wusste zwar nicht, wofür die Bilder gedacht waren, aber anscheinend, legte unser Kontaktmann von der Insel darauf Wert, Beweise fest zu halten, die Thompson in einer „engeren“ Beziehung zu seinen Mädels zeigte.
Auf einmal rutschten zwei Bilder zwischen den Seiten heraus, dich ich gerade noch auffing, bevor sie im Fußraum zu Boden fielen.
Eins davon war von einer jungen hübschen braunhaarigen mit sonnengebräunter Haut, stechend blauen Augen und einem herzförmigen Kussmund. Sie posierte im Bikini am Strand und schirmte sich lässig die Augen vor der Sonne ab. Hinter ihr das glitzernde blaue Meer. Auf der unteren linken Ecke stand VALENTINA FUENTES.
Okay, ich hatte jetzt ein Gesicht zu dem Namen.
Ich verglich es mit dem ersten Bild. Es war nicht dasselbe Mädchen. Dann verglich ich es mit dem zweiten, wo Thompson das Mädchen küsst. Das war sie.
Ich schob ein weiteres Bild hervor und hätte vor Schreck fast aufgeschrien.
Die halb verweste Leiche.
Außer ein paar übrig gebliebenen Strähnen aus ihren struppigen Haaren, war so gut wie nichts mehr zu erkennen.
Unglaublich dass beide Bilder von ein und derselben Person stammten.
Dabei war die erste Frage die mir einfiel;
Was war das Motiv? Eifersucht? Geld?
Wusste sie vielleicht Dinge, die sie nicht hätte wissen sollen? Hatte sie etwas gesehen, was sie nicht hätte sehen sollen? Anscheinend hatte Thompson ja was mit ihr am Laufen gehabt. Aber warum sollte er sie dann ermordet haben?
Die Sache schien abstruser als es vielleicht war.
Die letzten Seiten waren Geschäftspapiere auf denen der Name meines Vaters mit einem gelben Textmarker hervorgehoben wurde.
Ich las mir den Text genau durch und es war, als bliebe mein Herz stehen.
Anscheinend, hat mein Vater für das Gebäude gebürgt, das als Bordell seine Früchte abwarf.
Wie zum Teufel konnte mein Vater in solche Geschäfte einsteigen?
Ich konnte mir gut vorstellen, dass meine Mutter nichts davon wusste, denn ich war überzeugt, dass sie so etwas nie unterstützt hätte.
Ich packte alle Dokumente sorgfältig wieder zusammen und stopfte alles in meine größere graue Handtasche, die eins meiner Lieblingsstücke war. Ich lehnte mich zurück und schob mir eine Schlafbrille über die Augen, um ein kleines Nickerchen zu halten.
„Da bist du ja mein Schatz!“ die Stimme meiner Mutter war unverkennbar.
Ich zog meinen Trolley hinter mir her, während mein Handgepäck und meine graue Handtasche über meiner Schulter baumelten, als ich aus der Gepäckhalle durch die Schiebetür in die Wartehalle des Flughafens trat. Dort in der Menschenmenge konnte ich meine Eltern, die bereits auf mich warteten, schlecht übersehen. Erst recht nicht, weil sie ein großes Schild mit dem Namen STONE in Großbuchstaben in die Höhe hielten. Sie hatten es sich bei jedem Besuch angewöhnt, weil sie dachten es sei witzig. Ich hatte ja bereits erwähnt, dass meine Eltern in Ihrer Jugend Kiffer waren, nicht?
Meine Mutter die sich in ein leichtes geblümtes weißes Sommerkleid geworfen hatte, stürmte in ihren Flip Flops auf mich zu und umarmte mich fest. Ihr kupferfarbenes Haar roch für meinen Geschmack wie immer viel zu fruchtig, dennoch sog ich ihn genüsslich ein, denn ich hatte die beiden seit zwei Jahren nicht mehr gesehen und es erinnerte mich an meine Kindheit.
Sie küsste ein paar Mal meine Wangen, ehe sie von mir abließ und gleich darauf tat es mein Dad ihr nach. Seine große Gestalt schlang seine Arme fest um mich. Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit, nachdem ich jetzt wusste was mein Vater für Geschäfte machte. Die Sache stand spürbar zwischen uns.
„Na Kleines, wie geht es dir?“ er ließ von mir und sah mich eindringlich an, während er mich sanft an beiden Oberarmen festhielt.
Natürlich versuchte ich mir nichts anmerken zu lassen. Schließlich wusste ich nicht eindeutig was hier vor sich ging.
„Danke, gut Dad.“ Nickte ich.
Daraufhin nahm er mir gleich darauf den Trolley und mein Handgepäck ab, damit meine Mutter sich bei mir einhaken konnte um mich durch die Flughafenhalle zu begleiten. Ich betrachtete ihre wunderschöne Sommerbräune und fühlte mich auf einmal wie eine Kalkleiste.
