Das Babylon-Virus - Stephan M. Rother - E-Book
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Das Babylon-Virus E-Book

Stephan M. Rother

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Beschreibung

Ein Rätsel hält die Welt in Atem … Der fesselnde Thriller »Das Babylon-Virus« von Bestseller-Autor Stephan M. Rother als eBook bei dotbooks. Ein geheimnisvolles Rätsel, dessen Lösung selbst Einstein verborgen blieb? Seit Jahrhunderten sind Wissenschaftler seiner Lösung auf der Spur, nicht ahnend, dass dabei das Überleben der gesamten Menschheit auf dem Spiel steht … Als den jungen Restaurator Amadeo Fanelli ein Brief seines Freundes Professor Helmbrecht erreicht, zieht die kryptische Botschaft ihn sofort in ihren Bann: Was hat es mit dem abgewandelten Bibeltext über den Turmbau zu Babel auf sich? Er soll das Rätsel lösen, anderenfalls stirbt der Professor – ein verzweifelter Hilferuf! Tatsächlich ist Helmbrecht spurlos verschwunden, der Brief sein letztes Lebenszeichen … Für Amadeo beginnt ein gnadenloser Wettlauf gegen die Zeit! Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Thriller »Das Babylon-Virus« von Bestseller-Autor Stephan M. Rother. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Ein geheimnisvolles Rätsel, dessen Lösung selbst Einstein verborgen blieb? Seit Jahrhunderten sind Wissenschaftler seiner Lösung auf der Spur, nicht ahnend, dass dabei das Überleben der gesamten Menschheit auf dem Spiel steht … Als den jungen Restaurator Amadeo Fanelli ein Brief seines Freundes Professor Helmbrecht erreicht, zieht die kryptische Botschaft ihn sofort in ihren Bann: Was hat es mit dem abgewandelten Bibeltext über den Turmbau zu Babel auf sich? Er soll das Rätsel lösen, anderenfalls stirbt der Professor – ein verzweifelter Hilferuf! Tatsächlich ist Helmbrecht spurlos verschwunden, der Brief sein letztes Lebenszeichen … Für Amadeo beginnt ein gnadenloser Wettlauf gegen die Zeit!

Über den Autor:

Stephan M. Rother wurde 1968 im niedersächsischen Wittingen geboren, ist studierter Historiker und war fünfzehn Jahre lang als Kabarettist auf der Bühne unterwegs. Seit dem Jahr 2000 veröffentlicht er u. a. unter seinem Pseudonym Benjamin Monferat erfolgreich Romane für Erwachsene und Jugendliche. Der Autor ist verheiratet und lebt in einem verwinkelten Haus mit vielen Büchern und Katzen am Rande der Lüneburger Heide.

Stephan M. Rother veröffentlicht bei dotbooks ebenfalls:

»Die letzte Offenbarung«

»Im dunklen Holz«

»Sturmwelle«

Die Website des Autors: www.magister-rother.de/

Der Autor im Internet: www.facebook.com/stephan.m.rother/

***

eBook-Neuausgabe Mai 2019

Copyright © der Originalausgabe 2010 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Hibrida, Homo Cosmicos

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (aks)

ISBN 978-3-96148-390-7

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Stephan M. Rother

Das Babylon-Virus

Thriller

dotbooks.

Nichts, was sich jemals entwickelt hat, existiert für sich allein.Ervin Laszlo

Tag eins

Rom

Amadeo Fanelli rannte um sein Leben.

Er konnte nicht sagen, wie er in die Domkirche von San Pietro gelangt war, deren kalter Marmor das Ächzen seiner gehetzten Atemzüge zurückwarf, das Echo seiner eiligen Schritte.

Er wusste nur, dass sie hinter ihm her waren mit ihren unauffälligen Kleinkaliberpistolen und der Entschlossenheit, ihn zu töten.

Der Petersdom war ein Labyrinth aus aufgetürmtem Stein, jahrhundertealt, und in der Tiefe, in den Katakomben mit den Särgen längst verstorbener Päpste, verstärkte sich dieser Eindruck noch.

Unvermittelt fand sich Amadeo im erdrückenden Dunkel der Grabstätte wieder, suchte mit klopfendem Herzen seinen Weg zwischen der düsteren Pracht der marmornen Sarkophage. Was tat er hier? Wer waren die Verfolger, deren Anwesenheit er in seinem Rücken spürte?

War er allein? Er war nicht zum ersten Mal hier, und damals wäre er nicht mit dem Leben davongekommen, wäre er allein gewesen – ohne einen alten Mann mit Schnapsnase und Nickelbrille.

Ohne Ingolf Helmbrecht.

»Professor?«

Amadeo war sich nicht sicher, ob er das Wort laut ausgesprochen hatte. Für eine Sekunde glaubte er etwas gesehen zu haben, eine huschende Bewegung am Rande seines Blickfelds.

War das Helmbrecht gewesen? Das hatte er nicht erkennen können. War der Professor überhaupt noch in der Lage, sich in einer solchen Geschwindigkeit zu bewegen? Auf schwer zu beschreibende Weise hatte die ferne Gestalt sich angefühlt wie Helmbrecht. Was tat er hier unten?

Eine verwinkelte Flucht von Torbögen, halbdunklen Gängen voller Verzweigungen und Irrwege. Nicht mehr der matte Schimmer alten Marmors umgab Amadeo nun, sondern ockergelber, unbehauener Stein, eine unregelmäßige Höhle, die aussah, als wäre sie auf natürliche Weise entstanden. Woher das Licht kam, war nicht festzustellen, doch da war Licht, und es schien sich an einem Punkt zu sammeln, vielleicht zwanzig Schritte voraus. Da war etwas, eine Tür, ein Durchgang, eine Pforte.

Und daneben stand Helmbrecht, gestützt auf seinen Krückstock, und betrachtete kritisch eine altertümliche Taschenuhr. Die ewig ungeputzte Nickelbrille war ihm tief auf die knollenartige Schnapsnase gerutscht.

»Sie sind spät dran«, murmelte der alte Mann.

»Was tun Sie hier?«, flüsterte Amadeo. Ein dumpfer Hall begleitete seine Worte.

»Wir haben keine Zeit mehr.« Der Blick des Professors hob sich. In seinen Augen stand ein Ausdruck, den Amadeo nicht einordnen konnte, und selbst die Stimme des alten Mannes klang ungewohnt.

Die Verfolger! Ihre Schritte ... Konnte Amadeo ihre Schritte hören? Nein, er hörte nichts, doch er spürte, dass sie näher kamen. Der Rückweg war versperrt.

Aber direkt vor ihm war die Pforte, an der Helmbrecht verharrte.

»Sie sind gleich da!«, flüsterte Amadeo. »Wir müssen weg! Da durch!«

Der Blick des Professors hatte sich nicht verändert. »Sie ist verschlossen«, sagte er. »Amadeo, Sie müssen den Schlüssel finden!«

»Was?«

»Sie müssen die Kleinigkeiten im Auge behalten, mein lieber Amadeo.« Für eine Sekunde nahm die Stimme einen vertrauten Klang an. »Ich glaube, das sagte ich Ihnen schon einmal. In den Kleinigkeiten liegt der Schlüssel.«

»Wir haben keine Zeit für ...« Gehetzt wandte Amadeo sich um.

Sie waren heran, nein ... Es war heran. Amadeo öffnete den Mund, doch kein Ton kam heraus, kein Wort jedenfalls, nur ein entsetztes, fassungsloses Geräusch, ein Keuchen, ein ...

»Capo?«

Amadeo fuhr auf. Ein Stechen in seinem Kopf, ein Schwindel, das grelle Licht seiner Schreibtischlampe.

Er blinzelte. Sein Herzschlag, jagend in der Kehle. Ein Traum! Ein irrsinniger, unglaublicher Traum, aber so deutlich, so plastisch, so ...

»Capo, sind Sie in Ordnung?«

In der Bürotür stand eine Gestalt.

Niccolosi.

Fabio Niccolosi, der jüngere der beiden Auszubildenden der officina. Im Moment war nur sein schwarzer Lockenkopf zu sehen hinter einem Stapel verschnürter Postsendungen.

»Ich bin ...« Amadeo räusperte sich. »Es geht mir gut.«

Helmbrecht. Ein Traum. Es war nur ein Traum gewesen, doch noch war Amadeo nicht vollständig im Hier und Jetzt angekommen.

»Das ist der Posteingang?«, fragte er heiser.

Der Junge antwortete nicht. Es war offensichtlich, dass das Ungetüm der Posteingang war. Schwankend stand Amadeo auf, packte mit an. Gemeinsam schafften sie das Monster zum Schreibtisch.

»Die Werbung ...« Fabio holte Atem. »Kataloge und Werbung hab ich schon aussortiert. Das waren siebzehn Sendungen – siebenunddreißig Prozent.« Erwartungsvoll sah er seinen capo an.

Doch der war noch immer nicht vollständig zurück in dem kleinen Raum mit den gewaltigen Fenstern zur Via Oddone hin: seinem Büro. Das Büro des capo, des Geschäftsführers der Officina di Tomasi et figlii, Roms führendem Unternehmen bei der Restaurierung historischer Bücher.

Siebenunddreißig Prozent, dachte Amadeo wirr. Er wusste, dass Fabio Niccolosi ein Zahlengenie war. Erwartete der Junge jetzt ein Lob? Amadeo war noch nicht in der Lage dazu.

Helmbrecht. Das Bild war so deutlich gewesen. Noch immer glaubte er den Professor beinahe riechen zu können, das etwas aufdringliche Aroma von Altherrenrasierwasser.

Old Spice.

Amadeos Finger zitterten so stark, dass er Mühe hatte, die krakeligen Buchstaben der Absenderzeile zu entziffern: Professor Ingolf Helmbrecht vom Institut für Paläographie in Weimar.

