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In den späten und noch sehr heißen Abendstunden erkennt der Pilot einer Passagiermaschine im Landeanflug ein brennendes Kreuz in unmittelbarer Nähe des Düsseldorfer Flughafens. Eine bizarre und grausame Mordserie, zu der Kriminalhauptkommissar Michael Y. Brenner vom LKA Düsseldorf gerufen wird, beginnt. Die Ermittlungen lenken die Aufmerksamkeit auf die gehobenen Kreise Düsseldorfs und Neuss. Zudem führt ein alter Fall Michael und sein Team nach Amsterdam. Aber als wäre dieser Fall nicht kompliziert genug, erhält Michael eine persönliche Nachricht aus der Vergangenheit. War der tragische Tod seiner japanischen Mutter kein Unfall, sondern Mord?
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Seitenzahl: 350
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Jann Beek, 1967 im Münsterland geboren, lebt seit mehr als zwanzig Jahren im Rheinischen Düsseldorf und Neuss. Bevor er mit dem Schreiben begann, führte ihn sein Beruf als Ingenieur in die entlegensten Ecken dieser Erde. Seine gradlinige und dennoch atmosphärische Schreibweise reflektiert diese prägenden Eindrücke und interkulturellen Erfahrungen.
In den späten und noch sehr heißen Abendstunden erkennt der Pilot einer Passagiermaschine im Landeanflug ein brennendes Kreuz in unmittelbarer Nähe des Düsseldorfer Flughafens. Eine bizarre und grausame Mordserie, zu der Kriminalhauptkommissar Michael Y. Brenner vom LKA Düsseldorf gerufen wird, beginnt. Die Ermittlungen lenken die Aufmerksamkeit auf die gehobenen Kreise Düsseldorfs und Neuss’. Zudem führt ein alter Fall Michael und sein Team nach Amsterdam. Aber als wäre dieser Fall nicht kompliziert genug, erhält Michael eine persönliche Nachricht aus der Vergangenheit. War der tragische Tod seiner japanischen Mutter kein Unfall, sondern Mord?
Kapitel 1 – Am Airport
Kapitel 2 – Der Heimweg
Kapitel 3 – Das brennende Kreuz
Kapitel 4 – Die Ermittlung
Kapital 5 – Die Ruhe vor dem Sturm
Kapitel 6 – Der trockene Alltag
Kapitel 7 – Die Familie Brenner
Kapitel 8 – Ein wahrer Freund
Kapitel 9 – Jagdbegehung
Kapitel 10 – Die zerrstörte Freizeit
Kapitel 11 – Der Rückblick
Kapitel 12 – Die Familie von Cappenberg
Kapitel 13 – Abwechslung vom Alltag
Kapitel 14 – Der Sondereinsatz
Kapitel 15 – Michaels Alptraum
Kapitel 16 – Das Vorspiel
Kapitel 17 – Interessante Beweise
Kapitel 18 – Die Sühne
Kapitel 19 – Das Ende naht
Kapitel 20 - Die Spur führt ins Ausland
Kapitel 21 – Das schöne Amsterdam
Kapitel 22 – Wie alles begann
Kapitel 23 – Die einsamen Container
Kapitel 24 – Der Düsseldorfer Hafen
Kapitel 25 – Begleichung der Rechnung
In diesem Sommer, vom hohen Norden bis in den tiefsten Süden Deutschlands bestimmt eine sengende Hitzedecke das alltägliche Leben. Eine Decke, der man sich im Schlaf immer gern entledigt, aber es wird nicht kühler und man scheint gefangen. Es ist auch kein Ende in Aussicht. Tief schnaubend und schwitzend quält man sich durch die Arbeitsstunden des Tages. Auch heute neigt sich wieder so ein Tag dem Ende zu und die Sonne versinkt nur langsam am Münchener Franz-Josef-Strauss Flughafen. Wartende Passagiere, im eigenen Schweiß badend, jeder von ihnen wie eine Olive in einem Martiniglas, warten auf ihren Heimflug. „Sehr geehrte Fluggäste, Ihr Flug LH 204 von München nach Düsseldorf steht jetzt für das Boarding bereit. Wir bitten nun die Business-Klasse und Goldcard-Member einzuchecken. Wir entschuldigen nochmals die Verspätung und wünschen einen angenehmen Flug.“ Jetzt wird die Ansage auf Englisch wiederholt. Herr Hagemann ist nur noch genervt und will endlich einsteigen und nach Hause. Sein Arbeitsleben mit der ständigen Fliegerei wird augenblicklich nur dadurch erleichtert, dass er noch im Genuss der Frequent-Traveller Karte ist und er sich in der Regel noch länger in der Business Lounge aufhalten kann. Aber wie lange noch? Überall wird gespart. In seiner Firma war es bis vor einem Jahr noch Standard, dass Business geflogen wurde, heute schlägt man sich mit allen möglichen Airlines herum und man muss manchmal Angst haben einzusteigen. Wenn es dann mal wieder heißt:
„Wir bitten die Verspätung zu entschuldigen, aber unser
Flugzeug kam nicht rechtzeitig aus der Maintenance raus.“ Frei übersetzt heißt es, die alte Gurke haben wir noch mal notdürftig zusammengeflickt. Dieser Flug aus München ist ständig zu spät.
Ungehalten lässt er seine Bordkarte scannen und rennt im Laufschritt zur Maschine. Die Gangway ist ewig lang und gefühlt wird sie immer länger. Endlich, der Eingang der Maschine ist zu sehen und freundliche lachende Stewardessen begrüßen die Fluggäste. Er ist müde und passt nicht auf, knickt leicht um und unter leichtem Schmerz im Fußgelenk schafft er es zu seinem Sitzplatz. Hoffentlich hat niemand meine Dummheit bemerkt, denkt er. Leise fluchend greift er sich an seinen Knöchel.
„Oh Gott, morgen muss ich dringend ins Büro, ich kann jetzt nicht ausfallen!“
Im gleichen Moment schaltet Herr Hagemann den Hebel um und grinst in sich hinein:
„Geschafft, jetzt kann ich noch ein wenig schlafen. Trotzdem, es ist schon wieder 21:18 Uhr, gegen 22:30 Uhr werden wir erst in Düsseldorf landen und mit dem Auto nach Essen noch mal 35 Minuten.
