Das achte Gebot - Anne Holt - E-Book

Das achte Gebot E-Book

Anne Holt

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten.« Im Kamin der Familie Halvorsrud glimmt ein Feuer und beleuchtet eine grausame Szene: Vor dem Kamin liegt ein lebloser Frauenkörper, der Kopf vom Rumpf getrennt. Oberstaatsanwalt Halvorsrud steht unter Schock und ist vollkommen blutbesudelt. Der Fall scheint klar. Doch Halvorsrud behauptet, der Mörder seiner Frau sei ein gewisser Ståle Salvesen. Salvesen scheint sich jedoch Tage vor der Tat das Leben genommen zu haben. Dann wird im Keller seines Wohnhauses eine weitere enthauptete Leiche gefunden, und Halvorsruds Fingerabdrücke tauchen am Tatort auf. Was steckt hinter diesen brutalen Morden? Hanne Wilhelmsen kann sich kaum auf diese drängende Frage konzentrieren, denn ihre langjährige Partnerin hat eine lebensbedrohliche Diagnose bekommen …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 547

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anne Holt

Das achte Gebot

Hanne Wilhelmsens fünfter Fall

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs

Die deutsche Erstausgabe erschien 2001 im Piper Verlag, München. This translation has originally been published with the financial support of NORLA, Norwegian Literature Abroad

© Atrium Verlag AG, Zürich, 2024

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © Anne Holt 1999

Die Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel Død joker bei Cappelens Forlag, Oslo.

Für die vorliegende Ausgabe wurde die deutsche Übersetzung von der Übersetzerin überarbeitet.

Published by agreement with Salomonsson Agency

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: Stocksy/Marilar Irastorza, Shabby vintage grain Struktur: FinePic®, München

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03792-214-9

 

www.atrium-verlag.com

www.facebook.com/atriumverlag

www.instagram.com/atriumverlag

Für Tine

Erster Teil

1Die Gewissheit, dass er nur noch Sekunden zu leben hatte, ließ ihn endlich im Salzwasser die Augen schließen. Beim Sturz vom hohen Brückengewölbe hatte er zwar einen Moment der Furcht gehabt, doch der Aufprall auf den Fjord hatte nicht wehgetan. Er nahm an, dass er sich beide Arme gebrochen hatte. Seine Hände leuchteten in dem fremden Winkel grauweiß. Wider Willen hatte er einige Schwimmzüge versucht, doch das hatte nichts gebracht. In der starken Strömung waren seine Arme unbrauchbar. Trotzdem spürte er keinen Schmerz. Eher war das Gegenteil der Fall. Das Wasser umschloss ihn mit einer Wärme, die ihn überraschte. Er fühlte sich in die Tiefe gezogen und verlor das Bewusstsein.

Der Anorak des Mannes umwogte seinen Leib, ein dunkler, schlaffer Ballon vor einem noch dunkleren Meer. Sein Kopf dümpelte wie eine Boje hin und her, und er hatte endlich aufgehört, Wasser zu treten.

Als Letztes registrierte der Mann, dass er unter Wasser atmen konnte. Es war durchaus kein unangenehmes Gefühl.

2Die Frau auf dem Boden war noch vor kurzer Zeit aschblond gewesen. Das war jetzt nicht mehr zu sehen. Ihr Kopf war von ihrem Körper getrennt worden, und ihre halblangen Haare klebten an den Hautfetzen ihres durchschnittenen Halses. Außerdem war ihr der Hinterkopf eingeschlagen worden. Die weit aufgerissenen toten Augen schienen Hanne Wilhelmsen überrascht anzustarren, so, als handele es sich bei der Hauptkommissarin um einen äußerst unerwarteten Gast.

Im Kamin brannte noch immer ein Feuer. Kleine Flammen leckten an einer rußgeschwärzten Rückplatte, und das spärliche Licht reichte nicht sehr weit. Da der Strom ausgefallen war und die nächtliche Dunkelheit sich wie eine neugierige Zuschauerin gegen die Fenster presste, hatte Hanne Wilhelmsen das Bedürfnis, Holz nachzulegen. Stattdessen schaltete sie ihre Taschenlampe ein. Der Lichtstrahl wanderte über die Tote. Kopf und Rumpf der Frau waren zwar getrennt worden, doch sie ruhten so dicht beieinander, dass sie bei ihrer Enthauptung schon auf dem Boden gelegen haben musste.

»Schade um das Eisbärfell«, murmelte Kommissar Erik Henriksen.

Hanne Wilhelmsen ließ den Lichtkegel durch das Zimmer tanzen. Es war groß, quadratisch und mit Möbeln vollgestopft. Der Oberstaatsanwalt und seine Frau hatten offenbar Sinn für Antiquitäten. Ihr Sinn für Mäßigung war weniger gut entwickelt. Im Halbdunkel konnte Hanne Wilhelmsen mit Rosenmustern verzierte Holzgefäße aus Telemark neben weißen und blassblauen Chinoiserien erkennen. Über dem Kamin hing eine Muskete. Aus dem 16. Jahrhundert, tippte die Hauptkommissarin und ertappte sich bei dem Wunsch, die schöne Waffe zu berühren.

Über der Muskete waren zwei leere, reich verzierte schmiedeeiserne Haken angebracht. Daran hatte offenbar das Samuraischwert gehangen. Jetzt lag es auf dem Boden, neben Doris Flo Halvorsrud, Mutter von drei Kindern, einer Frau, der es nicht mehr möglich sein würde, ihren fünfundvierzigsten Geburtstag zu erleben. Dieses Ereignis lag noch gute drei Monate in der Zukunft. Hanne durchsuchte die Brieftasche, die sie aus einer Handtasche in der Diele gezogen hatte. Die Augen, die irgendwann einmal in einen Fotoautomaten geschaut hatten, wiesen denselben überraschten Ausdruck auf wie der tote Kopf neben dem Kamin.

In einem Plastikfach steckte ein Foto der Kinder.

Hanne bekam eine Gänsehaut beim Anblick der drei Teenager, die von einem Ruderboot aus in die Kamera lachten, alle drei trugen orange Schwimmwesten, und der Älteste schwenkte eine Bierflasche. Die Kinder hatten Ähnlichkeit miteinander und mit ihrer Mutter. Der Biertrinker und seine Schwester hatten die gleichen blonden Haare wie Doris Flo Halvorsrud. Der jüngere Bruder hatte sich die Haare radikal kurz geschnitten, ein Skinhead mit Pickeln und Zahnklammer, dessen magere Jungenfinger über dem Kopf der Schwester das V-Zeichen formten.

Es war ein Bild in starken Sommerfarben. Die orangen Schwimmwesten waren achtlos über braune Schultern gestreift worden, rote und blaue Badekleidung hing tropfend über den grünen Sitzbänken des Bootes. Das Foto zeigte Geschwister in einer Situation, wie sie selten erlebt wird. Es erzählte vom Leben, wie es fast niemals aussieht.

Hanne Wilhelmsen legte das Bild zurück und dachte, dass sie bisher keines der Kinder im Haus gesehen hatte. Zerstreut strich sie mit dem Finger über eine alte Narbe in ihrer Augenbraue, klappte die Brieftasche zu und schaute sich noch einmal im Zimmer um.

Eine halb offene Küche aus Kirschbaumholz war offenbar in die Rückseite des Hauses eingelassen. Die nach Südwesten schauenden Fenster waren groß, und im Licht der Stadt konnte Hanne Wilhelmsen eine großzügige Terrasse erkennen. Dahinter lag der Oslofjord und spiegelte den Vollmond, der irgendwo über den Hügeln bei Bærum herumlungerte.

Oberstaatsanwalt Sigurd Halvorsrud hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und saß auf einem klobigen Holzstuhl. Hanne konnte in seinem tief ins Fleisch eingewachsenen Trauring an seiner rechten Hand den Widerschein des Kaminfeuers sehen. Halvorsruds blaues Polohemd war von Blutspritzern bedeckt. Seine schütteren Haare waren blutverschmiert. Seine graue Wollhose mit den schmalen Aufschlägen wies überall dunkle Flecken auf. Blut. Überall Blut.

»Ich werde nie begreifen, wie viel vier Liter Blut wirklich ausmachen«, murmelte Hanne und drehte sich zu Erik um.

Der rothaarige Mann gab keine Antwort. Er schluckte und schluckte.

»Himbeerbonbons«, mahnte Hanne. »Denk an etwas Saures. Zitrone. Johannisbeere.«

»Ich habe nichts getan!«

Jetzt schluchzte Halvorsrud. Er ließ die Hände sinken, sein Kopf kippte in den Nacken. Der hochgewachsene Mann rang um Atem und erlitt einen heftigen Hustenanfall. Neben ihm stand eine Polizeianwärterin, die einen Overall trug. Weil sie nicht so recht wusste, wie man sich am Tatort eines Mordes verhält, hatte sie eine fast militärische Habachtstellung eingenommen. Zögernd und ohne sonderliche Wirkung klopfte sie auf den Rücken des Staatsanwalts.

»Das Schreckliche ist, dass ich einfach nichts tun konnte«, schluchzte er, als er endlich wieder in der Lage war zu atmen.

»Er hat doch wirklich genug getan«, sagte Erik Henriksen leise und spuckte Tabakreste aus, während er sich an einer noch nicht angezündeten Zigarette zu schaffen machte.

Der Polizist hatte sich von der enthaupteten Frau abgewandt. Jetzt stand er vor dem Aussichtsfenster, hatte die Hände im Rücken verschränkt und wippte ein wenig hin und her. Hanne Wilhelmsen legte ihm die Hand zwischen die Schulterblätter. Ihr Kollege zitterte. Und das konnte unmöglich an der Temperatur liegen. Obwohl der Strom ausgefallen war, herrschten im Zimmer sicher mehr als zwanzig Grad. Beißend und harsch hing der Geruch von Blut und Urin zwischen den Wänden. Ohne die Leute von der Spurensicherung – die endlich nach einer unerträglichen Verspätung eingetroffen waren –, hätte Hanne darauf bestanden, den Raum ordentlich zu lüften.

