Darwin in der Stadt Die rasante Evolution der Tiere im Großstadtdschungel - Menno Schilthuizen - E-Book

Darwin in der Stadt Die rasante Evolution der Tiere im Großstadtdschungel E-Book

Menno Schilthuizen

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Beschreibung

Echtzeitevolution: ein neuer Blick auf das geheime Leben der Städte Amseln sind größer, dicker und lauter als ihre Artgenossen draußen im Wald und haben jede Scheu vor Menschen, Hunden und Katzen verloren. Regenwürmer kommen bestens zurecht in verdreckter Innenstadterde. Motten fliegen nicht mehr ins Licht. Gras gedeiht prächtig auf zinkdurchsetztem Boden. Und Kojoten warten an Ampeln. Tiere legen ererbte Verhaltensweisen ab. Man kann Evolution in Echtzeit beobachten, und das mitten in der Stadt. Das ist das große Wunder, das in diesem Buch gewürdigt wird.

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Seitenzahl: 632

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Menno Schilthuizen

Darwin in der Stadt

Die rasante Evolution der Tiere im Großstadtdschungel

Aus dem Englischen von Kurt Neff und Cornelia Stoll

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Mit 20 s/w-Abbildungen

 

 

 

 

Für Iva

VORSTADT

Sie ist von makelloser Gestalt. Ein feinmechanisches Wunderwerk, fix und fertig hergerichtet für sein kurzes Gastspiel auf dieser Welt. Die hauchdünnen, noch fransenlosen Flügel liegen sorgsam gefaltet auf dem kaum merklich atmenden Hinterleib. Ihre sechs gelenkigen, grazil auf die staubige Wand platzierten Beine sind in tadellosem Zustand – jedes zeigt einen kompletten Satz von neun Abschnitten, der noch nicht durch die Kollision mit den Rotorblättern eines Ventilators oder durch die Begegnung mit den Vorderklauen einer SpringspinneSpinnen dezimiert wurde. Die goldgelbborstige Brust ist ein kleines Juwel von einem Kraftwerk, das die geballte Energie der Flugmuskulatur in sich birgt. Sie entzieht mit ihrer schlichten Masse dem Blick des Beobachters fast das unbewegte Gesicht, hinter dem ein Miniaturgehirn die Eingangs- und Ausgangskanäle der Fühler, die Taster und Komplexaugen sowie die im Stech- und Saugrüssel miteinander arbeitenden acht Mundwerkzeuge koordiniert.

Ich stehe im Menschengewimmel eines überhitzten Verbindungsflurs im Bahnhof Liverpool Street der LondonLondon (England)er U-Bahn. Meine Brille in der Hand und die Nase an die gekachelte Wand gedrückt, bewundere ich dieses frisch geschlüpfte Prachtexemplar der hier unten heimischen StechmückeMückenCulex pipiens molestusCulex pipiens molestus. Langsam komme ich zurück aus meiner entomologisch-träumerischen Entrücktheit. Nicht nur dank der gehetzten Passanten, die mit einem jähen, eher vorwurfsvollen als apologetischen »’tschuldigung« auf den Lippen einen Schlenker vollziehen und in letzter Sekunde an dem Zusammenprall mit mir vorbeischrammen; sondern auch, weil ich mit Unbehagen die Überwachungskameras an der Decke registriere und mich daraufhin der wiederholten Durchsage entsinne, in der die Londoner Verkehrsbehörde ihre Fahrgäste dazu auffordert, jedwedes verdächtige Verhalten an das Bahnpersonal zu melden.

Biologen sehen im innerstädtischen Pflaster nicht gerade den geeignetsten Boden für ihre berufliche Betätigung. Zu den ungeschriebenen Regeln der Zunft gehört es, eine dahin gehende Anregung mit der mürrischen Bemerkung abzuwehren, Städte seien doch nur notwendige Übel und die Zeit, die er dort zu verbringen habe, begrenze ein richtiger Biologe auf das unvermeidliche Minimum. Die wirkliche Welt liege außerhalb des städtischen Bereichs, in Gebirgen und Niederungen, Wald und Feld. Wo die wilden Kerle wohnen.

Aber wenn ich ehrlich sein soll, muss ich eine heimliche Liebe zu Städten gestehen. Liebe nicht so sehr zu ihren bis ins Letzte durchgeplanten Teilen, die wie geleckt anmuten und wie geschmiert funktionieren. Sondern eher zu ihrem schmuddeligen organischen Unterbau, der in Winkeln in Erscheinung tritt, die man gerne übersieht, dort, wo der Teppich der Kultur vollends abgewetzt ist und zerfasert. Es ist eine Liebe zum Bauch der Stadt, wo das Artifizielle und das Natürliche sich begegnen und ökologische Beziehungen zueinander eingehen. Ihrer hektischen Betriebsamkeit und ihrem ganz und gar naturfernen Erscheinungsbild zum Trotz, wird die Innenstadt für mein Biologenauge zu einem Arrangement von Mini-Ökosystemen. Selbst hier, in diesen scheinbar sterilen, durchweg von Ziegelstein- und Betonbauten flankierten Straßen des Stadtbezirks Bishopsgate, entdecke ich Lebensformen, die mit hartnäckigem Trotz ihren Platz behaupten. Hier ein Löwenmäulchen, dessen Blüten in wilder Fülle aus einem dahinter nicht mehr wahrnehmbaren Spalt in der verputzten Seitenwand einer Fußgängerbrücke sprießen. Dort die rege Chemie von Zement und sickerndem Abwasser, die schmutzig weiße, glasartige Zapfen gebiert, welche sich dann RadweberspinnenSpinnen als Verankerungspunkte für ihre rußbesudelten Netze zunutze machen. Smaragdgrüne Moosadern, die sich in den schmalen Lücken zwischen einer zersprungenen Drahtglasscheibe und deren Rahmen ansiedeln, wo sie mit Rostblasen um die Vorherrschaft kämpfen, die durch den Mennigeanstrich vorwärtsdringen. Straßentauben mit wunden Beinen balancieren auf einem Gesims zwischen den dort angebrachten Drahtspitzen. (Direkt darunter hat jemand einen Sticker geklebt, auf dem eine wutschäumende Taube, die Flügel zu Fäusten geballt, verkündet: »Drahtspitzen beschneiden zynisch und repressiv unser Recht auf Versammlungsfreiheit. Der Kampf geht weiter!«) Und eben eine StechmückeMücken an der Wand eines U-Bahnhof-Verbindungsflurs.

Es ist nicht irgendeine Stechmücke. Culex pipiens molestusCulex pipiens molestus ist auch unter dem Namen LondonLondon (England)Underground mosquito, Londoner U-Bahn-StechmückeMückenLondoner U-Bahn-Stechmücke (London underground mosquito, Culex pipiens molestus), bekannt. Zu dem kam sie erstens durch das Tohuwabohu, das sie 1940 unter den Londoner Bürgern anrichtete, die im U-Bahnhof Liverpool Street, auf den Bahnsteigen und Gleisen der Central Line, Schutz vor den deutschen Bombenangriffen suchten. Und zweitens dank dem Interesse, das die Genetikerin Katharine ByrneByrne, Katharine von der University of LondonLondon (England) in den 1990er-Jahren für diese Plagegeister entwickelte. ByrneByrne, Katharine begleitete Wartungsmannschaften bei ihren täglichen Expeditionen in die Eingeweide des Londoner U-Bahn-Systems. Sie stieg hinab in die tiefsten Tunnelabschnitte, wo ein Wirrwarr von armdicken Stromkabeln das Backsteinmauerwerk behängt, das schwarz ist vom Bremsbackenabrieb der Züge, und rätselhafte Kreide- oder Sprühfarbechiffren oder uralte Emailleschilder an der Wand die einzigen Hinweise auf den Aufenthaltsort geben. Hier unten lebt und vermehrt sich Culex pipiens molestusCulex pipiens molestus. Sie stiehlt das Blut der Pendler und legt ihre Eier in Wasser ab, das sich in Vertiefungen und Hohlräumen sammelt. Daraus holte sich ByrneByrne, Katharine Larven der Stechmücke.

An sieben verschiedenen Stellen der Central, der Victoria und der Bakerloo Line zog sie Proben larvenhaltigen Wassers, deponierte diese in ihrem Labor, wartete, bis die Larven sich zu ausgewachsenen MückeMückenn (gleich derjenigen, die ich an der Flurwand gesehen habe) entwickelt hatten und extrahierte diesen Proteine für Genanalysen. Vor 20 Jahren erlebte ich mit, wie sie auf einer Tagung in Edinburgh ihre Ergebnisse präsentierte. Obwohl ihre Zuhörerschaft aus erfahrenen Evolutionsbiologen bestand, schaffte sie es, uns alle mitzureißen. Erstens waren die MückeMückennbevölkerungen jener drei U-Bahnlinien genetisch verschieden voneinander. Das lag, wie wir von ByrneByrne, Katharine erfuhren, daran, dass die Linien nahezu getrennte Welten bilden, wobei die Mückenschwärme der einzelnen Linien durch die ständige, kolbenartige Hin-und-her-Bewegung der Züge in den eng bemessenen Röhren immer wieder um- und umgerührt und durcheinandergewirbelt werden. Zu einer Genmischung könnten es Stechmücken der Central, der Bakerloo und der Victoria Line nur dann bringen, so ByrneByrne, Katharine, wenn »sie jeweils allesamt auf dem Bahnhof Oxford Circus«, dem Kreuzungspunkt der drei Linien, »umstiegen«. Doch nicht nur voneinander unterschieden sich die MückeMückennbevölkerungen der einzelnen U-Bahnlinien. Sie unterschieden sich auch von ihren oberirdischen Verwandten. Nicht nur in den Proteinen, sondern auch in ihrer Lebensweise. Oben auf Londons Straßen nähren sich die StechmückenLondoner U-Bahn-Stechmücke (London underground mosquito, Culex pipiens molestus) nicht von Menschen-, sondern von Vogelblut. Sie brauchen ein Blutmahl, bevor sie ihre Eier ablegen können, sie paaren sich in großen Schwärmen, und sie verbringen den Winter in Kältestarre in einem geeigneten Quartier. Unten in den Röhren saugen die MückeMückenn Pendlerblut und legen Eier ab, ohne zuvor gespeist zu haben; zur Stillung ihrer sexuellen Lust bilden sie keine Paarungsschwärme, sondern erledigen das Geschäft in engen, beschränkten Räumen; und sie sind das ganze Jahr über aktiv.