Also schnell noch eine SMS an Sabine und die Kinder. Jetzt mache ich die Augen zu.“
Das war ein verdammt langer Tag. Mit dem ersten Flieger nach München und dem Seelensammler, dem letzten Flieger zurück. Dazu noch die Hitzewelle in Deutschland, das strengt an. Mit dem schon so oft gehörten Brummen der Turbinen, die in einen Singsang übergehenden Gespräche der Passagiere und das spätere Klappern der Getränke-Trolleys der Flugbegleiter nickt Herr Hagemann ein. Diesmal schläft er durch - bis nach Düsseldorf! Erledigt und geschafft vom Tag schläft er bis ihn die unsanfte Landung plötzlich aus seinen Träumen reißt. Er reibt sich durchs Gesicht und bringt seine Haare in Form, zupft sein Hemd und legt sein Sakko zurecht. Dann schaut er aus dem kleinen ovalen Fenster und reibt sich hektisch die Augen. Und da ist doch etwas. Auf einer Waldlichtung kurz vor dem Flughafen Düsseldorf ein riesiges brennendes Kreuz. Augenblicklich klingelt er nach dem Stuart, da offensichtlich keiner davon Notiz nimmt. Einige lesen oder sind in Unterhaltungen verstrickt. Der Stuart kommt und Herr Hagemann deutet aus dem Fenster und mit zittriger Stimme sagt er dem Stuart:
„Da brennt es, das gibt einen Waldbrand.“
Der Stuart entgegnet mit seiner gelassenen Art:
„Unser Captain hat bereits den Tower informiert. Die Feuerwehr ist bereits ausgerückt. Vielen Dank für ihre Mühe.“
Die Maschine LH 204 landet ohne Komplikation auf dem Flughafen Düsseldorf. Nach Verlassen der Gangway schlendern, stolpern oder rennen die Fluggäste des LH 204 durch einen fast menschleeren Flughafen zur ihren Autos oder Taxis. Nur einige Reinigungs- und Sicherheitskräfte sind noch unterwegs. Ulrich Hagemann wird wie immer nach Hause fahren, seine Frau Sabine liebevoll begrüßen und noch mal nach den schlafenden Kindern sehen, bevor er sich mit seiner Frau zu Bett begibt. Fragt sich nur noch, trinkt er am heutigen Abend noch ein kaltes Bier oder nicht?
Michael Yukki Brenner, Kriminalhauptkommissar im LKA Düsseldorf fährt mit dem schönen Gefühl jetzt Dienstschluss zu haben über die Rheinkniebrücke Richtung Oberkassel, um seinen Vater in Düsseldorf Heerdt zu besuchen. Das Schiebedach und das Fahrerfenster sind geöffnet und Michael genießt die sommerliche Hitze. Michael gehört zu den beneidenswerten Menschen, denen die Hitze so schnell nichts anhaben kann. Im Gegenteil, ist es mal unter 25 Grad, wird sofort der Sommer-schal zum Einsatz gebracht. Der sommerliche Spaßvirus hat ihn erfasst. Der Düsseldorfer Schmelztiegel der guten Laune ist halt ansteckend und kann so manches Mal über den trüben beruflichen Alltag hinweg helfen. Auch heute hat er das Gefühl, dass ihn nichts aus der Bahn werfen kann. Da schallt aus seinem Handy der Soundtrack von Magnum P.I. Eine Detektivserie aus den Achtzigern, die auf Hawaii spielte und der Hauptdarsteller Thomas Magnum seine Fälle in einer unnachahmlichen Naivität, aber auch kurzweiligen Art löste. Die markantesten Eindrücke aus dieser Fernsehserie der achtziger Jahre waren wohl der rote Ferrari 308 GTS und die absolut aufs Wort gehorchenden schwarzen Dobermannrüden Zeus und Apollo. Diese Serie hatte ihn durch seine Jugend begleitet. Dienstagabend, ARD, 21:15 Uhr schallte die Titelmusik von Mike Post und Pete Carpenter aus dem Philips Leonardo Röhrenfernseher in der Werkstatt seines Vaters. Zusammen schauten sie sich die Serie an und schwärmten immer wieder vom roten Ferrari.
Michael, so wird er von seinen Freunden und Kollegen in der englischen Aussprache gerufen weiß sofort, dass sein Dezernat anruft.
„Mist“, faucht er und schlägt mit der rechten Hand verärgert auf das Lenkrad.
„Jetzt ist es gleich zwölf und Dad wollte mir dringend noch etwas erzählen. Er wird enttäuscht sein“, schießt es ihm wie eine Kugel durch den Kopf. Er tippt die grüne Taste seines IPhones und schon gleich krächzt es durch die nachträglich installierte Freisprecheinrichtung.
„Michael, bist du es?“
„Wer soll hier wohl sein?“, entgegnet er in seiner bekannten, leicht schnodderigen Art.
„Du musst zum Flughafen fahren. Ein Brand mit Todesfall. Den Straßennamen sende ich dir auf dein GPS, ab da kannst du den Einsatzfahrzeugen der Feuerwehr folgen und sorry für den kaputten Feierabend.“
„Danke und kein Problem, du kannst ja nichts dafür. Ciao Jenny.“
Schon leicht besser gelaunt, verabschiedet sich Michael. Jenny ist ein Sonnenschein. Gerade hatte sie alle notwendigen Prüfungen bestanden und ist seit gut zehn Monaten bei der Truppe. Trotz ihres jungen Alters von 24 Jahren weiß sie ganz genau, wo ihre Stärken liegen und setzt diese gekonnt ein. Jenny ist ein Organisationstalent und nebenbei hat sie Charme. Sie ist nicht die klassische Blondine, nein, im Gegenteil.
Sie ist überdurchschnittlich groß, blond, ein wenig rund um die Hüfte und ihr Gesicht ist voller Sommersprossen. Im Gesamtpaket punktet sie mit ihrem Charme. Man kann es nur schwer beschreiben, sie vermittelt jedem einfach nur ein gutes Gefühl ohne irgendwelche Hintergedanken.
Gut, dass Jenny an Board ist. Seitdem sie da ist, ist die Stimmung nicht mehr im Keller und die Kollegen reißen sich mal zusammen. Michael beugt sich ein wenig nach vorn zu seinem IPhone und ruft nach SIRI.
„SIRI, Dad anrufen!“
Es klingelt, es klingelt ein zweites und ein drittes Mal, mit dem vierten Klingeln meldet sich eine ältere sonorere tiefe Stimme:
„Brenner Automobile, Eduard Brenner hier, womit ich kann dienen?“
Eduard Brenner ist Inhaber einer kleinen Kraftfahrzeugreparaturwerkstatt in der Pestalozzistraße in Alt-Heerdt.
Diese Werkstatt hat er von seinem Vater Heinrich übernommen und ist jetzt schon in dritter Generation in Familienbesitz. Da er durch den frühen Tod seines Bruders Hubert, der kinderlos geblieben war, eine größere Summe geerbt hatte, betreibt er seine Werkstatt nur noch als Hobby. Er widmet sich nun fast ausschließlich seiner Leidenschaft, dem Restaurieren von Oldtimern.
„Michael hier. Hallo Paps, wie geht’s? Alles klar?“
„Alles in Ordnung? Es ist spät. Bist du schon auf dem Weg? Wann bist da? Dann stell’ ich schon die Alten auf die Bank.“
Die Alten auf die Bank stellen bedeutet, dass sie sich in die Werkstatt setzen und ein Altbier trinken würden. Die Alten heißt übersetzt, zwei Flaschen Füchsen-Altbier auf die Werkbank stellen. Diese Floskel ist ihnen bei irgendeinem ihrer gemeinsamen Abende eingefallen, denn ihnen fiel keine Mehrzahl ein. Es heißt, das Alt oder das Altbier. Bei einer Bestellung in der Kneipe ruft man ein Alt, zwei Alt, aber eine Mehrzahl gibt es nicht und so das selbstkreierte Wortspiel. Dabei lachten die beiden damals so laut, dass sogar Leo der Zweite, ein achtjähriger Grautiger, erschrocken vom Sofa aufgesprungen war. Leo ist eine äußerst groß gewachsene Deutsche Dogge und war als Welpe das Geschenk von Michael an seinen Vater.