»Fehler, Henriksen«, sagte sie stattdessen. »Es ist ein Fehler, Schlussfolgerungen zu ziehen, wenn du im Grunde gar nichts weißt.«

»Gar nichts?«, fauchte Erik und bedachte sie mit einem Seitenblick. »Sieh ihn dir doch an, zum Teufel!«

Hanne Wilhelmsen drehte sich wieder zum Zimmer um. Sie legte den Unterarm auf Eriks Schulter und stützte das Kinn auf ihre Hand, eine halb vertrauliche und halb herablassende Geste. Im Zimmer war es wirklich unerträglich warm. Es war jetzt stärker beleuchtet, die Spurensicherung durchkämmte den großen Raum Stück für Stück. Der Leiche hatten sie sich bisher kaum genähert.

»Alle, die nichts hier zu tun haben, müssen raus«, polterte der älteste Experte und ließ den Taschenlampenstrahl mehrmals mit gebieterischer Geste zum Dielenboden hinüberfegen.

»Wilhelmsen! Schaff sie alle raus, sofort!«

Sie hatte nichts dagegen. Sie hatte mehr als genug gesehen. Wenn sie den Oberstaatsanwalt Halvorsrud dort hatte sitzen lassen, wo sie ihn gefunden hatten, in dem aus einem Holzstück geschnitzten Stuhl, der zu klein für diesen riesigen Mann war, dann, weil ihr nichts anderes übriggeblieben war. Der Staatsanwalt war nicht ansprechbar gewesen. Und ziemlich unberechenbar. Hanne kannte die junge Anwärterin von der Kripo nicht. Sie wusste nicht, ob die Kleine imstande wäre, sich um einen unter Schock stehenden Staatsanwalt zu kümmern, der möglicherweise eben erst seine Frau enthauptet hatte. Hanne Wilhelmsen selber durfte den Leichnam erst verlassen, wenn die Spurensicherung eingetroffen war. Erik Henriksen schließlich hätte sich auch geweigert, mit den grotesken Überresten der Doris Flo Halvorsrud allein gelassen zu werden.

»Na los«, sagte sie zum Staatsanwalt und reichte ihm die Hand. »Kommen Sie, wir gehen woandershin. Ins Schlafzimmer vielleicht.«

Der Oberstaatsanwalt reagierte nicht. Seine Augen waren leer. Der Mund stand halb offen, und seine Mundwinkel waren feucht, als könne er sich jeden Moment erbrechen.

»Wilhelmsen«, sagte er plötzlich mit schroffer Stimme. »Hanne Wilhelmsen.«

»Richtig«, Hanne lächelte. »Also, gehen wir?«

»Hanne«, wiederholte Halvorsrud sinnlos, blieb aber sitzen.

»Los jetzt!«

»Ich habe nichts getan. Nichts. Können Sie das verstehen?«

Hanne Wilhelmsen gab keine Antwort, sie lächelte noch einmal und nahm die Hand, die er ihr nicht freiwillig überlassen hatte. Erst jetzt sah sie, dass auch seine Hände von geronnenem Blut verklebt waren. Im trüben Licht hatte sie die Spuren in seinem Gesicht für Schatten oder Bartstoppeln gehalten. Automatisch ließ sie ihn los.

»Halvorsrud!«, sagte sie laut und jetzt mit schärferer Stimme. »Sie kommen mit mir. Und zwar sofort.«

Es half, dass sie lauter geworden war. Halvorsrud zuckte zusammen und schaute auf, als sei er plötzlich in eine unbegreifliche Wirklichkeit zurückgekehrt. Mit steifen Bewegungen erhob er sich.

»Nimm den Fotografen mit.«

Die Anwärterin zuckte zusammen, als Hanne Wilhelmsen sie zum ersten Mal direkt ansprach.

»Den Fotografen«, wiederholte die Frau im Overall verständnislos.

»Ja, den Fotografen. Den mit der Kamera, weißt du. Den, der da hinten Bilder knipst.«

Die Anwärterin schlug verlegen die Augen nieder. »Himmel! Sicher! Den Fotografen. Alles klar.«

Es war eine Erleichterung, die Tür zu der kopflosen Leiche schließen zu können. Die Diele war stockfinster und kühl. Hanne holte tief Luft, während sie nach dem Schalter ihrer Taschenlampe suchte.

»Der Hobbyraum«, murmelte Halvorsrud. »Da können wir hingehen.«

Er zeigte auf eine Tür gleich links von der Haustür. Als der Lichtkegel von Hannes Lampe seine Hände traf, erstarrte er.

»Ich habe nichts getan. Wie konnte ich nur … keinen Finger habe ich gerührt.«

Hanne Wilhelmsen legte ihm ganz leicht die Hand auf den Rücken. Er gehorchte dem leisen Druck und führte Hanne und ihren Kollegen durch den schmalen Flur zum Hobbyraum. Als er nach der Klinke fassen wollte, kam Erik Henriksen ihm zuvor.

»Ich mach das«, sagte er kurz und drückte sich an Halvorsrud vorbei. »So. Stellen Sie sich hier hin.«

Der Fotograf stand in der Türöffnung, ohne dass sie sein Kommen gehört hatten. Er schaute Hanne Wilhelmsen schweigend durch dicke Brillengläser an.

»Haben Sie etwas dagegen, dass wir ein paar Bilder von Ihnen machen?«, fragte sie und sah den Staatsanwalt an. »Sie wissen ja nur zu gut, dass es in solchen Fällen allerlei Vorschriften gibt. Es wäre schön, wenn wir das hier erledigen könnten, ehe wir zur Wache fahren.«

»Zur Wache«, kam es wie ein Echo von Halvorsrud. »Bilder. Warum denn?«

Hanne fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und ertappte sich bei einer Ungeduld, mit der weder dem Fall noch ihr selbst gedient war.

»Sie sind überall mit Blut bespritzt. Obwohl wir natürlich Ihre Kleider aufbewahren werden, wäre es doch gut, Bilder zu haben, auf denen Sie sie noch tragen. Sicherheitshalber, meine ich. Danach können Sie sich umziehen. Das wäre doch die bessere Lösung, oder?«

Die einzige Antwort bestand in einem undeutlichen Räuspern. Hanne beschloss, das als Zustimmung zu deuten, und nickte dem Fotografen zu. Der Staatsanwalt war sofort in blauweißes Blitzlicht gebadet. In unregelmäßigen Abständen erteilte der Fotograf kurze Befehle, wie der Staatsanwalt sich hinstellen sollte. Halvorsrud hatte jetzt resigniert. Er streckte die Hände aus. Er drehte sich um. Er stand seitlich vor der Wand. Vermutlich hätte er sich auch auf den Kopf gestellt, wenn jemand ihn darum gebeten hätte.

»Das wär’s«, sagte der Fotograf nach drei oder vier Minuten. »Danke.«

Er verschwand ebenso leise, wie er gekommen war. Nur das Surren des Filmes, der im Kameragehäuse transportiert wurde, verriet ihnen, dass er zum Wohnzimmer und dem abstoßenden Motiv zurückkehrte.

»Dann können wir ja gehen«, sagte Hanne Wilhelmsen. »Holen Sie sich etwas zum Anziehen, dann können Sie die Kleidung wechseln, wenn wir auf der Wache angekommen sind. Ich kann mit Ihnen ins Schlafzimmer gehen. Wo sind eigentlich Ihre Kinder?«

»Aber Hauptkommissarin«, protestierte Sigurd Halvorsrud, und Hanne konnte zum ersten Mal etwas wie klares Bewusstsein in seinen Augen aufleuchten sehen. »Ich war doch dabei, als meine Frau ermordet wurde. Verstehen Sie das nicht? Und ich habe nichts getan …«

Er ließ sich in einen Sessel sinken. Entweder hatte er das Blut an seinen Händen vergessen, oder es war ihm egal. Auf jeden Fall rieb er sich heftig die Nasenwurzel. Danach strich er sich mehrere Male über den Kopf, wie in einem vergeblichen Versuch, sich selbst zu trösten.

»Sie waren dabei«, sagte Hanne Wilhelmsen langsam, sie wagte nicht, Erik Henriksen dabei anzusehen. »Der Ordnung halber muss ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie keine Aussage zu machen brauchen, solange Ihr …«

Hanne Wilhelmsen wurde von einem ganz anderen Mann unterbrochen als dem weinenden, frischgebackenen Witwer, der noch vor wenigen Minuten wie ein übergroßes Kind neben den enthaupteten Überresten seiner Frau auf einem Holzstuhl gehockt hatte. Dieser hier war der Oberstaatsanwalt Sigurd Halvorsrud, den sie von früher kannte. Und sein Anblick brachte sie zum Schweigen.

Seine Augen waren grau und kalt. Der Mund war nicht länger ein konturenloses Loch in seinem Gesicht. Seine Lippen strafften sich um ungewöhnlich regelmäßige Zähne. Seine Nasenflügel vibrierten leicht, als wittere er eine Wahrheit, die er nun mit anderen zu teilen bereit war. Sogar die Art, wie er arrogant den Kopf ein wenig zurücklegte und dabei sein Kinn vorschob, war plötzlich zu sehen, doch nur so kurz, dass Hanne Wilhelmsen für einen Moment an einen Irrtum glaubte.

»Ich war nicht nur dabei«, sagte Halvorsrud dann zaghaft und leise vor sich hin, als habe er bei genauerem Nachdenken beschlossen, erst zu einem späteren Zeitpunkt wieder zu seinem alten Ich zurückzukehren. »Ich kann Ihnen den Namen des Mörders nennen. Und seine Adresse noch dazu.«

Das Fenster stand einen Spaltbreit offen, obwohl es erst März war und der Frühling sich energisch zu verspäten schien. Ammoniakgeruch verbreitete sich im Zimmer, und eine Katze miaute so plötzlich, dass alle zusammenfuhren. Im Licht einer Gartenlampe am Tor konnte Hanne sehen, dass es jetzt schneite, leicht und spärlich. Die Anwärterin rümpfte die Nase und ging das Fenster schließen.