Seit ByrneByrne, Katharine ihre Arbeit publiziert hat, ist klar geworden, dass das Vorkommen von Culex pipiens molestusCulex pipiens molestus nicht auf LondonLondon (England) beschränkt ist. Sie ist in U-Bahnen, Kellerräumen und Zisternen auf der ganzen Welt zu Hause, und sie hat ihre Verhaltensformen ihrer menschengemachten Umwelt angepasst. Durch Exemplare, die in Automobile oder Flugzeuge geraten und dort eingeschlossen werden, verbreiten sich ihre Gene von Stadt zu Stadt. Gleichzeitig kreuzt sie sich mit örtlichen überirdischen Stechmücken und nimmt auch aus dieser Quelle Gene auf. Außerdem ist klar geworden, dass all dies, historisch gesehen, ein sehr, sehr junges Geschehen ist – die Evolution der Gemeinen Stechmücke Culex pipiens pipiens zur Culex pipiens molestusCulex pipiens molestus vollzog sich wahrscheinlich erst, seitdem unsereins mit der Konstruktion unterirdischer Großbauten begann.

In jenem gedrängt vollen Verbindungsflur im Bahnhof Liverpool Street ein letztes Mal meine eigene LondonLondoner U-Bahn-Stechmücke (London underground mosquito, Culex pipiens molestus)er U-Bahn-Stechmücke musternd, stelle ich mir vor, welche unsichtbaren Abwandlungen die Evolution in diesem winzigen, fragilen Körper vollbracht hat. Proteine in den Fühlern haben die Zusammensetzung gewechselt, sodass die MückeMückenn auf menschliche Ausdünstungen anstelle von Vogelgerüchen reagieren. Gene, die ihre innere Uhr steuern, wurden neu eingestellt oder ganz abgeschaltet, um das Insekt von der Winterruhe abzuhalten, weil ihm im Untergrund ja immer Menschenblut zur Verfügung steht und es dort auch nie besonders kalt wird. Und führen Sie sich einmal vor Augen, welche komplexen Umstellungen im Erbgut notwendig waren, um einen Wechsel des Sexualverhaltens zu ermöglichen! Von einer Art, wo die Männchen im Freien große Schwärme bilden, in die die Weibchen auf der Suche nach einem Paarungspartner einfliegen, zu einer, bei der die Paarung während Eins-zu-eins-Begegnungen in engen Räumen stattfindet, wo die dünn gesäten Untergrund-Mücken zufällig aufeinandertreffen.

Die Evolution der LondonLondoner U-Bahn-Stechmücke (London underground mosquito, Culex pipiens molestus)er U-Bahn-Stechmücke reizt unsere kollektive Fantasie. Warum weckt sie eine solche Wissbegier in uns, und warum erinnere ich mich nach all den langen Jahren noch so lebhaft an Katharine ByrneByrne, Katharines Präsentation? Nun, erstens hat man uns beigebracht, dass die Evolution ein langsamer Prozess sei, der im Verlauf von Millionen Jahren unmerklich Arten bastle – nichts, was innerhalb einer so kurzen Zeitspanne wie der menschheitlichen Stadtgeschichte stattfinden könne. Die Genealogie der Culex pipiens molestusCulex pipiens molestus hingegen macht unmissverständlich klar, dass Evolution nicht einzig eine Sache von Dinosauriern ist oder allein in der Dimension erdgeschichtlicher Epochen stattfindet. Sie ist tatsächlich hier und jetzt zu beobachten! Zweitens bekommen wir eine Ahnung davon, welch gravierende Auswirkungen unser Handeln auf die Umwelt hat: »Wilde« Tiere und Pflanzen passen sich Lebensräumen an, die ursprünglich von Menschen für Menschen geschaffen wurden. Diese Ahnung bringt uns zu Bewusstsein, dass die Wandlungen, die wir der Erde aufzwingen, irreversibel sind.

Und drittens spitzen wir die Ohren, wenn wir von der LondonLondoner U-Bahn-Stechmücke (London underground mosquito, Culex pipiens molestus)er U-Bahn-Stechmücke hören, weil sie uns eine solch aparter Zuwachs im gewöhnlichen Tätigkeitsfeld der Evolution zu sein scheint. Uns allen ist bekannt, dass die Evolution das Federkleid von Paradiesvögeln in fernen Urwäldern oder die Beschaffenheit von Orchideen auf hohen Berggipfeln bis zur Vollkommenheit gestaltet. Indes ist die Prozedur augenscheinlich etwas so Banales, dass es ihrer Bedeutsamkeit keinen Abbruch tut, wenn sie ihr Werk auch direkt unter unseren Füßen betreibt, zwischen den schmutzigen Stromkabeln des städtischen U-Bahnnetzes. Was für ein schöner, einmaliger, unmittelbar aus dem Alltagserleben gegriffener Beispielfall! So etwas wünscht man sich in einem Biologiebuch zu finden.

Was aber, wenn der Vorgang gar kein Ausnahmefall mehr ist? Was, wenn die U-Bahn-Stechmücke stellvertretend für die gesamte Fauna und Flora steht, die mit dem Menschen und menschengemachten Umweltbedingungen in Berührung kommt? Was, wenn der Druck, den wir auf die Ökosysteme der Erde ausüben, inzwischen so stark geworden ist, dass das Leben auf der Erde dabei ist, Mittel und Wege zur Anpassung an einen ganz und gar urbanen Planeten zu entwickeln? Das sind die Fragen, denen wir uns in diesem Buch widmen werden.

Und zwar kein bisschen zu früh. Im Jahr 2007 kippte ein in globaler Sicht hochbedeutsames statistisches Verhältnis: Erstmals in der Geschichte übertraf die Gesamtzahl der Bewohner städtischer Räume die der Bewohner ländlicher Räume. Seitdem steigert sich dieser zahlenmäßige Gegensatz rapide. Mitte des 21. Jahrhunderts werden zwei Drittel der geschätzten 9,3 Milliarden Erdbewohner in Städten leben. Wohlgemerkt: Das gilt für die Welt im Ganzen. In Westeuropa leben schon seit 1870 mehr Menschen in Städten als auf dem Land, und in den USA wurde dieser Wendepunkt 1915 erreicht. Erdgebiete wie Europa und Nordamerika sind schon länger als ein Jahrhundert strammen Schrittes auf dem Weg, urbane Kontinente zu werden. Eine in jüngerer Zeit in den USA durchgeführte Studie brachte zutage, dass der durchschnittliche Abstand zwischen einem beliebigen Punkt auf der Landkarte und dem nächsten Wald Jahr für Jahr ungefähr um 1,5 Prozent zunimmt.

Nie zuvor in der ganzen Erdgeschichte war eine einzelne Lebensform dermaßen dominant wie heute der Homo sapiens. »Und was ist mit den Dinosauriern?«, fragen Sie jetzt vielleicht. Aber die DinosaurierDinosaurier waren eine ganze Gruppe oder, wie es die Biologie nennt, eine ganze Klade, mit wahrscheinlich Tausenden Arten. Die Dominanz dieser mehr als tausend Dinosaurierarten mit der einzelnen Art Homo sapiens zu vergleichen wäre so, als würde man sämtliche selbstständigen Gemüsehändler der Welt mit der auf dem gesamten Globus vertretenen britischen Supermarktkette Tesco vergleichen. Nein, in ökologischer Beziehung hat die Welt bisher zu keinem Zeitpunkt die Lage erlebt, in der wir uns heute befinden: dass eine einzelne Tierart den Planeten voll und ganz überwuchert und zum eigenen Vorteil nutzt. Zurzeit verbraucht unsere Spezies ein volles Viertel aller pflanzlichen Nahrung, dazu die Hälfte des weltweiten FrischwasserFrischwasserabflusses. Auch das ist wieder etwas noch nie Dagewesenes: Keine andere von der Evolution geschaffene Spezies brachte es je zu einer derart zentralen ökologischen Rolle von solch weltumspannender Reichweite.

Mithin wird die Welt voll und ganz vom Menschen dominiert. Spätestens 2030 wird nahezu ein Zehntel der Landmasse des Planeten urbanisiert und der Rest zum großen Teil mit Farmen, Weiden und Plantagen überzogen sein, die der Mensch gestaltet hat. Alles in allem zeigt sich ein Mosaik von Lebensräumen, wie es die Natur nie zuvor gekannt hat. Und trotzdem, wann immer wir Biologen über die Ökologie und die Evolution, über Ökosysteme und die Natur sprechen, klammern wir den Faktor Mensch hartnäckig aus und konzentrieren unsere Aufmerksamkeit kurzsichtig auf jenen schwindenden Bruchteil von Lebensräumen, wo menschlicher Einfluss eine quantité négligeable ist. Oder wir bemühen uns nach besten Kräften, die Natur so zu betrachten, als ob sie unter einer Art Glasglocke stände, unbehelligt von irgendwelchen abträglichen Einwirkungen der – so die stillschweigende Annahme – naturfernen Menschenwelt.

Eine solche Einstellung lässt sich nicht länger aufrechterhalten. Es ist Zeit, sich einzugestehen, dass menschliches Handeln die einflussreichste ökologische Kraft auf der ganzen Welt ist. Wir sind, ob es uns passt oder nicht, an allem, was auf diesem Planeten passiert, voll beteiligt. Nur in Höhenflügen romantischer Fantasie kann es uns noch gelingen, Natur und menschliche Umwelt als getrennte Welten wahrzunehmen. Draußen in der realen Welt umklammern unsere Tentakel das Material der Natur. Wir bauen Städte voller neuartiger architektonischer Konstruktionen aus Stahl und Glas. Wir gestalten Wasserläufe zu Bewässerungskanälen um, wir verunreinigen sie, stauen sie; wir mähen, spritzen und düngen Felder. Wir blasen Treibhausgase in die Atmosphäre, die eine Veränderung des Klimas bewirken; wir setzen standortfremde Pflanzen (Neophyten) und Tiere (Neozoen) aus, fangen Fische, jagen Wild und fällen Bäume für unsere Ernährung und andere Bedürfnisse. Jede nichtmenschliche Lebensform auf Erden wird einmal direkt oder indirekt mit Menschen in Kontakt kommen. Und meist bleiben solche Begegnungen nicht folgenlos für den fraglichen Organismus. Sie können sein Leben oder seine Lebensweise gefährden. Sie können aber auch neue Möglichkeiten, neue Nischen eröffnen. So, wie sie es für die Vorfahren von Culex pipiens molestusCulex pipiens molestus taten.

