Das alte Forsthaus - Klaus Gertig - E-Book

Das alte Forsthaus E-Book

Klaus Gertig

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Beschreibung

Ort der Handlung ist ein altes Forsthaus in Langerwehe, einem Dorf am Nordrand der Eifel. Ein Ehepaar ist mit ihren zwei Kindern Lena und Moritz vorübergehend dort eingezogen, bis ihr Neubau im nahegelegenen Baugebiet fertiggestellt ist. Auf dem Nachhauseweg werden die Geschwister Opfer einer Entführung. Was zunächst nach einer Geiselnahme mit Lösegeldforderung aussieht, offenbart im Rahmen der Nachforschungen des engagierten Großvaters nach und nach eine Verstrickung des organisierten Verbrechens mit dem Establishment. Hierbei geht es um etwas anderes als Erpressung. Doch warum wurden gerade ihre Kinder entführt und was ist mit ihnen geschehen? Dieses Rätsel zu lösen, erfordert viel Durchhaltevermögen und Opferbereitschaft von den Protagonisten.

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Seitenzahl: 810

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Klaus Gertig

DAS ALTE FORSTHAUS

Buch:

Ort der Handlung ist ein altes Forsthaus in Langerwehe, einem Dorf am Nordrand der Eifel. Ein Ehepaar ist mit ihren zwei Kindern vorübergehend dort eingezogen, bis ihr Neubau im nahe gelegenen Baugebiet fertiggestellt ist. Auf dem Nach-hauseweg werden Lena und Moritz Opfer einer Entführung. Was zunächst nach einer Geiselnahme mit Lösegeldforderung aussieht, offenbart im Rahmen der Nachforschungen des en-gagierten Großvaters nach und nach eine Verstrickung des or-ganisierten Verbrechens mit dem Establishment. Hierbei geht es um etwas anderes als Erpressung. Doch warum wurden ge-rade ihre Kinder entführt und was ist mit ihnen geschehen? Dieses Rätsel zu lösen, erfordert viel Durchhaltevermögen und Opferbereitschaft von den Protagonisten.

Autor:

Klaus Gertig ist 1959 in Rostock geboren, verheiratet und hat drei erwachsene Kinder. Er begann seine berufliche Laufbahn nach dem Studium bei der Zollverwaltung, ehe er 1990 an die RWTH Aachen wechselte. Hier war er zuletzt in der Universitätsverwaltung als Leiter der Abteilung für Beru-fungsmanagement tätig. Dem Schreiben widmete er sich bereits früh, es entstanden erste Vorlesegeschichten für seine Kinder, aus denen die Veröffentlichung des Bilderbuchs «Die kleine Kastanie» resultierte. Doch zur Veröffentlichung dieses Romans, dessen Anfänge bis ins Jahr 2009 zurückreichen, ist er erst nach seinem Ruhestand gekommen.

Klaus Gertig

DAS ALTE FORSTHAUS

Ein Kriminalroman

mit

Lokalkolorit

erzählt aus Sicht der betroffenen Familie

Texte: © 2025 Copyright by Klaus Gertig Umschlaggestaltung: © 2025 Copyright by Klaus Gertig Verlag:

Klaus Gertig

Grüntalstr. 11

52379 Langerwehe

[email protected]

Herstellung: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Köpe-nicker Straße 154a, 10997 Berlin

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:

[email protected]

Danksagung

Mein besonderer Dank gilt Martin, der meinen Drang, zu viele Füllworte zu benutzen, einfühlsam gebremst hat. Zu

Dank verpflichtet bin ich ebenfalls meiner Golfpartnerin

Gerlind Lühr für Ihren moralischen Beistand, insbesondere

bei kniffligen Szenen. Mein ausdrücklicher Dank gilt

natürlich auch meiner Familie, der ich viel Zeit vorenthalten

habe, um dieses Buch zu vollenden sowie ausdrücklich meiner Frau sowie ihrer Freundin Karin Jansen, die das

letztmalige Korrekturlesen übernommen haben. Ohne euch alle wäre dieses Werk nie zur Veröffentlichungsreife gelangt.

***

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfund-

en. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen

wären rein zufällig. Gleichwohl sind fast alle beschriebenen

Örtlichkeiten Realität und können anhand des Buches nach-

verfolgt werden.

***

Es ist nie zu spät für tätige Reue.

Prolog

Langerwehe, 19.06.2015

Maria Mülhausen fühlte sich weder lebendig noch tot. Ihr Leben bestand nur noch aus Routine. Sie hasste diese Routine, so wie sie alles hasste, was sie am Leben erhielt. Sie hasste diesen Mann, mit dem sie gerade am Frühstückstisch saß, hasste dieses Haus, ganz besonders dieses alte Forsthaus, in das sie vorübergehend gezogen waren, bis ihr Neubau weiter unten in Jüngersdorf fertig würde.

Sie hasste dieses Dorf, dieses Land; am meisten jedoch hasste sie sich selbst. Hasste sich dafür, dass sie lebte, leben musste, ohne Hoffnung und ohne Sinn.

Einen Monat war es nun her. Ein langer Monat des Weinens, des Betens, der Angst, des Hoffens, der Enttäuschung, der Wut, der Vorwürfe. Jetzt war sie leer, entkräftet von mehreren Ner-venzusammenbrüchen, schlaflosen Nächten, Antidepressiva und dieser alles verzehrenden Ungewissheit. Sie war nur noch ein Zombie, funktionierte wie eine Ameise, die nur ihren In-stinkten folgte - und sie wusste das. Selbst dafür hasste sie sich, hasste sich für diese Gefühlsarmut, die ihr die Kraft nahm, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Dann war da noch dieses Grauen. Sie wusste nicht, wie sie diesem Grauen entkommen sollte, das immer wieder in ihrem Kopf erschien. Die schrecklichsten Bilder und Vorstellungen, was ihren Kindern passiert sein könnte. Sie wartete nur noch, hockte vor dem Telefon und wartete. Wartete auf die Nachricht, die sie am meisten fürchtete: Die Kinder sind tot. Und doch konnte sie diesem Telefon nicht entrinnen, war ihm ausgeliefert, flehte es inner-lich an, endlich zu klingeln. Wenn dann tatsächlich jemand anrief, schreckte sie zusammen. Nie war es der gefürchtete, andererseits aber so erhoffte Anruf und sie beendete das Ge-spräch, um die Leitung wieder frei zumachen. Frei wofür?

Noch vor Wochen war Maria Mülhausen eine Frau, die mit-ten im Leben stand. 1,68m groß, oder wie sie zu sagen pflegte,

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klein, dunkel-, ja fast schwarzhaarig, mit klaren, rehbraunen Augen, einem dunklen Teint. Nicht wirklich schön im klassi-schen Sinne, aber durch ihr Lächeln und ihr offenes Wesen so einnehmend, dass jeder sie als hübsch bezeichnen würde. Die Fältchen an den Augen waren unübersehbar, daneben Lachfal-ten am Mund, ein paar Sorgenfalten in der Stirn und wenn sie sich ärgerte zwischen den Augen. Das Gesamtbild aber war immer noch stimmig. Sie gefiel sich, war mit sich zufrieden und strahlte das auch aus. Da störten ein paar Fältchen wenig. Sie hatte es aufgegeben, ihr lockiges dichtes Haar bändigen zu wollen, trug das Haar einfach offen und nur bei der Gartenar-beit zu einem Zopf gebunden. Sie war schlank, hatte sich je-doch in den letzten Jahren das eine oder andere Pölsterchen zugelegt. Da sie gerne kochte und aß, war dies kein Wunder. Es störte sie auch nicht wirklich. Trotzdem kokettierte sie damit, dass sie abnehmen müsse, legte Salattage ein und joggte zwei-mal die Woche mit ihrer Freundin Birgit durch die nahen Wie-sen und Wälder. Seit Moritz, ihr Sohn, in die Kita ging und Lena, ihre Tochter aus erster Ehe, auf das Gymnasium gewechselt war, arbeitete sie wieder ganztags. Durch ihren Lehrerberuf konnte sie beides, Familie und Beruf, gut mitein-ander verbinden. Sie hatte sich mit dem Leben auf dem Lande arrangiert, obwohl sie von Zeit zu Zeit eine unerklärliche Unruhe in sich spürte und den Trubel ihres früheren Lebens vermisste.

Mit dem Verschwinden der Kinder war sie mit einem Schlag

eine alte Frau geworden. Ihre Haare hingen stumpf herab, ge-beugt saß sie auf der Bank im Garten und starrte ins dunkle Nichts.

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Teil 1

Langerwehe, Dienstag, 19. Mai 2015 7:00 Uhr

Dieser Tag fing an wie jeder andere. Sie saßen gemeinsam an dem großen, alten, hölzernen Küchentisch beim Frühstück. Das heißt, Moritz stand mehr, als dass er saß und schaufelte sein Müsli in den Mund.

«Setz dich, Schatz. Du hast noch Zeit.»

«Isch muss noch meine Schalentafeln suchen.»

«Iss bitte erst den Mund leer. Was wolltest du sagen?», er-mahnte ihn seine Mutter.

«Meine Zahlentafeln. Ich brauche sie doch für die Schule.»

«Die habe ich schon in deinen Rucksack gepackt.»

«Du hast gar keine Schule. Du bist noch in der Kita», schal-tete sich seine Schwester Lena altklug ein.

«Oh wohl!», antwortete Moritz, «Ich bin in der Vorschule.»

«Das ist keine richtige Schule. Erst nach den Sommerferien kommst du in die richtige Schule. Als I-Dötzchen!»

«Mama, was ist ein I-Dötzchen?»

«So nennen die anderen Kinder die neuen Schüler, die in der ersten Klasse anfangen.»

«Und warum I-Dötzchen?»

«Weil sie die Buchstaben erst noch lernen müssen.»