Jeder aus der Familie sagte, dass ich ein Ebenbild Ihrer Jugend war. Dieselben blauen Augen, die Stupsnase, die kleinen Lippen…. Alles was mein Äußeres ausmachte, hatte ich von ihr geerbt. Selbst das pfirsichzarte Gesicht, das sie heute noch aufwendig pflegte, aber nicht mehr ganz so originalgetreu war, hatte ich von ihr. Ich war praktisch ihr Ebenbild, nur zwanzig Jahre jünger. Während wir durch das Foyer schlenderten, beobachtete ich meinen Vater von der Seite. Er hatte Onkel James‘ Gesichtszüge. Die mandelförmigen braunen Augen und die schmalen Lippen waren bei beiden fast identisch. Nur eben, dass mein Vater einen gepflegten Dreitagebart trug.
„Na, hattest du einen guten Flug?“ fragte er im nächsten Augenblick.
Jetzt zu wissen, dass er in Wahrheit vielleicht nicht das war, wofür ich ihn mein ganzes Leben lang gehalten hatte, tat mir mehr weh, als die Tatsache, dass ich ihn vor Jahren eine Zeit lang verstoßen hatte, weil ich nicht das war, wofür man mich gehalten hatte.
„Toll Dad. Wirklich! Und was für ein Service.“
„Was gab es denn als Mittagessen?“
„Ein Glas Sekt und eine kleine Portion Pasta.“
„Mein Liebling ist endlich da!“ rief meine Mutter euphorisch und streichelte mir dabei immer wieder über den Rücken. Sie überschütteten mich mit so viel Liebe, dass es mich schon fast erdrückte.
„Ich habe zu Hause dein Lieblingsgericht gekocht, mein Schatz!“
„Ja, deine Mutter hat sich seit heute den ganzen Tag in der Küche verbarrikadiert. Und wehe du isst nicht alles auf, junge Dame!“
Mir fiel plötzlich auf, wie sehr ich die beiden im Grunde vermisst hatte.
Als wir aus der Flugzeughalle nach draußen traten, war die Sonne bereits dabei unter zu gehen, die Temperatur hielt sich aber immer noch ziemlich warm. Zum Glück hatte ich mich vor dem Abflug in kurze Shorts und in ein Spaghetti-Top geworfen. Ich zog meine lange leichte Strickjacke aus und folgte meinen Eltern zur ihrem Wagen.
Der Jeep meines Vaters stand bereits vor dem Ausgang der Halle. Mein Dad verstaute mein Gepäck noch in den Kofferraum und dann stiegen wir alle ein und fuhren los.
Während der Fahrt betrachtete ich die von Laternen und Schaufensterreklamen beleuchtete Landschaft, die am Autofenster vorbei schwirrte. Mein letzter Besuch war jetzt zwei Jahre her und ich konnte feststellen, dass sich nichts verändert hatte. Die großen Palmen, dessen Blätter in den Himmel ragten, als wollten sie mit ihrer Schönheit prahlen, umgaben die Gegend und machten das Tropische Feeling sichtbar. Wir passierten eine kleine Ortschaft, wo sich auf der einen Seite unzählige kleine Läden und Bars tummelten und auf der anderen Seite das strahlendblaue Meer, das uns folgte. Hier und da sah man Touristen durch die engen Gassen schlendern, während an jeder Ecke kleine Grüppchen von Teenagern herumlungerten, sich aufgeregt unterhielten oder miteinander lachten. Die Mädels provozierten mit ihren bauchfreien Tops, während die Jungs ihnen hinterher schmachteten.
Ich kam gerne hier her, weil der Lebensstil der Inselbewohner frei und unkompliziert war. Wenn man in den Laden ging um Milch zu kaufen, traf man immer jemanden um ein Schwätzchen zu halten. Obwohl man sich nicht kannte, wurde man plötzlich angesprochen. Etwa über das Wetter oder der Preis für das Brot gestiegen war. Die Zeit zählte nicht. Das Miteinander war wichtig. Die Eingangstüren in den kleinen Gassen waren meist offen, also so, dass wenn man jemanden besuchte man nicht zu klopfen oder zu klingeln brauchte. Man sah ob jemand zu Hause war oder nicht, und dann rief man den Namen von demjenigen bereits an der Tür. Alles auf dieser Insel war frei und zwanglos.
Es war ein Paradies, das jedoch von Dunkelheit umgeben war.
Eine große Welle der Armut versteckt sich hinter all dem, was wir als Urlaubsparadies bezeichnen. Die Touristen werden in Reisebüros von den schönen Stränden in den Katalogen geblendet, während hinter den wunderschönen Palmen, die kaputten und verrotteten Häuser immer mehr zerbröckeln und mit ihnen die Familien die darin wohnen.
Deswegen war ich jedes Mal auch wieder froh, wenn ich wieder zu Hause in Arizona, bei meinen alten förmlichen Gewohnheiten war, das mir ein Gefühl von Sicherheit gab.
„Wie geht es deinem Onkel?“ mein Vater warf mir einen kurzen Blick durch den Rückspiegel zu.
„Ganz gut! Karen kümmert sich gut um ihn.“
„Ja, ich denke zu gut.“ Mein Dad lachte und warf meiner Mutter einen vielsagenden Blick zu, den sie grinsend erwiderte.
Der Fahrtwind wehte durchs Fenster. Vom Rücksitz aus sah ich die Haare meiner Mutter flattern.