„Sorry, tut mir Leid, kann nicht. Hab gerade einen Anruf erhalten, Notfall, bin wieder im Dienst.“
„Alles klar. Schade, aber da kann man halt nichts machen. Rufst du morgen mal an?“
„Mach’ ich und schlaf gut.“
„Pass auf dich auf, Sohn!“
Mit dem schlichten Wort Sohn unterstrich Eduard Brenner immer, dass er fürchterlich stolz auf seinen Sohn Michael ist, aber es selbstverständlich nie so deutlich zeigen würde. Michael weiß aber dennoch Bescheid. Nach dem Tod der Mutter Tomoko vor Jahren waren die beiden noch inniger zusammengewachsen. Nicht dieser Vater und Freund - abgedroschene Plattitüde, nein eine tiefe Vater–Sohn– Liebe, fundamentiert auf gegenseitigem Vertrauen und Respekt. Das Vertrauen in die Stärken des jeweils anderen und den natürlichen Vater-Sohn-Respekt schmiedete ein unzerstörbares Band zwischen den beiden. Wie ein Stahlband aus einem Krupp Hochofen!
Tomoko Brenner, die Mutter von Michael war eine gebürtige Japanerin aus Tochigi der Provinz Shimotsuke und Absolventin der berühmten Keiko Universität in Tokio. Während des Studiums belegte sie die Wahlfächer Deutsche Sprache und Europäisches Wirtschaftsrecht. Ihr damaliger Gastdozent Professor Doktor Christoph Wolf der Universität Hannover verstand es wie kein anderer, die Studenten für diese doch recht trockenen Themen zu begeistern. Darüber hinaus gelang es ihm, den Studenten auch die verschiedensten Sichtweisen und in großen Teilen die unterschiedlichen Mentalitäten in der Europäischen Union nahe zu bringen. Tomoko freundete sich schnell mit der deutschen Mentalität an, da sie der ihren entsprach. Auch die Neugierde der deutschen Geschichte sowie die traurigen Verflechtungen beider Länder im zweiten Weltkrieg hielt sie für einen wichtigen Bestandteil des Grundwissens auf ihrer ganz privaten Wissensagenda. Als Austauschstudentin führte sie ihr Weg zur Rheinischen-Westfälischen Technischen Hochschule nach Aachen. Um ihr Sprachentalent nach dem Studium zu nutzen, trat sie nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften einen Job bei der Pharma Industries Deutschland in Düsseldorf an. Die Entscheidung in Deutschland zu bleiben fiel ihr schwer, aber bereut hatte sie es nie.
Michael verlässt die Rheinkniebrücke in Richtung Düsseldorfer Straße in Oberkassel. Am Ende der Düsseldorfer biegt er links in Richtung Heerdt auf der Belsenstraße ab. Kurz vor der Autobahnbrücke ordnet er sich rechts in Richtung des neuen Vodafone Centers ein und nutzt die brandneue Auffahrt auf die B7, Brüsseler Straße. Michael setzt noch das mobile Blaulicht auf das Dach und schaltet es ein. Das Blaulicht und die im Kühlergrill versteckten blauen Signallampen leuchten nun in Warnstufe auf. Da die Straßen frei sind, verzichtet er auf das Signalhorn. Nun tritt er aufs Gaspedal und zelebriert den klassischen Kickdown eines Automatikgetriebes. Der 320-PS-starke, Achtzylinder-Mercedes-Benz E 500, Baujahr 1994 kreischt leicht auf, um dann in den für diese Fahrzeugklasse typischen unnachahmlichen Angriffsmodus zu gehen.
Das Hinterteil des Fahrzeugs senkt sich leicht und die Hinterräder graben sich in die Straße. Wegen der Kurvenlage ist ein leichter Drift nicht zu verhindern. Und jetzt kommt der Daimler auf Fahrt und reißt förmlich den Asphalt auf. Wie bei einem Flugzeugstart wird Michael in den schwarzen Ledersitz gedrückt. Er genießt diesen Luxus, ungestraft so richtig auf den Pin zu drücken. Mit offenem Fenster und Stahlschiebedach in einer warmen Sommernacht durch Düsseldorf zu sprinten. Auf der Autobahn mit hoher Geschwindigkeit von A nach B zu jagen ist für ihn ein notwendiges Übel, aber den Anzug seines starken Achtzylinders deutscher Ingenieurskunst zu spüren, treibt sein Adrenalin in die Höhe.
Es war dasselbe Gefühl, dass er stets spürte, wenn er mit seinem Vater und seinem Onkel Hubert zum Nürburg Ring fuhr, um einige Runden zu drehen. Hierzu benutzen sie immer andere Fahrzeuge. Hubert Brenner hatte eine Mercedes-Benz-Vertretung in einem kleinen Ort in der Eifel. Zu jedem Renn-Event brachte er ein anderes Auto mit.
Mercedes-Benz S-Klasse, E-Klasse, 190er, SL, aber auch die Fahrzeuge der Konkurrenz wurden nicht verschont. Den größten Spaß bereitete ihnen das Testen im direkten Vergleich. Hierzu mussten sie Hubert von zu Hause abholen. Er wohnte mit seiner Frau Ingrid in einer am Waldrand gelegenen kleinen, aber feinen weißen 150 Quadratmeter großen Villa. Die Vierfachgarage war zu ebener Erde, sodass man zum Hauseingang eine Treppe hinaufgehen musste. Jedes Mal wetteten er und sein Vater, welche Modelle Hubert diesmal zur Testfahrt bereitstellen würde. Ein beeindruckendes Erlebnis war der Kampf in der Sportwagenklasse, der Mercedes-Benz SL 500, Baureihe R 129 gegen den Porsche 911, Baureihe 964. Es war wie ein Kampf mit dem Florett, geschmeidig, schnell und scharf. Michaels Geschmack tendierte damals deutlich zum Porsche. Das lag sicherlich daran, dass ein Porsche zur damaligen Zeit ein selteneres Fahrzeug auf der Straße war und deutlich mehr Jugend ausstrahlte. Der ultimative Showdown war dann der E 500, Baureihe E 124 gegen den BMW M5, Baureihe E34.
Hier war der Vergleich mit einem Breitschwertkampf nicht übertrieben.
Zwei Limousinen, die sich nichts schenkten, aber für den einhelligen Geschmack der Familie Brenner lag der Daimler vorn. Gerade jener E 500 Limited in Saphirschwarzmetallic befand sich dann später im Nachlass von Patenonkel Hubert. Michael ehrt dieses Auto, weil er so viele gute Erinnerungen mit ihm verbindet. Da dieses Auto sicherlich für Laien aussieht wie ein altes Mercedes Model der E-Klasse, so ist für Kenner sofort deutlich, mit welcher geballten Kraft er es zu tun hat.