«Ich kann aber alle Buchstaben. Und lesen und schreiben kann ich auch. Ich komme in die zweite Klasse! Birgit hat ge-sagt, wer schon lesen und schreiben kann und die Zahlen kann wie ich, kommt in die zweite Klasse.»

«Na, da schauen wir mal. Da haben wir auch noch ein Wört-chen mitzureden», meinte Jan, sein Vater. Lena schnitt Moritz eine Grimasse.

«Mama hat auch gesagt, dass ich in die zweite komme», in-sistierte Moritz und stampfte mit dem Fuß auf.

«Ich habe gesagt, ich bespreche das mit Papa», erklärte Maria streng.

«So, jetzt erst einmal Zähneputzen.»

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«Was ist das jetzt schon wieder? Ich dachte, wir wollten ihn

nicht springen lassen?», fragte Jan Maria.

«Ja, schon, aber Birgit hat mit der Schulleiterin gesprochen

und sie meint auch, es sei besser, wenn er im zweiten Schuljahr anfängt. Er langweilt sich im Ersten nur.»

«Birgit, Birgit, ich höre immer nur Birgit. Als ob eine

Kindergärtnerin das beurteilen kann. Und alles nur, weil du ihm schon alles beigebracht hast. Aber die anderen sind dann alle ein Jahr älter und Moritz ist nicht gerade der Kräftigste. Ich habe Angst, dass er in der Klasse keinen richtigen Anschluss findet.»

«Ich habe dir schon einmal gesagt, es heißt nicht mehr

Kindergärtnerin. Birgit ist Erzieherin und kann das sehr wohl beurteilen. Aber lass uns heute Abend darüber sprechen. Was anderes: Wir haben heute pädagogischen Tag. Es könnte spät werden. Kannst du heute Moritz von der Kita abholen?», fragte Maria.

«Wir sind heute auf Montage. Ist zwar nur in Kornelimünster.

Aber kann nicht Lena ihren Bruder auf dem Weg von der Schule abholen?»

«Du weißt, dass ich das nicht will.»

«Warum nicht? Das hat sie doch schon öfter gemacht.» «Die Straße ist einfach zu gefährlich. Am Weiherhof ist

letzte Woche ein Kind angefahren worden. Außerdem vertra-gen sich die Zwei im Moment nicht so gut.»

«Du übertreibst mal wieder.»

«Wenn es nicht geht, frage ich wen anders», entgegnete

Maria. Der ärgerliche Ton war unüberhörbar. Jan blickte in Marias Gesicht. Ihre Mimik hatte sich gewandelt. Die Augenbrauen schienen miteinander verwachsen zu wollen. Tiefe Falten bildeten sich dazwischen, die das zu verhindern suchten. Da war es wieder. Maria war in letzter Zeit so schnell auf 100. Außerdem meinte sie anscheinend, dass er noch nichts von ihren Eskapaden bemerkt habe. Von wegen pädagogischer Tag; er würde mit ihr reden müssen, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt.

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«Nein, nein», erwiderte er, «ist kein großes Problem. Ich bin bestimmt bis mittags fertig und fahre danach nicht mehr zur Werkstatt zurück», lenkte Jan schnell ein. Oben hörte man Radau.

«Aua, ich sage Mama, dass du....»

«Wehe!»

Moritz stürmte die Treppe herunter. Lena folgte ihm. Moritz sprang die letzten Stufen hinunter und schrie «Mama, Lena hat....»

«Du sollst nicht immer die Treppe herunterspringen. Was hat Lena?»

Lena schaute Moritz scharf an. «Zweeeerg!»

«Ach nichts», murmelte Moritz.

«Na dann los, ich bin spät dran.» Moritz stand schon mit dem Rucksack an der Tür. Jan hob Moritz an der Tür noch einmal hoch. «Alle Zahlen im Kopf? Sollen wir heute Abend wieder Schach spielen?»

«Au ja! Ich habe schwarz und wähle ich die Karo-Kann-Verteidigung.»

Jan lachte. «Mal langsam, vielleicht eröffne ich ja ganz an-ders.»

«Oh Pops, das wäre gemein.»

«Na dann, E2-E4.» Moritz strahlte über alle Backen.

«C7-C5. Ach ne, C7-C6.»

«D2-D4», antwortete Jan.

«C7-C5», schoss Moritz zurück. Jan tat, als ob er überlegte.

«Springer B1-C3.»

«D5 schlägt E4.» Moritz war sichtlich begeistert, dass sein Vater die Hauptvariante gewählt hatte.

«Springer C3 schlägt E4», antwortete Jan.

«Jetzt aber ab zum Kindergarten, weiter erst heute Abend.» Lena trat hinzu. «Spielen wir heute Nachmittag auch Schach?»

«Aber sicher», antwortete Jan, «vielleicht kannst du mich heute ausnahmsweise gewinnen lassen.»

«Aber nur beim Räuberschach», meinte Lena selig.

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Eigentlich war ihr Schach zu langweilig, aber seitdem Jan

Moritz das Schachspielen beigebracht hatte, wollte sie nicht mehr nur daneben sitzen. Dass Jan und Moritz Blindschach spielten, störte sie gewaltig, denn sie konnte zwar ganz leidlich spielen, die Notation interessierte sie aber ganz und gar nicht. Jan hatte auch Lena das Schachspielen beigebracht und obwohl sie das Spiel schnell verstanden hatte und eigene Strategien entwickelte, spielte sie lieber kommunikative Spiele. Moritz hingegen war ganz begeistert, als ihm Jan die Notation erklärte und ihm seine Schachbücher zeigte. Seitdem saß Moritz oft über den Schachbüchern und war danach in der Lage, ganze Partien aus dem Kopf nachzustellen. Da Moritz mit einer be-sonderen Merkfähigkeit ausgestattet war und zudem eine Be-gabung für Schach besaß, war der Schritt zum Blindschach klein. Für andere wirkte es abstrus, wenn Jan mit seinem sechsjährigen Sohn auf dem Spielplatz Schach spielte, ohne dass ein Brett vorhanden war. Wie ein Gespräch in einer Geheimsprache wirkten diese Momente. Meist kapitulierte Jan nach einer Reihe von Zügen und bat Moritz, zu Hause weiter-zuspielen, wobei Moritz dann das Spielfeld in der Grund-position aufbaute und alle bis dahin nur im Kopf ausgeführten Züge nachspielte. Moritz war dadurch schon zu einer re-gionalen Berühmtheit geworden, weil in einem Zeitungsartikel besondere kleine Talente vorgestellt wurden und das Talent von Moritz danach auch Eingang in die weitere regionale Presse fand. Sogar in der einen oder anderen überregionalen Zeitung war dies eine kleine Nachricht wert. Moritz gewann zudem die offene Stadtmeisterschaft in Aachen, die erstmals auch für Kinder unter 12 Jahren ausgetragen wurde.

Jan war das gar nicht recht und er bereute, ihn dort

angemeldet zu haben. Er wollte, dass Moritz möglichst unbes-chwert aufwuchs. Zu viel Aufmerksamkeit war dem seiner Meinung nach abträglich. Außerdem meinte Jan, dass es keiner besonderen Erwähnung wert sei, denn Moritz sei keineswegs ein besonders guter Schachspieler. Selbst seine Schwester würde ihn, wenn sie die Geduld aufbringen könnte, im Schach

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schlagen. Jan selbst hatte keine Schwierigkeiten, ein Spiel zu kontrollieren. Allerdings durfte man nicht auf irgendeine Finte hereinfallen, die in einem Schachbuch beschrieben stand. Die Spielstärke von Moritz hatte sich allerdings stark verbessert, seit Jan ihm einen eigenen Account auf lichess eingerichtet hatte. So konnte Moritz gegen den Computer oder auch mit anderen Schachspielern auf der ganzen Welt spielen. Obwohl seine Rechnerzeit von Maria streng limitiert wurde, war Moritz, objektiv beurteilt, gemessen an seinem Alter, ein herausragender Schachspieler.

Jan hatte Moritz vor allen Dingen mit Schachbüchern ver-traut gemacht, um ihn von sonstigen Zeitungen abzulenken. Moritz, nachdem er mit drei Jahren begonnen hatte, lesen zu lernen, verschlang alles, was er in die Finger bekam. So pas-sierte es mehrfach, dass er als Fünfjähriger über einer Zeitung hing und still vor sich hin weinte. Wenn man ihn fragte, warum er denn weine, sagte er, er könne nicht verstehen, warum die Menschen so böse sind und sich gegenseitig umbringen. Maria und Jan hatten deswegen des öfteren kleine Ausein-andersetzungen, wie Moritz am besten zu fördern sei. Er war der Meinung, Moritz sollte nur das lesen, was er verstan-desmäßig und emotional verarbeiten könne. Maria hielt dagegen, dass man Kinder nicht bremsen könne, ohne ihnen zu schaden. Ein normales Kind brauche eben im Schnitt sieben Wiederholungen, bis es etwas wirklich behält. Bei Moritz reiche das einmalige Erwähnen, falls etwas sein Interesse weckt. Dies gelte nicht für solche Banalitäten, wie: wo man denn seine Mütze vergessen habe oder warum man auf der Toilette den Klodeckel schließen müsse, pflegte sie dann zu sagen.

Aus diesem Disput heraus versuchte Jan, Moritz mit un-kritischen naturwissenschaftlichen Themen zu versorgen und brachte ihm Schach bei, um sein unruhiges Hirn zu beschäfti-gen. Jan hatte nicht erwartet, dass Moritz so hartnäckig Schachbücher lesen würde. Eine Lektüre, die er selbst in seinen

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besten Zeiten im Schachverein nur als Nachschlagewerk und später als Einschlafhilfe benutzte.