„Ich habe den Ferienjob für dich organisiert Schätzchen.“ Hörte ich erneut die Stimme meines Vaters.
Auf einmal wurde mir mulmig zumute. Ab jetzt gab es kein Zurück mehr. Es war eine Sache, stundenlang im Auto zu sitzen und Leute zu beschatten, die verdächtigt wurden fremd zu gehen. Doch Menschen wegen einer Mordsache auszuspionieren, die man sogar kannte, war ein völlig anderes Kaliber. Vor allem aber machte mir sorgen, dass mein Vater mit drin steckte. Ich wusste nicht, welche traurige Tatsache mich erwartete.
„Okay, wann fang ich an?“
„Wir haben uns auf übermorgen geeinigt. Ich habe mir gedacht, dass wir erst einmal zusammen etwas Zeit verbringen könnten.“
„Matthew, hör auf unsere Tochter unter Druck zu setzen. Wir reden jetzt nicht über Arbeit. Das hat Zeit.“ Unterbrach meine Mutter ihn.
„Zu Hause wartet jemand auf dich.“
Da ich momentan auf Überraschungen sowieso nicht gut zu sprechen war, heiterte mich diese Aussage auch nicht unbedingt auf.
Der Jeep hielt vor einem kleinen weißen Bungalow. Ich weiß noch, als ich die Skizze vom Architekten sah, der das Haus meiner Eltern entwerfen sollte, entdeckte ich sofort einige Sachen die ich nicht unbedingt für praktisch empfand. Damals setzte ich mich hin, besserte einige Dinge hier und da aus und als ich dem Architekten die Skizze wieder vorlegte, war dieser offensichtlich über meine Ideen überrascht. Dabei hatte ich damals noch nicht mal mit dem Studium begonnen. Genau das störte mich immer. Menschen die Ihre Arbeit einfach nur erledigten, damit sie erledigt war, aber die Liebe zum Detail ausließen. Solche Dinge fielen mir meistens sofort auf.
Als wir ausstiegen, machte mein Vater sich an meinem Gepäck im Kofferraum zu schaffen. Dann folgte ich meiner Mutter ins Haus. Der Duft von Ingwer und Kokos stieg mir bereits an der Tür in die Nase. Im Flur zog ich meine Flip Flops aus und steuerte auf die Küche im Landhausstil zu, die eins war mit dem Wohn- und Esszimmer. Dort, an der Terrassentür zwischen Küche und Esszimmer, entdeckte ich meinen Opa im Rollstuhl, der auf der anderen Seite des Raumes, mit dem Rücken zu mir gewandt, saß und aus dem deckenhohen Fenster hinaus sah.
„Grandpa?“ rief ich. Erschrocken zuckte mein Opa zusammen und fuhr seinen Rollstuhl zu mir herum. Als er sich umdrehte, sah ich dass er einen Schlauch in der Nase hatte, der an ein Gerät angeschlossen war.
Die Falten in seinem Gesicht wirkten tiefer als noch vor zwei Jahren. Sein Körper wirkte zerfallen und kraftlos. Seine von blauen Adern durchzogenen Hände zitterten leicht.
Ich wusste zuerst nicht, ob er sich durch seine Krankheit noch an mich erinnerte.
„Savannah?“
Erleichtert trat ich auf ihn zu und umarmte ihn vorsichtig um keine Schläuche abzureißen. Er erwiderte die Umarmung zwar herzlich, aber etwas gebrechlich. Der Geruch seiner alten Haut, vermischt mit dem üblichen Rasierwasser, welches er die letzten zwanzig Jahre benutzte, führte eine Art Nostalgie herbei.
Ich hatte sehr viele schöne Erinnerungen aus meiner Kindheit, als er noch agil und gesund war. Er war derjenige der mir das Fahrradfahren beigebracht hatte und er war auch derjenige gewesen, der mir meine aufgeschürften Knie verarztete wenn ich hinfiel. Nicht zu vergessen, die Süßigkeiten, die er mir bei jedem Besuch mitbrachte.
Mein Grandpa war in früheren Jahren als Richter ein stattlich erfolgreicher Mann gewesen. Er trug stets Anzug und Krawatte und gelte sein Haar immer schön nach hinten. An seinem Handgelenk glänzte meistens eine goldene Rolex.
Ihn jetzt so zu sehen, hilflos in einem Rollstuhl gekettet und auf fremde Hilfe angewiesen, brach mir das Herz. Es war, als hätte man den glänzenden Geschäftsmann gegen einen dahinvegetierenden Körper ausgetauscht.
Plötzlich stieß er mich ruckartig weg.
„Hilfe!“ rief er. „Dina! Nein! Dina!“
Meine Mom kam von hinten angerannt und versuchte ihn zu beruhigen.
„Noah! Das ist deine Enkelin. Savannah. Hörst du?“
Doch vergebens. Mein Opa regte sich nur noch mehr auf. Also verließ ich rasch den Raum durch den Flur, wo mein Vater mir mit meinem Gepäck bereits entgegenkam.