Michael liebt es, wenn er von Halbstarken unterschätzt und an Ampeln oder Kreuzungen zu kleinen Sprintduellen gefordert wird. Nicht selten fällt ihnen die Kinnlade auf den Asphalt, wenn sie nur noch am Abgasrohr schnüffeln dürfen. Michaels deutlich junges und sportliches Erscheinungsbild steht im starken Kontrast zu seinem E 500. Aber gerade diesen Kontrast liebt Michael und spielt diese Karte bei jedweder Gelegenheit gekonnt aus. Er erreicht das Flughafen Areal und die freundliche Damenstimme aus dem Navi stöhnt ihm entgegen:
„Sie haben ihr Ziel erreicht. Das Ziel befindet sich links.“
Diesen kleinen Wunsch hatte ihm Bernhard erfüllt. Bernhard, ein Computer Ass, wohnt zurückgezogen in Ratingen, im Kreis Mettmann und er hatte die Stimme des Navigationsgerätes leicht modifiziert, sodass es sich fast anhörte als hätte man eine Sexhotline angerufen.
„Ich steh’ halt auf so was“, hatte Michael Bernhard nur gesagt, als der nur noch mit dem Kopf schüttelte und Michael davonfuhr. Da vorn ein Einsatzwagen der Feuerwehr, jetzt schnell dranbleiben, denkt sich Michael und reißt das Lenkrad rum. Ein Konvoy von Einsatzfahrzeugen jagt durch die dunkle und schwülheiße Nacht. Nach gut fünf Kilometern sieht er trotz der Dunkelheit die großen grauschwarzen Rauchwolken daher ziehen. Er nähert sich der Polizeiabsperrung und ein junger Beamter in Uniform schreitet strammen Schrittes zu seinem Wagen und leuchtet ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht.
„Mein Name ist Polizeimeister Thomas Meyfus. Ich kann Sie hier nicht weiterfahren lassen. Polizeiliche Sperrung zur Untersuchung eines Unglücksortes.“
Den letzten Satz fügte Polizeimeister Meyfus gerne hinzu, um neugierigen Schaulustigen die Nachfrage zu ersparen. Michael hält seinen Dienstausweis aus dem geöffneten Fenster und erwidert:
„Was haben wir denn da, Herr Polizeimeister? Können sie mir schon etwas sagen?“
Polizeimeister Thomas Meyfus richtet die Taschenlampe auf den Ausweis und nimmt schlagartig eine aufrechtere Haltung an.
„Tut mir leid Herr Kriminalhauptkommissar, ich habe nur gehört, es soll wohl eine ziemliche Sauerei sein. Für die Person kam leider jede Hilfe zu spät. Nur gut das der Flughafenverkehr schon eingestellt wurde und nicht gestört wird. Darf ich empfehlen, Ihr Auto dort drüben abzustellen. Sie wollen doch kein durchgeräuchertes Auto, oder?“
„Danke für den Tipp. Wie war noch der Name?“
„Polizeimeister Thomas Meyfus, Herr Kriminalhauptkommissar.“
Michael winkt ab und schaltet den Wahlhebel auf ‚D’ und fährt den Wagen beiseite. Zu Fuß in seinen neuen braun-weißen Sportschuhen macht er sich auf den Weg zum Ort des Geschehens.
„So ein Dreck. Meine neuen Schuhe“, brummelt Michael vor sich hin und läuft dabei im leichten Dauerlauf.
„Oh, das hätt’ ich mir ja denken können, die One-Man-Zombie-Abteilung des LKA betritt die Bühne“, so wird er von Herrn Polizeioberkommissar Konrad Burgmeister mit dem spottenden Unterton eines Altgedienten begrüßt.
„Dir auch einen schönen Abend, Konny. Was haben wir da?“
Michael und Konny kannten sich schon seit geraumer Zeit und der erste gemeinsame Fall einer okkulten Nazimördergruppe brachte ihm den zweifelhaften Namen der One-Man-Zombie-Abteilung ein. Michael nahm’s gelassen.
„So etwas habe ich in meiner 30-jährigen Arbeit noch nicht gehabt.
Grausam! Aber komm, mach dir ein Bild vom Tatort, bevor die Feuerwehr alle Beweise restlos vernichtet hat. Dann gebe ich dir die ersten vorläufigen Details.“
„O.k., geh vor.“
„Hier entlang“, sagt er und geht leichtfüßig voran.
Man möchte es kaum glauben, aber Konrad mit seinen 55 Jahren, 100 kg Körpergewicht bei 1,85 m Größe ist noch verdammt gut und schnell unterwegs, schießt es Michael durch den Kopf. Sie nähern sich dem Tatort und der Rauch nimmt deutlich zu. Plötzlich dreht sich Konrad um und fragt:
„Hast du die Ärzteausrüstung dabei?“
Damit meint er die Schutzkleidung zur Vermeidung der Tatortkontamination.
„Nein, sorry, war schon im Feierabend und nach dem letzten Einsatz habe ich es nicht wieder aufgefüllt.“
„Komm, da vorn steht Frau Dr. Layla, die rüstet uns aus.“
„Dr. Layla? Wer ist das? Heißt sie wirklich mit Nachnamen Layla?“
„Ach quatsch, aber ich kann mir den Nachnamen nicht merken.
Ich glaube, irgendetwas Arabisches. Aber der Vorname ist klasse. Kann man sich gut merken, oder? Sie ist unsere neue Pathologin und seit ungefähr 4 Monaten dabei.“
Frau Dr. Layla ist eine groß gewachsen, schlanke junge Frau. So in den Dreißigern schätzt Michael. Obwohl der Vorname aus dem arabischen Raum stammt - es heißt frei übersetzt, die in der Nacht geborene - war ihr Aussehen eher mit einer südeuropäischen Frau zu vergleichen.
Kastanienbraune Augen und ein leicht gebräunter Teint. Mehr kann Michael in der Dunkelheit, dem Scheinwerferlicht, dem Rauch und ihrer Schutzbekleidung nicht erkennen. Sie nähern sich der Pathologin und Konrad spricht sie mit einem überaus und für ihn nicht typischen Ton äußerst freundlich an.
„Hallo Frau Doktor, hätten Sie für uns beide noch zwei Sätze Schutzkleidung?“
„So freundlich? Was ist mit dir los? So kenn ich dich gar nicht“, zischt Michael Konrad zu und grinst ihn fragend an.
Vor dem noch dampfenden Bereich steht die Pathologin, mit dem Mundschutz schon auf den Halshöhe runtergezogen und lächelt die beiden Beamten an.
„Guten Abend die Herren. Dort am Einsatzwagen ist noch etwas.
Warten Sie, ich komme zu ihnen.“
Mit schnellem und sicherem Tritt ist sie bei Michael und Konrad.