Jan war mit den Kindern am Auto angekommen und gab zu-

nächst Lena und dann Moritz einen Kuss. Maria kramte in ihrer Handtasche, sodass er nur einen kurzen Abschiedsgruß bekam. Nach dieser Verabschiedung setzte Maria Moritz ins Auto, um ihn zur Kita zu bringen. Lena stieg zu Jan ins Auto. Sie wollte mit dem Bus weiterfahren, andernfalls hätte ihre Mutter sie mit nach Düren genommen. An der Feuerwehr ließ Jan Lena aus-steigen, von wo es nur ein paar Schritte zur Bushaltestelle wa-ren. «Du, Pops?»

«Ja?»

«Als du Mom kennengelernt hast, wie war das?» «Wie, wie war das?»

«Na, wusstest du gleich, dass du dich in sie verliebt hast?» «Ja sofort. Wieso?»

«Und Mom?»

«Ich glaube, da hat es etwas länger gedauert.» «Typisch Mom. Dauert immer etwas länger, bis sie was ka-

piert.»

«Und wie heißt er?» Jan grinste Lena an. «Wie heißt wer?»

«Na der Glückliche, in den du dich verliebt hast.» «Du bist doof.»

«Komm schon, ich kann schweigen!»

«Gut, aber sag Mom ja nichts. Die denkt immer noch, ich

bin ein Baby.»

«Versprochen! Also wie heißt er?»

«Luca»

«Und wie weiter?»

«Nichts weiter. Einfach nur Luca.»

«Kein Nachname?»

«Mensch Pops, du fragst schon genauso wie Mom.» «Erzähl, was ist das für ein Junge. Aus dem Dorf?» «Ja, aber er ist erst dieses Jahr hergezogen.» «Seid ihr zusammen?»

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«Weiß nicht so richtig. Er hat gefragt, ob ich mit ihm gehen will.»

«Und, was hast du gesagt?»

«Noch gar nichts. Er hat mir gestern im Bus ein Briefchen gegeben.»

«Und, was sagst du?»

«Ich weiß nicht. Du Pops, wie merkt man das?»

«Was?»

«Dass man verliebt ist. Pops, du bist heute wirklich schwer von Kapee.»

«Entschuldige. Also es ist genauso, wie man sagt. Schmet-terlinge im Bauch und so. Du freust dich, wenn du ihn nur siehst und bist traurig, wenn du nicht mit ihm zusammen sein kannst.»

«Hmh»

«Hilft dir das weiter?»

«Kann schon sein. Aber er will immer nur Basketball spielen.»

«Und du nicht?»

«Ich kann es nicht so gut.»

«Das ist doch egal. Lass es dir einfach von ihm zeigen.»

«Er hat mich ja gefragt, ob ich morgen zum Basketball an der Schule komme.»

«Na dann, was hindert dich?»

«Meinst du wirklich?»

«Klaro»

Jan bekam einen Kuss auf die Wange und Lena lief beschwingt zur Bushaltestelle.

Nach dieser Verabschiedung fuhr Jan zu seiner Werkstatt. Zwei seiner Mitarbeiter waren bereits dabei, den Transporter für die Montage zu beladen. Ein schöner Auftrag, an dem sie seit Monaten arbeiteten. Ein alter Gutshof in Kornelimünster, der zu einer Dreigenerationen-Wohnstatt umgebaut wurde. Jan war mit allen Schreiner- und Tischlerarbeiten betraut. Da der Bau-herr, ein Architekt aus Aachen, den Charakter des alten

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Gebäudes unbedingt erhalten wollte, wurden trotz der vielen Umbauten im Innern alle Holzarbeiten nach historischen Vorlagen und Fertigungsweisen ausgeführt. Fenster mit Dop-pelflügeln und Fensterläden, die man auch richtig schließen konnte. Treppen- und Innenausbauten aus Holz, alles Maß-arbeit. Wenn Jan mehr solcher Aufträge hätte, müsste er sich weniger Sorgen machen. Leider war danach ziemlich Flaute mit Aufträgen. Zwar hatte er noch die Fensterinstallation für eine große Bauträgerfirma, aber aus Kostengründen hatte er die Fenster bei einer großen Fensterfirma bestellen müssen und die Akontozahlung des Bauträgers für die Vorleistung war bisher ausgeblieben. So fuhr Jan nur zu gerne mit zur Montage und ließ die wenige Arbeit in der Werkstatt für seine Mitarbeiter.

Maria war bereits an der KITA angekommen. Moritz sprang

schnell aus dem Auto, um irgendwelchen peinlichen Verab-schiedungsritualen zu entkommen. Schließlich war er ein Schulkind – so wurden im Kindergarten jedenfalls die Kinder genannt, die nach den Sommerferien eingeschult wurden – da war jedes Küsschen vor dem Eingang der Kita mehr als pein-lich. Maria rief ihm noch schnell hinterher: «Hör zu, Moritz, heute kommt Papa dich abholen. Sag bitte der Birgit Be-scheid.»

«Aber heute ist doch Max-und-Moritz-Tag.» Dienstags hatte Maria nur bis zur vierten Stunde Unterricht

zu halten. Daher fuhr sie nach der Schule regelmäßig noch am Supermarkt vorbei, um einzukaufen. Es war genügend Zeit, um Moritz rechtzeitig an der Kita einzusammeln. Lena, die in Düren das Gymnasium besuchte, stieg ebenfalls an der Kita aus dem Bus aus und sie fuhren gemeinsam nach Hause, wobei sie die Kinder regelmäßig bei Bolle aussteigen ließ und dann, nachdem sie das Auto geparkt hatte, den Weg bis Bolles Garten zu Fuß zurücklegte, um die Kinder abzuholen. Maria brachte meist Möhrenkraut und Kohlblätter vom Gemüsestand des Supermarkts mit, damit die Kinder die Meerschweinchen von Bolle, die sie Max und Moritz genannt hatten, füttern konnten.

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Die Kinder hätten sich so gerne eigene Tiere gewünscht, aber aufgrund ihrer und vor allen Dingen Moritz‘ allergischer An-fälligkeit kam das für sie nicht infrage. Zum Glück reagierte Moritz bisher nicht auf die Kaninchen und Meerschweinchen, sodass sie diese Besuche tolerieren konnte. Daher hatte Moritz den Dienstag ‚Max-und-Moritz-Tag‘ getauft.

«Sag Papa Bescheid, dann hält er bei Bolle an.»

«Aber dann habe ich doch gar kein Futter», erwiderte Moritz.

«Dann sammelst du eben Löwenzahnblätter. Frag Birgit, die wird dir schon welche zeigen können.»

Moritz stampfte mit seinem kleinen Bärchen-Rucksack in die Kita Spatzennest. Früher musste sie immer mit ihm hineingehen, ihm seine Pantoffeln anziehen und seine Jacke an den Haken mit dem Bananenaufkleber hängen. Dann klammerte er sich an ihrem Bein fest und wollte sie nicht gehen lassen. Sogar ein paar Tränen drückte er regelmäßig heraus. Wenn ihr Birgit nicht versichert hätte, dass Moritz gleich, wenn sie weg war, aufhörte zu weinen und in die Bauecke strebte, um der Erste dort zu sein, wäre ihr regelmäßig das Herz gebrochen. Seitdem er ein Vorschulkind war, war es damit vorbei. Nun durfte sie ihn nicht einmal mehr bis zur Tür bringen. So fuhr sie weiter zu ihrer Schule, dem Stiftischen Gymnasium in Düren, an dem sie Biologie und Mathematik unterrichtete.

12.30 Uhr

Sie war den ganzen Tag unruhig, ohne zu wissen warum. Nor-malerweise waren die pädagogischen Tage für sie eine wichtige Sache, aber diesmal empfand sie das Ganze als lästig. Viel-leicht lag es an den Vortragenden, jedenfalls konnte sie den Themen nichts abgewinnen, ihre Gedanken schweiften ab. Irgendwie bemerkte sie eine wachsende Unruhe in sich. Sie kannte sich zu gut, um nicht zu wissen, dass sich ihr Drang nach Veränderung, den sie in regelmäßigen Abständen spürte, wieder meldete. Ja, sie spürte, dass er wuchs und wuchs.

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Sie hatte gehofft, diesen Drang überwunden zu haben, einer jugendlichen Akne gleich, auf dem Weg ins Erwachsenensein abgeschüttelt, nur noch für Anekdoten am Frauenstammtisch gut. Aber sie hatte sich getäuscht. Lange hatte sie das Gefühl unterdrückt, es auf momentane Stimmungen geschoben, sich selbst eingeredet, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Ihr ging es doch gut, sie hatte einen wundervollen lieben Mann und zwei Kinder, die sie innig liebte und für die sie da sein wollte. Trotzdem hatte sie wieder dieses bekannte Gefühl, nicht frei atmen zu können. Dieses unbändige Verlangen, die Fesseln der täglichen Routine abzuwerfen und frei zu sein. Frei wovon? Das war ihr nicht klar. Frei von ihrem Lehrerberuf, dessen Stressfaktor in der letzten Zeit den Spaßfaktor erheblich über-stieg? Frei von den Pflichten einer Ehefrau, frei von der dunklen Wald- und Berglandschaft, die so auf das Gemüt drücken konnte? Frei von der kleinbürgerlichen Enge dieses Dorfes, in dem sie lebte oder gar frei von den Pflichten einer Mutter? Nein, nicht frei von ihren Kindern, dieser Gedanke war abwegig.

Grübelnd saß sie im Seminarraum. Hatte sie sich deshalb auf

das Abenteuer mit Hendrik eingelassen? Sie beteiligte sich kaum an irgendwelchen Diskussionen und wartete auf eine Pause. Mehrfach hatte sie ihre Kopfschmerzen erwähnt, um sich nun endlich abmelden zu können. Ihre Freundin Simone sprach sie an, als eine Pause kam.

«Was ist denn los, du warst ja heute vollkommen abwesend?