Was macht nun die Natur, wenn sie vor Herausforderungen steht und sich ihr Möglichkeiten bieten? Sie entwickelt sich weiter – sie ›evolviert‹. Wenn irgend möglich, ändert sie sich – sie passt sich an. Je stärker der Druck, dem sie ausgesetzt ist, desto schneller und tief greifender tut sie das. Wie die Wertpapierhändler, die in jenem U-Bahnhof-Flur mit wehenden Krawatten an mir vorbeihasten, nur allzu gut wissen, gibt es in Großstädten enorme Möglichkeiten, aber es herrscht auch eine enorme Konkurrenz. Hier zählt jede Sekunde im andauernden Kampf um das eigene Überleben. In diesem Buch werde ich zeigen, dass die Natur genau diesen Kampf kämpft. Während wir alle unsere Aufmerksamkeit auf das schwindende Quantum unverdorbener Natur konzentriert haben, haben sich hinter unseren Rücken urbane Ökosysteme herausgebildet, und zwar just in den Großstädten, über die wir verächtlich unsere Naturforschernasen rümpfen. Bei unserem Bemühen, das globale präurbane Ökosystem zu retten, haben wir ganz übersehen, dass die Natur bereits Fundamente für den Aufbau zukunftsträchtiger Ökosysteme gelegt hat.

Ich werde die unzähligen Wege aufdecken, wie urbane Ökosysteme sich konstituieren. Womöglich können sie es schaffen, auf unserem urbanisierten Planeten eines Tages die wesentlichste Form von Natur darzustellen. Doch bevor wir in medias res gehen, muss ich noch etwas loswerden, das mir am Herzen liegt.

Viele Menschen, die heute in wachsender Zahl dafür werben, die Rolle der Natur im städtischen Raum breiter zu würdigen, sehen sich oft dem Vorwurf ausgesetzt, dass sie den Bodenspekulanten für ihre Zerstörung der unberührten Natur einen Persilschein ausstellten – oder sogar mit den Übeltätern unter einer Decke steckten und dem Naturschutz den Dolch in den Rücken stießen. Vor einigen Jahren schrieb ich zusammen mit meinem Kollegen Jef HuismanHuisman, Jef von der Universität Amsterdam einen Meinungsartikel für die niederländische überregionale Tageszeitung de Volkskrant. Darin führten wir aus, dass die Natur etwas Dynamisches, in konstantem Wandel Befindliches sei. Und wir vertraten die Meinung, dass wir nicht versuchen sollten, Ökosysteme in den Niederlanden in der gleichen Form und dem gleichen Aufbau zu erhalten, wie sie sich auf Landschaftsbildern von vor einigen Jahrhunderten präsentierten. Wir plädierten für einen pragmatischeren Ansatz im Naturschutz, der auch fremdartigen Spezies ein Existenzrecht einräume, der urbanen Natur ihren Platz lasse und seine Sorge mehr der Funktionalität des Ökosystems als einer genauen Identifikation und Kontrolle der Spezies darin zuwende.

Das kam bei manchen Leuten nicht gut an. Wir erhielten E-Mails von aufgebrachten Kollegen, die uns beschuldigten, wir würden Politikern der Rechten in die Karten spielen, die noch die fadenscheinigsten Vorwände aufgriffen, um weiterhin blindwütig über die Belange des Naturreichs und seiner Erhaltung herfallen zu können. Andere erboste Leser meinten, wir sollten das »mal den Menschen in Australien und Neuseeland erzählen, wo die Natur von Riesenkröten und Kaninchen förmlich überschwemmt ist«.

Solche Anwürfe treffen mich tief. Im Kindesalter und noch als Jugendlicher war ich ein eifriger KäferKäfersammelnsammler und Vogelbeobachter und durchstreifte oft Tag um Tag die Felder um meinen Heimatort herum, ausgerüstet mit einem Feldstecher oder einem Pflanzenbestimmungsbuch oder einem Gefäß, in dem ich die gesammelten KäferKäfersammeln nach Hause trug. Die Plätze, wo ich nistende Uferschnepfen fotografierte, über Teppiche aus jungem Knabenkraut stapfte und meinen ersten Großen Kolbenwasserkäfer fing, hat inzwischen der Speckgürtel von RotterdamRotterdam (Niederlande) überwuchert. Kochend vor Wut, die Hände zu Fäusten geballt, Tränen in den Augen, sah ich ohnmächtig zu, wie die ersten Bulldozer begannen, mein Abenteuerrevier zu planieren, und schwor mir, die für immer verloren gegangene Natur zu rächen. Als ich in späteren Jahren als Tropenökologe auf BorneoBorneo (Malaysia) lebte und arbeitete, musste ich ebenso machtlos mit ansehen, wie Mangrovenwaldgebiet in Parkplätze und unberührter RegenwaldRegenwald in Ölpalmenmonokulturen umgewandelt wurde.

Aber ebendiese Liebe zur Natur und die Besorgtheit um sie haben mir auch die Macht der Evolution und die unermüdliche Anpassungsfähigkeit alles Lebendigen nähergebracht. Das Wachsen der Menschheit ist unbestreitbar. Sehen wir ab von etwaigen globalen Katastrophen und von diktatorischen Geburtenkontrollen, so können wir davon ausgehen, dass die Menschen mit ihren Großstädten und deren urbanisiertem Umland die Erde noch vor Ausgang des Jahrhunderts an den Rand der Erstickung gebracht haben werden. Jawohl, wir müssen Inseln unberührter Natur nach Kräften schützen. Aber mit dem verzweifelten Bemühen, einen Status quo zu erhalten, indem wir fremdartige Spezies ausmerzen und »Unkraut« und »Schädlinge« vernichten, zerstören wir vielleicht just die Ökosysteme, welche zukünftig die Menschheit am Leben erhalten werden. Stattdessen – so lautet die These, die ich in diesem Buch vertrete – müssen wir die Evolutionskräfte bejahen und nutzen, die genau hier und genau jetzt neuartige Ökosysteme schaffen. Und wir müssen, selbst wenn es uns Überwindung kostet, zulassen, dass auch im Herzen unserer Städte Natur wächst und gedeiht.

Erster TeilLeben in der Stadt

Zahllose überfüllte Straßen, hohe Gewächse aus Eisen, schlank, kraftvoll, elegant, strahlend sich erhebend zum klaren Himmel hin.

 

Walt Whitman, »Mannahatta« (Leaves Of Grass, 1860)

Erstes KapitelMutter Naturs ultimativer Ökosystem-Ingenieur

Die Evolution hat Tausende Tierarten hervorgebracht, die als Miteinwohner von Ameisen in deren »Städten« leben. Hier sehen wir einen Kurzflügler-Käfer der Gattung LomechusaLomechusa (Kurzflügler-Käfer), der von einer Wirtsameise gehätschelt wird.

Gut 30 Kilometer westlich von RotterdamRotterdam (Niederlande) liegen die Küstendünen von VoorneVoorne (Niederlande)Dünen (Voorne, Niederlande) – eine (zumindest nach den bescheidenen Maßstäben der Niederlande) weite, hügelige, pflanzenbewachsene Dünenlandschaft, die allerdings im Norden zunehmend vom expandierenden Rotterdamer Hafen benagt wird. Hier kann man sich zwischen seltenen Durchwachsenen Bitterlingen und Sumpf-Stendelwurzen auf einem Teppich aus Moosen und Flechten niederlassen und eine Stulle verzehren, während in der Ferne gigantische Haufen Eisenerz und Kohle umgeschlagen werden und der unausgesetzte Wind das dazugehörige Gerumpel und Geschepper in schwankender Lautstärke herüberträgt.

Hier habe ich als Schüler fast jeden Samstag mit der Jagd auf KäferKäfersammeln für meine stetig wachsende Sammlung verbracht. Mitunter begleitet von unserem unermüdlichen Biologielehrer, pflegten meine ebenfalls naturforschenden Jugendfreunde und ich die Maas entlang flussab zu radeln, mit der Fähre ans andere Ufer überzusetzen und zwischen den Ölspeichertanks und den einschüchternden Chemieanlagen der Raffinerien hindurchzukurven, um anschließend den ganzen Tag botanisierend und entomologisierend in den Dünen zu verbringen. Der darauffolgende Sonntag war dann dem Sortieren, Nadeln und Identifizieren der Beute gewidmet, dazu galt es, die Ergebnisse der ganzen Aktion in allen Einzelheiten im Notizbuch festzuhalten – eine Oase der Glückseligkeit, ehe am Montagmorgen wieder die langweilige Schulwoche begann.

In den Niederlanden gibt es etwa 4000 KäferKäfersammelnarten, und ich hatte es mir zur Aufgabe gemacht, so viele von ihnen wie möglich in VoorneVoorne (Niederlande)Dünen (Voorne, Niederlande) aufzuspüren. Nach zwei oder drei Jahren hatte ich in meinen Sammlungskästen – die sich in einem Regal in meinem Zimmer stapelten – präparierte Exemplare von mehr als 800 verschiedenen Arten beisammen, von denen manche im Land noch nie aktenkundig geworden waren.

Die ersten paar Hundert Sammelobjekte waren nichts Besonderes: häufig anzutreffende, weit verbreitete Arten, die ich einfach einsackte, wenn mir ein Exemplar über den Weg krabbelte oder sich auf einer Blattspitze niedergelassen hatte. Doch mit den Zuwächsen auf meiner Fangliste wurden fortgeschrittenere Sammelmethoden vonnöten, damit ich meiner Sammlung auch schwieriger zu erjagende Arten, nämlich solche aus sogenannten speziellen Habitaten, würde hinzufügen können. Zum Beispiel Myrmekophilmyrmekophile KäfereKäfermyrmekophile Käfer – Tiere, die in der Natur als Dauergäste in AmeisennesternKäferin AmeisenkolonienAmeisenkolonien leben (und in Deutschland deswegen auch Ameisengäste heißen). Aus meinem entomologischen Handbuch erfuhr ich, dass die beste Zeit, sie ausfindig zu machen, Mitte Winter ist, weil sich dann alle Nestbewohner im untersten Bereich zusammengedrängt haben und – wichtiger noch – viel zu ausgekühlt sind, als dass sie noch aufgelegt wären, mich zu beißen oder zu stechen.

Also befestigte ich eines eisigen Wintermorgens einen großflächigen Spaten am Rahmen meines Fahrrads und machte mich auf den Weg zu einem der Kiefernbestände in den inneren Dünen, wo ich zuvor große, kuppelförmige Nester der Roten Waldameise (Formica rufa) ausgemacht hatte. Die Hügel waren noch da, bedeckt mit vertrockneten Brennnesselstängeln, die aus dem ammoniakreichen Boden rund um die Nester aufgesprossen waren. Ich trieb meinen Spaten tief in den Ameisenbau. In einem fort warf ich Spatenladungen von Kiefernnadeln, gemischt mit Eiskristallen, beiseite, und gelangte schließlich in die frostfreien Tiefen, wo sich die AmeisenAmeisenkolonien versteckten. Ich packte mein bewährtes »KäferKäferin AmeisenkolonienKäfersammelnsieb nach Reitter-Winkler« aus, eine clevere, altehrwürdige Vorrichtung deutscher Erfindung: eine Stoffröhre, die am oberen Rand und etwa in der Mitte mit einem Ring stabilisiert und jeweils mit einem Handgriff versehen ist; auf Höhe des mittleren Ringes befindet sich ein Sieb; kurz vor dem unteren Ende der Stoffröhre befindet sich ein Band zum Zusammenschnüren des nach unten offenen Teils der Röhre – was man vor der Benutzung tun muss. In dieses Gerät warf ich einige Handvoll Nestmaterial und schüttelte das Ganze kräftig, um die InsektenInsektenKäferInsektenFliegen von den größeren Bestandteilen des Materials zu trennen, band schließlich das untere Ende der Röhre wieder auf und goss den Siebdurchgang in ein Plastiktablett. Dann setzte ich mich hin und wartete.