Es musste eine logische Erklärung für Amadeos Tagtraum geben. Etwas anderes war nicht denkbar. Wie lange hatte Fabio schon in der Tür gestanden, bevor er seinen capo ansprach? Dieser Umschlag, der mitten im Posteingangsstapel gelegen hatte, war dermaßen durchtränkt mit Helmbrechts Rasierwasser: Als die Tür sich geöffnet hatte, mussten sich die ätherischen Öle den Weg bis in Amadeos Unterbewusstsein gebahnt und dort einen Traum ausgelöst haben. Einen Traum von Helmbrecht, von einer Pforte in einem unterirdischen Höhlenlabyrinth, von ...

Was hast du gesehen?

Amadeo hatte gespürt, wie in seinem Rücken etwas näherkam. Er hatte sich umgewandt – doch dann hatte sein Unterbewusstsein seine Tore geschlossen, und nun war die Erinnerung fort. Oder war es irgendein Schutzmechanismus seines Verstandes? Nein, er wollte sich gar nicht erinnern.

Dieser Traum war bedeutungslos, ein Nichts. Ein Traum eben.

Sie müssen die Kleinigkeiten im Auge behalten, mein lieber Amadeo.

Amadeo wischte den Gedanken beiseite, schüttelte sich, griff entschlossen nach dem Brieföffner. Fort mit Albträumen und Schimären.

Er zog einen Briefbogen aus dem Umschlag, stutzte überrascht. In den vier oder fünf Jahren, die er den alten Mann jetzt kannte, hatte der Professor noch niemals einen derartig schlampig zusammengefalteten Brief auf die Reise geschickt. Und der Text selbst, die Schrift, fahrig, zittrig, kaum zu entziffern. Nicht dass es viel zu entziffern gegeben hätte:

Amadeo!Lesen! Lösen! Herbringen!H.

Amadeo starrte auf das Schreiben. Lesen? Was lesen?

»Was zur ...«, flüsterte er, schaute noch einmal in den Umschlag.

Er war nicht leer. Ein zweites, kleineres Kuvert. Verwirrt ließ Amadeo es auf den Tisch gleiten. Ein handelsüblicher Briefumschlag, graues Recyclingpapier, unbeschriftet und nicht verschlossen. Amadeo öffnete ihn. Wieder war es nur ein einziger Briefbogen, doch dieser Bogen sah völlig anders aus: älter, sehr viel älter. Nicht so alt wie die antiken Codices und Manuskripte, mit denen sie in der officina zu tun hatten, aber doch mehrere Jahrzehnte. Das Papier war vergilbt und dünn, durchsichtig fast, als wäre es viel in Gebrauch gewesen. Ein langer Text, mit einer mechanischen Schreibmaschine getippt.

Ein langer Text ... Amadeos Stirn legte sich in Falten, als er zu lesen begann. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, bis sie einander beinahe berührten:

Die Geschichte des Turmbaus zu Babel ist altbekannt. Alle Welt hatte eine Zunge und Sprache, aber die Menschheit war taub und blind gegen die Guete des Herrn in ihren Heimstaetten zu Sinear. Und also sprachen die Menschen dort untereinander: »Wohlauf, lasst uns streichen und brennen die Ziegel!« Und so nahmen sie Lehm sich vom Fluss bei der Hand und Erdharz nun als Moertel und sprachen: »Wohlan, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, auf dass seine Spitze bis hinauf an den Himmel reiche, damit wir uns auf Erden einen Namen machen. Denn wir koennen sonst nicht allesamt beieinanderbleiben. Und siehe, es wird uns der HErr zerstreuen.«

Da eilte der HErr hernieder und sah der Menschen Turm und Stadt und sprach in Erbitterung: »Siehe, es ist einerlei Sprache unter ihnen allen, und dies ist nun der Anfang ihres Tuns. Nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden koennen, was sie sich vorgenommen haben.« Da der HErr aber ergrimmt war, sprach er: »Wohlan, so lasset den Menschen uns Einhalt gebieten und gen Sinear Pestilenz senden, sodass jener Ort als Babel bekannt sein soll. Denn es wird dort der HErr ihr GOtt jenen Menschen seinen Engel senden und ihre Sprache Verwirren.« Und so stieg mit einem Gefaesse der Engel des HErrn hinab zu den Menschen, die wohnten zu Fuessen der Berge, und es wurde freigelassen die Seuche, auf dass den Menschen so ihre einerlei Sprache und einerlei Wort genommen werde. So zerstreute sie der HErr von Sinear in alle Laender, dass sie ablassen mussten davon, eine Stadt zu bauen. Weil er nun indes zwar gedachte, die Sprache zu verwirren, jedoch den Menschen, den er geschaffen hatte nach seinem Bild, zu schonen, wurde entsandt mit einem zweiten Gefaesse ein neuer Engel des HErrn, und so wurden sie alle geheilt von der Seuche. Es misstrauten jedoch einige der Gabe des HErrn und verbargen diese an einem fremden Ort, der hier verzeichnet ist.

»... der hier verzeichnet ist.« Automatisch hatte Amadeo die letzten Worte leise vorgelesen.

Er blickte auf das Schreiben.

Da war nichts verzeichnet.

Was zur Hölle sollte das? Was wollte ihm der Professor mitteilen? Lesen! Lösen! Herbringen! – Lesen? Das hier? Das hatte er getan. Was lösen? Was herbringen? Helmbrecht konnte doch nicht ernsthaft ...

»Das ist wie ein Traum«, flüsterte Amadeo. »Ein sehr, sehr merkwürdiger Traum.«

Er widerstand dem Impuls, sich in den Arm zu kneifen. Nein, er träumte nicht mehr. Das hier war die Wirklichkeit, eine surreale, unerklärliche Wirklichkeit, in der er jede Unebenheit des Blattes spüren, die feinen Erhebungen erkennen konnte, mit denen sich Punkte und Kommata durchs Papier gedrückt hatten.

Durchs Papier!

Amadeo drehte das Blatt um.

Da war noch mehr! Ein kurzer Absatz auf der Rückseite.

Lieber Ingolf Helmbrecht,

ich glaube, dass Sie der Richtige sind.Fragen Sie nicht, was das hier zu bedeuten hat. Versuchen Sie nicht, mich zu kontaktieren. Ich werde Ihnen nicht antworten.Finden Sie die Lösung und handeln Sie danach. Wenn Ihnen das bis zu Ihrem Tode nicht gelingt, geben Sie diesen Text weiter an denjenigen, den Sie für den – nach Ihnen – größten Geist Ihrer Zeit halten.

Mit freundlichen Grüßen

Amadeo kniff die Augen zusammen. Der Name des Absenders war per Hand vermerkt, und er brauchte einen Moment, um die Unterschrift zu deuten.

»Albert Einstein«,murmelte er.

Amadeo war es eiskalt.

Diese Geschichte war keine Nachricht von Helmbrecht.

Sie war eine Nachricht an Helmbrecht.

Eine Nachricht von Albert Einstein, dem großen Physiker, dem Entdecker der Relativitätstheorie: m mal c, Masse mal Beschleunigung, im Quadrat. Albert Einstein, der irgendwann um die Mitte des letzten Jahrhunderts gestorben war.

Das erklärte das Alter des Papiers.

Wie Helmbrecht zu diesem Schreiben gekommen war, erklärte es nicht, genauso wenig wie es die krude Geschichte erklärte, von der das Schriftstück berichtete: die Erzählung vom Turmbau zu Babel mit einem zusätzlichen Schlenker um eine göttliche Seuche samt zugehörigem Heilmittel am Ende, das die Babylonier sonst wohin geschleppt hatten.

Doch diese Geschichte war in Amadeos Bewusstsein vollständig an den Rand gerückt. An einem einzelnen Satz, einer einzelnen Formulierung auf der Rückseite, hatten seine Augen sich festgesaugt und wollten sich nicht wieder lösen.

Wenn Ihnen das bis zu Ihrem Tode nicht gelingt, geben Sie diesen Brief weiter.

Amadeo hielt das Schreiben in den Händen – das sagte alles. Helmbrecht hatte den Brief weitergegeben.

»Maledetto!«, flüsterte er. »Professor!«

Er hatte Helmbrecht gesehen, vor ein paar Minuten erst, in einem Traum, der auf eine so erschreckende Weise wirklich, lebendig erschienen war, dass Amadeo noch immer Mühe hatte, in die Wirklichkeit zurückzufinden. Zu sehr glich diese Wirklichkeit einer irrwitzigen Fortsetzung des Traumgeschehens: die vorsintflutliche Taschenuhr, die Helmbrecht in der Hand gehalten hatte wie das Kaninchen aus Alice im Wunderland, seine Worte: Wir haben keine Zeit mehr. Und nun hatte Amadeo einen Brief vor sich, den Helmbrecht vor seinem Tod unbedingt noch hatte weitergeben sollen.

Mechanisch griff er nach einem Kasten mit Karteikarten: H wie Helmbrecht. Drei verschiedene Nummern waren vermerkt. Mit zitternden Fingern wählte Amadeo den Büroanschluss des alten Mannes, wartete, dass die Verbindung über die Alpen sich aufbaute. Das Freizeichen. Er wartete ... und wartete. Eineinhalb Jahre seines Lebens hatte er in Weimar mit Helmbrecht zusammengearbeitet. Er wusste, dass die Telefonanlage des Instituts nach viermal Klingeln auf die Zentrale umschaltete. Also wartete er weiter, bis ... Nach einer Minute verwandelte sich der Rufton in ein Besetztzeichen, ohne dass jemand abgehoben hatte. Amadeo beendete den Anruf, betrachtete unruhig das Telefon. Es war mitten am hellen Vormittag. Irgendjemand musste doch Dienst haben im Institut!