So kenne ich dich gar nicht.»

«Ach, heute ist einfach nicht mein Tag, die Migräne denk’

ich. Ich werde mich jetzt verabschieden.»

«Möchtest du eine Tablette?»

«Nein danke, ich hab‘ schon zwei genommen.» «Kommst du denn heute Abend zum Frauenstammtisch?» «Ich denke eher nicht, vielleicht, wenn ich die Kopf-

schmerzen noch loswerde.»

Maria war froh, als sie sich verabschieden konnte. Eigentlich

war es noch viel zu früh. Sie hatte vorgehabt, so lange wie

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möglich beim pädagogischen Tag zu bleiben, nun konnte sie ihre Unruhe nicht mehr zügeln. Stammtisch, nein da würde sie heute bestimmt nicht hingehen.

Eigentlich könnte sie die Kinder abholen. Wenn sie jetzt los-fahren würde, könnte sie es noch leicht schaffen. Jan kam ohnehin immer etwas zu spät. Sie würde ihn jetzt sicherlich noch auf der Baustelle erwischen.

Immer wieder musste sie sich anhören, was für einen tollen Mann sie habe und dass er sie auf Händen tragen würde. Das stimmte auch, aber irgendetwas fehlte ihr in ihrer Beziehung. Zum Beispiel machte es sie rasend, dass er immer zu spät kam. Auch hatte er keinerlei Interesse, mit ihr etwas zu unterneh-men, einmal ins Theater, ins Kino oder nur so in die Stadt.

Nachdenklich schaute sie auf ihr Handy. Es war 12:35 Uhr. War Hendrik der Grund für ihre Unruhe, grübelte sie. Sie horchte in sich hinein. Nein, sie liebte ihn nicht, er war nicht mehr als ein Abenteuer. Er WAR, echote es in ihr. Es wurde ihr bewusst, dass sie sich bereits entschieden hatte, es zu beenden. Sie würde es ihm nur noch sagen müssen. Das war wohl der Grund für ihre Kopfschmerzen. Zum Glück war Pause. Schnell verabschiedete sie sich.

13:30 Uhr

Moritz war begeistert, als Lena ihn abholen kam.

«Dann gehen wir bei Max und Moritz vorbei», rief Moritz fröhlich und wedelte stolz mit einem großen Bund Löwenzahnblätter, den die Kinder zusammen mit Birgit hinter der Kita am Flüsschen Wehe gepflückt hatten. Max und Moritz waren zwei schwarz-weiße Meerschweinchen, die bei Bolle im Garten bei den Kaninchen ihr Gnadenbrot bekamen und von Moritz heiß und innig geliebt wurden. So lief Moritz vor, Lena gemessenen Schrittes dahinter, sich der Verantwortung als Er-satzmutter durchaus bewusst. Aber auch sie freute sich auf einen Besuch bei den Tieren, da ihre Mutter einfach nicht

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davon zu überzeugen war, dass sie ein Tier ganz allein versor-gen könnte und sie davon gar nicht belastet würde.

«Moritz, nicht so schnell, an der Hauptstraße wartest du!»

Sie gingen den Spazierweg parallel zur Laufenburgstraße, der einer geologischen Störzone folgte, hinauf, bis eine kleine Gasse zwischen den Hecken zu Bolles Garten führte. Als sie am Gartentor ankam, hatte Moritz bereits ein Meerschweinchen aus dem Käfig geholt und saß mit ihm auf dem Rasen.

«Ist Bolle gar nicht da?», fragte ihn Lena, als sie den Garten

erreicht hatte.

Normalerweise kam Bolle immer heraus zu ihnen. Sie erzähl-ten ein wenig, außerdem hatte er häufig Süßigkeiten und Cola da. Besonders Moritz stand auf Cola, die es zu Hause nur zu Geburtstagen gab. Moritz beachtete Lena gar nicht, sondern streichelte weiter das Meerschweinchen und flüsterte dem Tier seine Geheimnisse zu.

«Hallo!», rief Lena Moritz ins Ohr. «Lena an Moritz, ich

habe dir eine Frage gestellt! Nicht gehört?» Moritz schaute mürrisch auf und murmelte: «Doch, aber er hat gesagt, er hat zu tun», und widmete sich wieder seinem kleinen Freund.

Lena nahm das zweite Meerschweinchen aus dem Stall, das

sie auf den Namen Max getauft hatte, obwohl es ein Weibchen war. Ihren eigenen Namen zu verwenden, war ihr zu kindisch. Max war einfach cooler. Sie setzte sich ebenfalls auf das kleine Rasenstück und fütterte Max mit ein paar Löwenzahnblättern, die sie von Moritz’ Vorrat nahm. Den hatte dieser natürlich am Kaninchenstall liegen lassen.

«Oh, gib mir auch ein paar», bat Moritz. «Hol dir doch selbst welche.»

Moritz stand auf, um die Löwenzahnblätter zu holen, während sein Meerschweinchen davon trippelte.

«Hallo!», rief Lena ihm hinterher, «willst du dein Meer-

schweinchen so herumlaufen lassen? Ich helfe dir nicht beim Einfangen.»

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Moritz kam zurückgelaufen und schnappte sich das Meer-schweinchen, das laut quiekte. Er hatte es etwas zu fest ge-packt, damit es ihm nicht noch einmal entwischte.

«Moritz, pass doch auf, du erdrückst es noch!» Sie reichte ihm zwei Löwenzahnblättchen, die Moritz gleich verfütterte und dabei mit dem Meerschweinchen schimpfte, weil es fortgelaufen sei.

Im Gartenhaus hörte Lena ein lautes Poltern. Bolle saß drin-nen in seiner Hütte am Tisch, eine leere Flasche seines selbst gekelterten Weins vor sich. Er war Selbstversorger, besonders was das Trinkbare betraf. Einen eigenen Brunnen hatte er sich gebuddelt, sein Wein war aus eigenen Trauben gekeltert. Na ja, nicht ganz. Die meisten Trauben stammten vom Großmarkt. Er bekam sie dort umsonst. Die eigenen Trauben allein wären viel zu sauer gewesen.

Die letzte Flasche selbst gebrannter Obstler neigte sich eben-falls dem Ende zu. In der Nachbarschaft ließen sie ihn gerne das Obst von den alten Bäumen schütteln. Die Hälfte der Früchte war madig, da wollten die Leute sie nicht mehr haben. Für seine Zwecke war das egal; im Obstbrand schmeckte man die Maden nicht mehr raus.

Bolle hatte die Kinder gehört. Viele Kinder kamen in seinen Garten. Seine Meerschweinchen und Kaninchen mussten auf die unterschiedlichsten Namen hören, weil alle Kinder, die zu ihm kamen, ihnen eigene Namen gaben. Er hatte nachgeschaut und erkannt, wer seinen Garten betreten hatte und sagte Moritz Bescheid, dass er keine Zeit habe und schloss sich ein.

Bolle mochte Kinder. Seine Kinder waren schon erwachsen und kamen ihn sehr selten besuchen. Bei Kindern verlor er seine Scheu, die er im Umgang mit Erwachsenen immer entwickelte. Da stotterte er auch nicht. Mit Kindern konnte er umgehen, mit ihnen konnte er reden. Besonders Lena und Moritz, die jetzt in seinem Garten waren, mochte er sehr. Sie waren erst kürzlich ins alte Forsthaus oberhalb gezogen. Moritz war ein aufgeweckter kleiner Bub mit einem unbändigen Wissensdrang, und Lena hatte eine besondere Art, die ihn

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rührte. In ihr spürte er einen Schmerz, der dem seinen sehr ähnlich schien. Heute wollte er nicht hinaus, um sich mit ihnen zu unterhalten. Wenn er getrunken hatte, was so früh am Tage sehr selten vorkam, ging er nie hinaus. Kinder mussten ihn so nicht erleben.

Heute war ein besonderer Tag. Kein besonders schöner Tag. Seine Frau würde ihn gleich abholen kommen. Er sah auf die Uhr. Es war noch etwas Zeit. Kurz vor halb drei wollte seine Frau ihn holen. Er musste sich bald fertig machen. Trotzdem goss er sich noch einen Schnaps ein. Schließlich hatten sie einen Termin beim Anwalt. Das Trennungsjahr war vorbei. Vor gut einem Jahr war er ins Gartenhaus gezogen. Seitdem hatte sie ihn höchstens zehnmal aufgesucht, obwohl das Gartenhaus gerade einmal 50 Meter von ihrem schmucken Eigenheim entfernt war. Aber nun drängte sie. Neuerdings ging ein anderer Mann im Haus ein und aus. Sie dachte vielleicht, er würde das nicht sehen. Aber er sah es. Er sah alles. Hatte ja genug Zeit.

Er hatte sich immer eingeredet, dass es ihm nichts ausmachen

würde. Weil sie eine verdammte Hure wäre. Schließlich hatte sie ihn schon während der Hochzeitsfeier mit seinen beiden angeblich besten Freunden betrogen.

Ivo, einer von ihnen, mit dem er 30 Jahre auf dem Bau zu-

sammengearbeitet hatte, hatte ihn eines Tages ausgelacht, als er mit ihm über alte Zeiten fabulierte. Ivo hatte ihn darüber aufgeklärt, dass die Hochzeitsnacht Peter und ihm gehört hatte, weil sie es Elvira nach der Entführung auf der Hochzeitsfeier in einem Hinterzimmer der Bahnhofskneipe so richtig besorgt hätten, während andere zugucken durften. Das Lachen war ihm schnell vergangen. Da hatte ihn Ivo unterschätzt. Viele Leute unterschätzten ihn. Beide waren hinterher wegen Körperver-letzung genauer gesagt gefährlicher Körperverletzung ange-klagt worden. Bolle hatte Ivo das Nasenbein zertrümmert, derweil er auch nicht ungeschoren davongekommen war. Un-willkürlich befühlte er die Narbe am Rücken, die das Messer hinterlassen hatte. Unbändige Kräfte hatten die Wut in ihm

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entfesselt. Er hatte nicht einmal den Schmerz gespürt, als Ivo ihm ein Messer in den Rücken rammte. Und hätte man ihn nicht von ihm heruntergezogen, hätte er ihn wahrscheinlich erwürgt. Zum Glück war sein Verfahren wegen Volltrunkenheit gegen Zahlung einer Geldstrafe eingestellt worden.