„Es wird von Tag zu Tag schlimmer. Manchmal erinnert er sich. Da ist er blanker im Hirn als wir alle zusammen. Aber dann hat er diese Attacken. Tut mir leid, dass du ihn so erleben musst.“
„Ist schon gut.“ Sagte ich, ohne mir meine Gekränktheit anmerken zu lassen, dass ich für meinen Grandpa praktisch eine Fremde geworden war. Dabei nahm ich ihm mein Trolley und meine Taschen ab und marschierte damit in mein Zimmer, das extra für mich eingerichtet war.
Ich schaltete das Licht ein und stellte erst mal alles in die Ecke, als ich auf dem Einzelbett ein Paket entdeckte. Mein Name drauf, ohne Poststempel und ohne Absender. Mit dem Fingernagel durchschnitt ich das angeklebte Paketband und klappte den Karton auseinander.
Ein Koffer. Beim Herausziehen aus dem Karton fiel mir auf, dass er schwer war.
Ich klappte die Schlösser nach oben und öffnete es.
Ein Fernglas, eine Kamera und Handschuhe. Onkel James dachte wirklich an alles. Unter all diesen Sachen lugte unten drunter noch eine Waffe. Nichts Großes. Aber ausreichend genug um sich selbst zu schützen. Normalerweise brauchte ich bei alltäglichen Spionage-Aufträgen keine, hatte in Arizona aber zum Schutz hin und wieder eine bei mir. Da mein Onkel aber wusste, dass er mich hier in eine gefährliche Situation gebracht hatte, war das seine Art einen Beitrag zu meinem Schutz zu leisten. Ich hatte den Waffenschein seit etwa einem Jahr. Meine Eltern wussten natürlich nichts davon.
Ich denke sie wären auf der Stelle tot umgefallen, wenn sie gewusst hätten, dass ihr „kleines Mädchen“ bewaffnet herumläuft und Verbrecher und Betrüger jagt. Ich blickte hinter mich, um mich zu vergewissern, dass keiner von meiner Familie überraschend hinter mir stand und klappte schnell den Koffer wieder zu. Als ich ihn sicher unter dem Bett verstaut hatte, lief ich herum und stellte mich ans offene Fenster. Hier hatte ich den besten Ausblick auf das Meer. Obwohl ich nie hier gelebt hatte, fühlte ich mich doch irgendwie zu Hause. Eine gewisse Nostalgie hing in der Luft. Das Rauschen der Wellen drang bis hier her, wie sie fast gleichmäßig und kraftvoll ans Ufer schlugen.
Ab jetzt war ich auf mich allein gestellt. Was auch immer ich herausfand, ich wusste, dass es mir vielleicht gar nicht gefiel. Was, wenn mein Vater noch in andere Geschäfte von Thompson involviert war und mitmachte, weil es gutes Geld einbrachte? Wie auch immer. Ich musste es herausfinden. Meine größte Angst war eher, dass mit der Wahrheit unsere Beziehung zueinander zerbrach. Wie damals als ich abgerutscht und in eine üble Szene geraten war.
Wir hatten damals eine sehr schwere Zeit durchgemacht. Es hatte lange gedauert bis sie mir wieder vertraut hatten und ich wollte auf keinen Fall, dass es wieder zerbrach.
Das Klopfen an meiner Tür riss mich aus meinen Gedanken.
Als ich mich umdrehte, stand eine junge Frau im Türrahmen. Meine Mutter steckte den Kopf sogleich dazwischen.
„Überraschung!“ Rief meine Mutter, wie immer euphorisch.
Meine Cousine Natalie.
Auch einfach nur Nat genannt.
Ihrem Äußeren nach zu urteilen, hatte Nat einen riesen Sprung gemacht, was ihre Entwicklung anging.
Als Kleinkind hatte sie mir oft Sand in die Augen geworfen, wenn ich dazu verdonnert wurde, mit ihr im Sandkasten zu spielen. Obwohl Natalie knappe acht Jahre jünger war als ich, hielt man sie oft dennoch für älter. Was ihr natürlich einen großen Vorteil verschaffte, denn nachdem sie mit Ihrer Mutter meinen Eltern gefolgt war, konnte sie schon damals mit 17 auf der Insel überall Party machen wo sie wollte, ohne nach dem Ausweis gefragt zu werden.
„Hi.“ Nickte ich.
Natalie strahlte mich an. Sie glich einem typischen Surfer Girl. Ihre blauen Augen stachen aus ihrem gebräunten Teint heraus, dieselbe Stupsnase kam von der Familie meiner Mutter und um dem ganzen noch das i-Tüpfelchen aufzusetzen, hatte sie den Schmollmund meiner Tante geerbt. Und das alles hübsch verpackt mit einer langen blonden Mähne.
Irgendwas war anders an ihr, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Ich kam aber nicht drauf was es war.
„Na Cousine? Ist ja schon eine Ewigkeit her.“ Erwiderte sie.
Ich nickte zustimmend.
Genau. Und da draußen so viel Sand. Welch Ironie, dachte ich.
Meine Mutter tischte ein üppiges Abendessen auf. Wir saßen auf der Terrasse um den Tisch herum, wo wir einen schönen Ausblick auf den Ozean hatten. Die Sonne hing ziemlich tief. Sie war gerade dabei unter zu gehen und tauchte alles was sie berührte in ein dunkles orangenes Licht.