Die zweite Nummer war Helmbrechts Privatanschluss. Amadeo zögerte, doch höchstens für eine halbe Sekunde. Der Rufton, ein greller Sinusrhythmus, Ton auf Ton. Amadeo lauschte, hörte das Ticken der schlichten analogen Uhr an der Wand gegenüber, murmelnde Stimmen, die sich jenseits seiner Bürotür unterhielten, in der Werkstatt. Schließlich das Besetztzeichen. Auch bei Helmbrecht zu Hause hatte niemand abgenommen.

Blieb die letzte Nummer. Der Professor hatte sich immer geweigert, sich ein Handy zuzulegen, bis ihm Amadeo – oder offiziell die officina, als Gegenleistung für wissenschaftliche Beratung – kurzerhand ein Gerät gekauft hatte. Helmbrecht war unberechenbar; Amadeo erinnerte sich an eine Klettertour mitten im Winter, als der Professor unbedingt mal eben etwas hatte nachsehen wollen – in Goethes Berghütte auf dem Kickelhahn, achthundert Meter über dem Meeresspiegel. Ihm war einfach wohler, wenn Helmbrecht ein Mobiltelefon dabeihatte. Trotzdem zögerte er diesmal einen Augenblick länger. Diese Nummer war für den Notfall gedacht. Wir haben keine Zeit mehr. Wenn das kein Notfall war!

Das Anrufzeichen. Es klang anders diesmal, drängender. Dreimal, viermal ...

»Amadeo!«

»Profess...«

»Sparen Sie sich die Mühe, mich zu unterbrechen«, tönte die blecherne Stimme. »Dies ist eine automatische Ansage. Lesen! Lösen! Herbringen! Dem ist nichts hinzuzufügen. ›Versuchen Sie nicht, mich zu kontaktieren‹ – das gilt auch für Sie. Finden Sie die Lösung, oder ich spreche kein Wort mehr mit Ihnen, wenn ich tot bin.«

Ein Klicken. Ein kurzer Piepton.

»Maledett... Professor?«

Amadeo horchte. Der Anrufbeantworter. Helmbrecht hatte gesprochen; wenn Amadeo ihm etwas mitteilen wollte: Dies war seine Chance, die einzige vermutlich. Er holte Luft, formulierte sorgfältig: »Professor, ich mache mir Sorgen um Sie. Ich weiß nicht, wann Sie das ... das da eben aufgesprochen haben.« Jedenfalls nachdem der alte Mann den Brief abgeschickt hatte. »Ich ...« Amadeos Gedanken überschlugen sich. Was der Professor von ihm erwartete, war klar. Lösen. Herbringen. »Ich schau's mir an«, sagte er matt. »Was auch immer. Aber bitte geben Sie mir ein Lebenszeichen!« Er wartete noch einen Moment, ob sich etwas tat, doch das war nicht der Fall. Ohne ein weiteres Wort beendete er den Anruf.

Betäubt starrte er seine Telefonanlage an, bis sein Blick weiterglitt zu dem Schreiben mit der Unterschrift Albert Einsteins.

Lösen. Herbringen.

Es misstrauten jedoch einige der Gabe des HErrn und brachten diese an einen fremden Ort, der hier verzeichnet ist.

Das Heilmittel Gottes.

Professor Ingolf Helmbrecht war der bedeutendste lebende Experte für historische Handschriften. Ein solcher Mann konnte diese Babylon-Geschichte doch unmöglich für bare Münze nehmen! Wie sollte irgendjemand etwas verstecken, das gar nicht existierte? Etwas, das Albert Einstein überhaupt erst erfunden hatte für seine abstruse Erzählung?

Auf der anderen Seite ... Wenn es einen Menschen gab, der zweifelsfrei beurteilen konnte, ob eine Unterschrift echt war, dann war das Helmbrecht. Der Brief auf Amadeos Schreibtisch stammte von Albert Einstein, so viel stand fest. Eine Karte, mit einem eingezeichneten fernen Ort gab es nicht, aber war eine Karte die einzige Möglichkeit, einen Ort zu verzeichnen? Ein Text konnte mehr als eine Bedeutung haben, mehr als die eine offen sichtbare. Ein zweiter verborgener Sinn innerhalb des Babylon-Textes.

»Ein Code«, flüsterte Amadeo.

Und Helmbrecht hatte ihn nicht knacken können, ein halbes Jahrhundert lang nicht, wenn er den Brief irgendwann kurz vor Einsteins Tod bekommen hatte ... Also hatte er ihn weitergegeben, wie angewiesen. Amadeos Augen glitten über Einsteins Anschreiben: An denjenigen, den Sie für den – nach Ihnen – größten Geist Ihrer Zeit halten.

Amadeo spürte eine Gänsehaut. Weniger, weil er sich selbst für den größten Geist seiner Zeit hielt, sondern vielmehr, weil Helmbrecht das offenbar tat. Oder vielleicht doch nur für den größten Geist, den er gerade erreichen konnte?, flüsterte ein kleines Teufelchen in seinem Hinterstübchen. Der Restaurator schüttelte den Kopf, stellte sich vor, wie er dem Teufelchen einen herzhaften Tritt versetzte. Der Professor war eine Koryphäe der Wissenschaft. Amadeo Fanelli kam es nicht zu, die Einschätzung eines solchen Mannes in Zweifel zu ziehen.

Schon gar nicht, wenn es bei Licht betrachtet eine höchst schmeichelhafte Einschätzung war.

Und doch war ihm klar, dass er spätestens an dieser Stelle allen Grund hatte, vorsichtig zu werden. Helmbrecht war ein Großmeister der Manipulation, und er kannte Amadeo nur zu gut. Er wusste genau, dass der junge Mann auf der Stelle alles stehen und liegen lassen würde, um ihm seinen letzten Wunsch zu erfüllen.

Wenn es denn tatsächlich sein letzter Wunsch war! War Helmbrecht tatsächlich krank? Wie ließ sich das nachprüfen, wenn er sich jeder Kontaktaufnahme verweigerte!

Wir haben keine Zeit mehr.

»Aber das war ein Traum«, flüsterte Amadeo. Bis in seine Träume konnte selbst ein Ingolf Helmbrecht nicht vordringen.

»Unmöglich«, murmelte er.

Amadeo stützte den Kopf in die Hände. Er hatte den gesamten Babylon-Text in seine Textverarbeitung getippt und in verschiedenen Versionen abgespeichert. Probehalber hatte er Satzzeichen und Wortzwischenräume entfernt, weil er wusste, dass die allermeisten historischen Codes ausschließlich auf der Basis von Buchstaben funktionierten, von der kabbalistischen Deutung der Bibel über die Geheimkorrespondenz der Maria Stuart bis zur legendären deutschen Enigma-Verschlüsselung im Zweiten Weltkrieg. Eintausendfünfhunderteinundzwanzig Buchstaben waren übrig geblieben.

Und nun, seit zwei Stunden, saß Amadeo vor seinem Monitor und wartete auf die Erleuchtung. Doch die Erleuchtung wollte nicht kommen.

Caffè.

Sehnsüchtig blickte er zur Bürotür. Er wusste, was geschehen würde, wenn er sie öffnete und in die Werkstatt trat, und er konnte es den angestellten Restauratoren nicht einmal verübeln. Tausend Anliegen, Fragen, Details – er war der capo.

Doch wie sollte ihm ein Durchbruch in der kryptologischen Wissenschaft gelingen, wenn ihm das grundlegendste Werkzeug einer jeden wissenschaftlichen Tätigkeit fehlte: frisch gebrühter, dampfender caffè?

Lautlos trat er an die Tür, legte das Ohr gegen das Holz, lauschte. Nichts zu hören im Moment. Wahrscheinlich waren alle in ihre Arbeit vertieft. Wenn er Glück hatte, sich ganz leise bewegte ...

Vorsichtig legte er die Hand auf die Klinke, drückte sie nieder und spähte durch den entstandenen Spalt.

Der größte Teil der Officina di Tomasi wurde von einem unsymmetrisch geschnittenen Arbeitsraum eingenommen, in dem die Tische der angestellten Restauratoren Rücken an Rücken standen, gegeneinander abgeschirmt durch niedrige Trennwände.

Tatsächlich waren momentan sämtliche Köpfe beflissen über ihre Arbeit gebeugt – eine Spur zu beflissen sogar, als dass er ihnen abgenommen hätte, dass das den ganzen Tag so ging. Hatte tatsächlich niemand den capo bemerkt oder wollten sie ihn nicht bemerken? Im Augenblick war es Amadeo gleichgültig.

Ich lasse sie in Ruhe, dachte er. Und sie lassen mich in Ruhe.

Damit konnte er leben. Geräuschlos schob er sich durch die Tür, verharrte einen Moment, als sein Blick auf die Arbeitstische fiel, auf die mittelalterlichen Codices aus Pergament oder frühem Papier, die man als schwerkranke Patienten in Roms traditionsreichstes Bücherrestauratorenunternehmen einlieferte. Es gab Augenblicke, in denen er noch immer nicht fassen konnte, dass er den geheimnisvollen Schätzen der Vergangenheit so nahe sein durfte.

Deshalb war Amadeo Fanelli aus seinem abgelegenen Heimatdorf am Rande der Abruzzen nach Rom gekommen. Deshalb hatte er Geschichte studiert, Kunstgeschichte, Theologie sogar und vergleichende Kulturwissenschaften. Weil er Geheimnisse liebte. Deshalb hatte er begonnen, der officina zuzuarbeiten, als wissenschaftlicher Berater zunächst und inzwischen als capo, als Geschäftsführer. Weil jede dieser Handschriften einzigartige Geheimnisse barg, ihre eigene, mysteriöse Geschichte hatte. Irgendwann, vor sechs-, sieben-, achthundert Jahren hatten die verkrampften Finger eines Mönchs oder Scriptors jene heute fast verblassten Zeichen auf kostbares Pergament gebannt. Jedes dieser Stücke war durchtränkt von den Geheimnissen der Vergangenheit.