Seiner Frau hatte er verziehen. Sie war damals völlig betrunken gewesen und hatte nie darüber gesprochen. Das alles war lange her. Dennoch war es eine schöne Zeit mit ihr gewe-sen, trotz allem. Deshalb tat es immer noch weh. Er goss sein Glas wieder voll. Schaute auf seine Uhr. Es war kurz vor zwei. Er ging zur Tür und öffnete sie. Die Kinder saßen auf der Wiese vor dem Kaninchenstall und hatten die Meerschweinchen herausgenommen.

«Hallo Kinder, setzt bitte die Meerschweinchen zurück. Ihr müsst jetzt gehen. Eure Mutter wartet bestimmt auf euch.»

«Hallo Bolle!», riefen die Kinder fröhlich.

«Nö», ergänzte Moritz, «die kommt heute später.» Bolle ging zu den Kindern, nahm die Meerschweinchen und setzte sie zurück in den Stall.

«Ihr müsst trotzdem gehen, ich bekomme gleich Damenbe-such.»

«Ach so, sag das doch gleich», sagte Lena mit einem ge-zwungenen Lächeln. «Komm, Moritz, wir wollen Bolle nicht stören.»

15:05 Uhr

Zu Hause angekommen, war Maria immer noch in Gedanken. Aber sie hatte sich entschieden. Der lange Spaziergang hatte ihr geholfen, ihre Gedanken zu ordnen.

«Ich werde ein wenig laufen gehen», dachte sie bei sich, als sie den Schlüssel ins Schloss steckte.

«Nanu, wieso abgeschlossen», murmelte sie und ging schnurstracks in die Küche, um an der dort befindlichen Familientafel zu sehen, ob die Kinder aufgeschrieben hatten,

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wo sie sind. Da stand nichts. Gleich beschlich sie ein ungutes Gefühl.

Das Haus wirkte so leblos, so abweisend. Keine Mitteilung in der gestochen scharfen Schrift ihrer Tochter und auch kein Zusatz ihres Sohnes in seiner krakeligen Kinderschrift. Wo er selten eine Gelegenheit ausließ, einen Kommentar auf die Tafel zu schreiben. Jetzt war sie leer. Vollkommen blank, so wie sie sie gestern geputzt hatte.

Die Tafel erfüllte eine wichtige Funktion in der Familie. Sie war sowohl Mitteilungsmittel für alle kleinen Aufträge und Bitten als auch Wunschzettel und Kummerkasten für jeder-mann. Jeder konnte hier aufschreiben, was ihm nicht passte oder was er sich wünschte. Meistens schrieb Moritz irgendet-was darauf. Zum Beispiel: «Keine Bohnensuppe mehr, lieber Fritten.» Nun war die Tafel leer. Leer wie das ganze Haus. Keine Unordnung, das Essen, das sie den Kindern hingestellt hatte, unberührt.

Sie lief hoch zu den Kinderzimmern. Nichts. Keine Schulta-

sche in der Ecke, keine Schuhe im Gang, keine Jacken, nichts. Weder in Moritz' noch in Lenas Zimmer. Die Kinder waren nicht nach Hause gekommen.

«Ruhig», ermahnte sie sich. Sie versuchte, Lena auf ihrem

Handy zu erreichen, aber das Handy schien ausgeschaltet. Dies beunruhigte Maria außerordentlich; hatte Lena das Handy ge-rade erst zu ihrem 12. Geburtstag geschenkt bekommen und trug es seitdem immer bei sich. Bisher hatte sie Lena stets darauf erreichen können.

Dann versuchte sie, Jan auf dem Handy zu erreichen. Sie

wusste, dass er auf Montage war, aber eigentlich hatte er ver-sprochen, die Kinder abzuholen. Sie wählte die Kurzwahl.

Sie konnte ihn nicht erreichen, wahrscheinlich hatte er keinen

Empfang. Das kam öfter vor, verdammte Eifel, verdammte Rückständigkeit. Zum Mond fliegen konnten sie, aber den

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Handyempfang in der Eifel zu gewährleisten, das war schein-bar zu schwer.

So wählte sie als Nächstes die Nummer der Kita. Birgit war sofort am Apparat.

«Hallo Birgit»,

«Hallo Maria»

«Hat Jan Moritz abgeholt?»

«Nein, Lena. Jan hatte angerufen, dass er es nicht schaffen würde. Und Lena kam pünktlich um halb zwei und hat Moritz abgeholt. Was ist denn?»

«Sie sind nicht zu Hause. Sie sind gar nicht angekommen. Die Tür war noch abgeschlossen.»

«Mach dir keine großen Sorgen, sie werden sicherlich noch irgendwo unterwegs sein. Wahrscheinlich sind sie bei anderen Kindern spielen oder sie sind zum Rossmann, Süßigkeiten kaufen. Das machen sie öfter.»

«Danke, Birgit.»

«Mach dir keine großen Sorgen. Sonst ruf mich nochmal an, falls sie in der nächsten Stunde nicht auftauchen.»

«Mache ich. Tschüss, Birgit.»

«Tschüss.»

Maria nahm ihr kleines Notizbuch heraus, in dem sie alle Telefonnummern von Freundinnen und Freunden von Moritz und Lena aufgeschrieben hatte, zu denen sie ab und zu spielen gingen. Nacheinander telefonierte sie alle ab. Aber niemand hatte die Kinder gesehen.

Nochmals wählte sie die Nummer von Jan. Diesmal hatte sie ein Freizeichen.

«Ja, Maria», meldete er sich. «Bist du schon zu Hause?»

«Ja, aber die Kinder sind nicht da. Du wolltest sie doch ab-holen.»

«Wie, die Kinder sind nicht da?»

«Nein, sie sind gar nicht nach Hause gekommen. Wo bist du denn?»

«Ich bin noch in der Werkstatt. Das dauert hier alles.»

«Wieso bist du in der Werkstatt?»

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«Ach, eine lange Geschichte. Am Auto waren zwei Reifen

platt gestochen. Dann habe ich den ADAC gerufen, aber die meinten, ich solle die Polizei informieren. Dann haben wir auf die Polizei gewartet. Das Fahrzeug musste zur Werkstatt ab-transportiert werden und jetzt stehe ich hier und warte darauf, dass mir endlich zwei neue Reifen aufgezogen werden. Aber wieso sind die Kinder nicht da? Ich habe Lena doch angerufen, sie solle Moritz an der Kita abholen.»

«Aber sie sind nicht hier. Keine Nachricht auf der Tafel. Das

Schloss war auch abgeschlossen. Sie sind gar nicht nach Hause gekommen.»

«Komisch. Sie wollten sicherlich noch bei Bolle die Meer-

schweinchen füttern. Heute ist doch Max-und-Moritz-Tag. Vielleicht sind sie noch dort.»

«Nein, da habe ich schon geschaut. Bei Bolle ist niemand,

auch nicht im Haus. Wo sollen sie denn sonst sein?»

«Ich weiß es auch nicht. Vielleicht auf der Baustelle. Moritz

guckt doch so gerne zu, wenn ein Bagger arbeitet. Ich bin be-stimmt in einer halben Stunde zu Hause. Falls die hier nicht aus den Hufen kommen, nehme ich mir einen Leihwagen.»

«Ja, beeil dich. Ich gehe sie suchen.»

«Gut, ich komme so schnell ich kann. Maria?» Aber sie hatte schon aufgelegt. Sie ging hinaus. Sie klingelte

bei den Petersens, deren Haus gleich unterhalb des Forsthauses stand. Moritz spielte dort gelegentlich mit deren Enkelkind und Herrn Petersen Fußball. Aber niemand machte auf. Sie schaute in den Garten. Sie öffnete das Gartentor und ging die paar Schritte bis zur Terrasse und rief nach den Kindern. Keine Reaktion. Daraufhin ging sie zurück und links den Weg hinunter zum Spielplatz. Vielleicht sind die zwei einfach auf den Spielplatz gegangen und haben die Zeit vergessen, ver-suchte sie sich selbst zu beruhigen.

Sie lief mehr, als dass sie ging. Der Spielplatz war leer.

Vielleicht sind sie zum anderen Spielplatz oder zur Baustelle? Sie lief den kurzen Weg dorthin und fragte die Bauarbeiter, ob sie ihre Kinder gesehen hätten. Die Männer kannten die Kinder

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gut, jeden Tag ging Jan mit den Kindern den Fortschritt an der Baustelle begutachten. Aber die Kinder waren nicht da. Sie klingelte bei allen Nachbarn, die sie kannte. Sie befragte alle Passanten. Niemand hatte sie gesehen. Sie eilte quer durch das Wohngebiet zum zweiten Spielplatz, den mit der Kletterwand. Aber auch hier waren keine Kinder. Vielleicht sind sie auf dem Spielplatz in Jüngersdorf. Weiter lief sie quer durch das Wohngebiet zum Spielplatz in Jüngersdorf. Dort spielten zwar Kinder, aber niemand hatte Lena und Moritz gesehen. Dann vielleicht bei den Pferdekoppeln? Dass sie daran noch nicht gedacht hatte. Da war Lena häufig, um die Pferde zu beobachten. Wieder nichts. Sie traf zwei Wanderer, die aus dem Wald kamen und befragte sie. Auch sie hatten die Kinder nicht gesehen.