»Sie kennen also den … war es ein Mann?«

Der Oberstaatsanwalt hätte nichts sagen dürfen. Hanne hätte ihm nicht zuhören dürfen. Hanne Wilhelmsen hätte den Oberstaatsanwalt Sigurd Halvorsrud so schnell wie möglich nach Grønlandsleiret 44 bringen müssen. Der Mann brauchte einen Anwalt. Er brauchte eine Dusche und saubere Kleidung. Er konnte verlangen, das Haus verlassen zu dürfen, in dem seine eigene Frau ermordet und verstümmelt auf dem Wohnzimmerboden lag.

Hanne hätte den Mund halten müssen.

Halvorsrud sah sie nicht an.

»Ein Mann«, er nickte.

»Den Sie kennen?«

»Nein.«

Endlich schaute der Staatsanwalt wieder auf. Er fing Hannes Blick ein, und es entwickelte sich ein stummer Wettstreit, den Hanne nicht begriff. Sie konnte den Ausdruck in seinen Augen nicht deuten. Sie war von den auffälligen Änderungen im Verhalten des Staatsanwalts verwirrt. In einem Moment war er weit weg. Im nächsten war er sein bekanntes, arrogantes Ich.

»Ich kenne ihn überhaupt nicht«, sagte Sigurd Halvorsrud mit bemerkenswert fester Stimme.

Dann stand er auf und ließ sich von Hanne in den ersten Stock begleiten, um eine kleine Tasche zu packen.

Das Schlafzimmer war groß, eine Doppeltür führte auf einen Balkon. Hanne streckte mechanisch ihre Hand nach dem Lichtschalter neben der Tür aus. Zu ihrer Überraschung leuchteten sechs kleine Strahler unter der Decke auf. Sigurd Halvorsrud schien die seltsame Tatsache, dass das Licht im ersten Stock der Villa funktionierte, nicht weiter zu bemerken. Er hatte zwei Schubladen einer grünen Kommode geöffnet. Jetzt beugte er sich darüber und schien ziellos zwischen Unterhosen und Hemden herumzuwühlen.

Mitten im Raum thronte ein gigantisches Himmelbett. Das Fußende war reich mit Schnitzereien verziert, und auch an Blattgold war nicht gespart worden. Ein wahres Meer von Kissen und Decken gab dem Zimmer etwas Verwunschenes, das durch drei Ölgemälde an der hinteren Wand mit Motiven aus norwegischen Märchen noch verstärkt wurde.

»Kann ich helfen?«, fragte Hanne Wilhelmsen.

Der Staatsanwalt suchte nicht mehr nach etwas, das er nicht finden konnte. Er legte die Hand auf ein Foto in einem Silberrahmen, das zusammen mit fünf oder sechs anderen Familienbildern auf der grünlasierten Kommode stand.

Sie ging durch das Zimmer und blieb zwei Schritte vor Halvorsrud stehen. Das Bild zeigte seine Frau, wie Hanne erwartet hatte. Sie saß auf einem Pferderücken, zwischen ihr und dem Sattelknauf saß rittlings ein kleines Kind. Das Kind sah ängstlich aus und klammerte sich an den Arm der Mutter, der beschützend quer über Schulter und Bauch des Kindes lag. Die Frau lächelte. Im Gegensatz zu dem nichtssagenden Bild, das Hanne Wilhelmsen von dem blassrosa Führerschein her angestarrt hatte, zeigte dieses Foto, dass Doris Flo Halvorsrud eine attraktive Frau gewesen war. Ihr Gesicht war fröhlich und offen, und die kräftige Nase und die breite Kinnpartie zeugten eher von anziehender Stärke als von mangelnder Weiblichkeit.

Sigurd Halvorsrud hielt das Bild in der rechten Hand. Er presste den Daumen auf das Glas im ziselierten Rahmen. Der Finger wurde weiß, plötzlich zersprang das Glas mit leisem Knallen. Halvorsrud reagierte nicht, nicht einmal, als das Blut aus einem tiefen Schnitt im Daumen quoll.

»Ich kenne den Mann, der meine Frau umgebracht hat, nicht«, sagte er. »Aber ich weiß, wer er ist. Ich kann Ihnen seinen Namen nennen.«

Die Frau und das Kind auf dem Foto waren jetzt fast verschwunden zwischen Glasscherben und dunklem Blut. Hanne Wilhelmsen griff nach dem Bild und nahm es dem Mann aus der Hand. Behutsam legte sie es dann auf die Kommode, neben eine Haarbürste aus Silber.

»Gehen wir, Halvorsrud.«

Der Oberstaatsanwalt zuckte mit den Schultern und setzte sich in Bewegung. Rote Tropfen fielen aus seinem zerschnittenen Daumen.

3Der Journalist Evald Bromo hatte sich bei Aftenposten immer wohlgefühlt. Es war eine gute Zeitung. Oder jedenfalls ein guter Arbeitsplatz. Die übelste Hurerei der Boulevardpresse blieb ihm erspart, und er wurde gut bezahlt. Ab und zu hatte er sogar Zeit, sich in ein Thema zu vertiefen, gründlich zu sein. Evald Bromo arbeitete seit elf Jahren in der Wirtschaftsredaktion der Zeitung und freute sich in der Regel auf die Arbeit.

An diesem Tag jedoch nicht.

Seine Frau stellte einen Teller mit zwei Pfannkuchen vor ihm auf den Tisch. Zwischen den Pfannkuchen war Butter, oben drauf echter kanadischer Ahornsirup, sie wusste, dass er es so liebte, doch statt sich begierig über sein Frühstück herzumachen, umklammerte er Messer und Gabel und klopfte damit unrhythmisch auf dem Tisch herum, ohne das selbst zu bemerken.

»Nicht wahr?«

Er fuhr zusammen und ließ die Gabel auf den Boden fallen.

Evald Bromos Frau hieß Margaret Kleiven. Sie war eine magere Frau, so als habe die Kinderlosigkeit, mit der sie sich niemals hatte abfinden können, sie von innen heraus zerfressen. Ihre Haut schien zu groß für ihren dünnen Körper, und dadurch wirkte sie zehn Jahre älter als ihr gleichaltriger Mann. Da Adoption für die beiden nie ein Thema gewesen war, hatte Margaret Kleiven ihr Leben ihrer Arbeit als Gymnasiallehrerin gewidmet und betrachtete ansonsten ihren Mann als Ersatz für das Kind, das sie niemals bekommen würde. Sie beugte sich über ihn und schob die Serviette in seinem Hemdausschnitt zurecht, dann hob sie die Gabel auf.

»Der Frühling kommt in diesem Jahr außergewöhnlich spät«, wiederholte sie leicht gereizt und zeigte energisch auf die Pfannkuchen. »Iss jetzt! Du hast nicht viel Zeit.«

Evald Bromo starrte den Teller an. Der Sirup war zerflossen, die Butter geschmolzen. Alles vermischte sich am Pfannkuchenrand zu einer fettigen Soße, und ihm wurde schlecht.

»Hab heute keinen Hunger«, murmelte er und schob den Teller fort.

»Ist dir nicht gut?«, fragte sie ängstlich. »Brütest du etwas aus? Im Moment sind so viele Krankheiten im Umlauf. Vielleicht solltest du lieber zu Hause bleiben.«

»Nicht doch. Hab einfach nicht gut geschlafen. Und ich kann doch in der Redaktion essen. Wenn ich Hunger kriege, meine ich.«

Er zwang sich ein schmales Lächeln ab. Seine Achselhöhlen waren schweißnass, obwohl er eben erst geduscht hatte.

Dann sprang er auf.

»Aber Lieber, du musst doch etwas essen«, sagte sie energisch und legte ihm die Hand auf die Schulter, um ihn wieder zum Sitzen zu bringen.

»Ich gehe«, fauchte Evald Bromo und entzog sich der offenkundig unwillkommenen Berührung.

Margaret Kleivens schmales Gesicht schien nur noch aus Augen zu bestehen, Mund und Nase verschwanden im überwältigenden Eindruck von gigantischer graublauer Iris.

»Keine Panik«, er versuchte zu lächeln. »Aber vielleicht muss ich noch zu einer Besprechung. Steht aber noch nicht fest. Ich rufe an. Okay?«

Margaret Kleiven gab keine Antwort. Als Evald Bromo sich zu ihr vorbeugte, um ihr routinemäßig einen Abschiedskuss zu geben, wich sie aus. Er zuckte mit den Schultern und murmelte etwas, das sie nicht verstand.

»Gute Besserung«, sagte sie in beleidigtem Tonfall und drehte sich weg.

Als er das Haus verlassen hatte, starrte sie ihm nach, bis sein Rücken hinter der wildwuchernden Hecke der Nachbarn verschwand. Sie fuhr mit den Fingern über die Vorhänge und dachte zerstreut, dass die gewaschen werden müssten. Außerdem registrierte sie, dass der Rücken ihres Mannes mit den Jahren schmaler geworden war.

Als Evald Bromo wusste, dass seine Frau ihn nicht mehr sehen konnte, blieb er stehen. Die Frühlingsluft ließ einen Backenzahn aufschreien, als er mit offenem Mund tief Luft holte.

Evald Bromos Welt würde zerstört werden. Und zwar am 1. September. Ein Frühling und ein Sommer würden noch vergehen, und der Herbst würde noch beginnen, ehe alles vorbei wäre. Ein halbes Jahr lang sollte Evald Bromo Schmerz und Scham und die Angst vor dem Bevorstehenden ertragen müssen.

Der Bus kam, und er schnappte einer alten Dame den Sitz weg. Was sonst überhaupt nicht seine Art war.

4Evald Bromo war nicht bei der Arbeit. Aus alter Gewohnheit war er ausgestiegen, als der Bus in der Akersgate zwischen Regierungsgebäude und Kulturministerium angehalten hatte. Doch ohne auch nur einen Blick in Richtung des fünfzig Meter weiter gelegenen Redaktionshauses zu werfen, hatte er sich von seinen Füßen ohne Gegenwehr zum Vår-Frelsers-Friedhof tragen lassen.