„Was macht das Studium, Savannah?“ Mein Dad goss sich gerade ein Glas Wein ein und wies mich mit einem Kopfnicken an, mein Glas daneben zu stellen.
„Ganz gut.“ Antwortete ich. „Ich muss noch eine Hausarbeit fertig machen.“
„Oh Schätzchen, das heißt diesmal ist es kein richtiger Urlaub was?“ entgegnete meine Mutter.
„Ja, sieht wohl so aus.“
„Das Leben besteht aus Arbeit, mein Schatz. Wenn du es erst mal geschafft hast, dein eigenes Büro zu haben, dann hast du wieder etwas mehr Freiheiten. Du könntest einen Assistenten einstellen, der dir ein bisschen Arbeit abnimmt.“ Fügte mein Dad hinzu, als er mir mein Weinglas halb füllte und es zu mir zurück schob.
Innerlich machte es mir zu schaffen, dass er Pläne für meine Zukunft schmiedete. Schließlich war es mein Leben und nur ich selbst durfte, wenn überhaupt, meine Zukunft planen. Um keine unnötige Diskussionen anzuzetteln und das aufwendig organisierte Abendessen kaputt zu machen, nickte ich und widmete mich wieder meinem Grillgemüse.
„Natalie hat ihr eigenes Zimmer bekommen, damit sie uns mit Opa helfen kann.“ Mein Dad stach mit der Gabel ins Fleisch und zerschnitt es mit dem Messer.
„Ja“, bestätigte Natalie „Ab und zu werde ich wohl hier schlafen. Nur diese Woche schlafe ich zu Hause oder bei meinem Freund Josh. Ich muss mich ja noch um meinen anderen Job kümmern.“
Mein Opa saß neben meinem Vater in seinem Rollstuhl und versuchte mit zitternden Händen in ein Stück Kartoffel zu stechen.
Meine Mum, die auf der anderen Seite von meinem Opa saß, kam ihm zu Hilfe und führte sein Handgelenk mit der Gabel erst in das Kartoffelstückchen und dann an seinen Mund.
Natalie grinste mich an.
„Das wird wieder so wie früher, Savannah.“
Meine Mum räusperte laut.
„Nicht dass ihr auf dumme Gedanken kommt, Mädels.“
„Ja“, grinste meine Cousine und wandte sich mir zu. „So wie damals, als wir uns aus dem Sommercamp geschlichen haben, um nachts im Fluss baden zu gehen. Weißt du noch, als du Betreuerin warst?“
Mein Dad ließ entsetzt die Gabel auf den Teller sacken.
„Was habt ihr gemacht?“ hakte er nach, als hätte er sich verhört.
„Onkel Matt, komm schon, wir sind doch erwachsen. Wir haben uns rausgeschlichen, sind zum Fluss gelaufen und sind mitten in der Nacht zum Baden gegangen. Was ist denn schon dabei?“
Mit dem Weinglas in der Hand, sah ich meinen Dad an, der keine Miene verzog.
„Das war damals ihre Idee. Außerdem fand ich mich damals viel zu alt für das Sommercamp…“ Fügte ich hinzu.
Nat kaute auf einen Bissen herum und schluckte ihn herunter.
„Als ob ihr in eurer Hippie-Bewegung noch nie so was gemacht habt….“ Sagte sie dann.
Auf einmal lachte mein Dad laut los.
„Wir?“ lachte er „Wir haben schlimmeres getan.“
Nat grinste meinen Dad an.
„Na also.“ Sagte sie.
Meine Mom lachte ebenfalls mit.
„Und willst du noch was hören, Onkel Matt?“
„Da kommt noch was?“ prustete mein Vater.
Nat nickte.
„Irgendwas, vermutlich ein Fisch, hat Savannah am Bein gestreift. Du hättest sie sehen müssen, wie sie in einer Sekunde aus dem Wasser gerannt und quer mit ihren Klamotten in der Hand durchs Camp gerannt ist.“
„Na vielen Dank, Nat.“ sagte ich im sarkastischen Ton.
Alle lachten. Mein Vater kriegte sich fast nicht mehr ein. Ich wunderte mich, dass er über so etwas lachen konnte.
Ich fühlte mich auf einmal irgendwie überflüssig. Es sah fast so aus, als hätte Nat mich ersetzt.
„Hast du seit dem Angst vor dem Wasser?“ fragte meine Cousine mich.
„Nein. Das hat schon viel früher angefangen. Und ich habe auch nur Angst, wenn es zu tief wird.“ Antwortete ich.
„Was ist denn passiert?“ bohrte sie weiter.
Meine Mutter legte eine Hand auf Nats Arm.
„Savannah ist einmal aus dem Boot gefallen. Weißt du noch Matt?“ wandte sie sich an meinen Vater.
Sein Lachen verstummte.
„Ja, und ob ich das weiß. Das war mit Daniel und seiner Tochter. Das war doch ein Tretboot, oder nicht?“
Ich nickte.