Binnen Kurzem begannen die ausgekühlten AmeisenAmeisenkolonien langsam sich zu recken und zu strecken und wackelig auf ihrem Plastikuntergrund herumzukrabbeln. Aber an ihnen hatte ich kein Interesse. Wohinter ich her war, das hatte ich da und dort zwischen den AmeisenAmeisenkolonien erspäht. Da einen kleinen braunen StutzkäferStutzkäfer, der seine Beinchen fest an den runden, glatten Körper gepresst hielt und so einem Samenkorn zum Verwechseln ähnlich sah. Dort einen ebenfalls braunen Kurzflügler mit vor Schreck wehrhaft angehobenem Abdomen. Genau hinter diesen zwei Gesellen war ich her gewesen! Myrmekophilmyrmekophile Käfere KäferKäfermyrmekophile Käfer, die man außerhalb von Ameisennestern nie zu sehen bekommt. Ich steckte die beiden in mein Tötungsglas (ein altes Marmeladenglas mit eingelegtem Seidenpapier, betropft mit etwas Äther) und nahm sie mit nach Hause, wo ich sie sorgfältig nadelte; an jede Nadel heftete ich zudem ein Kärtchen mit einem aufgeklebten Exemplar der AmeisenAmeisenkolonien (wie in meinem maßgeblichen KäferKäferin Ameisenkolonienbuch empfohlen). Anschließend holte ich meine Bestimmungsschlüssel herbei, und sie lieferten mir die Bestätigung dafür, dass ich tatsächlich Vertreter zweier artenreicher Käferfamilien gefunden hatte, die ich niemals hätte zu sehen bekommen, hätte ich mir nicht die Mühe gemacht, mitten im Winter ein AmeisennestAmeisenkolonien auszugraben.

In ihrem voluminösen Standardwerk The AntsThe Ants (B. Hölldobler & E.O. Wilson) (Die Ameisen) widmen die beiden renommierten Ameisenspezialisten Bert Hölldobler und Edward O. WilsonWilson, Edward O. ein ganzes Kapitel den Tieren, die sich bei Ameisen als Dauergäste einquartieren. Es ist mit einer zusammenfassenden Tabelle angereichert, die sich über 14 Seiten erstreckt und nicht bloß KäferKäferin Ameisenkolonien, sondern auch Milben, Fliegen, SchmetterlingsraupeRaupen und Spinnen aufzählt. Landasseln, Pseudoskorpione (anderer Name: Afterskorpione), TausendfüßlerTausendfüßler (Anoplodesmus saussurii), Springschwänze, Schnabelkerfen, Grillen usw. In fast jeder Gruppe von Krabbelgetier gibt es Arten, die kriechend oder krabbelnd in AmeisenAmeisenkolonienstaaten eingewandert sind und Tricks entdeckt haben, wie sie sich hier durchschlagen können.

Tricks von zweierlei Art: Einer besteht darin, sich zu integrieren. Leben und Treiben in der AmeisenAmeisenkolonienwelt wird überwiegend auf chemischem Wege reguliert. In der Ameisengesellschaft findet Kommunikation mittels einer umfänglichen Mischung von Düften und Gerüchen statt, mit welchen die Tiere einander Botschaften übermitteln. In ›Pheromonensprache‹ sind diese gleichbedeutend mit einem simplen »Hi! Wie geht’s, wie steht’s?«, einem beruhigenden »Bin gesund und munter, alles paletti!«, einem aufgeregten »Mannomann, ein toller Bissen, zwei Wegstunden westlich vom Nest!« oder einem panischen »ACHTUNG, ACHTUNG! KATASTROPHENWARNUNG! RETTESICH, WERKANN! IRGENDEINDRECKIGERHUNDSFOTTRAMMTEINENSPATENINSNEST«.

Die chemische Sprache der AmeisenAmeisenkolonien dient überdies als ein Mittel zur ImmunisierungImmunsystem des Volks gegen Eindringlinge: Sie macht den Unterschied zwischen »einheimisch« und »fremd« aus. Jedes Lebewesen, das nicht wie ein eingeborenes Koloniemitglied riecht, wird erbarmungslos angegriffen. Um in ein Nest hineingelangen zu können, mussten also Myrmekophilmyrmekophile KäfereKäfermyrmekophile Käfer (selbst solche, die keinerlei den AmeisenAmeisenkolonien abträgliche Ziele verfolgen) den Identifikationscode ihres prospektiven Wirtsvolks knacken. Sie haben sich evolutionär zu Sprechern des »Ameisischen« entwickelt, um der Entlarvung zu entgehen. Am Leib vieler Myrmekophiler produzieren spezielle Drüsen die Signalmoleküle des Wirtsvolks (insbesondere »Beschwichtigungs«-signale), die mithilfe von Haarbüscheln in die Luft geweht werden. Manche Myrmekophilmyrmekophile Käfere sind sogar zweisprachig, wie die Kurzflügler-KäferKäfermyrmekophile Käfer der Gattung LomechusaLomechusa (Kurzflügler-Käfer): Im Winter lebt Lomechusa in einem Nest der Roten Gartenameise (Myrmica rubra), und dank bester Verständigung im chemischen Jargon kommen Gastgeberin und Gast prächtig miteinander aus. Im Frühjahr jedoch zieht LomechusaLomechusa (Kurzflügler-Käfer) bei Myrmica aus, um sein Quartier für den Sommer in ein Nest der Roten Waldameise zu verlegen, und irgendwie bringt er es dabei fertig, seinen chemischen Wortschatz in nahtlosem Übergang auf Formica-isch umzustellen.

 

Der zweite Trick, den Myrmekophilmyrmekophile KäfereKäfermyrmekophile Käfer evolutionär ausgeheckt haben, um sich im AmeisenKäferin AmeisenkolonienAmeisenkolonienstaat behaupten zu können, besteht darin, eine Nische ausfindig zu machen, die ihnen eine glückliche und gesicherte Existenz bietet. Die obsessive Zwanghaftigkeit der Ameisen hilft ihnen dabei. Jedes Mal, wenn wir zufällig einen Blick in das Innere eines AmeisenAmeisenkoloniennests erhaschen – etwa weil wir im Garten einen Gesteinsbrocken beiseitegeräumt haben –, zeigt sich uns vermeintlich ein Wirrwarr von durcheinanderlaufenden Tieren und planlos verstreuter Brut. In Wirklichkeit handelt es sich indes um ein hochgradig strukturiertes Gemeinwesen mit zweckbestimmten Bezirken für die diversen Dienste, die das Gesellschaftssystem am Laufen halten – im Ganzen vergleichbar einer mittelalterlichen Stadt. Es gibt Müllplätze, wo der Abfall der Kolonie abgeladen wird; periphere Nestkammern sowie angrenzende Wachlokale, wo die Verteidigungskräfte der Kolonie stationiert sind; Vorratsspeicherkammern; Brutkammern mit separaten Abteilungen für Puppen, Larven und Eier; die Privatresidenz der Königin usw.

Manche AmeisenAmeisenkolonien halten Blattläuse, die sie melken, in für sie eingerichteten Ställen oder legen Pflanzbeete an, auf denen sie essbare Pilze anbauen oder harte Samenkörner so lange keimen lassen, bis sie weich und zum Verzehr geeignet sind. Dann gibt es noch das Netz der diversen Transportwege der Kolonie: Futtertransportstraßen, Durchgangsstraßen nebst in die äußeren Teile abzweigenden Seitenstraßen im Nest selbst, ja sogar ein unendlich verzweigtes Wegenetz, das die Verbindung des Nests mit dem Hinterland herstellt; ohne irgendwelche zentrale Steuerung oder Haushaltspläne sind AmeisenAmeisenkolonien imstande, ausgefeilte Verkehrsnetze anzulegen, an welche die Ergebnisse menschlicher Stadtplanung oft nicht heranreichen.

Jede einzelne dieser zahlreichen Substrukturen des AmeisenAmeisenkoloniennests und seiner Umgebung hat ihre eigenen speziellen Myrmekophilen. Das gilt bereits für die Zu- und Abgangswege zum und vom Nest. Die Transportstraßen, auf der die europäische Glänzendschwarze Holzameise (Lasius fuliginosus)Glänzendschwarze Holzameise (Lasius fuliginosus) ihr Futter hauptsächlich transportiert, verlaufen auf- und abwärts an Baumstämmen und ebenda lungert der Glanzkäfer Amphotis marginataGlanzkäfer (Amphotis marginata) herum. Dieser KäferKäferin Ameisenkolonienist ein richtiger Wegelagerer. Tagsüber versteckt er sich in Schlupflöchern längs des Wegs, aber zur Nacht kommt er heraus und hält mit Futter zum Nest heimkehrende AmeisenAmeisenkolonien an. Mit seinen kurzen, kräftigen Antennen betrillert er heftig den Kopf einer Ameise, und gleichzeitig stößt er gegen ihre Mundpartie: eine grobe, gleichwohl mehr oder weniger überzeugende Imitation des Bettelverhaltens der AmeisenAmeisenkolonien im Nest, denn öfter als nicht regurgitiert (vulgo: würgt hervor) die verblüffte Heimkehrerin daraufhin einen Futtertropfen, der von dem Käfer schnellstens aufgeschleckt wird. Nicht selten jedoch bemerkt die Irregeführte ihr Versehen und attackiert den Gauner. Der zieht sich schnell unter seinen kräftigen Rückenschild zurück, drückt sich mit den breiten Rändern des Schilds flach an den Boden und ist somit unangreifbar für die Ameise. Die Geprellte gibt daraufhin ihr aussichtsloses Bemühen bald auf und kehrt ohne Futterladung ins Nest zurück.