Dort war es sehr still. Vereinzelte Gymnasiasten liefen noch über die Wege, um rechtzeitig zur ersten Stunde in der Kathedralschule zu sein. Obwohl viele Schilder streng an den Leinenzwang erinnerten, schnüffelte ein freilaufender Hund zwischen den Gräbern herum. Es war ein fettes schwarzes Tier, das begeistert über alles, was es fand, mit dem Schwanz wedelte. Sein Besitzer war sicher ein ebenso fetter Mann in einem ebenso schwarzen Mantel, der zeitunglesend an einer Laterne lehnte.

Evald Bromo fror.

Er öffnete den Reißverschluss seiner Lederjacke und band sich den Schal auf. Plötzlich verspürte er einen gewaltigen Hunger. Er hatte auch Durst, wenn er es sich genauer überlegte. Er setzte sich auf eine schmutzige Bank neben einem Grabstein, dessen Inschrift nicht mehr zu entziffern war. Dann zog er seine Handschuhe aus, legte sie ordentlich neben sich und überzeugte sich davon, dass ihm schrecklich kalt war und dass Hunger und Durst ihn jetzt wirklich quälten. Er beschwor Essensbilder herauf. Er dachte daran, wie eiskaltes Wasser nach einer langen Joggingrunde den Mund füllte; er folgte dem Weg der Flüssigkeit vom Gaumen durch den Hals. Und dann zog er die Jacke aus.

Jetzt klapperte er mit den Zähnen.

Zwei elektronische Briefe hatte er erhalten. Eine E-Mail ohne Unterschrift und mit nichtssagendem Absender: [email protected]. Die andere war mit »eine Person, die nie vergisst« unterzeichnet.

Die was nie vergisst?

Vielleicht war es möglich, eine Hotmail-Adresse ausfindig zu machen. Vielleicht gab es entsprechende Register. Evald Bromo wusste sehr gut, dass die Polizei bisweilen nur mit großer Mühe die Erlaubnis der Netprovider einholen konnte, um den Ursprung einer Mail festzustellen. Umso schwerer musste das Privatpersonen fallen. Er hatte schon einen Kollegen, der sich mit elektronischer Kommunikation sehr viel besser auskannte, um Hilfe bitten wollen. Aber das hatte er dann doch nicht über sich gebracht. Als ihm die Hitze in die Wangen stieg, hatte er stattdessen um Hilfe beim Zugang zu einem Archiv gebeten, in das er nicht hineinkam.

Das Schlimmste war jedoch, dass die Mails vermutlich irgendwo im riesigen IT-System von Aftenposten gespeichert waren. Als sie mit einem pling auf seinem Bildschirm aufgetaucht waren, hatte er sie geöffnet, zweimal gelesen und gelöscht. Er wollte weg von ihnen, sie mussten verschwinden. Erst nachdem er die zweite gelöscht hatte, die am Morgen des Vortags gekommen war und die ihn endgültig in Panik versetzt hatte, fiel ihm ein, dass sie noch immer irgendwo gespeichert sein konnten. Evald Bromo erinnerte sich vage an eine Mitteilung, die vor einigen Monaten in seinem Postfach gelegen hatte. Da es um Dinge gegangen war, von denen er keine Ahnung hatte, hatte er sie nur überflogen. Aber er hatte sich die Warnung gemerkt: dass die IT-Verantwortlichen aus technischen Ursachen gezwungen sein könnten, private Post zu untersuchen. Und dass gelöschte Dokumente noch eine Zeit lang im System liegen konnten.

Evald Bromo war ein guter Journalist. Er war sechsundvierzig Jahre alt und hatte seine Arbeit noch nicht satt bekommen. Er lebte still und ruhig mit einem begrenzten Bekanntenkreis und einer, wie seine Umgebung fand, rührenden Fürsorge für seine alte Mutter. Im Laufe der Jahre hatte er sich eine Art wirtschaftliche Ausbildung zugelegt; hier einen BWL-Lehrgang besucht, dort einen Fernkurs. Genug, um vernünftige Fragen zu stellen. Mehr als ausreichend, um Schwächen dort zu finden, wo sie vorhanden waren. Wie es sich für einen guten Wirtschaftsjournalisten gehört. Evald Bromo ging bei seiner Arbeit ebenso gründlich vor wie beim Bauen von Modellbooten, was sich inzwischen zu einem zeitraubenden Hobby entwickelt hatte.

Zum Bootsbauen und zum Schreiben waren dieselben Qualitäten vonnöten: Gründlichkeit, Zuverlässigkeit.

So, wie bei einem Schiff jedes kleinste Detail stimmen musste, von den Kanonenkugeln bis zu den Nähten der Segel und den Gewändern der Galionsfigur, mussten auch seine Artikel korrekt sein. Kritisch, bisweilen vielleicht nicht ganz objektiv, aber immer zuverlässig. Alle mussten zu Wort kommen. Alle das sagen können, was sie zu sagen hatten.

Evald Bromo hatte nur eine wirkliche Schwäche.

Natürlich hatte sein Leben auch seine traurigen Seiten. Der Vater, im Suff gestorben, als Evald erst sechs Jahre alt war, suchte diesen seither ab und zu in seinen Träumen auf. Die Mutter hatte für ihren Sohn getan, was sie konnte. Selbst jetzt, wo sie in der gebrechlichen Schale ihres Körpers dalag, mit einem Kopf, der längst einen Kurzschluss erlitten hatte, bedeuteten die fast täglichen Besuche im Pflegeheim für Evald Bromo eine stille Freude. Seine Ehe mit Margaret Kleiven war niemals eine Galavorstellung gewesen. Aber sie brachte ihm Ruhe. Seit vierzehn Jahren brachte sie ihm Zuwendung, Essen und Ruhe.

Evald Bromos Schwäche waren kleine Mädchen.

Er wusste nicht mehr, wann es angefangen hatte. Vielleicht war es ja immer so gewesen. In gewisser Hinsicht war er ihnen nie entwachsen. Den kichernden, kaugummikauenden Mädchen mit Rattenschwänzchen und langen Strümpfen unter kurzen Röcken, die ihn in dem Frühling umschwärmt hatten, als er zu seinem zwölften Geburtstag von einer Tante fünfhundert Kronen bekommen hatte. Die Mädchen wurden im Laufe der Zeit größer, aber dafür hatte Evald Bromo keinen Blick. Er konnte nicht vergessen, was eines von ihnen ihm für fünfzig blanke Kronen gegeben hatte; hinter der Turnhalle und gegen das Versprechen vollständiger Diskretion.

Als junger Mann hatte er seine Gelüste mit Arbeit und Training bezwungen. Er lief wie ein Pferd; eine Stunde, ehe andere aufstanden, und oft abends noch zwei. Sein begonnenes Jurastudium hatte er nach anderthalb Semestern aufgegeben. Die Stunden im Lesesaal, gebeugt über Bücher, die ihn kein bisschen interessierten, wurden unerträglich. Er hatte zu viel Zeit für Gedanken, die er sich nicht eingestehen wollte. Evald Bromo lief, lief wie ein Verrückter, weg von der Universität und weg von sich selbst. Mit zweiundzwanzig Jahren – 1974 – konnte er bei Dagbladet eine Vertretung machen. Und Laufen wurde damals gerade modern.

An seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag wurde Evald Bromo kriminell.

Er hatte nie eine Frau gehabt. Seine einzige sexuelle Erfahrung mit einem anderen Menschen hatte er für fünfzig auf eine Schnur aufgezogene Kronenstücke gekauft. Mit zwölfeinhalb Jahren.

Als sein Leben doppelt so lange gedauert hatte, kannte er den Unterschied zwischen richtig und falsch. Das Mädchen, das von zu Hause durchgebrannt war und ihn um Geld anbettelte, als er nach einer Tour durch die Stadt mit Leuten, die er vielleicht als Kumpel bezeichnen konnte, nach Hause torkelte, konnte höchstens dreizehn gewesen sein. Sie bekam dreihundert Kronen und eine Schachtel Zigaretten. Evald Bromo bekam fünf Minuten intensiver Freude und endlose Nächte voller Reue und Angst.

Aber er hatte einen Anfang gemacht.

Er bezahlte immer. Er war absolut großzügig und wurde nie gewalttätig. Manchmal staunte er darüber, wie leicht es war, diese Kinder zu finden. Sie stromerten herum; sie waren überflüssig in einer Stadt, die die Augen vor ihnen verschloss, solange sie sich nicht zu Banden zusammenrotteten. Und das taten sie nicht. Diese nicht. Sie waren allein, und obwohl sie sich altersmäßig nach oben schminkten, verfügte Evald Bromo über einen seziermesserscharfen Blick, der ihm verriet, was sich unter den engen Blusen und den mit Watte ausgestopften BHs verbarg. Er konnte das Alter eines Mädchens fast bis auf den Monat genau erraten. Er kaufte sechs Jahre lang illegalen Sex. Dann lernte er Margaret Kleiven kennen.

Margaret Kleiven war still, dünn und klein. Sie war freundlich. Sie war die erste erwachsene Frau, die ihm jemals mehr als nur kollegiales Interesse entgegengebracht hatte. Sexuelle Ansprüche stellte sie kaum. Sie heirateten nach drei Monaten, und als er ihr den Ring an den Finger steckte, empfand Evald Bromo vor allem Hoffnung und Erleichterung. Von jetzt ab würde jemand ihn kontrollieren. Alles würde viel schwieriger und endlich wieder ganz leicht werden.

Er war ihr nie untreu gewesen. Er empfand das nicht so. Als er durch Zufall in einer in der Redaktion herumliegenden Pornozeitschrift auf eine Adresse stieß, war die Versuchung zu groß. Ihm kam es ungefährlich vor. Es kostete viel mehr als das Auflesen von kleinen Streunerinnen auf der Straße, aber zum Ausgleich konnte er sein und Margarets Heim sauber halten. Im Laufe der Jahre hatte er andere Adressen in anderen dubiosen Zeitschriften und manchmal noch jüngere Mädchen auftun können, aber immer hielt er sich an die Altersgrenze von zehn Jahren. Da sagte er stopp. Das, was er tat, war falsch, es war entsetzlich falsch, aber es wurde schlimmer, je jünger sie waren.