Das Unangenehme war, dass Amadeo nicht mehr dazu kam, diese Geheimnisse zu ergründen. Der alltägliche Bürokram, den er als capo zu erledigen hatte, Posteingänge, Dienstpläne, Rechnungen, Kostenvoranschläge – dieser Trott fraß ihn auf. Ein Albtraum.

Eine seltsame Ironie, dachte er, als er sich eine schneeweiße Porzellantasse von der Anrichte nahm und sie in die Maschine stellte. Ein Albtraum, aus dem ihn ein Albtraum ganz anderer Art aufgestört hatte, nachdrücklich und unwiderruflich. Der Albtraum und Helmbrechts Brief.

Während seiner Grübeleien über dem Babylon-Text hatte Amadeo sich einen längeren Monolog zurechtgelegt, den er dem Professor vortragen würde, sobald er ihn zu fassen bekam. Manipulation, Erpressung, Rücksichtslosigkeit waren die Stichworte. Mangelnder wissenschaftlicher Anstand. Hätte er nur nicht allzu gut gewusst, wie Helmbrecht darauf reagieren würde. Mit waidwundem Blick würde der alte Mann ihn ansehen und nur einen einzigen Satz sagen: Aber Sie hätten doch einfach Nein sagen können.

Tatsache aber war, dass Amadeo dazu einfach nicht in der Lage war.

Dieser Text war exakt jene Art von Geheimnis, der er sich nicht entziehen konnte, weil er von Geheimnissen nun einmal angezogen wurde wie ein Bergsteiger vom Gipfel eines Achttausenders. Hätte man ihn nach dem Warum gefragt, so hätte er auch keine befriedigendere Antwort geben können als der Bergsteiger: Weil er da war, der Berg. Weil es da war, das Geheimnis, weil es ihn ansprang, sich mit gefletschten Zähnen in sein Hirn verbiss.

Und dies war nicht irgendein Geheimnis. Hier stand etwas auf dem Spiel – Helmbrechts Leben womöglich. Auch der Professor liebte Geheimnisse. Warum sollte er einen solchen Text nach mehr als einem halben Jahrhundert auf einmal aus der Hand geben? Vor Ihrem Tod ...

Amadeo schauderte. Das fadendünne bräunliche Rinnsal, in dem sich der dampfende caffè in seine Tasse ergoss, schien sich vor seinen Augen in einen strudelnden Mahlstrom zu verwandeln.

Wir haben keine Zeit mehr. Und dann: Sie müssen die Kleinigkeiten im Auge behalten.

Und im selben Augenblick hatte Amadeo gespürt, dass sich in seinem Rücken etwas näherte, und er hatte sich umgedreht. Und was er gesehen hatte ...

»Capo?«

Mit einem Keuchen fuhr er herum. Eine etwas füllige junge Frau mit einem Kurzhaarschnitt. Gianna. Gianna gehörte zum Urgestein der officina, Amadeo kannte sie seit Jahren. Neu war der skeptische Blick, mit dem sie ihn musterte. Mit Sicherheit zeichnete das Entsetzen sich auf seinen Zügen ab.

»Ich bin in Ordnung«, versicherte er ihr, bevor sie noch zum Fragen kam.

»Wenn Sie das sagen«, erwiderte sie mit Zweifel in der Stimme.

Gianna hatte etwas Mütterliches an sich, keine Frage. Nach ihrer dritten Babypause hatte sie im Sommer die Arbeit wieder aufgenommen, während ihr Mann sich um die Kleinen kümmerte: Raffaelo, Leonardo und Michel Angelo. Amadeo hatte schon gegrübelt, ob wohl noch ein Tiziano nachkommen würde ... Oder ob die beiden für ein Mädchen bei der Namensgebung variieren würden: Frida Kahlo vielleicht?

»Wenn ich Sie mal stören darf?«, fragte sie vorsichtig.

Amadeo nickte. Jetzt hatte er sich wieder unter Kontrolle. »Gianna, Sie stören doch nie«, log er und griff nach dem caffè. »Sie haben den Staufercodex am Wickel?«

Sie nickte. »Den von den Suevi, meinen Sie? Ja. Ich hatte gehofft, dass ich das wieder hinkriege mit der ursprünglichen Bindung, aber schauen Sie selbst ...« Die junge Frau wies über die Schulter. »Da ist nichts zu machen.«

»Porca miseria«, murmelte Amadeo. Bestürzt musterte er den Stapel mehr oder weniger fliegender Blätter. Der Codex stammte aus dem dreizehnten Jahrhundert, vom Hofe des kultivierten Stauferkaisers Friedrich II. noch dazu, Amadeos heimlichem historischem Idol. Eines jener Stücke, über die sich der Restaurator am liebsten persönlich hergemacht hätte, und eigentlich hatte der Einband sogar recht gut erhalten ausgesehen, als er in der officina eingetroffen war, wobei erhalten in diesem Fall ein eher relativer Begriff war. Der Auftraggeber, ein Museum auf Sizilien, hatte den Wunsch geäußert, man solle in dem voluminösen Codex tatsächlich wieder blättern können. Ausgeschlossen. Jetzt sah es Amadeo auf den ersten Blick.

Gianna traf dabei keine Schuld. Die Bindearbeiten des Hochmittelalters waren zwar von einer Qualität, von der die moderne Fließbandproduktion nur träumen konnte, doch irgendwann gingen auch der festeste Ledereinband und die robusteste Fadenheftung den Weg alles Irdischen.

»Dann müssen wir tricksen«, sagte er nachdenklich. »Binden Sie ihn neu, Gianna, aber außen setzen Sie den ursprünglichen Einband vor. Die Pergamente ...« Er hob eines der Blätter an und strich vorsichtig über den Rand. »Wahrscheinlich werden Sie die Seiten zum Einband hin verstärken müssen, sonst reißen sie aus.«

»Aber das wird man sehen.«

Amadeo nickte. »Das lässt sich nicht verhindern.« Er seufzte. »Und es ist auch das Ehrlichste.« Er hielt nichts davon, Teile eines restaurierten Werkes nachträglich auf alt zu trimmen. Das erschwerte späteren Generationen nur die Arbeit, wenn sie versuchten, das Stück zu datieren.

Gianna hob die Schultern. »Sie sind der capo.«

Noch einmal nickte Amadeo. »Ich schreibe dem Kurator eine Mail, ob das so in Ordnung ist.«

»Gut.« Gianna zögerte. »Dann wäre da allerdings noch das Problem mit den Seiten. Also mit der Reihenfolge. Ich fürchte, die ist mir ein bisschen ...«

Amadeo hob das Blatt noch einmal an, das nächste. »Griechisch«, murmelte er.

»Sie können das lesen.« Sie nickte. »Wenn Sie mir vielleicht die Reihenfolge irgendwie ...«

»Ich sortiere das für Sie durch«, murmelte Amadeo und saß schon auf ihrem Stuhl. Einen Moment lang überlegte er, ob er mit dem Bleistift Markierungen anbringen sollte, kleine Zeichen, die Gianna die Arbeit erleichtern würden, aber das ließ der Zustand des Pergaments nicht mehr zu. Sie würden sich nicht vollständig entfernen lassen.

Kleine Zeichen ...

Abrupt hielt er inne.

»Alles in Ordnung, capo?«

Amadeo neigte stumm den Kopf. Kleine Zeichen. Eine Idee in seinem Hinterkopf. Rasch sortierte er die Seiten zurecht. Gianna hatte sie nicht übermäßig durcheinandergebracht. Aufmunternd nickte er ihr zu. »Sie schaffen das!«

»Grazie«, sagte sie lächelnd.

Amadeo machte ihr den Stuhl frei und griff nach seiner Tasse. Der caffè war inzwischen kalt. Er würde sich einen neuen machen, aber zuerst ... Zuerst wollte er etwas ausprobieren. Eine Idee, eine Vision, die er plötzlich vor Augen gehabt hatte: kleine Zeichen.

Amadeo eilte hinüber ins secretum, das Speziallabor der officina, dessen aufwendige technische Gerätschaften besonders kniffligen Fällen vorbehalten waren. In aller Regel war der Raum abgeschlossen – es gab nur zwei oder drei Restauratoren, denen er die Schlüssel überhaupt anvertraute: Gianna etwa oder Pisano, der aber seit letzter Woche mit Grippe im Bett lag.

Amadeo öffnete eine der Schubladen unter der großen, stählernen Arbeitsfläche, auf der man historische Manuskripte durchleuchten konnte wie auf einem Seziertisch. Das würde ihm nicht weiterhelfen bei der Babylon-Erzählung, aber vielleicht ja ... Amadeo zögerte einen Moment und wählte dann die stärkste verfügbare Leselupe.

Sorgfältig schloss er den Raum wieder ab, bevor er sich auf den Rückweg in sein Büro machte. Diesmal gelang es ihm, die Werkstatt ohne Zwischenfälle zu passieren.

Der Rechner auf seinem Schreibtisch hatte sich inzwischen auf Standby geschaltet, doch im Augenblick brauchte Amadeo ihn auch nicht. Wonach er suchte, war in seiner abgetippten Version nicht vorhanden.

Er zog Einsteins Original zu sich heran, spähte durch die Lupe auf das grobporige Papier. Die Geschichte des Turmbaus zu Babel ist altbekannt. Buchstabe für Buchstabe folgte er dem Text, Wort für Wort. Geheimcodes konnten ganz unterschiedlich funktionieren, und eine der Möglichkeiten waren kleine Zeichen oder Markierungen an bestimmten Buchstaben. Zeichen, die mit bloßem Auge nahezu unsichtbar waren.