Drinnen im Nest der Glänzendschwarzen HolzameiseGlänzendschwarze Holzameise (Lasius fuliginosus) sehen wir einen anderen Käfer seinem Geschäft nachgehen. Die Larven des Kurzflüglers Pella funesta versehen hier den Dienst der Müllabfuhr. Sie leben in den Abfallhaufen der Kolonie, wo sie sich von toten AmeisenAmeisenkolonien ernähren. Dabei halten sie sich außer Sicht, indem sie sich ihrem Mahl von unten nähern oder sogar in die Ameisenleichen hineinkriechen, um sie zu verzehren. Wenn eine Arbeiterin eine solche Larve angreift, richtet diese zur Abwehr die Abdomenspitze gegen den Kopf der Angreiferin; aus einer Drüse verstäubt sie Chemikalien, die sofort eine besänftigende oder ablenkende Wirkung auf die Ameise ausüben. Auch die adulten Pella funesta verschmähen Ameisenleichen nicht, jagen jedoch außerdem auch lebende AmeisenAmeisenkolonien, manchmal in Gruppen. Wie ein Löwenrudel nehmen sie die Verfolgung auf, und einer der Käfer versucht dann, einer Ameise auf den Rücken zu klettern, seine Kiefer in ihren Hals zu schlagen und Nerven und Kehle zu durchtrennen. Diese Jagden misslingen oft, ist eine jedoch von Erfolg gekrönt, labt sich die ganze Käfermeute an der Beute.

Das Eldorado des Nests sind für die Ameisengäste jedoch die Brutkammern. Hierhin bringen die AmeisenAmeisenkolonien für die neugeborenen Larven nur Futter in Premiumqualität (frisch getötete Insekten zum Beispiel). Viele Myrmekophilmyrmekophile KäfereKäfermyrmekophile Käfer haben hier ihre Traumnische gefunden, wo sie entweder Futter von den Arbeiterinnen erbetteln, indem sie sich mit den entsprechenden chemischen Signalen selber als Ameisenlarven ausgeben oder gleich die Larven selbst auffressen. Aber Brutkammern werden auch heftig verteidigt. Jeder entdeckte Eindringling wird auf der Stelle umgebracht. Deswegen mussten die von der Evolution zu Spezialisten für Brutkammern gemachten Myrmekophilen hoch entwickelte Methoden ausbilden, wie sie die Freund-Feind-Erkennung der AmeisenAmeisenkolonien unterlaufen können. So auch der eigenartige Keulenkäfer Claviger testaceusClaviger testaceus (Käfer). Claviger trägt die Kennzeichen millionenjähriger Anpassung an das Leben in Ameisennestern. Er ist fahl, hat eine merkwürdig verlängerte, augenlose Kopf- und Brustpartie, ungewöhnliche, keulenähnliche Antennen und dichte goldgelbe Haarbüschel auf dem Rücken. Wieder einmal liegt das Geheimnis in diesen Haarbüscheln. Die Drüsen unter ihnen produzieren Chemikalien, die offensichtlich den Geruch des Todes ausströmen. Von Insektenkadavern, genauer gesagt. Stößt eine Arbeiterin auf einen ClavigerClaviger testaceus (Käfer), hält sie ihn für ein frisch getötetes Beutetier (umso eher, da er sich tot stellt). Sie kriegt ihn an seinem praktischerweise einem Stiel ähnelnden Vorkörper zu fassen und trägt ihn dann zur Brutkammer, wo die schmackhaftesten Happen deponiert werden. Hier packt sie vielleicht noch ein paar Brocken Gammelfleisch auf den KäferKäferin Ameisenkolonien, bedeckt den Haufen mit erbrochenem Speichel, der Verdauungsenzyme enthält, und wendet sich ab von der Szene, anderen Aufgaben zu – überzeugt, den heranreifenden Larven eine Wohltat erwiesen zu haben. Die Wirklichkeit sieht so aus: Sobald der Claviger sich unter dem Haufen von Insektenüberresten hervorgewühlt hat, macht er sich daran, AmeisenAmeisenkolonieneier, -larven und -puppen zu verschmausen.

Claviger testaceusClaviger testaceus (Käfer), Pella funesta und Amphotis marginataGlanzkäfer (Amphotis marginata) sind gerade mal drei der etwa 10000 myrmekophilen Spezies, die es nach Einschätzung von Wissenschaftlern gibt und die zusammen zu mindestens hundert verschiedenen Familien der Wirbellosen zählen. Diese explosionsartige evolutionäre Ausbreitung der Myrmekophilie ist wahrscheinlich schon im Gange, seit es Ameisengesellschaften gibt – mindestens seit 75 Millionen Jahren. Der Grund dafür: AmeisenAmeisenkolonien zählen zu jener Elitetruppe von »Machern«, die Ökologen als ›Ökosystem-Ingenieure‹ bezeichnen.

Den Fachausdruck ›Ökosystem-IngenieurÖkosystem-Ingenieur‹ prägten die Ökologen Clive JonesJones, Clive, John LawtonLawton, John und Moshe ShachakShachak, Moshe in einem 1994 in der Zeitschrift Oikos veröffentlichten Aufsatz. Dort heißt es: »Ökosystem-Ingenieure sind solche Organismen, welche […] die Verfügbarkeit von Ressourcen für andere Spezies modulieren, indem sie in biotischen oder abiotischen Materialien Änderungen des physikalischen Zustands bewirken. Damit modifizieren, erhalten und schaffen sie Habitate.« Oder, um es einfach zu sagen: Ökosystem-IngenieureÖkosystem-Ingenieur kreieren ihr eigenes Ökosystem. Man sieht auf Anhieb, wie AmeisenAmeisenkolonien in diese Definition passen. Sie schwärmen aus in ihre Umgebung und machen ihr Nest, kraft eines hohen Maßes an Selbstorganisation, zum zentralen Lagerplatz von Ressourcen. Das Nestinnere ist ein neuartiges Ökosystem mit konstantem Zufluss von Energie in Gestalt des von den AmeisenAmeisenkolonien herbeigetragenen Futters – ein ÖkosystemÖkosystem-Ingenieur, das auch von anderen Spezies genutzt werden kann. Jene 10000 Myrmekophile sind die neuen Arten, die sich entwickelt haben, um die Chancen und Möglichkeiten auszuschöpfen, die ihnen mit dem von den AmeisenAmeisenkolonien konstruierten Ökosystem geboten sind. Aber selbst Arten, die man kaum als Myrmekophile ansehen kann, können von den Veränderungen beeinflusst sein, die die Ameisen in ihrem Umfeld vornehmen. Erinnern Sie sich an die Brennnesseln auf dem ammoniakreichen Flecken Erde rund um das Nest der Roten Waldameisen, das ich ausgehoben habe!

Außer den Ameisen sind noch viele andere Organismen bedeutende ÖkosystemÖkosystem-Ingenieur-Ingenieure. Denken Sie an andere Tiere, die Gebilde schaffen, die sehr viel größer als sie selbst sind. TermitenTermiten und KorallenKorallen zum Beispiel! Aber Ökosystem-Ingenieure müssen nicht unbedingt Winzlinge sein. Nehmen Sie die BiberBiber. Es gibt kein besseres hydrologisches Ingenieursteam als eine Biberfamilie. BiberBiber fällen Bäume, indem sie deren Stämme benagen, und verwenden sie zusammen mit anderem Baumaterial – Ästen, Zweigen, Steinen, Schlamm –, um bis zu 100 Meter lange Dämme zu errichten. In langsam fließendem Wasser bauen sie einen geraden Damm, in einem schneller fließenden Fluss hingegen konstruieren sie eine gewölbte Form, weil die dem Wasserdruck besser widersteht. Die Dämme verlangsamen den Fluss, zwingen ihn damit zur Ausbreitung und schaffen so ein Sumpfgebiet, das zum einen für natürliche Feinde wie zum Beispiel Wölfe schwieriger zu durchqueren ist und zum anderen den Winter über die dauerhafte Versorgung mit Biberfutter (Wasserpflanzen und Jungholz) gewährleistet. Die Tiere graben Kanäle, in denen sie Holzklötze transportieren, die so schwer sind, dass sie nicht über den Boden geschleift werden können. Und sie bauen sich Unterkünfte: hüttenähnliche ›Wohnkessel‹ aus Ästen, Zweigen und Gras, gefestigt mit Schlamm, Holzspänen und Borke. Diese ganze Umweltoptimierung der BiberBiber ist von so übermäßiger Auswirkung, dass sie zugleich neue Nischen für ganze Schwärme von anderen Spezies mit sich bringt. Selbst wenn Biber ein Gebiet verlassen haben und ihre Dämme verkommen und brechen, erhält die resultierende Überflutung noch über Jahrzehnte nach dem Wegzug der BiberBiber Auwiesen am Leben und Gedeihen.

Eines der Gebiete, wo BiberBiber in der Vergangenheit mit ihrem Treiben eine solche Wirkung zeitigten, ist eine lang gestreckte Insel an der Ostküste von Nordamerika, im Mündungsgebiet des Muhheakantuck-Flusses. Der Boden dort ist sanft gewellt – der Name, den die Ureinwohner, die Lenni Lenape, der Insel gegeben haben, bedeutet »Land der vielen Hügel«. Bis vor 200 Jahren waren die meisten dieser Hügel üppig bedeckt mit Kastanien-, Eichen- und Hickory-Mischwald, der das reichliche Regenwasser aufnahm und dann nach und nach wieder abgab. Dies hatte zur Folge, dass sich 100 Kilometer langsames Fließgewässer in Gestalt von Bächen und Flüsschen über die ganze Insel zogen. In diesem herrlichen Biber-Habitat gab es, was Wunder, jede Menge BiberBiber. An einem bestimmten Ort im Südteil der Insel flossen in einer sanften Talsenke zwei Bäche zusammen. BiberBiber dämmten die Bäche, und das Tal verwandelte sich in ein Rotahorn-Sumpfgelände, das nach und nach auch von anderen Tieren besiedelt wurde, die sich in einem solchen Habitat zu Hause fühlen: Brautenten, SchreifröscheFrösche und Katzenwelse. Und außer dem Rotahorn gefiel es hier auch Froschlöffelgewächsen und dem Amerikanischen Veilchen (Viola cucullata). Dass wir dies alles wissen, verdanken wir einer in mehr als einem Sinne wegweisenden Studie, die unter der Leitung des Landschaftsökologen Eric W. SandersonSanderson, Eric von der Wildlife Conservation SocietyWildlife Conservation Society (New York, USA) in New YorkNew York City (USA)Manhattan (New York, USA) entstand. Anhand von Erkenntnissen über das Klima, die Bodenarten und die Topografie der Insel, von alten niederländischen und englischen Aufzeichnungen über die Landschaft und die Tierwelt und von Computermodellen des gesamten NahrungsnetzNahrungsnetzes dieses Teils von Nordamerika, vermochten die beteiligten Forscher zu rekonstruieren, wie die Landschaft und alles von ihr getragene Leben vor 400 Jahren aussah.