Er war nie untreu gewesen.

Er kaufte einmal im Monat Sex.

Vor allem war er Journalist und baute Boote.

Evald Bromo war sechsundvierzig Jahre alt und machte zum ersten Mal in seinem Leben bei der Arbeit blau. Der Morgenverkehr im Ullevålsvei hatte sich jetzt ein wenig gelegt, und der eine oder andere kleine Vogel schien den Frühling schon für gekommen zu halten. Es roch nach feuchter Erde und vage nach Stadt, und er fror.

Am 1. September würde die Chefredakteurin von Aftenposten mit der Post einen Umschlag erhalten. In diesem Umschlag würden sich eine Videoaufnahme und fünf Fotos von Evald Bromo und einem Mädchen befinden, das noch drei Jahre bis zur Konfirmation warten musste. Die E-Mail hatte keinerlei Forderungen enthalten. Keine Drohungen. Keine Auswegmöglichkeiten von der Sorte »wenn du mir dies und jenes gibst, dann …«. Sondern nur eine Tatsache. Kurz und bündig. Das wird passieren. Am 1. September.

Evald Bromo erhob sich, starr vor Kälte. Er zog die Jacke wieder an und band sich den Schal um.

Es gab nichts, was er tun konnte.

Er konnte nur warten. Noch ein halbes Jahr.

5Die Osloer Wache hatte ihren Namen geändert. Als Teil einer endlosen Reihe von Neuerungen sollte das lang gestreckte, graue und schwere Gebäude in Grønlandsleiret 44 jetzt Polizeidistrikt Oslo heißen. Niemand wusste so recht, warum. Nachdem die ländlichen Polizeistellen kürzlich der Stadtpolizei unterstellt worden waren und alle gutmütigen Dorfsheriffs jetzt urbane Kommissare mit Jurastudium und Lametta auf den Schultern über sich hatten, gab es in Norwegen keine Wachen mehr.

Der Namenswechsel hatte keine sichtbaren Spuren hinterlassen. Der Polizeidistrikt Oslo schien sich weiterhin in seiner Umgebung so unwohl zu fühlen, wie es bei der Wache auch immer der Fall gewesen war. Im Osten lag das Kreisgefängnis, das alte Bußgefängnis, dem Zeit und staatliche Bewilligungen längst davongelaufen waren. Im Westen ragte die Grønland-Kirche auf und wartete trotzig und geduldig auf Besuch, in einem Stadtteil, in dem die Hälfte der Einwohner aus Muslimen bestand, während die andere Hälfte seit ihrer Taufe wohl kaum noch ein Gotteshaus von innen gesehen hatte. Der Optimismus, der ansonsten die Umgebung prägte und die Wohnungspreise im alten Oslo innerhalb von zwei Jahren verdoppelt hatte, hatte niemals die Höhenzüge erreicht, auf denen der Polizeidistrikt Oslo lag, mit dem Akebergvei wie einem Katzenfell im Kreuz.

»Eine Wache ist und bleibt eine Wache«, sagte Hanne Wilhelmsen energisch und warf einen Ordner in eine Ecke. »Seit ich bei der Polizei angefangen habe, ist dieses Haus schon zigmal umorganisiert worden. Fass die nicht an!«

Sie schlug nach dem Mann, der sich über sie beugte und schon vier Schokobananen aus einer blauen Emailleschale auf dem Schreibtisch geschnappt hatte.

Der Mann nahm sich noch drei.

»Billy T.«, sagte Hanne wütend und versetzte ihm einen knallenden Klaps auf den Hintern seiner eng sitzenden Jeans. »Lass das, hab ich gesagt. Außerdem wirst du langsam fett. Schweinemäßig fett!«

»Wohlseinszulage«, grinste Billy T. und klopfte sich auf den Bauch, ehe er im Besuchersessel Platz nahm. »Krieg im Moment verdammt viel gutes Essen.«

»Was ganz einfach bedeutet, dass du Lebensmittel zu dir nimmst«, sagte Hanne säuerlich. »Statt des Drecks, von dem du gelebt hast, seit ich dich kenne. Übrigens habe ich viel zu tun.«

Sie warf einen auffordernden Blick hinüber zur Tür, die er eben erst krachend ins Schloss gezogen hatte.

»Macht nichts«, lachte Billy T. und schnappte sich Dagbladet, das in einem Regal unter einem überfüllten Aschenbecher lag. »Ich warte. Verdammt, du rauchst ja wieder!«

»Durchaus nicht«, sagte Hanne. »Dass ich ab und zu eine Zigarette konsumiere, heißt noch lange nicht, dass ich rauche.«

»Ab und zu«, murmelte Billy T., der sich bereits in einen Artikel über die neuen Motorradmodelle dieses Frühlings vertieft hatte. »Das bedeutet zweimal im Monat oder so. Sind das also die gesammelten Kippen vom letzten Jahr?«

Hanne Wilhelmsen gab keine Antwort.

Der Mann, der auf der anderen Seite des Schreibtischs in der Zeitung las und dabei zerstreut in der Nase bohrte, kam ihr größer vor denn je. Billy T. hatte schon mit achtzehn auf Socken zweinullzwei gemessen. Schlank war er nie gewesen. Jetzt war er fast vierzig und hatte im vergangenen halben Jahr sicher zwanzig Kilo zugenommen. Und dieses zusätzliche Gewicht schien auch seine Körpergröße zu beeinflussen. Noch im Sitzen schien seine Gestalt weder Anfang noch Ende zu haben. Er füllte den Raum mit etwas, das Hanne nicht so recht begreifen konnte.

Hanne blätterte in einem zerfledderten Lehrbuch über Strafrecht und gab vor, zu lesen, während sie heimlich durch ihren Pony Billy T. beobachtete. Sie sollte sich die Haare schneiden lassen. Er sollte abnehmen.

Hanne Wilhelmsen hatte längst den Versuch aufgegeben, ihre Beziehung zu Billy T. zu begreifen. Er war einwandfrei ihr bester Kumpel. Im Laufe der Jahre hatten sie eine Umgangsform entwickelt wie ein symbiotisches altes Ehepaar; einen leicht zänkischen, spöttischen Tonfall, der sofort verschwand, wenn die eine Seite begriff, dass das Gegenüber die Sache ernst meinte. Hanne ertappte sich bei der Frage, wie vertraut sie einander eigentlich waren. Während der letzten Monate überlegte sie immer häufiger, ob sie überhaupt einem anderen Menschen vertraut sein konnte. Abgesehen von Sekunden und flüchtigen Augenblicken.

Fünf Monate zuvor war an einem späten Donnerstagabend etwas zwischen Hanne und Billy T. passiert. Wenn sie die Augen schloss, sah sie, wie er in ihre Wohnung fiel, betrunken wie ein Abiturient im Mai. Das ganze Treppenhaus musste gehört haben, wie er glücklich brüllend verkündete, dass er die Mutter seines demnächst erwarteten fünften Sohnes heiraten würde. Da er mit den Müttern seiner ersten vier Söhne nie zusammengelebt hatte, bestand aller Grund zum Feiern. Cecilie, seit fast zwanzig Jahren Hannes Lebensgefährtin, hatte Billy T. mit dynamitstarkem Kaffee, sanften Ermahnungen und von Herzen kommenden Glückwünschen empfangen. Hanne dagegen war von einem halb verletzten, halb beleidigten Gefühl, das seither nie wieder ganz verschwunden war, zum Schweigen gebracht worden. Die Erkenntnis, was sie da im Grunde quälte, machte ihr viel mehr zu schaffen als das Gefühl, etwas zu verlieren, von dem sie geglaubt hatte, es bis an ihr Lebensende behalten zu können.

»Denkst du auch an die Rede?«, fragte Billy T. plötzlich.

»Die Rede?«

»Für die Hochzeit. Deine Rede. Denkst du an die?«

Die Hochzeit lag noch über drei Monate in der Zukunft. Hanne Wilhelmsen sollte Trauzeugin sein und eine Rede halten, wusste aber nicht einmal, ob sie überhaupt an der Trauung teilnehmen wollte.

»Sieh dir das an«, sagte sie stattdessen und warf ein Heft mit eingeklebten Polaroidfotos über den Schreibtisch. »Vorsicht. Starke Szenen.«

Billy T. ließ Dagbladet auf den Boden fallen und schlug das Heft auf. Er schnitt eine Grimasse, die ihn fremd aussehen ließ. Billy T. war älter geworden. Seine Augen lagen tiefer in den Höhlen als früher, und die Lachfältchen darunter konnten mit bösem Willen auch als Tränensäcke gedeutet werden. Sein kahl rasierter Schädel war nicht mehr so auffällig; er konnte auch einfach die Haare verloren haben. Sogar die Zähne, die zu sehen waren, als er vor Entsetzen über die Bilder die Lippen straffte, zeigten, dass Billy T. im Laufe des Sommers vierzig werden würde. Hanne ließ ihren Blick von seinem Gesicht zu ihren eigenen Händen weiterwandern. Ihrer wintertrockenen Haut half auch die Handcreme nicht, mit der sie sie dreimal täglich einschmierte. Feine Furchen in den Handrücken erinnerten sie daran, dass sie nur anderthalb Jahre jünger war als er.

»Oh, verdammt«, sagte Billy T. und schloss das Heft. »Ich habe heute Morgen bei der Besprechung davon gehört, aber das hier …«

»Übel«, sagte Hanne. »Er kann es selbst gewesen sein.«

»Kaum«, sagte Billy T. und rieb sich das Gesicht. »Niemand kann mir einreden, dass Oberstaatsanwalt Halvorsrud mit einem Samuraischwert bei seiner eigenen Frau Amok läuft. Verdammt, nein.«

»Rasche Schlussfolgerung, das muss ich schon sagen.«

Hanne Wilhelmsen kratzte sich gereizt am Hals. Billy T. war der achte Kollege, der innerhalb eines Vierteltages und ohne irgendwelche Vorkenntnisse bezüglich dieses Falles in der Schuldfrage überzeugt Stellung bezog.