Doch Zeile für Zeile sank seine Hoffnung. Nichts. Sämtliche Unregelmäßigkeiten des Papiers ließen sich auf das relativ hohe Alter zurückführen. In der oberen rechten Ecke konnte Amadeo einen verblassten Fleck ausmachen. Kaffee? Rotwein? Wahrscheinlich war Helmbrecht irgendwann in den letzten fünfzig Jahren ein Malheur passiert.

»Das ist es nicht«, murmelte er enttäuscht. Wieder ein Schlag ins Wasser.

Dumpf brütend lehnte er sich zurück. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang hatte der Professor diesen Text in der Hand gehabt – und Amadeo wollte verdammt sein, wenn der alte Mann in dieser Zeit nicht alle möglichen und unmöglichen Theorien und Ansätze durchprobiert hatte! Und Amadeo erwartete ernsthaft, dass ihm die Erleuchtung an einem gemütlichen Vormittag zuflog? Helmbrecht jedenfalls schien genau das zu erwarten: Lesen. Lösen. Herbringen. Amadeo warf einen finsteren Blick auf das knappe Anschreiben des Professors. Er hätte ja wenigstens eine kleine Auflistung darüber beilegen können, was er schon versucht hatte.

Schließlich gab es unzählige Möglichkeiten, nach denen ein Code funktionieren konnte, und jede von ihnen besaß ein bestimmtes Schema. Markierungen waren eine Möglichkeit, eine andere war die Caesar-Verschlüsselung, nach der man nur jeden dritten, vierten, x-ten Buchstaben lesen durfte. Amadeo hatte diese Möglichkeit bereits ausprobiert, nach der siebten oder achten Variante aber aufgegeben.

Oder es gab die Buchstabensubstitution, bei der man einzelne Buchstaben gegeneinander austauschte: D und M zum Beispiel oder P und J. Das war hier undenkbar: Bei einem solchen Code würde sich der Ausgangstext lesen, als hätte man Sonnenblumenkerne über der Tastatur verstreut und dann eine Finkenkolonie drauf losgelassen. Er konnte keinen Sinn ergeben.

Aber der Babylon-Text ergab einen Sinn. Abgesehen vom Ende, von der Seuche, dem Heilmittel und dem geheimen Ort las er sich fast wie das Original in der Bibel.

Amadeo hielt inne. »Wie in der Bibel«, sagte er leise. Wie in einer besonders altertümlichen Bibelausgabe, der ältesten, die in deutscher Sprache überhaupt existierte.

Er stand auf. Hinter seinem Arbeitsplatz nahm ein deckenhohes Bücherregal die gesamte Front des Raumes ein. Natürlich gab es Fächer, die der einschlägigen Fachliteratur des Restauratorenhandwerks gewidmet waren, eine kleine Abteilung jedoch hatte sich Amadeo, kaum dass er das Büro des capo bezogen hatte, für seine persönlichen Schätze reserviert: Erstausgaben, frühe Drucke – nicht so unerschwinglich wie jene Stücke, die die Restauratoren in der Werkstatt betreuten, aber eben doch kleine Kostbarkeiten. Dazu zählten auch einige Faksimiles, akribische Nachdrucke von Originalen, die in den Museen der Welt hinter Sicherheitsglas ihr Dasein fristeten.

Amadeos Finger glitten über die Buchrücken, hielten inne und zogen einen ledergebundenen Folianten aus dem Regal. Fast zärtlich strich er über den Einband, bevor er das Buch auf dem Schreibtisch ablegte und die erste Seite aufschlug: Biblia/das ist/die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Mart. Luth. Wittemberg. Begnadet mit kürfurstlicher zu Sachsenfreiheit. Bedruckt durch Hans Lufft. M. D. XXXIIII.

1534 also. Die 34 – XXXIIII – am Ende der Jahreszahl entsprach in ihrer Schreibweise in römischen Ziffern nicht der strengen Norm: dreimal zehn, viermal eins ergab zwar vierunddreißig, doch es galt als unfein, mehr als dreimal dasselbe Zeichen hintereinander zu schreiben. XXXIV hätte es heißen müssen: dreimal zehn, einmal fünf weniger eins. Solche Details waren es, die alte Texte zu etwas Besonderem und Kostbarem machten: ihre Unvollkommenheit, ihre winzigen Variationen.

»Ich muss die Kleinigkeiten im Auge behalten«, murmelte Amadeo. Der Professor hatte recht – der Professor aus seinem Traum zumindest. Der Babylon-Text lehnte sich eng an Martin Luthers Bibelfassung an; irgendwo in den feinen Unterschieden musste sich der Schlüssel zu Einsteins Code verbergen. Die Seuche, natürlich, war neu, das Heilmittel und der geheime Ort. Doch war das der einzige Unterschied?

Amadeo begann zu blättern. Die Geschichte vom Turmbau zu Babel war fast am Beginn der Bibel zu finden, im elften Kapitel des ersten Buchs Mose. Er würde vergleichen, Wort für Wort. Den Zeigefinger auf dem Einstein-Text, bewegten sich seine Augen über die Schwabacher Lettern, in denen Lufft die Übertragung Luthers vor einem halben Jahrtausend gesetzt hatte: Es hatte aber alle Welt einerley zungen und Sprache./da sie nu zogen gen Morgen/funden sie ein eben Land/im lande Sinear/vnd woneten daselbs.

Einstein hatte einen Satz vorweggeschickt, quasi als Überschrift: Die Geschichte des Turmbaus zu Babel ist altbekannt. Danach stieg er ganz ähnlich ein wie die Bibel, erwähnte das Land Sinear und die Lehmziegel, mit denen der Bau ausgeführt wurde.

Trotzdem: In der Formulierung, im Bau der einzelnen Worte gab es winzige Unterschiede. Einstein, das war Amadeo schon aufgefallen, hatte in seinem Text auf Umlaute, auf das ä, das ö, das ü verzichtet. Ebenso auf das ß. Luther hingegen hatte sehr wohl mit Umlauten gearbeitet, gleichzeitig aber das ei gerne mal als ey geschrieben, was pittoreske Worte wie einerley ergab.

Amadeo zog einen Schreibblock heran, begann den Text Buchstabe für Buchstabe durchzugehen, die Unterschiede zu notieren. Ihm war klar, dass er zur entscheidenden Differenz erst mit der Seuche kommen würde, doch auch jetzt schon ...

Es klopfte, schüchtern irgendwie.

»Komm rein, Fabio«, murmelte Amadeo.

Die Tür öffnete sich einen Spalt. Der schwarzgelockte Schopf schob sich hindurch, ohne dass der Junge eintrat.

»Woher wussten Sie, dass ich das bin?«, fragte er staunend.

»Erfahrung«, erwiderte Amadeo geheimnisvoll.

Aus dem Blick des Jungen sprach Bewunderung. Amadeo wusste nur zu gut, dass Fabio ihn als seinen persönlichen Helden betrachtete. Vielleicht weil er den Jungen so bereitwillig eingestellt hatte, obwohl die Zeugnisse nun wahrlich nicht berauschend gewesen waren. Doch Fabios Vater, Taddeo Niccolosi, war bis zu seinem schrecklichen Tod sein Lieblingskollege gewesen. Amadeo hatte erst gar nicht lange überlegt – und bisher schlug der Junge sich wacker.

Im Moment allerdings schien es Fabio in seiner Haut irgendwie nicht recht wohl zu sein. Der Junge sah zu Boden. »Also ... Ich wollte nur sagen: Vincenzi ist krank. Die Grippe. Gianna sagt aber, das ist kein Problem. Sie kann das übernehmen, wenn sie mit dem Codex von den Suevi so weit ist.«

»Grippe?«

»Dieselbe, die auch Pisano hat – und meine Mutter. Die Grippe eben, die Eastcoast-Grippe. Sie wissen schon, die aus dem Fernsehen.«

»Ich habe keinen Fernseher«, sagte Amadeo. Eine glatte Lüge, aber wenn der Junge ihn schon zu seinem Vorbild erkoren hatte ... Von der Grippe hatte Amadeo natürlich gehört. Die Nachrichten waren voll davon, und sie hatte nicht nur Rom im Griff, sondern war überall unterwegs, von den Vereinigten Staaten, wo sie ihren Namen bekommen hatte, bis sonstwohin, bis ...

»Helmbrecht«, hauchte er unvermittelt. Wie gefährlich war diese Grippe? Er hatte bisher kaum auf die Berichterstattung geachtet, doch mit Sicherheit gab es auch Todesfälle, wie bei jeder Grippewelle, und Helmbrecht war steinalt und alles andere als gesund.

»Wir haben keine Zeit mehr«, flüsterte Amadeo.

»Capo?«

Er blinzelte, sah den Jungen an. Wieder blickte Fabio zu Boden, als hätte er irgendwas angestellt. Was hatte er nur? Die Zeiten, da der Überbringer einer schlechten Nachricht enthauptet worden war, waren lange vorbei. Da steckte doch noch mehr dahinter!

»Und du möchtest heute Nachmittag frei haben?«, erkundigte sich Amadeo einer Eingebung folgend.

Mit großen Augen starrte der Junge ihn an. Amadeos Mundwinkel zuckten. Er hatte schon läuten hören, dass Fabio eine neue Freundin hatte. War das nicht das Zentrum des Lebens mit siebzehn Jahren? Mit Mitte dreißig sollte es nicht anders sein, dachte er mit einem Anflug von Resignation, als sein Blick zurück zum Schreibtisch wanderte. Rebeccas Foto musste er irgendwo unter dem Posteingang verbuddelt haben.

»Dann sehen wir uns morgen um neun, denke ich mal«, sagte er.