Heute ist von alledem nichts mehr übrig. Denn diese Insel ist der New Yorker Stadtbezirk ManhattanManhattan (New York, USA): Eric SandersonSanderson, Erics Arbeit ist unter dem Namen Mannahatta ProjectMannahatta-Project bekannt. Ziel der Unternehmung war es, eine Website mit einer navigierbaren Landkarte des heutigen ManhattanManhattan (New York, USA) aufzubauen, auf der die simple Eingabe einer Ortsbezeichnung, ergänzt durch einige Mausklicks, bewirkt, dass der fragliche Ort, auf der historischen Zeitachse um Jahrhunderte zurückversetzt, sich ohne jeglichen zivilisatorischen Überbau präsentiert. In voller Farbe und allen Einzelheiten enthüllt das einstige Habitat mitsamt seinem Reichtum an Tier- und Pflanzenleben, wie es nach gewissenhaftester Einschätzung der Modellkonstrukteure aussah, bevor Europäer den Fuß auf die Insel setzten. »[Nach 400 Jahren] Fortentwicklung uns eine anschauliche Vorstellung von diesem früheren Reichtum der Natur zu bilden, fällt uns Heutigen ebenso schwer, wie es wahrscheinlich jenen ersten europäischen Kolonialisten und ihren indianischen Nachbarn fallen würde, sich unsere modernen Straßen, Wolkenkratzer und Reichtümer vorzustellen«, schreibt SandersonSanderson, Eric. Das Mannahatta ProjectMannahatta-Project erreichte sein Ziel am 12. September 2009, noch rechtzeitig zur Vierhundertjahrfeier des Tages, an dem Henry HudsonHudson, Henry auf dem Dreimaster »De Halve Maen« (Halbmond) der Niederländischen Ostindien-KompanieNiederländische Ostindien-Kompanie als erster Europäer die Insel zu Gesicht bekam und in sein Logbuch kritzelte: »Ein Land, wie man es schöner nicht unter den Füßen haben könnte.«

Und in der Tat: Besucht man unter der Adresse www.welikia.org die interaktive Karte des Projekts, könnte man meinen, Google Earth habe einen in eines der wenigen noch verbliebenen unberührten Wildnisgebiete auf der Erde geleitet. Walddecke von Küste zu Küste, nur hier und da gelichtet durch Wiesen, Sumpfland, Bäche, etliche Lenape-Siedlungen und einige wenige Sandstrände und Felswände längs des Ufers. Ein Paradies. Aber klickt man auf die Schaltfläche »STREETS«, legt sich der Straßenplan von heute über dieses ganze Grün. Plötzlich wird man gewahr, dass der üppige Bach, den man in den Blick genommen hat, sich ja in einer Umgebung befindet, die heute Harlem oder Greenwich Village ist. Jener Zusammenfluss zweier Bäche zum Beispiel, wo die ÖkosystemÖkosystem-Ingenieur-Ingenieurskunst der BiberBiber ein Rotahorn-Sumpfgelände geschaffen hatte, lag mitten in dem Raum, den heute der Times Square füllt. Der eine Wasserlauf erschien vom New-York-Post-Gebäude her, der andere aus dem Souterrain der Jacqueline Kennedy Onassis High School auf der Bildfläche.

Inzwischen hat Ihnen wohl gedämmert, worauf die Geschichte, die ich in diesem Kapitel erzähle, hinausläuft. Indem wir auf der interaktiven Karte des Mannahatta ProjectMannahatta-Project die Schaltflächen anklicken, schalten wir hin und her zwischen dem Werk des einen ÖkosystemÖkosystem-Ingenieur-Ingenieurs und dem eines andern. Die BiberBiber von Mannahatta sind nicht mehr, doch sie wurden ersetzt durch einen Organismus, den wir Mutter Naturs ultimativen Ökosystem-Ingenieur nennen könnten: Homo sapiens – der im ManhattanManhattan (New York, USA) von heute, seinem selbst konstruierten ÖkosystemÖkosystem-Ingenieur, nicht anders herumläuft, als es Ameisen im Ameisenhügel tun. Und wie jeder gute Ökosystem-Ingenieur hat er mit seinem Werk auch Nischen für animalische und pflanzliche Mitbewohner geschaffen. Das sind jetzt keine Myrmekophilen mehr, sondern AnthropophileAnthropophile, wenn Sie so wollen. Diese Anthropophilen und die Nischen, die sie sich in dem menschengemachten Ökosystem erkämpfen, werden wir in diesem Buch genauer kennenlernen.

Zweites KapitelAmeisenhaufen aus Ziegelsteinen, Beton und Stahl

Zwischen Stadt und Natur zu unterscheiden ist schwieriger, als wir denken.

Als ich Homo sapiens mit dem Titel »Mutter Naturs ultimativer ÖkosystemÖkosystem-Ingenieur-Ingenieur« belegte, gebrauchte ich das Wort »Natur« mit Vorbedacht, denn normalerweise assoziieren wir mit diesem Ausdruck nicht unbedingt eine über und übervolle, lärmerfüllte, umweltverschmutzte Beton-Metropole. Eher stellen wir uns etwas in der Art vor, wie ich es zufällig gerade im Blick habe, während ich dies hier zu Papier bringe.

Ich sitze auf der Veranda eines Feldforschungszentrums im malaysischen Teil von BorneoBorneo (Malaysia), wo ich einige Tage mit der Vorbereitung eines Tropenbiologiekurses verbringe. Fünf Meter weit weg von mir fängt der unberührte tropische RegenwaldRegenwald an. In meinem Blickfeld sind vermutlich um die hundert verschiedene Pflanzenarten versammelt: robuste Regenwaldbäume mit Brettwurzeln und Unratnestern auf den Ästen, aus denen verschiedenerlei Farne sprießen, Rankengewächse und stachlige Kletterpalmen, in die in einigen Fällen Myrmicaria-Ameisen ihre Nester gehängt haben. In den vergangenen zwei Stunden hat meine Konzentration auf das Schreiben dieses Textes oftmals nachgelassen, und ich habe mich in die Betrachtung dieser grünen Welt verloren; ich sah zwei Bartschweine, grunz-grunz, vorüberziehen, ein Riesenhörnchen, einen Weißkappenschama, Schmetterlinge von mindestens 20 Arten, und einen großen grün glänzenden Skarabäus, der wie aus der Pistole geschossen vorüberschwirrte; ich hörte die unverwechselbaren Rufe der Schildschnäbel (»wuh-huh, wuh-huh« in immer schneller werdender Abfolge, gipfelnd in einem irren Gegacker) und von ganz weit weg einen Argusfasan (»wau-wau«).

Bis auf die bunt beflaggten Absteckpfähle, mit denen die Studenten ihre Untersuchungsflächen markiert haben, ist der Wald ganz unberührt. In der Ferne geht der bewaldete Boden in die Schräge, hinauf bis in 1600 Meter Höhe zu einem kreisrunden Krater von 25 Kilometer Durchmesser. Von dessen Existenz hatte kein Mensch gewusst, bis 1948 ein Flugzeugpilot mit seiner Maschine beinah in die Felswand gekracht wäre, die seinen Rand bildet. Man nimmt an, dass diese »vergessene Welt« niemals irgendeine Art menschliche Behausung zu sehen bekommen hat, bis das Feldforschungszentrum gebaut wurde. Wenn irgendetwas Natur ist, dann dies hier: wild, urwüchsig, bar jeglicher Form von Verfälschung durch Menschenhand.

Und dennoch: Warum klammern wir – ob stillschweigend oder explizit – die Menschen immer aus der Gleichung aus, wenn wir von Natur sprechen? Warum das Ameisennest, das in dem Baum da drüben hängt, als ein Stück Natur betrachten, die von Menschen erbauten Städte aber nicht? Warum bewundern wir diese Ameisen ob der herausragenden Funktion, die sie bei der ökologischen Bearbeitung und Gestaltung ihres Stückchens RegenwaldRegenwald ausüben, entrüsten uns aber gleichzeitig über die Art und Weise, wie Menschen ein Landschaftsbild unterwerfen und es dominieren können? Es besteht da kein wesentlicher Unterschied. Ameisen in der Rolle des ÖkosystemÖkosystem-Ingenieur-Ingenieurs bauen ihre Nester aus Materialien, die sie aus ihrer Umwelt beziehen – genau wie die Menschen. Ihre Gesellschaften wachsen, und die Arbeiterinnen, die nur das Wohl ihres Nests im Sinn haben, bringen alles, was sie auf dem Stück Land, wo sie leben, an Essbarem finden können, als Ernte ein – genau wie die Menschen. Wenn die Umstände es erlauben, vermehren sich die Kolonien und gedeihen so lange, wie die Umwelt ihnen Nahrung und Baumaterialien zu liefern vermag. Nicht anders verhält es sich mit den Städten der Menschen. Warum also erscheinen uns die Ameisengesellschaft und ihre Funktion im globalen NahrungsnetzNahrungsnetz als etwas Natürliches, die menschliche Gesellschaft hingegen als eine unnatürliche und unerwünschte Last auf ebendiesem Netz?

Ströme von Tinte sind schon geflossen bei den von Philosophen, Ökologen und Naturschützern unternommenen vielen Versuchen, zu definieren, was eigentlich Natur und was natürlich ist: Ich nehme lieber Abstand davon, dieser gewaltigen Flüssigkeitsmenge nun auch noch mein eigenes Bächlein hinzuzufügen. Doch möchte ich klarstellen, dass ich die Städte der Menschen für ein ganz und gar natürliches Phänomen halte, auf einer Ebene mit den Megabauten stehend, die andere ÖkosystemÖkosystem-Ingenieur-Ingenieure für ihre Gesellschaften errichten. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Ameisen, Termiten, Korallen und BiberBiber in der Ausübung ihrer Funktion als Ökosystem-Ingenieure über Millionen Jahre hinweg ein relativ gleichbleibendes bescheidenes Level wahrten, die Größenordnung der menschlichen ÖkosystemÖkosystem-Ingenieur-Ingenieurstätigkeit hingegen im Verlauf von nur wenigen Jahrtausenden um mehrere Potenzen gestiegen ist. Ob wir als Spezies uns für das Leben in derlei dicht gedrängten, komplexen Gemeinschaften eignen, steht auf einem anderen Blatt; darauf werde ich am Ende des Buches zurückkommen. Zunächst aber wollen wir die moderne MillionenstadtMillionenstadt als das begutachten, was sie ist: ein aufregendes, neuartiges ökologisches System.