Sie ging hinunter zur Kita, daraufhin den ganzen Weg wieder zurück. Sie befragte alle Passanten, die sie traf und schaute zum zweiten Mal im Garten von Bolle nach. Nichts. Zu Hause angekommen, merkte sie die kalte Angst in sich aufsteigen. Sie kannte dieses Gefühl, das so stark war, dass sie kaum dagegen ankämpfen konnte. Ihr Herz pochte wie verrückt. Sie versuchte sich zu beruhigen. Ihr Hals zog sich langsam zu. «Ich muss ruhig und strukturiert denken.» Sie wiederholte es immer wieder. Ein Mantra, um das auf-kommende Grauen, das sie bereits einmal fast um den Verstand gebracht hätte, zu zügeln.

16:42 Uhr

Endlich traf Jan ein. Er sprang aus dem Auto und stürmte zum Haus.

Den Schlüssel in der Hand stürzte er die kurze Treppe hinauf. Doch es dauerte lange, das Schlüsselloch zu treffen. Als er die Türe endlich auf bekommen hatte, rief er nach Maria, bekam aber keine Antwort. Er hetzte er die Treppe hoch zu den Kin-derzimmern, hoffte, die Kinder spielend in der Ecke sitzen zu sehen. Die Zimmer waren leer, beide. Er durchsuchte jeden

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Raum, selbst den Dachboden, danach den Garten, den Schup-pen. Nichts. Als er wieder ins Erdgeschoss kam, saß Maria vor dem Telefon wie die Maus vor der Schlange.

«Hast du schon bei ihren Freunden angerufen?» «Ja», sie deutete mit der Hand auf eine Liste, die sie erstellt

hatte, mit allen, die sie bereits erreicht hatte. Maria blickte Jan hilflos an. Jan hockte sich vor sie und redete beruhigend auf sie ein. Er sah sich die Liste mit den Telefongesprächen an und lobte sie, dass sie schon so viele Leute befragt habe.

«Es ist besser, wir lassen das Telefon frei, falls die Kinder

anrufen. Soll ich mit meinem Handy noch wen anrufen?»

«Ich hab alle angerufen. Alle, niemand hat sie gesehen.» «Wo hast du denn schon gesucht?»

«Überall», Maria antwortete nur noch monoton.

Jan versuchte, Maria zu beruhigen.

«Wahrscheinlich spielen sie irgendwo und haben komplett

die Zeit vergessen.»

Maria sprang auf.

«Ich gehe zum Rossmann.»

«Wieso das?»

«Birgit hat gesagt, dass sie dort vielleicht Süßigkeiten ein-

kaufen wollten. Vielleicht hat sie da jemand gesehen.»

«Ja, eine gute Idee. Wir fahren zusammen.»

Auch bei Rossmann konnte sich niemand an die beiden Kinder erinnern.

«Komm, wir fahren nach Hause. Vielleicht sind die Kinder schon wieder da und wir haben uns umsonst Sorgen gemacht.»

«Hoffentlich.»

Jan sah die Panik in Marias Augen aufsteigen.

Zu Hause angekommen, sprang Maria aus dem Auto und rief

die Kinder. Sie schaffte es nicht, die Tür aufzuschließen, sodass Jan ihr den Schlüssel aus der Hand nahm und die Tür öffnete. Wieder rief Maria die Namen ihrer Kinder, keine Reaktion. Maria rannte durchs Haus und suchte alle Räume ab. Verzweifelt kehrte sie ins Wohnzimmer zurück und ließ sich in den Ohrensessel fallen.

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«Die Kinder sind nicht da. Nicht da.»

Die Bemerkung klang verloren. Das Echo, das sie ihrer Be-merkung anfügte, war ein ungläubiges Stöhnen. Nun bekam auch Jan Angst. Er schaute noch einmal auf die Liste, die Maria von ihren Telefonaten angelegt hatte. Es waren tatsächlich alle aufgeführt, die ihm bekannt waren. Bei zwei Nummern war kein Haken dahinter, Petersen und Bollemann. Er würde es noch einmal versuchen. Aber falls da niemand zu Hause ist, werden auch die Kinder nicht da sein.

Er wählte die beiden Nummern. Wie zu erwarten, niemand zu Hause. Maria sackte immer mehr in sich zusammen.

«Ich rufe die Polizei an», sagte Jan.

Bei der Polizei dauerte es eine ganze Zeit, bis er zum richtigen Bearbeiter durchgestellt worden war. Der fragte, wie lange die Kinder schon verschwunden seien, versuchte sie zu beruhigen und sagte, dass er eine Streife vorbeischicken würde. Maria schaute Jan an.

«Ruf Papa an!»

Jan nahm sein Handy und wählte als Erstes die Nummer ihres Hausarztes, erklärte ihm kurz, was geschehen war und legte auf. Dann rief er seine Schwiegereltern an. Seine Schwiegermutter war gleich dran. Er erklärte ihr kurz, was passiert war. Er konnte ihre Bestürzung hören, obwohl sie kein verständliches Wort herausbrachte. Aber sie war eine praktisch veranlagte Frau, sie fragte nicht viel, sondern bestätigte, nachdem sie sich gefasst hatte, dass sie sich sofort auf den Weg machen würden. Jan war ihr sehr dankbar dafür.

Maria sprang auf einmal auf und wollte raus.

«Ich muss Moritz von der Kita abholen!» Maria sprach mit niemand besonders, sondern nur mit sich selbst. Jan lief ihr hinterher und hielt sie fest. Er fasste ihren Kopf und zwang sie, ihn anzusehen.

«Maria, hör zu, du musst hierbleiben. Falls die Kinder nach Hause kommen oder von jemanden gebracht werden. Oder falls sie anrufen! Lena hat ihr Handy mit. Falls die Kinder anrufen, willst du doch da sein!»

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«Ja, sie rufen an, sie werden anrufen, ich muss da sein.»

17:58 Uhr

Es dauerte eine Stunde, bis es klingelte. Jan machte auf, seine Schwiegereltern standen vor der Tür.

Elli fragte gleich: «Und?»

Jan schüttelte nur den Kopf.

«Oh Gott, oh Gott. Nicht die Kinder.» Tränen stiegen in ihre

Augen.

Ihr Mann schob sie durch die Tür und versuchte eine Ent-schuldigung: «Wir konnten nicht eher kommen, ich ... die Par-tei … . Verdammt, was rede ich. Was ist los? Junge, sag schon?»

Elli stürzte derweil ins Innere und weinend fielen sich Mutter

und Tochter in die Arme. Jans Schwiegervater, von allen wegen seiner früheren Tätigkeit beim Militär nur 'der General’ ge-nannt, rüttelte seinen Schwiegersohn, der immer noch kein Wort von sich gegeben hatte. Schließlich konnte er ihn dazu bewegen, zu berichten, was geschehen war. Der General versuchte sich einen Überblick zu verschaffen. Doch was er hörte, ließ seine Sorgen nur wachsen. Mit Mühe schaffte er es, einen besonnenen Eindruck zu vermitteln und seine Frau und seine Tochter so weit zu beruhigen, dass man mit ihnen reden konnte. Der General fragte, was sie bisher unternommen hat-ten. Elli kümmerte sich um Maria.

«Wir müssen sie suchen», meinte Maria. «Ja, richtig, Maria», sagte der General. «Aber es hat keinen

Sinn, dass wir jetzt planlos durch die Gegend laufen. Wir stel-len eine Suchmannschaft zusammen.»

«Ich muss Birgit anrufen», warf Maria ein. «Ja, mach das», sagte Elli. Es war wichtig, Maria aus ihrer

Lethargie zu reißen. Maria rief Birgit an. Aber es ging niemand ans Telefon.

Wenn sie nur Birgit erreichen könnten. Sie war die beste

Freundin von Maria, sie würde sie wahrscheinlich am ehesten beruhigen können. Birgit war schon in Vicht in der Kita die

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Erzieherin von Lena gewesen und hatte vor drei Jahren die Leitung der KITA in Jüngersdorf übernommen.

«Wir organisieren einen Suchtrupp. Maria, kannst du bitte alle deine Bekannten aus dem Dorf anrufen und bitten, bei der Su-che zu helfen.»

Der General wusste, dass es am besten war, Maria zu beschäftigen. Hoffentlich kommt der Hausarzt bald, sie hält nicht mehr lange durch, dachte er. Er schaute seine Frau an und wusste, dass sie gerade das Gleiche dachte. Jan rief seine Skatbrüder sowie seinen langjährigen Mitarbeiter Jupp an, der schon bei seinem Vater im Betrieb war und bat ihn, zu kommen, um an der Suche teilzunehmen.

«Selbstverständlich, hast du schon die anderen angerufen?»

«Nein, ich dachte ...»

»Dann mache ich das, wir sind in einer halben Stunde da.» Jan lief auf und ab.

«Ich fahre bei Birgit vorbei. Vielleicht fällt ihr noch etwas ein.»

Jan war froh, dass er etwas tun konnte. Nichts war schlimmer als machtlos zu warten. Jan fuhr zunächst zur Kita, vielleicht war Birgit ja noch da. Dort traf er nur eine Reinigungskraft an, die nichts wusste. Er bekam jedoch ungefragt die Adresse von Birgit, der Leiterin des Kindergartens genannt, die in Sche-venhütte wohnte. Eigentlich hätte er diese auch selbst wissen müssen, denn er war mit Maria schon dort gewesen. Wenn ihm die Reinigungskraft diese nicht genannt hätte, hätte er zu Hause nachfragen müssen. Sein Hirn war leer. War das schon Panik? Jan spürte, wie seine Muskeln zitterten. Seine Gedanken hingen in einer Schleife fest, Hitze stieg ihm in den Kopf. Er hatte das Gefühl, dass heißes Öl durch seine Adern fließen würde.