„Hallo Konny. Guten Abend Herr …“
„Herr Kriminalhauptkommissar Michael Brenner, LKA Düsseldorf.“
Konrad oder für Frau Dr. Layla auch schon Konny, fühlt sich bewogen, ihn vorzustellen.
„Guten Abend Frau Dr. Layla oder wie darf ich sie ansprechen?“
„Dr. Layla Abd-al-Rahman, aber nennen Sie mich ruhig Dr. Layla oder nur Layla, Herr Kollege.“
„Aber nur, wenn Sie Michael zu mir sagen.“
„Ah, auch ein Kind mit nicht germanischem Ursprung.“
Dabei muss sie über ihre eigene Wortwahl schmunzeln und ihr Mund und ihre Augen zieren ein paar Lachfalten. Es ist deutlich zu sehen, dass sie ein lebensfroher, freundlicher Mensch ist. Was macht sie nur an einem so gottverlassenen Ort, fragt sich Michael.
„Meine Mutter ist Japanerin und mein Vater ist deutsch.“
Absichtlich verschweigt er, dass seine Mutter schon längst von ihm gegangen ist, um jetzt keine unnötigen Beileidsbekundungen entgegennehmen zu müssen.
„Willkommen im Klub, mein Vater kommt aus dem Iran und meine Mutter ist deutsch“, erwidert sie mit einem leichten Lächeln.
Layla dreht sich, wendet sich dem Einsatzwagen zu und öffnet schwungvoll die hinteren Türen des Mercedes – Benz in weißer Ausführung. Beim Öffnen schaltete sich automatisch eine großzügig dimensionierte Innenbeleuchtung an. Der Bereich des Vito gleicht einem fahrenden Labor, in dem sogar Operationen möglich wären. Auf der gegenüberliegenden Abtrennung zur Fahrerkabine ist ein kleines rechteckiges Fenster mit Schiebefunktion. Darunter, wie eingemeißelt, ein Regal mit unzähligen kleinen Schubladen aus durchsichtigem, leicht grünem Plastik, wie man es aus dem Krankenhaus kennt. Im Inneren kann man Einwegspritzen und weiteres medizinisches Einwegmaterial erkennen. Zur Linken ist eine Trage, falls wider Erwarten doch noch ein Mensch lebend geborgen werden könnte. Über der Trage befinden sich Vorrichtungen zur ersten ärztlichen Versorgung, wie der Tragearm für den Infusionstropf. Zur Rechten ist die Möglichkeit einzusteigen und sich in einem schmalen Gang zu einem ausklappbaren Sitz mit Gurt zu bewegen. In diesem Bereich unter der Trage sind größere Schubladen aus Edelstahl. Layla springt gekonnt in den Vito, setzt sich auf den Notsitz und öffnet eine der Edelstahlschubladen.
„Welche Größe Michael, L ist o.k.? Deine Größe weiß ich noch, Konny“, ruft sie und lacht wieder als wäre ihr Aufenthalt hier ein Familientreffen. Michael sah das Ganze positiv, vielleicht ist sie das einzige Licht in solchen dunkeln Stunden. Warum auch nicht.
„L ist klasse.“
Und schon fliegt ein Tatort-Schutzanzugs-Kitt SOCO Größe L durch die Luft. Michael fängt es locker mit einer Hand und sitzt sofort auf dem Heckrahmen des Vitos, um sich den Anzug anzuziehen. Das Kitt besteht aus einem Schutzanzug gemäß Euronorm und Deutscher Industrienorm gegen Partikel, Infektionserreger, Viren, Pestiziden und noch so einiges vieles mehr, was zur modernen Tatortermittlung wichtig ist. Jetzt zieht er sich die Überstiefel über seine Sportschuhe an, die Schutzmaske zieht er sich über den Mund bis zum Hals, wo sie zwecks weiterer Kommunikation erst einmal verbleibt. Die Schutzbrille wird wie eine Sonnenbrille auf dem Kopf gesetzt. Nun werden die blauen Nitril-Schutzhandschuhe übergestreift. Soweit fertig mit der Vorbereitung blickt er zu Konny rüber und da jetzt eine gewisse Uniformität besteht, wird er ihn gleich nur noch an seinem kleinen Bauch erkennen. Layla schaut sich die beiden Herren an und schmunzelnd fragt sie:
„Sind die Herren Kollegen einsatzbereit?“
„Alles klar, wir können. Bitte geh’ vor.“
Dabei richtet sich Michael aus der gebückten Haltung auf und zieht Mund- und Augenschutz auf. Konny winkt ab und setzt sich in Bewegung. Der Tatort befindet sich gut 150 Meter vom Einsatzwagen entfernt und führt sie durch hohes Gras, umgestürzte Bäume und abgebrochene Äste. Layla schreit ihren Kollegen zu:
„Passt bitte auf. Hier sind viele Hindernisse. Nicht, dass ihr mir auf die Nase fallt.“
„Hab es schon gemerkt. Hätte ich das gewusst. Meine Trekkingschuhe stehen zu Hause im Schrank“, faucht Konny.
„Ich schwitze, wie bei meinem letzten Marathon. Ist es noch weit?“, prustet Michael. Layla bleibt stehen und antwortet Michael:
„Gleich haben wir den halben Weg geschafft. Das, was ihr dann dort sehen werdet, habt ihr mit Sicherheit noch nie gesehen. Grausam, einfach nur grausam!“
Leicht kopfschüttelnd geht sie weiter. Man sieht es zwar nicht, aber das soeben kennengelernte, jetzt unter dem Mundschutz versteckte Lächeln scheint zu Stein zu gefrieren. Nach der Hälfte des Weges gelangen sie zu einer gut 1000 Quadratmeter großen Lichtung. Tannen, Birken und Eichen zeichnen ein düsteres mittelalterliches Bild, wie bei einer Hexenverbrennung. Die seit Wochen, auch nachts anhaltende große Hitze, der langsam anbrechende Tag und das verdunstende Löschwasser der Feuerwehr sorgen für ein Zwielicht. Wie Wanderer stapfen sie durch einen weißen Nebelsee zu ihren Füssen. Michael läuft jetzt der Schweiß kalt den Rücken runter. Nebel erstreckt sich über die Lichtung und in der Mitte steht ein gespenstig anmutendes riesengroßes Kreuz. Michael bleibt stehen und hält Konny am Ärmel.
„Was haben wir?“
„Nimm den ersten Eindruck und die Atmosphäre auf, wie ich es dir beigebracht habe“, antwortet Konny. Layla hat zwar nicht verstanden, was die beiden miteinander besprochen haben, bleibt aber auch neben ihnen stehen und schaut auf die Lichtung. Konny und Michael stehen wie Götzenstatuen kerzengerade, durchdringen die Lichtung und suchen den Tatort nach irgendwelchen Kleinigkeiten ab. Diese Details, die im Unterbewusstsein gespeichert werden, können in den meisten Fällen zur Lösung des Falls beitragen. Nach gefühlten zehn Minuten fragt Konny Michael:
„Was fällt Dir auf?“
„Das Kreuz ist so anders. Es sieht aus wie ein ‚T’.“
„Richtig, und was sagt dir der Ort?“
„Es sind hier mehrere Zeichen und Symbole zu sehen. Eins ist klar, der Tatort sollte gesehen werden, aber nicht zu früh. Aber warum?“
„Komm wir gehen näher ran. Dann wirst du es sehen.“
Konny schreitet mit Bedacht weiter und lässt wie ein Spürhund seine Nase und seine Augen nach allen Seiten wandern. Michael verharrt noch einen Augenblick in dieser bizarren Szenerie und folgt dann Konny. Da Layla den Tatort vor ihnen schon betreten hatte, erwartete sie die beiden zehn Meter vor dem Kreuz.