»Affare fatto!«, keuchte der Junge. »Ich bin pünktlich, ganz bestimmt!« Er war schon halb an der Tür, blieb noch mal stehen, bückte sich. »Ihr Kreuzworträtsel«, sagte er und reichte Amadeo einen Ausdruck der babylonischen Buchstaben. Auf den ersten Blick konnte man sie wirklich für ein Kreuzworträtsel halten.

Und ist es das nicht auch?, dachte Amadeo, während die Tür sich hinter Fabio Niccolosi schloss und seine Schritte sich rasch entfernten. Ein gigantisches, ungeheuer kompliziertes Kreuzworträtsel, in dem man selbst die Hinweise erst einmal suchen musste?

Schwer ließ sich Amadeo auf seinen Bürostuhl sinken. Kurz vor zwölf.

Pisano war krank und nun auch noch Vincenzi. Wenn noch ein Ausfall dazukam, würde die Personaldecke gefährlich dünn werden. Und Amadeo selbst ... Dräuend ragte der Posteingang über ihm auf, den er heute Morgen komplett beiseitegeschoben hatte, als er Helmbrechts Schreiben gewittert hatte.

Es war unmöglich, sich jetzt auf irgendwelche Kostenvoranschläge zu konzentrieren, für Projekte, von denen er wusste, dass sie sowieso niemals zustande kommen würden.

Ruhelos stand er wieder auf, trat ans Fenster. Dem unfreundlichen Wetter zum Trotz waren auf der Via Oddone etliche Spaziergänger unterwegs. Sein Blick blieb an einem jungen Paar haften, das eng umschlungen dem Park auf der anderen Straßenseite entgegenstrebte – einem beliebten Treffpunkt für Liebespaare, besonders natürlich nach Einbruch der Dunkelheit. Amadeo spürte einen Stich der Eifersucht.

Wo die Frau, die er liebte, sich zu diesem Zeitpunkt aufhielt, wusste Gott im Himmel. Und wenn selbst der es nicht wusste – dann doch zumindest sein Bodenpersonal.

Würde Amadeo sich jemals daran gewöhnen? Er hatte sich Sätze zurechtgelegt, kurze Formeln, mit denen er sich zu beruhigen versuchte, wenn ihm aufging, dass Rebecca sich schon wieder tagelang nicht gemeldet hatte: Es ist nur ein ganz, ganz kleiner Geheimdienst, für den sie arbeitet, in einem ganz, ganz kleinen Land.

Das kleinste Land der Welt sogar. Mit Abstand.

Der Vatikan.

Nur dass ausgerechnet der Vatikan rund um den Globus seine Finger im Spiel hatte. Und sie sich hin und wieder gefährlich verbrannte, die Finger.

Und dann trat Rebecca auf den Plan.

Eine Kampfmaschine, dachte Amadeo. Ich liebe eine Kampfmaschine.

Eine Woche war es jetzt her, dass sie wieder einmal verschwunden war, wie üblich, ohne ein Ziel anzugeben. Und wie üblich war sie auf dem Handy nicht erreichbar, wenn sie auf einer ihrer Missionen unterwegs war.

»Nein!«, flüsterte er. Wenn er anfing, über Rebecca nachzugrübeln und über die Gefahr, in der sie in diesem Augenblick ohne jeden Zweifel schwebte, würde er gar keinen klaren Gedanken mehr fassen können. »Nein!«, wisperte er. »Wir haben keine Zeit mehr!« Der Klang der Worte wollte nicht aus seinem Ohr verschwinden. Lag es einfach nur daran, dass er diesen Satz den ganzen Vormittag über wiederholt hatte, immer aufs Neue? Nein, es war die Stimme des Professors, die sie in seinem Kopf sprach, auf beunruhigende Weise verändert.

Amadeo griff nach dem Telefon. Die Handynummer probierte er diesmal als Allererstes. Vielleicht, wenn Helmbrecht seine Nachricht auf dem Anrufbeantworter gehört hatte? Doch er meldete sich nicht, und sein Sprüchlein war dasselbe wie am Morgen.

Auch zu Hause ging der alte Mann nicht ans Telefon, genauso wenig in seinem Büro. Selbst in der Zentrale des Paläographischen Instituts wurde nicht abgenommen. War sie etwa gar nicht besetzt? Sah es in Weimar so übel aus mit der Grippe?

Amadeos Stimmung verdüsterte sich von Minute zu Minute.

Er rief eine deutsche Nachrichtenseite auf den Bildschirm und überflog die Meldungen. Neben einer neuen Offensive der internationalen Allianz im Norden Afghanistans nahm die Grippe einen der wichtigsten Plätze ein. Überfüllte Krankenhäuser, die Pandemiepläne aktiviert – ganz wie in Italien. In den Vereinigten Staaten, wo die neue Krankheit sich zuerst gezeigt hatte, war das öffentliche Leben ohnehin schon fast zum Stillstand gekommen. Amadeo scrollte tiefer. Wenigstens die Zahl der Todesfälle hielt sich in Grenzen – noch. Was den Medizinern Sorgen machte, war wohl vor allem die Hartnäckigkeit der neuen Krankheit, bei der eben nicht nach drei, vier Tagen Fieber das Schlimmste ausgestanden war.

Und nirgends ein Engel des HErrn in Sicht, dachte er unbehaglich. Einer von der zweiten Sorte aus Einsteins Geschichte. Einer, der spontan mit dem ersehnten Gegenmittel vorbeischaute.

Der junge Mann biss die Zähne zusammen und schloss das Browserfenster. Stattdessen rief er das Mailprogramm auf und tippte eine Nachricht an den Professor mit der flehentlichen Bitte, sich zu melden. Einen Moment lang war er kurz davor, seinen Albtraum zu erwähnen, ließ es dann aber sein.

Im selben Augenblick fiel ihm das Museum auf Sizilien ein, Giannas Staufercodex. Amadeo formulierte vorsichtig. Er hatte keine Lust auf Vorwürfe, die Handschrift sei in der officina beschädigt worden. Aber damit rechnete er eigentlich nicht. Sie wollten blättern auf Sizilien, und sie würden was zum Blättern bekommen.

Es war zwanzig Uhr durch, als Amadeo das letzte Schreiben des Posteingangs als erledigt beiseitelegte.

Am Ende hatte er sich doch noch über den Bürokram hergemacht, aus reiner Verzweiflung. Weil er ganz genau spürte, dass er nach kaum einem halben Tag in eine Sackgasse geraten war mit dem Babylon-Text. Lächerlich, wenn er daran dachte, wie lange Helmbrecht selbst über diesem Schriftstück gegrübelt hatte. Dabei glaubte Amadeo schon jetzt, alles versucht zu haben. Alles, was ihm in den Sinn gekommen war. Wort für Wort hatte er die beiden Texte gegeneinander abgeglichen, Einsteins Version und die aus der Bibel, hatte die Unterschiede minutiös aufgelistet, ohne dass ihn irgendeine Art von Eingebung überfallen hätte. Die wesentlichste Abweichung war diejenige, die ihm von Anfang an ins Auge gesprungen war: die göttliche Pestilenz, der Einstein die Verwirrung der Sprachen zuschrieb. Das aber war kein Ansatz für eine Lösung, sondern ein Teil des Rätsels: ohne Seuche kein Gegenmittel, und ohne Gegenmittel kein geheimes Versteck, dessen Lage es zu verschlüsseln galt. Finden Sie die Lösung, hatte Einstein geschrieben. Handeln Sie danach.

Es ist eine Kleinigkeit, dachte Amadeo. Er wusste es. Er spürte es. Auf die Kleinigkeiten musste er Acht geben, und mit tödlicher Sicherheit hatte er ein um das andere Mal über die eine entscheidende Kleinigkeit hinweggelesen bei der Lektüre der eintausendfünfhunderteinundzwanzig babylonischen Buchstaben.

Wie sollte er vorankommen, wenn er nicht wusste, wo er ansetzen sollte? Dieser Code war wie eine Packung Käse aus dem Supermarkt! Durch die transparente Hülle drang ein verführerischer Duft, doch was fehlte, war die Markierung an der Aufreißlasche!

Sein Magen rumorte. Zweimal war er zwischendurch an der Espressomaschine gewesen, und irgendwann gegen vier hatte ihm einer der Restauratoren etwas zu essen gebracht, an das er sich jetzt schon nicht mehr erinnern konnte. Sein Bauch war voll und leer zugleich, und in seinem Hirn sah es nicht anders aus. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen.

Noch einmal versuchte er, den Professor zu erreichen, probierte jede ihm bekannte Nummer, doch das Ergebnis war dasselbe wie am Morgen und am Nachmittag. Und auf seine Mail war auch keine Antwort gekommen. Stattdessen hatten sich die Sizilianer gemeldet, und die Reaktion sah ganz wie erwartet aus: Hauptsache blättern. Wahrscheinlich hatte Gianna heute sowieso schon mit der Arbeit angefangen.

Amadeo fuhr den Rechner runter und schaltete die Schreibtischlampe aus. Eigentlich war dies genau die Zeit des Tages, zu der er erst so richtig zur Hochform auflief: wenn die angestellten Restauratoren gegangen waren und es still wurde in der officina. Das war der Augenblick, auf den er sich den ganzen Tag freute. Dann konnte er mit einer Tasse caffè durch den menschenleeren Arbeitsraum schlendern, einen Blick auf die laufenden Projekte werfen, mit den Fingern über die Codices streichen und sich für Momente an das Gefühl erinnern, wie es gewesen war, selbst mit diesen Kostbarkeiten arbeiten zu dürfen.

Vielleicht würde ihm das ja auch heute helfen. Vielleicht kam der entscheidende Geistesblitz, wenn er Handschriften betrachtete, die noch um so vieles älter waren als Einsteins Text – wenn auch nicht älter als die ferne Geschichte, von der er berichtete.