Am Anfang unserer Stammesgeschichte – zu einer Zeit, da unsere Spezies gerade erst aus unseren mit weniger Gehirnmasse ausgestatteten VorfahrenGeschichte der menschlichen Population hervorgegangen und noch so selten war, dass sie nach den heute für die Rote Liste geltenden Maßstäben als ›gefährdet‹ qualifiziert worden wäre – bereits zu dieser Zeit, waren wir Mini-Ökosystem-Ingenieure. Nicht viel anders als BiberBiber pflegten unsere Jäger und Sammler nach einem zum Bleiben einladenden Platz, vorzugsweise einem mit natürlichem Wetterschutz – einem Felsüberhang oder einer Höhle –, zu suchen und sich dort für einige Zeit niederzulassen, um die Umgebung abzugrasen, ehe sie weiterzogen. Etliche ›proto-domestizierte‹ Tiereproto-domestizierte Tieredomestizierte Tiere, frühe wie zum Beispiel die Vorfahren unserer Hunde mögen uns auf den Fersen geblieben sein und in der Nähe unseres Lagers herumgelungert und die Abfallhaufen durchstöbert haben; es kann sogar sein, dass wir unsere eigenen domestizierten Tiere und Pflanzen mit uns führten: zum Verzehr taugliche Nager in Käfigen (vergleichbar den von den Lapita-Leuten mit herumgeschleppten Pazifischen RatteRatten) oder geschnitzelte Heilpflanzen. Zur Sesshaftigkeit gehörten das Verbrennen oder Roden der Vegetation rund um das Lager, das Hegen essbarer Pflanzen und Heilpflanzen und das Unkrautjäten. Um unsere Jagdbeute an Fisch und Wild wie auch die im Fluss aufgelesenen Muscheln und Schnecken garen zu können, richteten wir Feuerstellen ein. Wir plünderten Bienennester, um an Honigwaben und die eiweißreiche Bienenbrut zu kommen, machten Jagd auf die Megafauna der Gegend und suchten im Wald nach Früchten und Nüssen. Wie die BiberBiber dämmten wir unter Umständen sogar auch mal ein Flüsschen, in unserem Fall zu dem Zweck, die dann in dem flachen Wasser flussabwärts herumplatschenden Fische auflesen zu können. Unsere Einwirkung auf die Umwelt war kaum auszumachen – ein trockeneres Mikroklima wegen der gerodeten Vegetation, örtlicher Großtierschwund, die Einführung etlicher ortsfremder Arten –, und die Umwelt erholte sich jedes Mal schnell, nachdem eine Horde ihre Siebensachen gepackt hatte und zu neuen Jagdgründen aufgebrochen war.

DiesGeschichte der menschlichen Population alles änderte sich großenteils, als wir uns auf den AckerbauAckerbau verlegten. Die revolutionäre Erfindung, den Anbau von Nahrung an die Stelle des Suchens nach ihr zu setzen, zeitigte zwei gravierende Folgen für unsere Lebensweise. Für das tägliche Brot mit dem Anbau von Feldfrüchten um eine Siedlung herum zu sorgen bedeutete erstens, dass das Nomadenleben jetzt nicht mehr zwingend nötig und auch nicht lohnend war. Sich die Mühe zu machen, Äcker zu bearbeiten und zu bepflanzen, war eindeutig eine Langzeitinvestition. Solange sich keine Bodenmüdigkeit zeigte, blieb man am besten da, wo man schon war. Zweitens bedeutete es, dass sich unsere TrophieebeneTrophieebene änderte – die Trophieebene eines Organismus ist seine Position in der Nahrungspyramide. Grünpflanzen, die sich der Sonnenenergie bedienen und Kohlenstoff aus der Luft ›essen‹, sitzen als die wichtigsten ›Primärproduzenten‹ der Welt auf Ebene 1. Ebene 2 ist von den Vegetariern unter den Tieren besetzt, denjenigen, welche diese Primärproduzenten verkonsumieren. Auf der dritten Ebene der Nahrungspyramide finden wir die Prädatoren (auch Zoophagen oder Beutegreifer genannt), die sich von den Pflanzenfressern ernähren, und so weiter. Die Nahrungspyramide verdankt ihre Pyramidenform dem Umstand, dass nur etwa ein Zehntel der auf einer Ebene produzierten Energie auf die nächsthöhere Ebene übertragen wird. Der Rest geht unterwegs verloren: durch Verschwendung (funktionslose Verausgabung), als Wärme, durch Verbrauch zum Betrieb der Körperfunktionen der Organismen auf dieser nächsthöheren Ebene. Und weil Energie sich in eine Größe umrechnen lässt, die angibt, wie viel Leben eine Ebene ernähren kann, findet man in jedem Habitat Tonnen von Grünzeug (Ebene 1), Millionen von pflanzenfressenden Insekten (Ebene 2), Tausende insektenfressende Vögel (Ebene 3), einen Haufen Wiesel und Habichte (Ebene 4) und auf Ebene 5 vielleicht nur einen einzigen Spitzenprädator wie zum Beispiel einen einzelgängerischen Tiger oder einen einsamen Adler. Indem die Menschheit von hauptsächlich betriebener Jagd zu dito AckerbauAckerbau überging, wechselte sie geschlossen auf die nächstniedere Stufe der Nahrungspyramide über – wo ihr sehr viel mehr Energie zur Verfügung stand und ebendeshalb auch ein sehr viel größerer Entfaltungsraum.

Geschichte der menschlichen PopulationUnd wie sie sich entfaltete! Vor 6000 oder 5000 Jahren verbesserten wir die Landbewässerung und -bestellung in solchem Grade, dass die Notwendigkeit zu häufigem Standortwechsel wegen erschöpfter Bodennährstoffe entfiel. Der AckerbauAckerbau erwies sich als ein solches Erfolgsunternehmen, dass nicht jedermann im Dorfe sich an ihm beteiligen musste. Er wurde Fachleuten überlassen; die übrigen Siedlungsbewohner konnten sich nun mit anderen unentbehrlichen Geschäften befassen. Das bedeutete, dass diese dauerhaften SiedlungenMillionenstadt zu Orten wurden, die ihr Hinterland mit Nahrungsmitteln und anderen Objekten der Begierde und des Bedarfs beliefern konnten. Dies wiederum hatte die Entwicklung von Transporttechniken zur Folge sowie das Aufkommen von Fachleuten, die sie ins Werk setzten und anschließend den Lieferverkehr unterhielten. Ackerbürgerstädte wurden auch zu Ausgangspunkten organisierter Kriegführung zur Unterwerfung von nach wie vor auf Jäger-und-Sammler-Status verharrenden Stämmen und verbreiteten so die auf LandwirtschaftLandwirtschaft und Sesshaftigkeit in organisierten Gemeinwesen basierende Lebensform immer weiter. Um jene Zeit vor rund 6000 Jahren tauchten in MesopotamienMesopotamien die ersten richtigen StädteMillionenstadtStädte, erste auf. Anfangs vereinzelt, eine nach der anderen, doch mit den Jahrhunderten begannen sich in mehr und mehr Weltteilen Zeichen der Urbanisierung zu zeigen, als in Indien und Ägypten neue Städte aufschossen, dann in beschleunigter Folge in Pakistan, Griechenland, ChinaChina … Eine den Zeitraum vom Jahr 3700 v. Chr. bis zum Jahr 2000 n. Chr. umfassende animierte Darstellung des weltweiten städtebaulichen Fortschritts (basierend auf der Forschungsarbeit von Meredith RebaReba, Meredith und ihrer Kollegen an der Yale University, zu besichtigen unter www.metrocosm.com/history-of-cities/) zeigt, wie allenthalben auf dem Planeten Städte ins Blickfeld poppen wie Popcorn in der Pfanne und das Ganze sich steigert bis hin zu dem ohrenbetäubenden Urbanisationscrescendo des vergangenen Jahrhunderts.

Geschichte der menschlichen PopulationÜber die nächsten Jahrzehnte, so wird erwartet, kann das Poppen nur noch lauter werden, wozu MegastädteMillionenstadt (zehn Millionen Einwohner oder mehr) die besten Voraussetzungen schaffen. Im PerlflussdeltaPerlflussdelta (China), einem von ChinaChinas größten Wirtschaftszentren, sind heute auf einem Gebiet, das kleiner ist als das seinerseits nicht gerade mit Größe prunkende BelgienBelgien, so viele Städte zusammengedrängt, dass man angesichts einer Gesamtbevölkerung von 120 Millionen (fast so viele Menschen wie in ganz Russland leben) von einer ›MegalopolisMegalopolis‹ sprechen muss. Spätestens 2030 werden fast zehn Prozent aller Menschen auf Erden in nur 41 Megastädten leben und die meisten von diesen in Ostchina, Indien und Westafrika zu finden sein. Kinshasa (Demokratische Republik Kongo), vor einigen Jahrzehnten noch ein rückständiges Nest, wird 20 Millionen Einwohner zählen und in Lagos (Nigeria) wird die Einwohnerzahl mehr als 24 Millionen betragen. Diese Zahlen mögen schwindelerregend klingen, indes wird die – relativ gesehen – massivste Urbanisierung eigentlich in den kleinen und mittelgroßen Großstädten (alles, was weniger als fünf Millionen Einwohner hat) vormals ruraler Länder stattfinden. Derlei GroßstädteMillionenstadt expandieren rapide, jährlich um mehr als zwei Prozent, während die jährliche Wachstumsrate der wirklich großen Megastädte bei gerade mal 0,5 Prozent liegt. Innerhalb des nächsten Jahrzehnts werden die kleineren Großstädte der Entwicklungsländer zweimal so viel Menschen schlucken wie ihre größeren Geschwister. Von 2000 bis 2010 hat sich in einem Land wie zum Beispiel Laos, das keine wirklich großen städtischen Zentren besitzt, die Zahl der Stadtbewohner verdoppelt.

All diese statistischen Daten besagen nicht, dass die Experten sich einig sind in der Frage, was denn nun eigentlich eine Stadt oder gar eine GroßstadtMillionenstadt ausmacht. Die sozioökonomischen Definitionen schwanken je nach Zeitpunkt und Ort. In NorwegenNorwegen betrachtet man bereits eine Siedlung mit 200 Bewohnern als städtisch, während derselbe Status in JapanJapan erst ab 50000 Einwohnern zuerkannt wird. Stadtstatus kann auch Verwaltungssache sein. Manche Städte führen den Titel »offiziell« und können aufgrund dessen vom Staat die Gewährung gewisser Vorteile beanspruchen. So haben zum Beispiel nur zwei der zwölf Verwaltungsbezirke (Boroughs) von Inner LondonLondon (England) offiziell den Status einer City inne, während alle anderen und auch LondonLondon (England) im Ganzen keinen Rechtsanspruch auf diesen Status haben. Um die Dinge nicht unnötig zu verkomplizieren, werde ich pragmatisch vorgehen und als Städte schlicht und einfach solche Flächen betrachten, wo die Menschen- und Bebauungsdichte wie auch der Infrastrukturausbau und das Durchschnittseinkommen in gegenüber anderen Siedlungen deutlich erhöhtem Maß vorliegen. Aber damit sind nur die menschlichen Faktoren genannt. Sie ziehen interessante ökologische Charakteristika nach sich.Geschichte der menschlichen Population

Drittes KapitelInnerstädtische Ökologie

Großstädte beherbergen oft Tier- und Pflanzenarten fremdländischer Herkunft. In SingapurSingapur legt die aus Südamerika stammende Apfelschnecke ihre Eitraube auf (heimischen) Winden ab.