»Natürlich kann er es getan haben«, sagte sie tonlos. »Ebenso kann er natürlich die Wahrheit sagen und mit einer Schusswaffe bedroht worden sein und deshalb wie gelähmt zugesehen haben, wie seine Frau von einem Verrückten massakriert wurde. Who knows.«

Sie hätte gern hinzugefügt: And who cares. Noch ein Hinweis darauf, dass sie sich von irgendetwas fortbewegte. Das Allerschlimmste war, dass sie nicht wusste, wohin sie unterwegs war. Oder warum sich alles auf eine vage und undefinierbare Weise zu verändern schien. Etwas war in ihr Leben getreten, das dafür sorgte, dass sie es nicht mehr so richtig im Griff hatte. Oder dass sie einfach nicht mehr wollte. Sie war schweigsamer als früher. Mürrischer, ohne das wirklich zu wollen. Cecilie musterte sie jetzt immer forschend, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Hanne mochte nicht einmal fragen, warum sie dermaßen starrte.

Es wurde an die Tür geklopft, viermal und hart.

»Herein«, brüllte Billy T. und lächelte strahlend, als eine hochschwangere Polizistin in das enge Arbeitszimmer watschelte. »Meine angehende Gattin und mein ebensolcher Sohn!«

Er zog die Kollegin auf seinen Schoß.

»Hast du je einen schöneren Anblick gesehen, Hanne?«

Ohne auf Antwort zu warten, rieb er sein Gesicht am Bauch der Polizistin und führte einen unverständlichen und gemurmelten Dialog mit dem Kind.

»Es ist ein MÄDCHEN«, formte die hochschwangere Frau mit den Lippen für Hanne. »EINMÄDCHEN!«

Hanne Wilhelmsen brach wider Willen in Gelächter aus.

»Ein Mädchen, Billy T. Wirst du also endlich Papa von einem Mädchen? Die arme, arme Kleine!«

»Dieser Mann macht nur Jungs«, sagte Billy T. und tippte mit dem Zeigefinger auf das Umstandskleid. »Und das hier, meine Freundinnen, das ist mein Sohn. Der fünfte in der Serie. Darauf schwöre ich Stein und Bein.«

»Was wolltest du eigentlich?«

Hanne Wilhelmsen versuchte, Billy T.s Herumgealber zu ignorieren. Tone-Marit Steen machte den tapferen Versuch, sich loszureißen. Beide Versuche misslangen.

»Billy T.!«

Er schnitt eine Grimasse und schaute Hanne verärgert an.

»Verdammt, wieso bist du jetzt immer so sauer? Kriegst du pausenlos deine Tage oder was? Reiß dich endlich zusammen, Mensch!«

Seine Grimasse wurde zu einem für Tone-Marit bestimmten Lächeln, als er sich aus dem Sessel aufrappelte und verschwand.

»Was wollte er denn nun?«, fragte Hanne und breitete demonstrativ die Hände aus.

»Keine Ahnung«, sagte Tone-Marit und setzte sich mit einem Stöhnen, das sie zu unterdrücken versuchte. »Aber ich hab was für dich. Dieser Typ, der angeblich Halvorsruds Frau enthauptet hat …«

»Ståle Salvesen«, sagte Hanne kurz. »Was ist mit dem?«

»Ja. Von dem der Staatsanwalt immer wieder behauptet …«

»Ich weiß, von wem du redest«, fiel Hanne ihr wütend ins Wort. »Also, was gibt’s Neues?«

»Tot.«

»Tot?«

Ståle Salvesen war nicht zu finden gewesen, seit Hanne nachts die Suche nach ihm eingeleitet hatte. Ein Zettel mit Informationen über ihn lag vor ihr.

Alter: 52 Jahre. Zivilstand: geschieden. Arbeit: Frührentner aus Gesundheitsgründen. Ein erwachsener Sohn. Wohnhaft: Vogts gate 14. Einkünfte 1997: 32000 Kronen. Kein Vermögen. Außer dem Sohn keine Angehörigen. Und der Sohn lebte in den USA.

Zwei Streifenwagen waren um drei Uhr nachts nach Torshov gefahren, um nach Ståle Salvesen Ausschau zu halten. Da er nicht zu Hause war und seine Wohnungstür nicht abgeschlossen hatte, hatten sie eine inoffizielle Besichtigung vorgenommen. Triste Behausung, aber aufgeräumt. Das Bett gemacht. Im Kühlschrank Milch mit abgelaufenem Verfallsdatum. Diese im Telegrammstil gehaltenen Auskünfte stammten aus dem Bericht, der den persönlichen Daten angeheftet war.

»Was meinst du mit tot«, sagte Hanne mit unnötig scharfer Stimme; die Tatsache, dass Salvesen nachts nicht zu finden gewesen war, hatte ihr die heimliche Hoffnung gegeben, dass Sigurd Halvorsrud doch die Wahrheit sagen könnte.

»Selbstmord. Ist am letzten Montag ins Meer gesprungen.«

»Ins Meer gesprungen?«

Hanne Wilhelmsen fand das komisch. Warum, wusste sie nicht.

»Es war ein … uuuups!«

Tone-Marit legte die Hand auf ihren Bauch und hielt den Atem an.

»Einfach nur ein Bäuerchen«, keuchte sie dann. »Ein Spaziergänger hat gesehen, dass sich am Montagabend um kurz vor elf ein Mann von der Staure-Brücke gestürzt hat. Die Polizei hat gleich in der Nähe Salvesens alten Honda gefunden. Offen, der Zündschlüssel steckte noch. Auf dem Armaturenbrett lag ein Abschiedsbrief. Ganz einfache Mitteilung, vier Zeilen, er erträgt es nicht mehr et cetera, et cetera.«

»Und die Leiche?«

»Noch nicht gefunden worden. Gerade in der Gegend sind die Strömungsverhältnisse ziemlich wild, es kann also noch dauern. Und Salvesen kann auch beim Sturz schon ums Leben gekommen sein. Es sind über zwanzig Meter.«

Ein Feueralarm heulte auf.

»Neiiin«, schrie Hanne Wilhelmsen. »Ich hab diese falschen Alarme satt. Zum Kotzen satt!«

»Du hast im Moment fast alles zum Kotzen satt«, sagte Tone-Marit ruhig und stand auf. »Und es könnte ja vielleicht doch mal brennen.«

In der Türöffnung drehte sie sich um und sah ihre Vorgesetzte an. Einen Moment lang sah sie aus, als wolle sie noch mehr sagen. Dann schüttelte sie fast unmerklich den Kopf und ging.

6»Es sieht nicht gerade gut aus«, sagte Hanne Wilhelmsen und goss neuen Kaffee in den henkellosen Becher, der vor Oberstaatsanwalt Sigurd Halvorsrud stand. »Das sehen Sie doch selbst, oder?«

Halvorsrud hatte sich gewaltig zusammengerissen. Er war frisch gewaschen und glatt rasiert. Außerdem trug er eine Krawatte, obwohl er gerade in einer unkomfortablen Zelle residierte. Er nickte wortlos.

»Mein Mandant akzeptiert eine Woche Untersuchungshaft. Innerhalb dieser Zeit sollte dieses Missverständnis sich klären lassen.«

Hanne Wilhelmsen hob die Augenbrauen.

»Ehrlich gesagt, Karen …«

Eine fast unmerkliche Augenbewegung von Karen Borg sorgte dafür, dass Hanne sich in ihrem Sessel aufrecht hinsetzte.

»Anwältin Borg«, sagte sie. »Ich habe hier einige Punkte notiert.«

Hanne legte Halvorsruds Anwältin einen Bogen mit einer handgeschriebenen Liste vor. Dann ließ sie ihren Zeigefinger über die Gründe wandern, die die Polizei veranlasst haben, zu glauben, Oberstaatsanwalt Halvorsrud wesentlich länger als nur für eine Woche in Untersuchungshaft behalten zu können.

»Er war am Tatort, als …«

»Er hat selbst die Polizei informiert.«

»Dürfte ich weiterreden, ohne unterbrochen zu werden?«

»Tut mir leid. Bitte sehr.«

Hanne Wilhelmsen nahm sich eine Zigarette. Halvorsrud hatte schon drei geraucht, noch ehe sie die Formalitäten erledigt hatten, und in diesem Moment war es Hanne schnurz, dass Karen sich Macken zugelegt hatte, seit sie Mutter von zwei Kindern geworden war.

»Halvorsrud war zugegen, als der Mord begangen wurde. Seine Fingerabdrücke sind überall. Auf dem Schwert, auf der Leiche. Überall.«

»Aber er wohnt …«

»Anwältin Borg«, sagte Hanne demonstrativ deutlich und erhob sich.

Sie blieb am Fenster des Büros stehen, das ihr erst kürzlich zugeteilt worden war. Das Zimmer gehörte ihr gewissermaßen noch nicht. Sie gehörte nicht dorthin. Es gab kaum einen persönlichen Gegenstand in diesem Raum. Es war nicht ihre Aussicht. Die Bäume der Allee vor dem alten Haupteingang des Gefängnisses waren noch nackt. Langsam rollte ein Fußball über den Kiesweg, doch ein Kind war nicht zu sehen.