Wie ein Berserker fuhr er auf der Schönthaler Straße Richtung Schevenhütte. Am Ortseingang nahm Jan das Gas zurück und quälte sich in einem für ihn nun bleiernen Tempo bis zur Einfahrt des alten Hauses am Ende der Gasse, in der

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Birgit wohnte. Das Fahrzeug stand noch nicht ganz, da war er schon raus und wollte Sturm klingeln. Verdutzt suchte er eine Klingel an der alten Haustür, fand jedoch keine und so klopfte er energisch. Von innen erklang eine Stimme.

«Kommen Sie rein, die Tür ist offen.» Jan betrat einen langen dunklen Flur, an dessen Ende sich

die Küche befand, wie er sich erinnerte. Er suchte erst gar nicht den Lichtschalter, sondern stürmte auf den Lichtschlitz zu, der aus der angelehnten Küchentür durchblitzte. In der Mitte des Flures befand sich ein alter Küchenschrank mit einer ausladenden Arbeitsplatte, der als Schuhschrank und Garderobe genutzt wurde. Jan stieß mit der Hüfte an die vorragende Kante und fluchte. Birgit machte die Küchentür auf und rief überrascht:

«Hallo Jan, warum machst du denn kein Licht an? Hast du

dir wehgetan?»

«Entschuldigung, dass ich störe aber ...» versuchte Jan zu

erklären.

«Jan, stimmt etwas nicht? Sind die Kinder noch nicht wieder

da?»

Jan gehörte für sie zu der Art Männer, aus deren Gesicht sie

jederzeit lesen konnte. In diesem Moment hätte aber jeder ge-sehen, dass mit Jan etwas nicht stimmte.

«Hat Maria dich nicht angerufen?»

«Doch heute Nachmittag, sind die Kinder etwa immer noch

nicht aufgetaucht?»

«Nein, Maria hat schon versucht, dich noch einmal zu errei-

chen.»

«Ich bin gerade erst rein. Du weißt, ich bin die Frau ohne

Handy. Lena hat Moritz abgeholt. Du hattest mich deshalb ex-tra angerufen!»

«Ja, aber sie waren nicht zu Hause. Die Tür war noch abge-

schlossen, das Essen, das Maria ihnen hingestellt hatte, unbe-rührt.»

«Vielleicht sind sie gleich zu Freunden?»

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«Maria hat schon alle möglichen Freunde angerufen, außer-dem hätte Lena doch mit ihrem Handy Bescheid gesagt.»

«Vielleicht ist das Handy ja aus oder leer, oder sie hat keinen Empfang, das ist hier ja leider oft der Fall.»

«Das glaube ich nicht, das Handy hat sie erst vor einem hal-ben Jahr geschenkt bekommen, sie ist so stolz darauf. Aber das Handy ist ausgeschaltet, ich habe es selbst schon mehrere Male probiert.»

«Wir müssen sie suchen. Habt ihr schon die Polizei in-formiert?»

Jan nickte müde den Kopf. Irgendwie hatte er gehofft, dass Birgit etwas über den Verbleib der Kinder sagen konnte, dass irgendetwas passiert war und niemand daran gedacht hatte, sie zu informieren. Aber Birgit wusste auch nichts.

Birgit ihrerseits hatte längst eine dunkle Ahnung, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Lena war ein sehr ernstes Kind mit einem hohen Verantwortungsbewusstsein, die ihren Bruder immer zu beschützen suchte. Das Schicksal ihrer klei-nen Schwester Katrin, die am plötzlichen Kindstod gestorben war, hatte sie sehr geprägt. Moritz, der war ein Träumer, ein sehr intelligenter Träumer zwar, aber wenn er sich an irgend-einer Sache festgebissen hatte, dann vergaß er schnell Ort und Zeit. Ihn musste sie oft aus seiner Ecke holen, damit er mit den anderen spielte. Im ersten Jahr hatte er öfter eingenässt. Nicht, weil er nicht sauber war oder irgendwelche Probleme hatte, sondern weil er einfach zu beschäftigt war, um rechtzeitig zum Klo zu gehen. Noch heute hatte sie ihn zappelnd in seiner Ecke sitzen sehen und ihn aufgefordert, doch langsam einmal die Toilette aufzusuchen. Einnässen tat er zwar nicht mehr, aber sie machte das Gezappel nervös. Aber dass Lena mit ihrem kleinen Bruder einfach nicht nach Hause, sondern irgendwo anders hingehen und sich dann fünf Stunden bei niemand melden sollte, konnte sie sich nicht vorstellen.

Lena war sie nach ihrer Einschulung regelmäßig in der Kita besuchen gekommen, der Kontakt zu diesem bemerkenswerten

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Mädchen war nie abgebrochen, vielleicht auch, weil sie und Maria gut befreundet waren und ihr Bruder jetzt in der Kita war. Aber sie war sich sicher, auch ohne die Freundschaft zu Maria einen besonderen Draht zu Lena zu haben, wie sie in jedem Jahrgang zu ein oder zwei Mädchen eine besondere Bindung aufbaute. Kleine Seelenverwandte, wie sie diese Mädchen nannte. Einige Mädchen hielten über Jahre den Kontakt zu ihr und Lena war eine davon. Sie blieb oft über lange Zeit so was wie eine große Freundin. Sie wusste meist mehr über den Gemütszustand, die kleinen und großen Probleme der Mädchen als ihre Eltern. Daher war sie sich sicher, Lena gut einschätzen zu können. Lena war erst vor Kurzem bei ihr zu Besuch gewesen und Probleme mit ihren Eltern waren dabei kein Thema gewesen.

«Ich will nur gerade telefonieren, dann komme ich mit,

Maria kann sicherlich eine Unterstützung brauchen!»

Sie drückte eine Kurzwahltaste und sprach mit einer Kollegin.

«Wir haben für solche Fälle eine Telefonkette, wir treffen

uns mit allen, die erreichbar sind, gleich im Kindergarten», erklärte sie. «Jetzt fahren wir aber am besten zu euch nach Hause.» Sie gingen hinaus, Birgit zog die Tür nur zu. Auf Jans fragenden Blick antwortete sie: «Ich schließe nie ab, bei mir gibt es ohnehin nicht viel zu holen. Ich fahre mit dem eigenen Wagen, dann kann ich gleich zum Kindergarten, sobald alle versammelt sind.»

Als sie am alten Forsthaus ankamen, standen schon viele

Autos in der Straße, vor dem Haus war ein Streifenwagen ge-parkt. Innen ging es zu wie in einem Bienenstock. Birgit eilte zu Maria, die apathisch am kleinen Tischchen mit dem Telefon saß. Zwei Polizeibeamte in Uniform traten auf Jan zu. Doch der General kam ihnen zuvor.

«Gut, das du wieder da bist», sagte der General. «In zwei

Stunden wird es dunkel.»

Vor dem Haus und im Haus versammelten sich mittlerweile

alle Leute, die von Birgit, Jan und Maria alarmiert wurden, um

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an der Suche teilzunehmen. Es war eine ansehnliche Zahl zu-sammengekommen. Auch alle Mitarbeiter von Jan sowie seine Freunde aus Vicht waren gekommen.

Maria hatte sich bis dahin gut gehalten. Jetzt, wo andere die Initiative übernahmen, brachen alle Dämme. Ihre Fingernägel gruben sich in Jans Fleisch, Weinkrämpfe folgten auf Phasen, wo sie sich von Jan abstieß, um ihn mit den Fäusten auf den Brustkorb zu trommeln, ihm Vorwürfe zu machen und anzuschreien, um dann wieder schluchzend an Jans Brust zu fallen. Zwischendurch stammelte sie immer wieder Unverständliches, wobei nur die Worte «meine Schuld» und «Strafe» zu verstehen waren. Jan war völlig hilflos, konnte nichts anderes tun, als zu versuchen, Maria zu beruhigen, was ihm jedoch immer weniger gelang.

Schließlich griff Birgit ein. Sie hockte sich in einer der ruhi-gen Phasen von Maria vor sie und redete ihr gut zu.

Jan holte seine Messtischblatt-Karten von der Gegend, die er als Hobbygeologe zu Hause hatte, hervor und der General zeichnete Suchgebiete ein. Dann ging der General vors Haus und teilte die Anwesenden in Gruppen ein.

«Wer kennt sich in der Gegend gut aus und kann eine Gruppe übernehmen?»

Es melden sich zwei Männer und eine Frau. Er instruierte sie anhand der Karten über ihr Suchgebiet. Eine Gruppe übernahm die Ortshälfte links der Laufenburgstraße, die andere die rechte Ortshälfte von Jüngersdorf. Die dritte Gruppe sollte die Orts-mitte absuchen und möglichst viele Leute befragen.

«Ich gehe jetzt mit dem Rest der Leute hinunter Richtung Pferdekoppel und dann in den Wald. Die Polizisten machen mich wahnsinnig. Erst dauert es Stunden, bis sie hier sind und dann halten sie einen nur von der Suche ab», sagte der General an Jan gewandt und rief: «Alle, die mithelfen wollen zu suchen, mir folgen.»

«Ich komme mit», meinte Jan.

«Geht nicht, einer muss sich um die Polizisten kümmern, die haben tausend Fragen.»

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Der General rückte mit den restlichen Suchhelfern ab.

Die Wohnküche, eben noch mit vielen, ihm teils nur vom

Sehen bekannten Gesichtern gefüllt, blieb leer zurück. Ihr Hausarzt war gerade eingetroffen und kümmerte sich um Maria. Maria saß im alten Ohrensessel. Elli und ihr Hausarzt versuchten vergeblich, Maria von etwas zu überzeugen. Jan ging zu Maria, ignorierte den Beamten, der ihn ansprechen wollte. Maria schaute ihn jedoch nur vollkommen apathisch an.