„Näher ran geht es noch nicht.“
Layla, Konny und Michael stehen gemeinsam vor dem Kreuz und mit einem tiefen Entsetzen betrachten sie das Bild des Schreckens. Aus dem Wassernebel ragt ein verbranntes Holzkreuz, bestehend aus Vierkantholzbohlen in T-Form. An dem verkohlten schwarzbraunen Holzkreuz hängt - man kann es auf die Entfernung nur schemenhaft erkennen - ein gekreuzigter und verbrannter menschlicher Körper.
Michael greift in die Tasche seiner Jeans und zieht aus der Gesäßtasche sein Diktiergerät. Dicht vor dem Mund haltend fängt er an die ersten Daten stenographisch in das Gerät zu sprechen.
„K-Akte, Nummer folgt – Düsseldorf, Donnerstag, 22.8.; 4:45 Uhr; Flughafen Düsseldorf, 2000 Meter tief im südlichen Waldgebiet der Ausläufer Lande- und Startbahn – Waldlichtung, Fläche circa 1000 Quadratmeter. Mittig der Lichtung ein Kreuz in T-Form. Das Kreuz ist circa drei Meter hoch und zwei Meter breit. An dem Kreuz ist ein menschlicher Körper befestigt. Kreuz und Mensch wurden verbrannt.“
Dann holt er tief Luft und fährt fort:
„Erste Eindrücke und Vermutungen. Leiche scheint männlich. Es sieht wie eine Kreuzigung aus. Frage. Ist die Form des Kreuzes beabsichtigt?
Recherche. Die Lage des Tatorts scheint bewusst so gewählt, dass die Entdeckung nicht zu früh geschah und somit der Körper verbrennen konnte. Zum jetzigen Zeitpunkt keine Hinweise auf Identifikation des Opfers oder Täter. Keine Zeugen ermittelt. Kein Fahrzeug oder Ähnliches aufgefunden.“
Konny dreht sich zu Michael. Mit einem verstörten Geschichtsausdruck fragt er:
„Hast du so etwas schon mal gesehen?“
„Nein, noch nie. Wer tut so etwas und warum? Das ist ganz klar von langer Hand vorbereitet worden. Hier ist kein Platz für Zufälle“, arbeitet Michael die ersten Eindrücke auf. Jetzt schaltet sich Layla ins Gespräch ein:
„Die SPUSI ist soweit fertig. Wir können näher rangehen.“
Konny muss immer schmunzeln, wenn der Ausdruck SPUSI genannt wird. Eine recht niedliche Bezeichnung für einen äußerst wichtigen Bereich der Beweissicherung. Die Beweise der Spurensicherung sind neben den Obduktionsbefunden das Fundament einer jeden Polizeiarbeit. Nach wenigen Metern erreichen sie das Kreuz. Auf Grund der noch großen Hitze müssen sie dennoch einen Abstand von gut eineinhalb Metern halten.
„Sehe ich das richtig? Ist der Körper an das Kreuz genagelt worden und mit einer Art Draht verschnürt worden?“, stellt Michael fragend in die Runde. Layla tritt vorsichtig näher ran:
„Definitiv. Nägel im Fuß- und Handbereich. Dazu noch gefesselt, mit Draht wahrscheinlich.“
Ein grausamer Anblick bietet sich den Dreien. Heruntergebranntes Fleisch an Armen und Beinen, teilweise sind Knochen schon sichtbar.
Der Körper ist nackt. Trotz der starken Verbrennungen und Verstümmelungen im Genitalbereich ist zu erkennen, dass es sich um eine männliche Person gehandelt haben muss. Das Gesicht und der Kopf sind schwarz runtergebrannt. Sämtliche Haare verbrannt. Leere Augenhöhlen starren die Drei an. Ein widerlich starker Geruch von Benzin und verbranntem Fleisch liegt in der Luft. Wie ein geheimes Zeichen und wie verabredet schauen sich Konny und Michael gleichzeitig an. Ein leichtes Kopfnicken und beide sind im Bilde.
Michael wendet sich Layla zu:
„Wir gehen jetzt, er gehört dir. Wann darf ich mit den ersten vorläufigen Ergebnissen rechnen?“
„Heute Abend. Sagen wir um 18:00 Uhr in meinem Büro“, entgegnet Layla. Michael und Konny nicken und verabschieden sich. Nach 30 Metern reißen sie sich die Masken und die Brillen vom Gesicht.
„Ich krieg bald keine Luft mehr!“, stöhnt Konny.
„Ich glaub mein Hamburger von gestern Abend will sich rückwärts verabschieden“, röchelt Michael mit einem leicht grünlichgelben Gesicht.
„Mach keine Dummheiten. Reiß dich zusammen“, stammelt Konny.
„Geht schon. Ich wollt’ dir nur einen Schrecken einjagen“, grinst Michael.
„Ist dir gelungen. Aber ganz ehrlich? Du siehst aber auch ziemlich übel aus.“
„Danke für die Blumen.“
„Komm lass uns hinter der Absperrung an deinem Wagen alles Weitere besprechen.“
Ihre Schritte werden deutlich schneller, als wären die Hindernisse vom Hinweg weggefegt worden. Hinter der Absperrung reißen sie sich die Schutzschuhe und -anzug vom Leib.
„Schau dir das an! Durchgeschwitzt bis aufs Hemd.“
Deutlich sieht man große nasse Flecken auf Michaels blauem T-Shirt.
„Egal, du musst doch ohnehin duschen und haust dich noch aufs Ohr oder nicht?“
„Klar, aber so durch war ich mit der Nummer noch nie.“
„Wo steht dein Wagen?“
„Da vorn. Komm ich habe noch Wasser im Auto.“
„Klasse!“
Vollkommen außer Atem und durchgeschwitzt erreichen sie den Daimler und Michael öffnet per Knopfdruck am Schlüssel den Kofferraum.