„Das war im Italien-Urlaub.“ Setzte mein Vater fort. „Kurz nachdem Maggie Daniel verlassen hat. Wir haben die beiden auf einen Urlaub eingeladen um auf andere Gedanken zu kommen. Und weil Daniels Tochter unbedingt auf einem Tretboot fahren wollte, haben sie eins gemietet und dich mitgenommen. Du bist irgendwie ins Wasser gefallen. Es war ein Unfall. Ich weiß noch, du warst völlig verstört. Gott sei Dank, konnte Daniel dich retten. Seit dem bist du nicht mehr richtig ins Wasser gegangen und hast daher nie schwimmen gelernt.“
Ich nickte gedankenversunken und steckte mir die Gabel mit einem Fleischstückchen in den Mund. Die Bilder drangen sich wieder in meinen Kopf. Das Wasser um mich herum, das mir die Kehle zuschnürte… Ich holte tief Luft, denn ich spürte wieder, wie mir auf einmal die Luft wegblieb. Ich wusste noch, wie ich herum gezappelt hatte, um mich an die Wasseroberfläche zu ziehen und mich dann Thompsons Hände plötzlich an beiden Armen umklammerten und mich hoch und dann aufs Boot zogen.
Obwohl die Geschichte ein wenig anders verlaufen war, hatte ich nie den Mut gehabt, meinen Eltern die Wahrheit zu erzählen, was sich damals wirklich abgespielt hatte.
Als Gegenleistung fürs Kochen übernahmen Nat und ich den Abwasch, während meine Eltern sich um meinen Opa kümmerten. Ich fuhr mit dem Schwamm am Rand eines Weinglases entlang. Nat stand neben mir und griff nach einer nassen Gabel, die auf der Ablage lag.
„Schön, dass du wieder da bist.“ Sagte sie und zog die Gabel durch das Geschirrtuch, warf es in die Schublade und griff nach einem nassen Teller.
„Danke.“
„Nur dass du es weißt, ich werde mich zurück ziehen, damit du Zeit mit deinen Eltern verbringen kannst.“
Ich sah sie an und lächelte.
„Das ist nett von dir.“
„Ich mag Onkel Matt. Weißt du, seit dem mein Vater gestorben ist, hat deiner sich ganz toll um mich gekümmert. Wir unternehmen ganz viel zusammen und wenn ich hier schlafe, damit ich mich um deinen Opa kümmern kann, spielen wir abends zusammen Gesellschaftsspiele oder sitzen lang auf der Terrasse und trinken Wein.“
Ich stellte das abgespülte Glas auf die Spülablage und wischte das Becken aus um sie nicht ansehen zu müssen. Dabei wusste ich nicht so genau, warum sie mir das erzählte. Entweder versuchte sie mich eifersüchtig machen oder aber die kleine Nat war endlich erwachsen geworden und sie hatte gelernt, einiges im Leben zu schätzen.
Sie stellte den abgetrockneten Teller in den Schrank und sah mich auffordernd an.
„Lust auf eine Party?“
Als Antwort darauf bekam sie von mir ein fettes Grinsen.
„Der geht auf mich!“ rief Nat durch den Bass der lauten Musik und stellte mir einen Tequila hin.
„Können wir noch Zitronenscheiben haben?“ rief sie noch lauter an den Barkeeper gewandt.
„Ja und Salz!“ versuchte ich sie zu übertönen.
Wir bekamen was wir verlangten und mit einem Schwupps war das Salz geleckt, die Zitrone gelutscht und der Tequila geschluckt.
„Wow, das haut rein.“ Lallte sie ein wenig.
„Morgen früh muss ich bestimmt kotzen.“ Entgegnete ich ebenso vom Alkohol betütelt.
„Ich halt dir die Haare.“
„Na vielen Dank.“
„Gerne.“
Ich ließ meinen Blick durch die Menge schweifen und beobachte eine kleine Gruppe von jungen Mädels die ausgiebig zwischen einer Schar von Leuten tanzten. Auf einmal musste ich an Valentina Fuentes denken. Ich stellte mir vor, wie sie neben ihrer Arbeit im Bordell am Wochenende vielleicht gerne tanzen ging, sich mit ihren Freundinnen einen netten Abend machte oder, genau wie alle anderen Mädels, durch die Geschäfte bummelte und reichlich shoppte. Dabei versuchte ich angestrengt die schrecklichen Bilder einer verwesten Leiche los zu werden.
Vielleicht war es der Alkohol der meine Hemmungen völlig auslöschte, aber irgendwie platzte es aus mir heraus: „Hast du das Mädchen gekannt, das tot aufgefunden wurde?“ säuselte ich leicht.
Nat sah mich ungläubig an.
„Woher weißt du davon?“ erwiderte sie.
„Keine Ahnung.“ Auf einmal bereute ich es, zu viel getrunken zu haben und schob den nächsten Tequila, den der Barkeeper hinstellte ganz weit weg. „Hab davon gehört.“
Nat machte gerade den Mund auf um etwas zu sagen, da stand plötzlich jemand hinter ihr und schlang seine Arme um sie.
„Hey Baby!“ rief er.