«Ich hab ihr ein Beruhigungsmittel gegeben, aber sie will

sich nicht hinlegen», erklärte Rolf Hagenau, ihr Arzt.

«Jan, sprich du mit ihr.»

Jan versuchte sie anzusprechen.

«Ich muss hier sitzen bleiben, falls die Kinder anrufen.»

Jan versuchte nochmals sie zu erreichen, aber sie nahm ihn gar nicht mehr wahr.

18:30 Uhr

Während der General mit seinem Suchtrupp abrückte, blieb Jan mit den Polizisten zurück.

Die Polizisten waren ihm gefolgt und der uniformierte Beamte, den er vom Sehen her kannte, sprach ihn an.

«Herr Mülhausen, bitte, Sie müssen uns helfen. Wir haben

ein paar Fragen. Es ist schon fast dunkel, wir haben nicht viel Zeit.»

«Wenn es hilft, die Kinder zu finden, gerne. Suchen Sie jetzt

die Kinder?»

«Dazu sind wir ja hier. Aber dafür brauchen wir Informatio-

nen.»

Jan berichtete, seit wann die Kinder verschwunden waren und was sie bereits unternommen hatten, die Kinder zu finden.

Danach begann eine zermürbende Befragung über die Kin-

der, ihre Gewohnheiten, ob es Streit gegeben habe, ob sie schon öfter weggeblieben seien und welche Verstecke sie gege-benenfalls wählen könnten, ob irgendwelche Verwandte in der Nähe wohnen, die vielleicht noch nicht befragt worden seien.

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Ihre Verhältnisse im Allgemeinen, ob es mit den Kindern be-sondere Probleme gäbe und so weiter und so weiter. Jan verlor langsam die Geduld.

«Ich dachte, die Zeit drängt, wann fangen Sie endlich an zu suchen.»

«Keine Angst», antwortete der Beamte, «während wir uns hier unterhalten, ist der Kriminaldauerdienst bereits dabei, die Suche zu organisieren. Aber wir brauchen Ansatzpunkte, wo wir mit der Suche beginnen können. Nutzt Lena vielleicht den Computer?»

Der Beamte deutete auf den Laptop, der neben dem Telefon stand.

«Ja, gelegentlich».

«Dürfen wir den mitnehmen? Sie bekommen ihn morgen wieder. Vielleicht finden wir Hinweise, mit wem Lena in letzter Zeit in Kontakt stand.»

«Ja, in Ordnung.»

Jan kam das nicht wie eine Unterhaltung vor, eher wie eine Vernehmung.

Nach und nach kehrten die privaten Suchtrupps zurück, mittlerweile war es stockdunkel. Viele schüttelten nur unmerklich den Kopf.

«Morgen früh, sobald es hell wird, geht die Suche weiter», brachten sie noch heraus und schlichen mit hängenden Köpfen nach Hause. Obwohl es schon Mitte Mai war, wusste jeder, dass es empfindlich kalt sein würde in der Nacht. Die Vor-stellung, dass zwei Kinder, zwölf und gerade einmal sechs Jahre alt, irgendwo da draußen übernachten müssten, war schlimm genug. Doch die Ängste gingen auch in andere Rich-tungen. Schließlich war die Entführung und Ermordung der Kinder Tom und Sonja in der nur wenige Kilometer entfernten Stadt Eschweiler durch zwei Kinderschänder noch präsent. Jeder dachte beklommen daran, auch die Polizisten.

Gegen 23.00 Uhr kamen dann zwei Beamte in Zivil, von denen sich einer als Heinz Solowski, Kriminaloberrat der Kri-

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minalpolizei Aachen, vorstellte. Die Polizisten von der Polizeiwache übergaben den Laptop und verabschiedeten sich. Die Befragung ging nun von vorne los. Jan wurde ganz gegen seine Art laut und beschwerte sich, dass ihm jeder Polizist nur die gleichen idiotischen Fragen stellen wolle, statt seine Kinder zu suchen. Sein Schwiegervater kam, um Jan zu beruhigen, sprach mit den Polizisten, die sich bald darauf ebenfalls verabschiedeten. Sie übergaben Jan ein Kärtchen mit dem Namen ihrer Dienststelle, dem Kriminalkommissariat 12 des Polizeipräsidiums Aachen. Solowski ergänzte noch: «Rufen Sie uns gleich an, falls die Kinder wieder auftauchen. An-sonsten sehen wir uns morgen wieder.» Seine Schwiegereltern verabschiedeten sich ebenfalls und folgten den Polizisten nach draußen.

Mittwoch, 20.05.2015 06:00 Uhr

Tag eins nach dem Verschwinden der Kinder Morgens um sechs Uhr klingelte das Telefon. Die Polizei er-kundigte sich, ob die Kinder wieder da seien. Jan schrie ins Telefon: «Nein, verdammt, wann fangen Sie endlich an, die Kinder zu suchen?»

Er knallte den Hörer auf.

Langsam konnte man die Konturen des Waldes erkennen.

Die Sonne warf die ersten Strahlen auf Pier, auch wenn es noch eine Weile dauern würde, bis sie auch im Wald für genügend Licht sorgen würde.

Maria war trotz der Schlaftabletten erst gegen Morgen einge-schlafen und durch das Klingeln zum Glück nicht wach geworden. Jan ging hinunter und ließ seine Schwiegereltern rein. Dann ging er wieder hoch, um sich anzuziehen. Als er wieder herunterkam, fand er den General und seine Frau in der Küche. Elli kochte Kaffee und man sah an ihren Lippen, dass sie lautlos das Vaterunser betete. Der General deckte den Tisch.

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«Guten Morgen Jan», grüßte er und fast entschuldigend auf den Frühstückstisch zeigend: «Wir brauchen eine gute Grund-lage. Heute wird ein langer, schwerer Tag.»

Um halb acht standen Jupp, sein Altgeselle, Eva, seine Aus-zubildende und zwei andere Mitarbeiter seines Betriebes vor der Tür und klopften. Jan öffnete. «Entschuldigt, ich habe die Klingel abgestellt, Maria ist gerade erst eingeschlafen.» Den fragenden Blick beantwortete er mit einem kurzen Kopf-schütteln.

«Wir wollen mithelfen zu suchen». Eva hatte morgens schon mit Jupp telefoniert. Jan war noch gar nicht auf die Idee gekommen, im Betrieb anzurufen.

Niemand wagte, Jan direkt anzusprechen. Er wirkte so zer-brechlich, weiß wie Porzellan.

So war es der General, der sie hereinbat und in die Küche lotste.

Elli begrüßte die Ankömmlinge und stellte vier weitere Teller auf den Tisch. An ihren Augenringen sah man, dass sie kaum geschlafen hatte. Sie weinte still in sich hinein, ohne dass es sie daran hinderte, das Frühstück vorzubereiten.

Nach und nach trafen die Helfer ein. Der General übernahm es wieder, die Suchtrupps einzuteilen. Jupp half dabei. Beide hatten im Wohnzimmer ihr Hauptquartier aufgeschlagen. Sie hatten Karten der Gegend ausgebreitet und wiesen den Such-trupps entsprechende Gebiete zu, die sie absuchen sollten und am vorherigen Tag aufgrund der Kürze der verbliebenen Zeit bis zum Dunkelwerden nicht berücksichtigt wurden. Auf ein-mal stand Maria in der Tür. Ohne darauf zu achten, dass sie nur mit einem Nachthemd bekleidet war, rief sie nach ihren Kin-dern und lief durchs ganze Haus. Elli und Jan konnten sie mit Mühe wieder ins Schlafzimmer bugsieren und Jan informierte ihren Hausarzt.

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10:00 Uhr

Gegen 10:00 Uhr erschien die Polizei. Ein Streifenwagen fuhr vor, gefolgt von zwei Zivilfahrzeugen. Mittlerweile hatte sich herumgesprochen, dass es sich um die Enkelkinder einer hoch gestellten Person aus Aachen handelte. Entsprechend vor-sichtig agierten die Polizisten. Einer der Beamten stellte sich als Gert Bachmann, Leiter des K12 vor. Während sich zwei Beamte beim General einen Überblick über die bereits gelaufene private Suche verschafften, sprach er mit Jan.

«Wir werden auch mit Ihrer Frau sprechen müssen.» «Sie schläft noch, sie hatte wieder einen Nervenzusammen-

bruch. Ihre Mutter ist oben bei ihr. Der Arzt kommt gleich.»

Die Polizisten zogen sich zurück und sprachen ihr weiteres

Vorgehen ab. Die Beamten sollten die Nachbarschaft befragen, sobald die Durchsuchung des Hauses fertig sei, Bachmann selbst wolle zur Kita und zur Schule von Lena und einer bliebe da, falls Frau Mülhausen ansprechbar sein sollte.

«Haben wir denn das Einverständnis zu einer Durchsu-

chung?»

«Das mach’ ich schon! Die Streifenpolizisten sollen die frei-

willigen Helfer unter die Lupe nehmen, oft hilft der Täter selbst bei der Suche. Vielleicht macht sich jemand verdächtig. Sobald die Hundertschaft eintrifft, will ich informiert werden. Jemand soll sich darum kümmern zu erfahren, was die Kinder anhatten und Bilder der Kinder erbitten», ordnete der Einsatzleiter an und ergänzte an einen Kollegen gewandt: «Ruf auch im Kom-missariat an, sie sollen schon mal eine Such- und eine Presse-meldung vorbereiten.»

Bachmann schaute hinüber zu Jan und merkte, wie Jan immer

unruhiger wurde. Er wandte sich an Jan.

«Wissen Sie noch, was Ihre Kinder gestern Morgen anhat-

ten?»

Jan schaute hilflos. Er hatte seine Kinder gestern Morgen selbst verabschiedet, aber was hatten sie an? Er wusste es nicht. Mit einem schuldbewussten Ausdruck schüttelte er den Kopf.

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