Nein, dachte Amadeo, noch besser: Er würde einen langen Spaziergang machen durch das nächtliche Rom. Sich ablenken, er musste sich ablenken, bewusst an etwas anderes denken als an Einstein, an Babylon und den Professor. Warum nur ging niemand ans Telefon in Weimar? Was, wenn Helmbrecht schon im Krankenhaus lag? Wenn er ernsthaft krank war, gehörte er da auch hin, aber was war mit seiner Frau? Wenn es nun tatsächlich die Grippe war? Wenn beide Helmbrechts krank waren?

Wir haben keine Zeit mehr. Sie müssen den Schlüssel finden.

Amadeo öffnete die Tür zur Werkstatt.

Stocksteif blieb er stehen. Eine flüchtige Bewegung in der hintersten Reihe der Schreibtische. Es war Viertel nach acht. Kein Mensch in der officina machte ungefragt Überstunden, von ihm selbst einmal abgesehen, und die Reinemachefrau kam erst morgens um sechs oder sieben.

Er hielt den Atem an, lauschte.

Gegen seinen Willen musste er an jenen Abend vor mehr als einem Jahr denken, als er zu später Stunde noch einmal in die officina zurückgekehrt war und Niccolosi – Fabios Vater – auf der Toilette gefunden hatte, blutüberströmt, sterbend, die Werkstatt selbst ein Chaos, nachdem die Schergen des Kardinalstaatssekretärs in den Räumen gewütet hatten.

Heute war es völlig anders als damals. Alles war wie immer. Das trotzdem vorhandene Chaos war jene Art von Chaos, die nach einem jeden Arbeitstag zurückblieb. Auf Beppo Farneses Schreibtisch lag ein angebissener Apfel, und der dicke Luigi hatte seine Schubladen so schlampig zugemacht, dass der Restaurator schon von der Tür aus ein Heftchen mit leicht bekleideten Damen erkennen konnte. Ja, alles war wie immer zu dieser Tageszeit, wenn Amadeo die menschenleere Werkstatt betrat.

Alles bis auf ein unterdrücktes Rascheln, das sich wiederholte, während er in den Raum horchte, der hätte leer sein müssen.

Amadeo war kein Feigling. Er war einfach ein Mann mit Fantasie, und das, was er vor einem Jahr hier in der officina erlebt hatte, war noch ein ganzes Stück über die grauenerregendsten seiner Fantasien hinausgegangen.

Auf Zehenspitzen trat er ein Stück in den Raum, zögerte. Mit zehn Schritten konnte er am Aufzug sein. Dazwischen war nur noch die Panzerglastür, zu der er den Schlüssel besaß. Wenn er da einmal durch war, hinter sich absperren konnte ... Ja, wenn.

Die Frage war, ob ihm für diese zehn Schritte Zeit bleiben würde, wenn der Eindringling merkte, dass noch jemand in der Werkstatt war.

Wie zur Hölle war überhaupt jemand nach Dienstschluss in die officina gekommen? Amadeo hatte nach Niccolosis Tod sämtliche Schlösser auswechseln lassen, und der letzte Angestellte, der abends die Werkstatt verließ, schloss die Tür ab, selbst für den Fall, dass der capo noch in seinem Büro war. Darauf konnte Amadeo sich verlassen.

Was, wenn der Fremde einen der Restauratoren abgefangen hatte? Ihm wurde eiskalt. Der Fremde, dachte er, oder die Fremden? Er? Sie? Oder ... oder es? Was war ihm in seinem Traum auf den Fersen gewesen, hatte auf ihn gelauert an der Pforte?

Mit klopfendem Herzen sah er sich nach einer Waffe um. Doch es war nichts zu entdecken, selbst der Schirmständer war leer. Da fiel sein Blick noch einmal auf Farneses Schreibtisch. Die Klingen der präzisen Restauratorenwerkzeuge maßen nur wenige Zentimeter, doch sie waren spitz wie medizinische Lanzetten. Amadeo hielt den Atem an, beugte sich vor, streckte seine Finger Zoll um Zoll nach dem Messer aus ...

»Mamma mia, capo!«Aus fünfzig Zentimetern Entfernung blickten Giannas Augen über die schulterhohe Trennwand zwischen ihrem und Beppo Farneses Tisch. »Wollen Sie, dass ich einen Herzinfarkt kriege?«

Amadeo war sich gerade nicht sicher, ob er nicht selbst unmittelbar vor einem Infarkt stand. Krächzend brachte er ihren Namen hervor. »Himmel, Gianna, was tun Sie so spät noch hier?«

»Dasselbe wie Sie, denk ich mal.« Sie wuchtete einen schweren Gegenstand hoch und präsentierte ihm den Staufercodex. Die Bindung war bereits fertig präpariert, lediglich der lederne mittelalterliche Einband, den sie zum Schluss wieder umlegen sollte, fehlte noch. »Das Buch muss jetzt erst einmal ruhen. Wenn Sie soweit zufrieden sind, kann ich mich morgen an Vincenzis Auftrag machen.«

»Das ... das wäre super«, sagte Amadeo, noch immer eine Spur heiser, aber das schien sie nicht zu bemerken.

»Rocco ist ganz froh, wenn er den Abend mal für sich hat«, erklärte Gianna und legte die Handschrift ab. »Die Kleinen sind jetzt im Bett, da hat er Zeit zum Arbeiten. Er brütet an einem neuen Projekt.« Bei den letzten Worten deutete sie ein Nicken an, über Amadeos Schulter hinweg. Automatisch folgte er ihrem Blick.

Raffaelo, Leonardo und Michel Angelo – Gianna und ihr Mann hatten die Namen für ihren Nachwuchs nicht aus Willkür gewählt. Rocco war nicht allein promovierter Kunsthistoriker und auf seinem speziellen Feld Amadeo durchaus überlegen, sondern sah sich obendrein selbst in der Tradition der legendären italienischen Maler, wenn er auch offen zugab, dass seine eigene Kunst anders war.

Doch, dachte der Restaurator, anders traf es recht gut. Amadeo hatte in den Geschäftsräumen so viel verändert, nachdem er die Leitung der officina übernommen hatte. Irgendwie war er geradezu moralisch in der Pflicht gewesen, für das Großraumbüro eines von Roccos Bildern zu erwerben. Nur zu gut erinnerte er sich an Giannas Gesichtsausdruck, als sie ihm hatte erklären müssen, wie herum er das gute Stück aufzuhängen hatte. Roccos eigene Bilder waren einfach weniger, nun, gegenständlich als die Werke seiner Renaissanceidole.

»Dieses noch«, murmelte Gianna. »Wenn es diesmal nicht der Durchbruch wird, will er sich nach einem Lehrauftrag umsehen.«

Amadeo nickte verständnisvoll. Ein Lehrauftrag für Rocco war mit Sicherheit das Beste, was der fünfköpfigen Familie passieren konnte. Doch darüber musste er sich nicht auch noch den Kopf zerbrechen.

»Ich werde einen Spaziergang machen«, sagte er leise. »Wollen Sie wirklich ganz allein noch hierbleiben? Sie wissen, dass um diese Zeit niemand mehr im Haus ist, auch in den anderen Stockwerken nicht.«

Gianna sah ihn an, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Einen Moment lang hatte Amadeo das Gefühl, als wollte sie ihm etwas sagen, etwas, das vielleicht wichtig sein konnte. Aber was hätte das sein sollen? Wieder traten die ungebetenen Erinnerungen vor sein inneres Auge. Entschlossen trieb er sie fort – und im selben Augenblick war auch der unschlüssige Ausdruck auf Giannas Gesicht verschwunden. Wenn er denn überhaupt jemals da gewesen war.

»Ich spanne das jetzt noch in die Presse«, sagte sie. »Wenn Sie die Seiten nicht sortiert hätten, hätt ich das nie so schnell hingekriegt. Ich frag mich sowieso, warum die griechisch geschrieben haben bei den Suevi. Das waren doch eigentlich Deutsche, oder? Suevi – aus Schwaben.«

»Federico Secondo, der letzte Stauferkaiser, sprach ein halbes Dutzend Sprachen«, murmelte Amadeo.

»War das nicht der, der den Leuten den Bauch aufgeschnitten hat, um die Verdauung zu überprüfen?«

»Stupor mundi.« Der Restaurator nickte. »Das Staunen, wahlweise auch das ›Entsetzen‹ der Welt. Ein Wissenschaftler auf dem Thron und eine schillernde Persönlichkeit auf jeden Fall. – Solche Experimente sind aus moderner Sicht natürlich monströs«, fügte er eilig hinzu. »Einen Sterbenden in ein Fass zu sperren und dann abzuwarten, ob die Seele durchs Spundloch hinausschlüpft. Eine Gruppe von Säuglingen mit aller Sorgfalt aufziehen zu lassen, aber zu verbieten, ihnen das Sprechen beizubringen.«

Gianna betrachtete ihn von oben bis unten, mit einem nicht zu deutenden Gesichtsausdruck. Amadeo schwankte zwischen dem Impuls, ihr zu versichern, dass er sich selbstverständlich in aller Deutlichkeit von solchen Methoden distanzierte, und der Entschlossenheit, sein heimliches historisches Idol zu verteidigen.