»Peng!« Sow-Yan gebraucht beide Hände. Die eine Hand drückt einen unsichtbaren Abzug, die andre zielt mit einem imaginären Gewehrlauf in den hell leuchtenden mittäglichen Himmel von SingapurSingapur; so mimt er einen Gewehrschuss. Und noch einmal: »Peng!!« Damit beantwortet er meine Frage, wie es hier um die GlanzkräheJagd auf die GlanzkräheGlanzkrähen bestellt sei. »In meiner Gegend knallen sie die ab«, erläutert er einigermaßen ergrimmt. »Völlig grundlos! Irgendeiner beschwert sich über sie, und das reicht dann. Außerdem benutzen sie jetzt alle die neuen Mülltonnen, damit die KräheKrähen nicht mehr an den Abfall rankommen. Letztes Mal haben sie einfach nur alle Müllsäcke aufgerissen.«

Wir sind auf einer Wanderung entlang der Südküste von SingapurSingapur. Mein Gastgeber Chan Sow-YanChan, Sow-Yan, Informatik-Ingenieur im Ruhestand, Naturforscher und Spezialist für die heimischen Weichtiere, hat für seine Krähenabschuss-Demonstration eine kurze Pause eingelegt, und geht nun zügig weiter in Richtung der Stelle, wo der Rochor Canal in den Kallang River einmündet. Hier ragt eine Mole ins Wasser hinein, und er führt mich hinaus, damit wir von dort aus das Mündungsgelände überblicken können. Der Schwarm GlanzkräheGlanzkrähen (Corvus splendens) ist davongeflogen, aber ihren Platz hat umgehend ein aufgeregter Haufen Java-Mainas (Acridotheres javanicus)Java-Mainas (Acridotheres javanicus) eingenommen, wunderschöne anthrazitgrau-weiße Vögel mit spitzbübischem Blick in den Augen, leuchtend gelben Beinen und ebenfalls gelb leuchtendem Schnabel, der mit einem buschigen schwarzen Federhäubchen gekrönt ist. Die Mainas beginnen, umherzulaufen und bröckchenweise Fressbares aus dem TeppichgrasGras (Axonopus compressus)Teppichgras (Axonopus compressus) und den Mimosen (Mimosa pudica)Mimose (Mimosa pudica) aufzupicken. Sow-Yan deutet zum Uferrand, wo das Teppichgras der Neptunia oleracea, einer gelb blühenden WassermimoseWassermimose (Neptunia oleracea) gewichen ist. Dann deutet er mal nach rechts, mal nach links, um meine Aufmerksamkeit auf die am Uferrand klebenden rosa Eitrauben der Pomacea-ApfelschneckeSchneckenPomacea-Apfelschnecke (Pomacea maculata) zu lenken, auf den zum Luftholen nach oben gekommenen mächtigen Augenfleck-Kammbarsch (Cichla orinocensis)Augenfleck-Kammbarsch (Cichla orinocensis) und die knapp unter der Wasseroberfläche still vorüberpaddelnde kleine Rotwangen-SchmuckschildkröteSchildkröte(Trachemys scripta elegans)Rotwangen-Schmuckschildkröte (Trachemys scripta elegans).

Der Kallang Riverside ParkKallang Riverside Park (Singapur)exotische ArtenKallang Riverside Park (Singapur) ist ein prächtiges tropisches Ökosystem. Das bedeutet jedoch nicht, dass er eine verwilderte, idyllische Paradieslandschaft wäre. Er ist vielmehr ein winziges begrüntes Einsprengsel zwischen den beengend nahen Hochhäusern SingapurSingapurs. Ein paar Rasenflächen mit Mangobäumen, Kokospalmen und Feigenbaumgruppen; auf den Bänken junge Malaiinnen, die Selfies von sich machen, gewundene Pfade, auf denen europäische Jogger und indische Jugendliche auf Skateboards knapp aneinander vorbeiwetzen; eine behelmte ältere chinesische Lady auf dem Fahrrad mit drei Kokosnüssen im Frontkorb. Die Mole, auf der Sow-YanChan, Sow-Yan und ich stehen, und die Uferdämme, mit den daran klebenden Batzen rosa SchneckeSchneckennkaviar, sind aus gnadenlosem Beton. Der Fluss ist heute nicht mehr den Gezeiten unterworfen dank der weiter flussabwärts vorgenommenen, als Marina BarrageMarina Barrage (Singapur) bekannten gigantischen Eindämmung. Die MainasJava-Mainas (Acridotheres javanicus) und die KräheKrähen bedienen sich aus weggeworfenen Kokosnussschalen und an anderen von picknickenden Besuchern hinterlassenen Überbleibseln, und der Teppich aus Frischwasseralgen, von dem die SchildkröteSchildkröten und die WasserschneckeSchneckenn ihr Futter beziehen, bewächst Ziegel und Plastikflaschen. Infolge von Rohrbrüchen und Lecks in der städtischen Kanalisation führt das Wasser selbst die unverkennbare chemische Signatur der 5,7 Millionen Einwohner Singapurs mit sich. Bei einer von Xu Yonglan von der Nanyang Technical University in SingapurSingapur durchgeführten Untersuchung wurden im Wasser des Kallang River 0,1 Milligramm Pharmazeutika pro Liter festgestellt (zumeist Schmerzmittel wie Ibuprofen und Naproxen), dazu ähnliche Quanten von Östrogenen (aus Kosmetika und Pharmazeutika stammend) und einem Insektizid, das gegen Flöhe und Zecken auf Haustieren eingesetzt wird. In anderen Teilen Singapurs registrierten die Forscher 1,2 Milligramm Koffein (ungefähr so viel, wie ein Teelöffel Kaffee enthält) pro Liter Flusswasser.

Zudem ist jedes einzelne Tier, das Sow-YanChan, Sow-Yan und ich erblicken, und ebenso jede einzelne Pflanze, nicht ursprünglich in SingapurSingapur beheimatet. Die GlanzkräheGlanzkrähen, ursprünglich in Indien, Sri Lanka, Myanmar und Yunnan zu Hause, tauchten plötzlich 1948 im Hafen auf. Niemand kann mit Sicherheit sagen, wie sie hierherkamen. Vielleicht auf dem Weg des »Plantagenhoppings« aus Malaysia, wo man sie ein halbes Jahrhundert vorher in Kaffee-Waldgärten ausgesetzt hatte, um einer RaupeRaupenplage Herr zu werden. Kann auch sein als blinde Passagiere auf Schiffen. Ob so oder so, den KräheKrähen ging es jedenfalls gut hier, von einigen Hundert in den 1960er-Jahren steigerte sich ihre Zahl im Lauf der Zeit in die Hunderttausende Anfang des 21. Jahrhunderts. Trotz der Ausmerzung von mindestens 300000 Krähen in den vergangenen 15 Jahren und einer Vielzahl von Maßnahmen, um die Vögel von der Futtersuche im Abfall und vom Nisten in den längs Singapurs Straßen allgegenwärtigen Gelben Flammenbäumen (Peltophorum pterocarpum) abzuschrecken, bleiben sie allenthalben in der Stadt ein vertrauter Anblick (und laut Sow-Yans Nachbarn eine Plage). Die Java-MainasJava-Mainas (Acridotheres javanicus) kamen um 1925 aus Java oder Bali, wo sie von Natur aus vorkommen, als Haustiere hierher (sie sind gefragte Käfigvögel und meisterhafte Stimmenimitatoren). Noch in den 1960er-Jahren schrieb der Ornithologe Peter WardWard, Peter über sie: »Ein scheuer Vogel, der Vorstadtgärten besucht, sich aber nur gelegentlich in der Stadt sehen lässt.« Inzwischen haben sie offensichtlich alle Scheu über Bord geworfen und sind zur numerisch stärksten und lärmigsten Vogelart der Stadt geworden, die es zahlenmäßig wahrscheinlich durchaus mit der menschlichen Einwohnerschaft aufnehmen kann. »Die Stühle in den Coffeeshops sind ganz mit ihrer Scheiße verdreckt«, sagt Sow-YanChan, Sow-Yan klagend.

Das TeppichgrasGrasTeppichgras (Axonopus compressus), ein hartes, breitblättriges Gras, das man in Südostasien, fast könnte man sagen: auf Schritt und Tritt unter den Füßen hat, war ursprünglich in Mittel- und Südamerika beheimatet. Das Gleiche gilt für seine ständige Begleiterin, die immer wieder unterhaltsame MimoseMimose (Mimosa pudica) mit ihren Blättern, die sich bei der kleinsten Berührung zusammenrollen. Beider klebriger SamenSamen hat sich, als Mitfahrer an Kleidern, Schuhsohlen und Fahrzeugrädern hängend, jahrhundertelang über den Erdball verbreitet. Und was die WassermimoseWassermimose (Neptunia oleracea) angeht, so ist sich niemand sicher, wo sie herstammt, mit Gewissheit ist sie keine Einheimische – wahrscheinlich aus Mexiko eingeschleppt, meint Sow-YanChan, Sow-Yan.

Die riesigen ApfelschneckeSchneckenPomacea-Apfelschnecke (Pomacea maculata)n, die wir mit gereckten Fühlern langsam über die Plastikplatten auf dem Kanalboden gleiten sehen, stammen aus Südamerika. Sie begannen ihre weltweite Vagabondage wahrscheinlich in ausgekipptem Aquariumswasser und sind heute stolze Mitglieder der Gruppe SchneckeSchneckenn auf der Liste der meist gefürchteten invasiven gebietsfremden Arten. Ebenfalls auf dieser Liste figuriert eine andere aus dem Aquarium einer Zoohandlung Entkommene, nämlich die RotwangenRotwangen-Schmuckschildkröte (Trachemys scripta elegans)-SchmuckschildkröteSchildkröte, wiederum eine ursprünglich im tropischen Amerika beheimatete Art. Der AugenfleckAugenfleck-Kammbarsch (Cichla orinocensis)-Kammbarsch hingegen, der den Amazonas seine Heimat nennen kann, verdankt seine Einbürgerung in dem Stadtstaat den singapurischen FischFische