„Keine Sorge, dass Wasser müsste noch kühl sein. Ich hab’s kurz vor dem Einsatz aus der Kühltheke an einer Tankstelle gekauft.“
„Schwein gehabt.“
Michael wirft Konny eine PET-Halbliterflasche Wasser entgegen. Fast in einem Zug sind die Flaschen geleert und Michael fragt Konny:
„Wie sollen wir jetzt verbleiben? Rufst du morgen im Dezernat an und forderst mich an?“
„Ja, mach ich, wenn nur dieser dämliche Papierkram nicht wäre, in fünffacher Ausfertigung.“
„Ich dachte, ihr hättet jetzt wieder eine Assistentin eingestellt.“
„Stimmt, du hast Recht, gerade seit zwei Monaten. Die habe ich noch nicht auf dem Monitor.“
„Ja dann soll das wohl schnell gehen.“
„Dann ruf ich an, bestätige wie immer vorab per Mail und den Rest erledigt Frau Mai.“
„Hübscher Name.“
„Was ist daran hübsch?“
„Ach, du weißt, Wonnemonat und so.“
„Okay. Über den Fall sprechen wir morgen. Ich muss nach Hause. Ein Glas Whiskey und ab in die Falle.“
„So machen wir es. Also bis morgen 18:00 Uhr bei Layla im Büro.“
„Bis morgen.“
Dabei schaut Konny auf den Daimler und ergänzt:
„Du weißt, wenn du den Wagen verkaufen willst … Der gehört dann mir.“
„Ja, ja schon klar, jetzt hau schon ab!“ Konny lächelt, dreht sich um und trottet in Richtung aufgehende Sonne.
Auf der Waldlichtung laufen derweil die Untersuchungen der Spurensicherung auf Hochtouren. Und noch immer erschweren die drückende Hitze, der Löschnebel und der beißende Geruch verbrannten Fleisches die Untersuchungen. Wie ein Uhrwerk wird der standardisierte Prozess durchlaufen und sieht vor, dass die Lichtung auf Fuß-, Faser- und anderen Spuren abgesucht wird. Der Zugang zum Kreuz ist nun möglich, ohne weitere Spuren zu vernichten.
Durch den Einsatz des Löschwassers wurde ohnehin schon fast alles zerstört. Die Evakuierung des Leichnams beginnt. Da das Kreuz sehr groß ist, ist Polizeimeister Thomas Meyfus zu dem gut 5 Kilometer entfernten Bauernhof geschickt worden. Dort konnte er den Landwirt überzeugen ihnen seinen Traktor für den Tatorteinsatz zu überlassen.
Ein seltsam anmutender Anblick bietet sich den Kollegen der SPUSI, als sich Thomas mit einem knallroten Frontlader-Traktor vom Typ Massey Ferguson 595 A, Baujahr aus den späten Siebzigern, vorsichtig dem Tatort nähert. Er rangiert den Traktor auf die Rückseite des Kreuzes und hebt die Schaufel auf die Höhe des Querbalkens. Dort verharrt die Schaufel. Thomas stellt den Traktor in den Leerlauf und steigt mit einem gekonnten Schwung ab. Der Leiter der Spurensicherung, Hauptkommissar Meierhofer geht auf Thomas zu und teilt ihm in einem deutlichen Befehlston die weitere Vorgehensweise mit.
„So, wir werden nun mit Hilfe einer Leiter die Querbalken an der Schaufel befestigen. Wir lassen Spiel, sodass sich das Kreuz kontrolliert neigt. Ein Kollege wird mit der Kettensäge das Kreuz absägen. Auf unser Zeichen hin fährst du vorsichtig rückwärts. O.k.?“
„Alles klar. Wie sieht das Zeichen aus?“
„Ich werde den Arm langsam senken und in diesem Tempo fährst du rückwärts.“
„O.k., ich warte auf ihr Zeichen.“
Thomas nimmt wieder Platz im Traktorführerhaus und beobachtet mit scharfem Blick die Ereignisse direkt vor dem Traktor. Ein Kollege der SPUSI, bewaffnet mit einem großen Schutzhelm und einer Stiehl-Kettensäge, sägt behutsam einen Keil circa 30 cm oberhalb der Grasnarbe. Bei zunehmender Fertigstellung des Keils sengt Meierhofer den rechten Arm. Das bereits eingeschaltete Warnlicht signalisiert allen SPUSI-Mitarbeitern die Evakuierung des Leichnams. Thomas legt den Rückwärtsgang ein und lässt die Kupplung langsam kommen. Hinter dem Traktor sichert ein weiterer Kollege die Rückwärtsfahrt, denn Thomas hat beide Hände voll zu tun, die Schaufel zu bedienen. Das Kreuz lehnt sich mit einem starken Ruck gegen die Schaufel. Alle Beteiligten beobachten die äußerst bizarre Szenerie. Jetzt reißt an der gesägten Keilstelle das Kreuz ab und fällt mit einem weiteren Ruck auf den mittlerweile durch Löschwasser durchsumpften Waldboden.
Thomas rangiert den Traktor noch weitere 2 Meter, bis Meierhofer das Zeichen für Stopp erteilt. Das Kreuz befindet sich nun in einem 20 Grad Winkel, circa 1,5 Meter über dem Boden. An der Schaufel und auf dem Boden wird das Kreuz jetzt vorsichtig fixiert, um den toten Körper vorläufig zu untersuchen und dann zu bergen. Layla nähert sich mit ihrem Untersuchungskoffer dem Toten, stellt den Koffer ab und greift zu ihrem Diktiergerät. Damit die Schreibkraft in der Autopsie alles deutlich versteht, zieht sie den Mundschutz, wider besseres Wissen, ein wenig hoch und beginnt die Sichtuntersuchung.
Ihr zur Seite steht Meierhofer mit einer Spheron Scene Cam. Diese High-Resolution-Kamera ist seit gut einem Jahr erfolgreich bei der Spurensicherung im Einsatz. Die installierte Software ermöglicht eine dreidimensionale Darstellung. Weitere Features sind das Vermessen und die Darstellung sämtlicher Distanzen. Eine nahezu perfekte Tatortdarstellung ermöglicht so, im Nachgang weitere Kenntnisse zu gewinnen und Schlussfolgerungen zu ziehen.
Layla zeigt mit ihrem handschuhverpackten Zeigerfinger auf die zusammengebundenen Füße. Meierhofer, ein Mann mit anerkannt großer Erfahrung, startet die Fotoserie und bewegt die Kamera hierzu gekonnt in alle nur erdenklichen Positionen. Parallel diktiert Layla ihre Befunde in das Diktiergerät. Nach 35 Minuten gibt Layla das Zeichen zur Bergung des Körpers. Mit insgesamt vier Beamten wird der Körper von den Fesselungen befreit. Auch dieser Vorgang wird von Meierhofer peinlichst genau im Bild festgehalten. Auf Kommando wird nun der Leichnam vorsichtig angehoben und in einem schwarzen Leichensack auf die bereitgestellte Bahre gelegt. Der Reißverschluss wird zugezogen. Zwei Beamte heben die Bare an und setzen sich Richtung Leichenwagen in Bewegung. Layla verpackt ihr Material und folgt der Leiche in einem größeren Abstand. Am Fahrzeug angekommen, greift sie zu ihrem Handy und ruft in der Autopsie an:
„Kevin, bist du es? Ich versteh dich kaum.“
„Ja, hallo, wie geht’s?“
„Gut danke. Ich wollte nur durchstellen, dass das Opfer jetzt reinkommt. Bitte bereite schon mal alles vor.“
„Gut, bis gleich. Und guten Morgen wünsche ich noch.“
„Dir auch, bis gleich.“
Layla setzt sich auf die Wagenkante ihres Einsatz-Vans, wo sie sich schlangenartig aus ihrem Schutzanzug pellt. Es ist 6:37 Uhr. Layla setzt sich hinter das Lenkrad und fährt zurück in die Autopsie. Noch zwei Stunden Dienst, dann muss ich aber in die Falle, denkt sie sich und fährt los. Währenddessen verpacken und katalogisieren die Beamten der SPUSI sämtliche Spuren, die sich noch am Kreuz feststellen lassen.