»Ich schlage vor«, Hanne Wilhelmsen machte einen neuen Anfang und ließ aus alter Gewohnheit einen Rauchring zur Decke hochsteigen, »dass ich meine Überlegungen vortragen darf. Dann bist du an der Reihe. Ohne Unterbrechungen.«

Abrupt drehte sie sich wieder zu den beiden anderen um. »In Ordnung?«

»In Ordnung«, sagte Karen Borg und lächelte kurz, während sie für einen Moment ihre Hand auf den Unterarm ihres Mandanten legte. »Natürlich.«

»Zu dem, was ich bisher gesagt habe, kommt die Tatsache, dass Halvorsrud ein … gewissermaßen ein totes Alibi geltend macht. Er behauptet, ein gewisser Ståle Salvesen habe seine Frau misshandelt und ermordet. Aber Ståle Salvesen ist am Montag ums Leben gekommen.«

»Was?«

Der Staatsanwalt beugte sich vor und knallte mit den Ellbogen auf die Tischplatte.

»Ståle Salvesen ist nicht tot! Nie im Leben! Er war bei mir …, er hat gestern Abend meine Frau umgebracht. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen, ich kann …«

Er rieb sich den schmerzenden Arm und sah Karen Borg an, als erwarte er, dass seine Anwältin für seine Geschichte bürgen werde. Doch diese Hilfe blieb aus. Karen Borg machte sich an einem schlichten Diamantring zu schaffen und legte den Kopf schräg, als habe sie nicht richtig gehört, was Hanne da gesagt hatte.

»Ståle Salvesen hat am Montagabend Selbstmord begangen. Darauf weist jedenfalls alles hin: Augenzeugen, sein Wagen bei der Brücke, von der er gesprungen ist, ein Abschiedsbrief.«

»Aber keine Leiche«, sagte Karen Borg langsam.

Hanne schaute auf.

»Nein, noch nicht. Aber die wird schon auftauchen. Früher oder später.«

»Vielleicht ist er nicht tot«, sagte Karen Borg.

»Das kann natürlich sein«, sagte Hanne ruhig. »Aber bisher gibt es keine Spur von einem Beweis dafür, dass dein Mandant die Wahrheit sagt. Mit anderen Worten …«

Sie drückte ihre Zigarette aus und ärgerte sich darüber, dass es schon die sechste an diesem Tag war. Sie wollte doch nicht wieder anfangen. Wirklich nicht.

»Eine Woche ist zu wenig. Aber wenn ihr zwei akzeptieren könnt, dann werden wir vierzehn Tage lang wie die Irren ackern.«

»Gut«, sagte Halvorsrud tonlos, ohne sich mit seiner Anwältin zu beraten. »Ich verzichte auf den Termin im Untersuchungsgericht. Zwei Wochen. Okay.«

»Mit Post- und Besuchsverbot«, fügte Hanne Wilhelmsen mit schroffer Stimme hinzu.

Karen Borg nickte.

»Und so wenig Presse wie möglich«, sagte sie dann. »Mir ist aufgefallen, dass die Zeitungen von der Geschichte noch nichts wissen.«

»Dream on«, murmelte Hanne, dann fügte sie hinzu: »Ich werde versuchen, Ihnen eine Matratze zu besorgen, Halvorsrud. Wir führen morgen eine weitere und sehr viel umfassendere Vernehmung durch, wenn es Ihrer Anwältin recht ist.«

Karen Borg schob sich in einer Geste der Zustimmung die Haare hinters Ohr. Als ein per Haustelefon herbeigerufener Polizeimeister hinter sich und Halvorsrud die Tür geschlossen hatte, schien sie nicht aufstehen zu wollen.

»Ich habe dich lange nicht mehr gesehen«, sagte sie.

Hanne lächelte kurz und fing an, etwas zu speichern, was in ihrem Computer gar nicht vorhanden war.

»Zu viel zu tun. Gilt auch für Cecilie. Und ihr? Was machen die Kinder?«

»Denen geht’s gut. Und dir?«

»Geht schon.«

»Håkon sagt, dass dich etwas quält.«

»Håkon sagt seltsame Dinge.«

»Und viele kluge. Er hat einen scharfen Blick. Das wissen wir beide.«

Ein halbes Jahr zuvor war Håkon Sand endlich zum Staatsanwalt befördert worden. Das war erst spät geschehen, später als bei den meisten Polizeijuristen. Aber Håkon Sand hatte durchgehalten und sich nach und nach in den höheren Sphären der Anklagebehörden eine Art Respekt – wenn auch nicht gerade Bewunderung – erarbeitet. Was nicht zuletzt an seiner Zusammenarbeit mit Hanne Wilhelmsen und Billy T. gelegen hatte, die beide energisch gegen den drohenden Verlust ihres polizeifreundlichsten Juristen protestierten. Aber Håkon Sand konnte nicht mehr. Er hatte neun Jahre lang in Grønlandsleiret 44 das Linoleum platt getreten und grüne Ordner gestemmt, bis er endlich Familienfotos und eine schöne Bronzestatue von Frau Justitia in einen Pappkarton legen und zum GJ Hambros plass 2B übersiedeln konnte. Das war nur anderthalb Kilometer Luftlinie entfernt. Aber er war einfach verschwunden. Ab und zu rief er auf einen Plausch an, zuletzt erst vor zwei Tagen. Er hatte ein Mittagessen vorgeschlagen. Aber Hanne hatte keine Zeit. Sie hatte nie Zeit.

»Ich dachte, du wärst zur Rächerin der Schwachen und zur Freundin der kleinen Leute geworden«, sagte Hanne trocken. »Was hat dich dazu gebracht, den Fall Seiner Hochmütigen Hoheit Halvorsrud zu übernehmen?«

»Freund der Familie. Meines Bruders, genauer gesagt. Und du hast es ja selbst gesagt: Es sieht nicht gut aus für Halvorsrud. Was ist eigentlich los mit dir, Hanne?«

»Nichts.«

Hanne versuchte wirklich zu lächeln. Sie zog die Mundwinkel nach oben und wollte auch die Augen dabeihaben. Die füllten sich mit Wasser. Sie schaute aus weit aufgerissenen Augen von einer Seite zur anderen und merkte, dass ihr Lächeln zu einer Grimasse wurde, die etwas von dem verriet, worüber sie nicht sprechen wollte. Worüber sie nicht sprechen konnte.

Karen Borg beugte sich über den Schreibtisch. Vorsichtig legte sie ihre Hand auf Hannes. Hanne zog ihre Hand weg; eher als Reflex denn als Abfuhr.

»Es ist wirklich nichts.« Sie lachte, während ihr die Tränen kamen.

Karen Borg kannte Hanne Wilhelmsen seit 1992. Ihre Freundschaft hatte einen recht dramatischen Anfang gehabt. Ein Mordfall hatte sie zusammengeführt, der sich schließlich als politischer Skandal von seltenen Dimensionen erwiesen hatte. Er hatte Karen Borg fast das Leben gekostet. Håkon Sand hatte sie in letzter Sekunde aus einem brennenden Ferienhaus retten können. Als die beiden später zusammengezogen waren und Kinder bekommen hatten, waren Hanne und Cecilie zu engen Freundinnen von ihnen geworden. Inzwischen waren sieben Jahre vergangen.

»Ich habe dich noch nie weinen sehen, Hanne.«

»Eigentlich weine ich auch gar nicht«, sagte Hanne und wischte sich die Tränen ab. »Ich bin nur so kaputt. Müde irgendwie, die ganze Zeit.«

Draußen schneite es wieder. Verspielte große Flocken starben an der Fensterscheibe, und Hanne wusste nicht so recht, ob die Schneeflocken oder ihre Tränen die Umrisse im Park draußen zu einem unklaren grauen Bild verschwimmen ließen.

»Ich wünschte, es würde bald Sommer«, flüsterte sie. »Warm. Wenn es nur ein wenig wärmer wird, dann wird alles besser.«

Karen Borg gab keine Antwort. Sie ahnte jedoch, dass nicht einmal die ärgste Hitzewelle aller Zeiten Hanne Wilhelmsen helfen könnte. Dennoch musste sie jetzt auf die Uhr schauen. In einer Dreiviertelstunde machte der Kindergarten Feierabend. Hanne schwieg noch immer, sie wippte nur rhythmisch in ihrem Bürosessel hin und her und schnippte dabei mit den Fingern. Noch immer bedeckte das aufgesetzte Lächeln wie eine Maske ihre untere Gesichtshälfte. Noch immer strömten ihre Tränen.

»Dann bis bald«, sagte Karen Borg und erhob sich. »Bis morgen um zehn.«

Etwas tat weh, als sie über die Galerien im dritten Stock, in der gelben Zone, lief. Andererseits: Sie hatte noch immer keine Vorstellung davon, was sie zum Abendessen kochen sollte.

7Die Strömung hatte Ståle Salvesens sterbliche Überreste bis an die Fjordmündung getragen. Bei der Begegnung von Meer und Fjord entstanden Wirbel, die mit der Leiche spielten, solange es ihnen Spaß machte. Als sie dieses Spiel dann satthatten, pressten sie sie nach unten.

In zweiunddreißig Meter Tiefe lag ein alter, an die fünfzig Fuß großer Fischkutter. Er lag dort seit einer rauen Winternacht des Jahres 1952 und war schon längst zu einem beliebten Ziel für Amateurtaucher geworden. Die Aufbauten waren verschwunden. Das solide Steuerrad aus Eichenholz hatte ein Junge in den Sechzigerjahren abmontiert. Töpfe und Tiegel gab es nicht mehr. Übrig war allein die leere Schale eines Schiffs mit einem Steuerhaus ohne Fensterscheiben.

Ståle Salvesen trug keinen Anorak mehr. Das Wasser hatte ihm dieses Kleidungsstück abgestreift; jetzt wurde es zwei Kilometer weiter nördlich gegen die Ufersteine geschlagen. Seine Stiefel jedoch hatte er noch. Sie saßen fest wie in einem Vakuum, und als Ståle Salvesens rechtes Bein mit der Strömung durch das Steuerhaus gezogen wurde, blieb der Stiefelschaft an einem Haken hängen, den zu entfernen sich niemand die Mühe gemacht hatte.

Er sah aus wie ein vierarmiger Seestern, als er im märzkalten Meerwasser auf und ab wogte.

8Sie hatte es schon gespürt, als sie durch den Garten gegangen waren, sie mit etwas zu hohen Stiefelabsätzen im groben Kies, Billy T. mit einer verschlissenen Lederjacke, die er zuknöpfte, während er leise den scharfen Wind verfluchte.