Nat drehte sich daraufhin auf dem Hocker um, schlang ebenfalls ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn lang und innig. Irgendwie fühlte ich mich auf einmal überflüssig. Als sie voneinander abließen, wandte sich Nat wieder an mich.
„Savannah, das ist Josh. Mein Freund.“
„Hi.“ Hörte ich ihn durch die laute Musik sagen. Er hatte blonde Haare und blaue Augen. Vom Typ her passte er richtig gut zu Nat. Surfer-Typ durch und durch.
Wir schüttelten uns beide die Hände. Josh sah Nat wieder an.
„Die anderen warten in der Sitzecke.“
Nat hüpfte vom Hocker und zog mich mit sich. In der Sitz-Ecke hinten angekommen, entdeckte ich die zwei weiteren Jungs. Wir stellten uns einander vor. Einer von Ihnen hieß Nate, der andere war Anthony. Nach einer kurzen Kennenlern-Runde zog mich Nat sogleich zur Musik tanzend von der Lounge weg und in die tanzende Menschenmenge hinein. Zu Sean Paul konnte man schließlich immer tanzen, dazu musste man nicht betrunken sein. Wobei wir bereits durch die Tequilas ein wenig angeheitert waren. Die Tanzfläche bebte. Es war faszinierend mit an zu sehen, was für eine super Stimmung hier herrschte. Alles tanzte durch die Gegend. Manche stellten sich sogar auf die Treppe zum DJ-Pult und heizten die anderen noch mehr an.
Irgendwann später, mitten in der Nacht standen wir zu fünft draußen vor der Bar, wo sich auch andere Leute tummelten. Josh zog ein kleines Tütchen aus der Hosentasche. Es war Gras.
„Ist für uns alle zu wenig, aber jeder darf mal dran ziehen.“
Nat winkte ab.
„Dass du immer übertreiben musst, Josh.“
„Stell dich doch nicht so an, sonst bist du auch immer die Erste, die das Zeug wegballert.“
Nat rollte genervt mit den Augen, während sie sich bei mir einhakte.
„Wir beide gehen jetzt nach Hause.“ lallte sie.
„Spaßverderber.“ Rief Nate.
„Sollen wir euch mitnehmen?“ Anthony grinste mich an.
„Nein, wir Laufen, ist schon okay.“ Ich hatte wirklich keine Lust bei Fremden ins Auto zu steigen.
„Jetzt wartet mal alle, die Party ist noch nicht vorbei. Ich hab eine Idee.“ Wandte Josh ein. „Wir ziehen uns komplett aus und springen nackt ins Meer.“
Die anderen verfielen in Gelächter.
„Hast du etwa das Tütchen schon weggeraucht?“
Josh ging nicht auf Nats Spruch ein.
„Weißt du was?“ sagte sie dann „Savannah hat nach dem ermordeten Mädchen gefragt…“
Joshs Augen leuchteten.
Ich sah Nat entsetzt an. Hätte ich lieber die Klappe gehalten.
„Aha, noch besser.“ Er sah sich schelmisch in der Runde um. „Wir fahren zu Old-Dirty-Ryan und halten ihm unseren wöchentlichen Besuch ab.“
Josh erinnerte mich plötzlich an einen Bösewicht aus dem Fernsehen, der sich genüsslich die Hände aneinander rieb, wenn er einen bösen Plan ausheckte.
„Nein“, wandte ich sofort ein. „Wir laufen jetzt nach Hause.“ Ich hatte zwar keine Ahnung um was es bei der Sache ging oder wer Old Dirty Ryan war, aber ich hatte ein ungutes Gefühl dabei.
„Na gut.“ Bestärkte mich Nat.
„Also entweder wir rauchen jetzt das Tütchen weg oder wir fahren zu Old-Dirty-Ryan… Sollen wir etwa abstimmen?“ Josh ließ nicht locker.
Nat seufzte. Gab sich aber dann geschlagen, obwohl ich heftig protestierte. Doch sie zog mich einfach mit und ich war viel zu betütelt um jetzt rum zu diskutieren.
Im Pickup saß ich zwischen Josh, der den Wagen lenkte und Nat. Anthony und Nate saßen auf der Ladefläche, erzählten sich irgendwas und lachten.
„Wer um alles in der Welt ist Old-Dirty-Ryan?“ fragte ich Nat.
„Der abgefuckteste Typ auf der Insel.“ Lachte Josh.
„Ja“, stimmte Nat zu. „Man sagt sich, dass er seine Freundin vergewaltigt und umgebracht hat. Die tote Prostituierte.“
Bis zu diesem Zeitpunkt war mir nur etwas mulmig zu mute. Aber ab jetzt lief mir ein kalter Schauer den Rücken runter. Der Verdächtige den man laufen lassen hat, schoss es mir durch den Kopf.
„Ihr hättet mich auch einfach zu Hause rauslassen können.“ Wandte ich ein.
„Auf keinen Fall, das wird ein Spaß, glaub mir.“ Josh grinste wie ein Honig-Kuchen-Pferd.
„Die haben ihn nur laufen lassen, weil sie keine Beweise hatten.“ Hauchte Nat. „Aber glaub mir, er war’s.“ Ihr Blick hatte eine düstere Gestalt angenommen. Ich wandte mich an ihren Freund.