Auch für sie endet nun bald eine lange Nacht.
Nachdem sich Michael auf den Weg zu seiner Wohnung gemacht hatte, sind nun wieder 3 Stunden vergangen. Er war verschwitzt in seiner neuen und von ihm selbst renovierten Eigentumswohnung in Düsseldorf Derendorf angekommen. Vor einem Jahr hatte er sich diese Wohnung in der Kühlwetterstraße geleistet. Sie ist nicht groß, nur neunzig Quadratmeter Wohnfläche, drei Zimmer, Küche, Bad. Er hatte die Wohnung in einem unrenovierten schlechten Zustand gekauft und sie von Grund auf modernisiert. Seine erste Aktion bestand darin, sich einen Abrisstrupp zu organisieren. Vier starke Kerle. Sie sahen aus, als hätten sie in ihrer Jugend in Anabolika gebadet. Innerhalb von einer Woche waren die Fliesen im Bad und in der Küche runtergeschlagen, die Tapeten entfernt und der PVC Fußboden entfernt. Dann begann für Michael die Kür, so nannte er es immer. Er entfernte vorsichtig und unter fachmännischer Anleitung seines alten Schulfreundes Andreas sämtliche Elektroleitungen, Wasser- und Abwasserverrohrungen.
Schon seit Kindesbeinen ist er mit Andreas Kruger befreundet.
Gemeinsam mit Andreas, der in diesem Metier tätig ist plante Michael sein neues Eigenheim. Durch Zwangspunkte im Bereich der Sanitärtechnik waren im Bad und Gäste-WC keine großen technischen Veränderungen möglich. Aber in der Elektrotechnik wurde nicht gespart. Die gesamte Wohnung Elektro- und IT-technisch voll aufgerüstet. In Sachen Ausstattung ließ Michael sich von Andreas Frau Marion beraten. Als Innenarchitektin hat sie Zugang zu sämtlichen Neuheiten und viele kreative Ideen. Das Ergebnis ist eine Wohnung, die Michael am liebsten gar nicht verlässt. Mit Glück hatte er vor kurzem noch eine Garage im Hinterhof des Nachbarhauses ergattern können und so war seine private Wohnqualität auf ein Optimum gestiegen. Es war äußerst lästig, jeden Abend eine halbe bis dreiviertel Stunde um den Block zu fahren, um einen Parkplatz zu finden. Seine Garage ist sogar so groß, dass er jetzt auch sein Motorrad sicher abstellen kann.
Vor seinem Mercedes Benz E 500 steht in der Garage eine Maschine der Marke Triumph. Seine Triumph Speed Triple R ist ein absolutes Monsterbike. In Phantom Black, 1050 Kubikzentimeter, 6 Gang Schaltgetriebe und 135 PS lässt Michael noch jeden Sportwagen stehen.
Somit hat Michael sich an der Düssel seine eigene kleine Komfortzone geschaffen, sein ganz persönlicher Rückzugsort. Der nächtliche Einsatz steckt ihm noch fürchterlich in den Knochen, da hilft auch die Dusche nicht. Die Bilder des brennenden Kreuzes gehen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er dreht sich im Bett. Es gelingt ihm, wenn auch nur in unregelmäßigen Abständen, ein wenig Schlaf zu finden.
D ie Sonne scheint in Michaels Schlafzimmer, langsam bewegt er sich zur Seite und schlägt die Augen auf. Der Morgen beginnt so wie die Nacht endete – heiß. Mit der rechten Hand greift er nach seinem Wecker. 13:16 Uhr, das ist gut. Nicht zu spät, ich kann noch in Ruhe aufstehen und etwas essen. Mit diesen Gedanken trottet er behäbig ins Bad, an dessen Lichtschalter sich ein Radio befindet, eingestellt auf den Sender Stadt Radio Düsseldorf. Ein gute Laune Song schallt aus dem Radio. Kid Rock, All Summer Long und hellt sein Gesicht auf. Er schaut in den Spiegel und spricht mit sich selbst:
„Oh Gott, siehst du scheiße aus. Selbst Kid Rock sieht besser aus. Mal sehen, was ich aus dir noch basteln kann.“
Sagt’s und greift zu seinem Langhaarrasierer. Seinen Dreitagebart stutzt er in die richtige Länge. Mit einem Nassrasierer zaubert er noch saubere Konturen in den Bart und noch Zähneputzen. In Shorts stolpert er auf dem Weg zur Küche über seine Sportschuhe, die er schlaftrunken im Flur hat liegen lassen.
„Mist, wie sehen die denn aus? Mit denen kann ich nicht in die Dienststelle“, flucht er vor sich hin, packt die Schuhe und stellt sie in die Dusche. Dann holt er sich schnell eine Bürste und schrubbt sie mit warmen Wassern sauber. An die Küche grenzt ein kleiner Balkon in den Innenhof. Er lehnt die Sportschuhe an die Hauswand und geht wieder in die Küche. Per Knopfdruck schaltet er seinen Kaffeevollautomaten an, nimmt eine kleine Pfanne aus dem Schrank und öffnet den Kühlschrank.
„Was haben wir da? Eier! Rührei mit Speck, das geht immer.“
Seine Gedanken schweifen im gleichen Moment schon wieder ab und er denkt an den Tatort. Er schüttelt den Kopf, als wolle er die Gedanken rausschütteln und jetzt noch nicht wieder reinlassen. Aus diesem Grund gewöhnte er es sich an, Selbstgespräche zu führen.
„O.k., was haben wir alles? Eier, Milch, Schnittlauch und Speckwürfel.
Passt!“
Mit einem Blick auf den Tresen sieht er noch zwei Roggenbrötchen vom Tag zuvor.
„Und ihr kommt noch in den Ofen.“
Er schaltet den Ofen an und geht von der Küche in sein Arbeitszimmer.
In der Ecke liegt ein brauner, abgegriffener Medizinball, der Michael förmlich anzuschauen scheint. Michael schnappt ihn sich, legt ihn sich zurecht und beginnt mit seinem täglichen Training. Drei Einheiten mit je 30 Liegestützen, bei denen er die Hände auf den Medizinball stützt und dann noch in der umgedrehten Variante. Fertig! Diese kleine Übung braucht er, um richtig in Fahrt zu kommen. Normalerweise gelingt ihm diese Übung ohne einen Schweißtropfen auf seinem Körper oder auf der Stirn zu vergießen, aber heute treibt es Wasser aus seinen Poren, als wären die Schleusen eines Stausees geöffnet worden.