»Hier ist etwas«, sagte Hanne Wilhelmsen verbissen zu Billy T. »Ich weiß, dass hier etwas ist.«

»Jetzt haben vier Mann das Haus drei Stunden lang durchsucht«, protestierte er. »Null und nichts. Das einzig Verdächtige, das wir gefunden haben, sind ein Waschlappen, der laut Karianne ins Chlorbad gehört, und zwei Softpornos unter dem Bett des Knaben.«

»Wo stecken die eigentlich?«

»Wer?«

»Die Kinder. Wo sind sie, und wer kümmert sich um sie?«

»Ach, die Kinder. Der Älteste ist auf Klassenfahrt in Prag. Die beiden anderen sind mit einer Tante oder so am Mittelmeer. Dem Teufel sei Dank, sag ich da nur. Gut, dass sie gestern Abend nicht hier waren. Alles ist unter Kontrolle. Pastoren und Psychologen sind auf Staatskosten schon auf Reisen gegangen. Wir gehen davon aus, dass die Kinder im Laufe des Wochenendes nach Hause geholt werden.«

»Arme Wichte«, murmelte Hanne und hockte sich vor den Kamin in Staatsanwalt Halvorsruds Wohnzimmer. »Du musst sie vernehmen, du. Wo du so gut mit Kindern umgehen kannst.«

»Wieso Kinder? Das sind doch schon Teenies.«

»Hier waren einfach zwei Sicherungen durchgebrannt.«

Mit steifen Bewegungen richtete Hanne sich auf und merkte, dass ihr linker Fuß eingeschlafen war. Sie stampfte leicht damit auf und drehte sich zu einer Kollegin um, die sie noch nie gesehen zu haben glaubte.

»Ganz von selbst? Ich meine, aus natürlichen Ursachen? Überlastung?«

»Schwer zu sagen«, erwiderte die Oberwachtmeisterin mit einem Eifer, über den Hanne sich ärgerte. »Der Sicherungskasten ist von der modernen Sorte. Solche Ewigkeitssicherungen, weißt du, wo einfach ein Schalter hoch und runter geklappt wird. Aber natürlich kann jemand das Erdgeschoss ganz bewusst in Dunkelheit gestürzt haben.«

Es ging jetzt auf den Abend zu. Hanne spürte, dass sie sich dem Punkt näherte, wo sie ohne Pillen unmöglich schlafen konnte. Früher hatte sie drei Tage durchgehalten, mit nur einem kurzen Nickerchen dann und wann. Auch das hatte sich verändert. Eine durchwachte Nacht wie die vergangene, und der Körper sagte am nächsten Tag dann einfach Schluss, aus. Sie unterdrückte ein Gähnen.

»Was den Computer im Arbeitszimmer angeht«, sagte die Frau in der Türöffnung. »Da ist etwas … seltsam, könnte man sagen.«

»Seltsam.«

Hanne schaute die Oberwachtmeisterin an und wiederholte: »Seltsam. Na gut. Und was ist so seltsam?«

»Er ist ganz leer«, sagte die Frau und errötete.

»Und das bedeutet?«

»Na ja, was es bedeutet …«

Die Frau wand sich. Und war noch immer rot. Aber sie gab nicht auf.

»Es ist seltsam, dass ein Computer, der vielbenutzt aussieht, mit schmutziger Tastatur und Fingerabdrücken auf dem Bildschirm, rein gar nichts enthält. Nichts. Nicht eine einzige Textdatei. Von der Festplatte ist außer den Programmen einfach alles gelöscht worden.«

»Das ist übrigens Holbeck«, Billy T. hielt plötzlich eine Vorstellung für angebracht. »Sie ist vor Kurzem vom Polizeidistrikt Bergen gekommen. Hanne Wilhelmsen.«

Er ließ die Hand in Richtung Hanne durch die Luft fegen.

»Mm.« Karianne Holbeck lächelte. »Weiß ich doch. Soll ich den Computer zu einer genaueren Untersuchung mitnehmen?«

»Kannst du das, ohne etwas zu beschädigen?«

Hanne Wilhelmsen wusste gerade genug über Computer, um einen Text schreiben und speichern zu können.

»Kein Problem«, versicherte Karianne.

»Sie war in Bergen IT-Verantwortliche«, sagte Billy T. so laut, dass Karianne es garantiert auch hören konnte. »Außerdem ist sie an die Wirtschaftskriminalität ausgeliehen worden, weil sie diese Geräte sehr gut kennt.«

Hanne nickte gleichgültig, riss sich dann aber zusammen und bedachte ihre neue Kollegin mit einem Lächeln. Es war zu spät. Karianne Holbeck war schon verschwunden.

»Jetzt schauen wir in den Keller, dann machen wir Schluss.«

»Na gut«, maulte Billy T. und stapfte hinter Hanne in den Flur und die Treppe hinunter.

Im Keller roch es nach Waschpulver und alten Gummireifen. Ein langer Gang mit vier Türen auf der einen Seite mündete in eine gut ausgerüstete Waschküche. Waschmaschine und Trockentrommel waren teure Miele-Modelle. Die schmutzige Wäsche, die auf einem braunen Resopaltisch lag, war in Stapel für Weiß, Bunt und Feinwäsche sortiert. Wände und Boden waren mit Fliesen bedeckt, und der Raum sah bemerkenswert sauber aus.

»Hier finden wir jedenfalls nichts«, sagte Billy T. und kratzte sich im Schritt. »Und ich krieg Genickstarre, wenn ich noch lange hierbleiben muss.«

Hanne achtete nicht auf ihn, sie ging in den Nebenraum. Wenn die Waschküche sauber und ordentlich gewesen war, dann war es hier umso chaotischer. Vermutlich war es früher einmal eine Art Werkstatt gewesen; darauf wiesen eine Hobelbank und Werkzeug an der Wand hin. Aber es musste ziemlich lange her sein, dass jemand hier sinnvolle Arbeit verrichtet hatte. Zwei alte Fahrräder lehnten an einer Querwand, drei abgenutzte Autoreifen, die auf braunen Papplatten aufgestapelt waren, versperrten den Blick auf den Fußboden. In einer Ecke stand ein eingestaubter Weinballon, es lagen alte Kleider und zerlesene Taschenbücher, ein Dreirad und das Untergestell eines Kinderwagens aus den Achtzigerjahren herum.

»Hier sieht es ja nicht gerade so aus, als ob jemand gründlich gesucht hätte«, sagte Hanne Wilhelmsen und tippte mit der Stiefelspitze einen schwarzen Plastiksack an.

Sieben Kellerasseln rannten los, um sich einen neuen Unterschlupf zu suchen.

»Ich habe ihnen doch gesagt, sie sollten sich den Keller noch einmal vornehmen«, sagte Billy T. vergrätzt. »Wir haben Leute für diese Arbeit, Hanne. Eine Hauptkommissarin braucht nicht im Dreck herumzuwühlen, zum Teufel.«

»Du hast es wohl nicht gesagt.«

»Was denn?«

»Du hast nicht gesagt, dass sie sich den Keller noch einmal vornehmen sollen. Was ist das hier?«

Ohne auf Antwort zu warten, stieg sie über das Dreirad. Sie beugte sich vor und machte sich an etwas zu schaffen, das Billy T. nicht sehen konnte.

»Und was haben wir nun hier«, sagte sie und richtete sich auf. »Ein Medizinschränkchen. Ein sehr altes Medizinschränkchen.«

»Ein offenes Medizinschränkchen?«, fragte Billy T.

Hanne Wilhelmsen hatte Plastikhandschuhe übergestreift und ohne größere Schwierigkeiten mit einem Taschenmesser das einfache Schloss aufgestochert. Jetzt hielt sie ihrem Kollegen das Schränkchen wie eine Schmuckschatulle hin.

»Mach du es auf«, sagte sie.

Obwohl Hanne Wilhelmsen das Gefühl gehabt hatte, dass Anhaltspunkte auftauchen würden, wenn sie die Villa der Familie Halvorsrud nur gründlich genug unter die Lupe nähmen, so war der Inhalt des abgeschabten Medizinschränkchens doch von der Sorte, die sie für fast eine halbe Minute verstummen ließ.

»Ja, verdammt«, sagte Billy T. schließlich.

»Das kannst du wohl sagen«, sagte Hanne.

In dem ungefähr einen halben Meter hohen und vielleicht vierzig Zentimeter breiten Schränkchen gab es keine Regalfächer mehr. Die waren entfernt worden, um dicken, in Plastikfolie gewickelten Bündeln von Geldscheinen und vielleicht fünfzehn bis zwanzig Computerdisketten Platz zu machen. Als Billy T. vorsichtig die obersten Geldscheinbündel herauszog, tauchten noch weitere auf.

»Mich interessiert ja wirklich, was unser Freund im Hinterhof dazu zu sagen hat«, sagte Billy T. und hielt sich ein Bündel unter die Nase, als wolle er sich die Antwort erriechen.

»Billy T.!«

Karianne Holbeck stand in der Tür und rang um Atem. »Schau mal! Ich dachte, es könnte sich lohnen, einen Blick in den Abfall zu werfen …«

Hanne Wilhelmsen schob unmerklich ihre Unterlippe vor und machte eine lobende Kopfbewegung.

»Und da lag das hier.«

Karianne Holbeck schien nicht so recht zu wissen, wem sie das Papier überreichen sollte. Billy T. half ihr aus dieser Klemme.

»Eine Benachrichtigung an die zuständigen Behörden, dass sie in Zukunft von ihrem Mann getrennt leben will«, sagte er und überflog den Rest des Formulars, das von Kaffeesatz und von etwas verschmiert war, bei dem es sich um Eidotter handeln musste.

»Unterzeichnet von wem?«, fragte Hanne an Karianne Holbeck gewandt. »Ich habe seit gestern Abend viermal mit Halvorsrud gesprochen, und er hat kein Wort von Trennungsplänen erwähnt.«