„Josh, dreh um und fahr uns nach Hause.“
Josh lachte.
„Hast du etwa Angst?“
„Nein, ich habe keine Angst, aber das ist Kindergarten. Ich meine, was wollt ihr denn dort machen?“
Josh zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung, das letzte Mal haben wir seine Wände beschmiert. Was machen wir jetzt Nat?“
Nat fing an zu lachen.
„Wir könnten uns auf die andere Seite zu seiner Terrasse schleichen und seine Gartenmöbel ins Meer werfen.“
Josh lachte laut auf.
„Gute Idee.“ Bestätigte er.
Entsetzt von Nats Idee, sah ich sie auch dementsprechend an. Daraufhin verstummte ihr Lachen.
„Das ist nicht euer Ernst?“
„Sehen wir aus, als ob wir Witze machen?“
Ich sah wieder zu Josh. Die anderen beiden hinten wurden auf einmal leise.
„Dreh sofort um, Josh!“ rief ich nochmal und diesmal wütender.
Josh sagte dazu nichts. Hätte ich meine Waffe dabei gehabt, hätte ich sie ihm an den Kopf gehalten.
„Wir sind gleich da.“
Kurz darauf hielt er den Pickup in einer Seitengasse.
Auf einmal fühlte ich mich hilflos.
„Psst.“ er legte den Zeigefinger auf seine Lippen und wies uns an auszusteigen. „Ab hier laufen wir ein Stück.“ Flüsterte er.
Ich wandte mich an Nat. „Das könnt ihr nicht machen.“
Nat lächelte.
„Keine Sorge, wir wollen doch nur ein bisschen Spaß haben. Mach dich locker, Cousine.“
Die Sache gefiel mir ganz und gar nicht, doch ich hatte keine Wahl. Innerlich verfluchte ich Nat.
Nach und nach liefen wir die Gasse entlang. Josh lief neben mir.
„Glaubst du es ist gerecht, dass jemand auf unserer Insel, einfach so ein Mädchen umbringt und dann einfach so davon kommt?“
„Hör mal“, antwortete ich. „Das gibt dir noch lange nicht das Recht nachts herum zu schleichen und Sachen kaputt zu machen.“
Dazu sagte er wieder nichts.
Wir schlichen leise an ein paar kleinen Bungalows vorbei. Die Fassaden bestanden aus dunklen Holzlatten. So ähnlich wie die Farmhäuser zu Hause in den Staaten.
An einem blieben wir stehen. Dieser war an der rechten Seite mit einer zwei Meter hohen Schilfrohrmatte umzäunt. Es schien so, als befände sich dort der Garten. Es brannte kein Licht. Alles war dunkel. Nur die Straßenlaterne, die mehrere Meter weg stand, erhellte die Gasse ein wenig.
„Was jetzt?“ flüsterte Anthony. „Sollen wir uns um das Haus herumschleichen?“
Josh blickte um sich. Er entdeckte ein paar Steine im dumpfen Licht. Er hob sie auf und verteilte sie.
„Nein, ich habe richtig Lust was kaputt zu machen. Hätten wir doch nur vorher die Tüte geraucht. Das wäre doppelt so lustig geworden.“
Ich verdrehte die Augen.
Als er mir ebenfalls einen anbot, nahm ich ihn zwar an, ließ ihn aber sofort angewidert fallen.
„Komm schon, stell dich nicht so an.“
„Das ist Sachbeschädigung. Ich mach da nicht mit.“
„Der Typ ist wahrscheinlich nicht mal zu Hause. Der sucht sich gerade bestimmt eine einsame Jungfrau.“
„Und was soll das an der Tatsache ändern?“
„Als ich dich vorhin auf der Tanzfläche gesehen habe, dachte ich, dass du verdammt cool bist. Aber du bist ja 'ne richtige Spießer-Braut.“
„Das hat nichts mit spießig sein zu tun, aber das was ihr vorhabt ist verdammt kindisch.“
Josh bäumte sich vor mir auf.
„Der Mistkerl muss bestraft werden für das was er getan hat. Und nur so können wir ihm das Leben zur Hölle machen.“
Dazu sagte ich nichts. Ich hatte eigentlich immer Vertrauen in das Gesetz. Doch trotzdem war es nicht unsere Aufgabe Richter zu spielen und jemand anderen zu verurteilen. Schon gar nicht wenn man bei der Sache nicht dabei gewesen war.
„Wenn wir ihm nicht zeigen, dass er unerwünscht ist, dann schnappt er sich das nächste Mädchen.“ Mischte sich Anthony ein.
Dann holte er aus und warf den ersten Stein über den Schilfrohrzaun. Die anderen lachten leise.
Dann warf Anthony den nächsten. „Nimm das, du Drecksschwein!“ rief er dabei.
Auf einmal drang das Geräusch von zerbrochenem Glas durch die Nacht. Gefolgt von lautem Hundegebell. Im nächsten Augenblick ging das Licht an.
Nat warf noch einen Stein durch das Fenster neben der Tür. Das laute Klirrgeräusch vermischte sich mit dem lauten Gebell.
„Los weg hier!“ rief sie dann.