»Aber das war eben auch wissenschaftliche Neugier«, sagte er schließlich. »Falsch verstanden, nach heutigem Maßstab, aber ihrer Zeit durchaus voraus. Federico ist fest davon ausgegangen, dass die Kinder ganz von alleine anfangen würden zu sprechen, und er wollte wissen, welche Sprache das sein würde: diejenige ihrer Eltern oder die ihrer Ammen, eingesogen mit der Milch sozusagen. Oder das Hebräische des Alten Testaments oder ...«

Amadeo hielt inne. Hebräisch. Die Originalversion der Babylon-Geschichte war auf Hebräisch verfasst worden. Albert Einsteins Wortlaut erinnerte an die Lutherbibel, Luther aber hatte seinen Text ins Deutsche übertragen, aus lateinischen und griechischen Vorlagen, die selbst bereits Übersetzungen aus dem Hebräischen waren. Einsteins Vorfahren waren Juden gewesen. Hatte er das Hebräische beherrscht? Doch, mit Sicherheit. Wenn Amadeo Einsteins Text ins Hebräische übersetzte und dann einen Vergleich mit dem Urtext aus der jüdischen Thora anstellte? War es denkbar, dass erst dann der Code deutlich wurde?

»Nein«, murmelte er. »Das ist unmöglich.«

»Vor allem ist es erschreckend«, kommentierte Gianna, die nicht wissen konnte, was in seinem Kopf vorging.

Amadeo nickte zerstreut. Eine Übersetzung ins Hebräische traute er sich zu – er beherrschte die Sprache. Doch wie konnte er sicher sein, dass er genau den Wortlaut traf, den Einstein im Kopf gehabt hatte? Und viel wichtiger: Hätte Einstein sicher sein können, dass das funktionieren würde?

Zu viele Unbekannte. Das war es nicht. Eine codierte Botschaft musste eindeutig zu entziffern sein, wenn man den Schlüssel kannte.

Er schüttelte den Kopf, griff nach seinem Mantel. »Wenn Sie wieder mal so was haben, Gianna, einen Text, den Sie nicht lesen können, sagen Sie mir einfach Bescheid, falls ich nicht selbst dran denke.«

Mit einem Nicken war er durch die Tür und rief den Fahrstuhl.

Amadeo trat hinaus auf den Fußweg an der Via Oddone. Eisige Luft empfing ihn. Gefroren hatte es noch nicht, doch er schmeckte es auf der Zunge: Es würde frieren, später in der Nacht vielleicht, gegen Morgen mit Sicherheit.

Der junge Restaurator schlug den Kragen seines Mantels hoch und machte sich auf den Weg Richtung Park. Die Gartenanlagen selbst würde er meiden. Sie wurden nach Anbruch der Dunkelheit kaum beleuchtet – das machte sie so anziehend für heimliche Verabredungen, aber eben auch für allerhand tagesscheues Gelichter, dem er nicht unbedingt begegnen wollte. Stattdessen wandte er sich am Ende der Straße nach rechts, wenige hundert Meter weiter wieder nach links, auf die antike Pyramide des Cestius zu und die Porta di San Paolo, hinter der das historische Zentrum der Ewigen Stadt begann.

Die Straßen und Gehsteige waren belebt um diese Uhrzeit. Die Heerscharen von Touristen ließen sich von Dunkelheit und Kälte nicht abschrecken und von den Reisewarnungen wegen der Grippe wohl ebenso wenig. In diesem Punkt konnte Amadeo die Leute allerdings verstehen. Welchen Sinn hatten Reisewarnungen, wenn die Grippe sowieso schon auf der ganzen Welt unterwegs war? Und was die Kälte anbetraf: Die Gruppe direkt vor ihm, borstige rote und blonde Haare, konnte er auf Anhieb als Deutsche identifizieren. Die waren die Kälte ohnehin gewöhnt, und solche Gewohnheiten saßen tief bei den Leuten von jenseits der Alpen. Wenn sie auch heute nicht mehr mit Axt und Keule kamen wie ihre gotischen und vandalischen Ahnen: Sie waren noch immer genauso lästig. Amadeo hatte keine Chance, an den nordischen Hünen vorbeizukommen.

Schwäbisch, stellte er nach einer Weile fest. Eine beleibte Dame, offenbar die Reiseführerin, hatte gerade selbst für ihn als Italiener erkennbar »geschwäbelt«. Das also waren die Nachfahren von Federico Secondo. Amadeo seufzte lautlos. Tempora mutantur, dachte er. Wie die Zeiten sich ändern.

An der Porta di San Paolo, einer burgartigen Anlage in der Stadtmauer des Kaisers Aurelian, gelang es ihm endlich, die Deutschen zu überholen. Er konnte nicht nachdenken mit so vielen Stimmen um sich herum. Dazu das ständige Hupkonzert und die grellen Scheinwerferlichter – aufatmend schlug er eine der Nebenstraßen ein.

Sofort schien es mehrere Grade kälter zu werden. In Wolken stieg sein Atem in die Abendluft, und spontan kamen ihm die Thermen des Caracalla in den Sinn, wo die antiken Römer an kalten Tagen ihre Glieder gewärmt hatten. Gut, die Thermen lagen seit anderthalbtausend Jahren in Trümmern, aber auf jeden Fall war es eine hübsche Strecke für einen Spaziergang, und vor allem war sie garantiert touristenfrei.

Tatsächlich hallten schon nach wenigen Metern nur noch Amadeos eigene Schritte von den Fassaden wider. Dieser Teil der Stadt hatte seit der Antike hauptsächlich als Weinberg gedient und war erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wieder besiedelt worden. Eine Wohngegend, die er sich niemals hätte leisten können, direkt am Rande des centro storico, der historischen Altstadt, und doch schön ruhig. Für den Moment hatte er diesen labyrinthischen Winkel der Ewigen Stadt für sich allein – labyrinthisch wie seine Gedanken, die wieder und wieder um das Rätsel eines Textes kreisten, der ein halbes Jahrhundert alt war oder doch mehrere Jahrtausende, ganz wie man es betrachten wollte.

Der junge Restaurator betrachtete es mittlerweile mit Verzweiflung. Der Code musste einen bestimmten, komplizierten Rhythmus haben, eine Art unsichtbarer Signatur. Diese Signatur musste man kennen, dann war die Entschlüsselung ein Spiel – wie beim Tanzen, wenn man die Schrittfolge beherrschte.

Zum Hall seiner eigenen Schritte hatte sich jetzt ein Echo gesellt, das um eine Winzigkeit versetzt war. Eine andere grüblerische Seele vielleicht, die sich mit ihren persönlichen Rätseln und Gedanken umtrieb und im Irrgarten der Gassen einen Weg durch das Chaos im eigenen Kopf suchte.

Amadeo blieb einen Moment stehen, um den Fremden passieren zu lassen. Er mochte das Gefühl nicht, dass ihm jemand folgte, heute schon gar nicht, nach allem, was dieser Tag gebracht hatte.

Der Restaurator stutzte.

Es war nichts mehr zu hören, nur noch der gedämpfte Verkehrslärm, ein, zwei Straßenzüge entfernt auf der anderen Seite der Stadtmauer.

Amadeo drehte sich um, spähte die Gasse hinab. Alle fünfzig Meter glomm das gelbliche Licht einer Laterne durch die Nacht, doch es reichte nicht aus, um alle Winkel des Gehwegs zu erhellen. Es war kalt an diesem Abend, aber das hieß noch nicht, dass die Luft auch klar war. Feiner Dunst lag in den Gassen, der es schwer machte, Entfernungen, Umrisse, Schatten abzuschätzen.

Nirgendwo war ein Mensch zu entdecken. Ob sein unsichtbarer Weggefährte angekommen war, wo er hingewollt hatte? Jemand, der hier irgendwo wohnte, mit Sicherheit. Wer verlief sich schon in diese Ecke, wenn er kein festes Ziel hatte?

Unwirsch schüttelte Amadeo den Kopf, wandte sich auf dem Absatz um und ging weiter. Er hatte mehrere Möglichkeiten, um von hier aus zu den Ruinen der Thermen zu kommen. Er konnte an der nächsten Ecke nach links abbiegen, weiter durch die Gassen, oder sich rechts halten, bis er auf die Stadtmauer stieß. Dort würden dann auch wieder mehr Menschen unterwegs sein, und es gab eine bessere Straßenbeleuchtung.

Aber genau das hatte er doch vermeiden wollen!

Die Schritte waren wieder da.

Waren es dieselben Schritte? Sie bewegten sich nahezu in derselben Frequenz wie seine eigenen. Schwere Schritte, eher dumpf, soweit sich das sagen ließ, mit Sicherheit Männerschritte. In Stiefeln vielleicht? Amadeo hatte die Gabelung der Gasse fast erreicht. Er biss die Zähne zusammen. Nein, er würde sich nicht von einem Phantom in Panik versetzen lassen!

Entschlossen wandte er sich nach links, tiefer in das Gewirr der Gassen hinein.

Die Gehsteige waren schmal hier, begrenzt von hohen Gartenmauern, die zum Teil mit Efeu berankt waren, schwarzes Laub im trüben Laternenlicht. Unruhig glitt Amadeos Blick über das Mauerwerk, suchte nach einer vertrauten Wegmarke. Die Namen auf den Straßenschildern waren nicht zu entziffern, doch er war hier schon häufiger gewesen – bei Tageslicht. Die Nächste wieder rechts? Oder erst weiter geradeaus? Wenn er sich rechts hielt, musste er so oder so auf die Thermen zukommen, es sei denn, er lief in eine Sackgasse. Nein, das wollte er sich nicht vorstellen!

Wieder kam ihm sein Traum in den Sinn, gegen seinen Willen: der Dom von San Pietro und dann unvermittelt jener andere, labyrinthische, fremde Ort. Gab es irgendwelche Ähnlichkeiten zu dem, was ihn jetzt umgab? Es waren Höhlen gewesen in seinem Traum, da war er sich sicher, raue, unbehauene Gänge, die sich durchs Gestein zogen, tief unter der Erde.

Nein, keinerlei Ähnlichkeit – abgesehen von dem Gefühl in seinem Innern, der Ahnung, ja, der Gewissheit, dass etwas hinter ihm war.

Amadeo horchte in die Nacht, über das Pochen in seinen Schläfen hinweg. Waren die Schritte überhaupt noch da?