Das Berghotel 235 - Verena Kufsteiner - E-Book

Das Berghotel 235 E-Book

Verena Kufsteiner

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Beschreibung

Erst kürzlich hat Rosa Sindlinger erfahren, dass sie noch einen älteren Bruder hat. Ihre Mutter, damals gerade sechzehn, musste das Kind zur Adoption freigeben, um der Familie die Schande zu ersparen. Nun da sie weiß, dass die bald sterben wird, will sie ihren Sohn suchen und um Verzeihung bitten.
Rosa engagiert ihm Auftrag der Mutter einen Privatdetektiv, der schon bald drei junge Männer ausfindig macht, die infrage kommen. Zwei der drei können sie jedoch schon bald darauf ausschließen. Nun bleibt ihnen nur noch eine letzte Spur. Und die führt zu Niko Bachmann, einem Naturführer im Zillertal. Die Zeit drängt, denn ihrer Mutter geht es immer schlechter und so macht sich Rosa auf den Weg zu dem Mann, der hoffentlich ihr Bruder ist ...


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Inhalt

Cover

Impressum

Die letzte Spur

Vorschau

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

© 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Bastei Verlag / Wolf

eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 9-783-7517-0798-5

www.bastei.de

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Die letzte Spur

Die Suche nach ihrem Bruder führt Rosa ins Berghotel

Von Verena Kufsteiner

Erst kürzlich hat Rosa Sindlinger erfahren, dass sie noch einen älteren Bruder hat. Ihre Mutter, damals gerade sechzehn, musste das Kind zur Adoption freigeben, um der Familie die Schande zu ersparen. Nun da sie weiß, dass sie bald sterben wird, will sie ihren Sohn suchen und um Verzeihung bitten.

Rosa engagiert ihm Auftrag der Mutter einen Privatdetektiv, der schon bald drei junge Männer ausfindig macht, die infrage kommen. Zwei der drei können sie jedoch schon bald darauf ausschließen. Nun bleibt ihnen nur noch eine letzte Spur. Und die führt zu Niko Bachmann, einem Naturführer im Zillertal. Die Zeit drängt, denn ihrer Mutter geht es immer schlechter, und so macht sich Rosa auf den Weg zu dem Mann, der hoffentlich ihr Bruder ist ...

Jakob Köpping sah an der eleganten Jugendstilvilla in der Wiener Innenstadt auf. Weiße Erker und Balkone, blitzende Fenster im Sonnenlicht vor azurblauem Himmel. So schön hatte wohnte man also, wenn man sich für Tiere einsetzte.

Was er in der Tasche hatte, würde seiner Klientin Rosa Sindlinger, der Geschäftsführerin einer bekannten Wiener Tierschutzorganisation, nicht gefallen. Zwei von drei möglichen Antworten auf ihre Frage konnte er bereits ausschließen, und ob er mit der dritten Möglichkeit richtig lag, stand noch in den Sternen.

Nun war Jakob nicht gerade neu in seinem Job. Seit dreizehn Jahren arbeitete er als Privatdetektiv in Österreichs Hauptstadt. Da war ihm schon einiges untergekommen. Industriespionage, Vermisstensuche und natürlich immer wieder Ehepartner, die auf Abwege geraten waren. Jakob kannte die Abgründe der menschlichen Seele und hatte sich mit seinen Ermittlungen so manchen Feind gemacht.

Aber eine Klientin wie Rosa Sindlinger hatte er selten gehabt. Wenn er überhaupt je eine gehabt hatte, die derart anspruchsvoll gewesen war. Jakob seufzte leise, als er die Tür zu den Büroräumen der Tierschutzorganisation aufstieß, die Rosa Sindlinger leitete. Zwei Monate arbeitete er jetzt an ihrem Fall, und es hatte noch kein Treffen gegeben, bei dem sie nicht in Streit geraten waren. Dabei sah die dreißigjährige Blondine mit ihren großen, klarblauen Augen auf den ersten Blick eher harmlos aus. Doch wenn man sie näher kennenlernte, hatte sie es wirklich in sich.

Zielstrebig lief er den weiß getünchten Flur entlang bis zum Vorzimmer der Geschäftsleitung. Sindlingers Sekretärin lächelte ihm entgegen, als er an ihren Schreibtisch trat.

»Herr Köpping. Schön, Sie zu sehen. Frau Sindlinger erwartet Sie schon.« Dabei meinte er ein leichtes Zwinkern zu erkennen, als wüsste sie, welche Behandlung ihm gleich wieder blühte.

Nun ja, er wusste es auch.

»Noch viel schöner ist's freilich, Sie zu sehen, meine liebe Frau Elting. Ihr strahlendes Lächeln könnt einen Burschen glatt dazu bringen, seinen Auftrag zu vergessen und einfach hier stehen zu bleiben. Um die Schönheit gebührend zu feiern.«

Was freilich auch mehr Spaß gemacht hätte, als sich wieder sagen zu lassen, dass man schlecht gearbeitet hatte.

Die Sekretärin errötete und senkte verlegen den Blick.

»Sie übertreiben.«

»So gschamig? Sie müssen doch wissen, wie fesch Sie sind«, flirtete er weiter. »Da möcht man glatt den Termin sausen lassen. Zumal die Frau Sindlinger ... Na, Sie wissen ja, wie sie ist.«

Die zarte Röte gefiel ihm zunehmend. Und dann erst das schüchterne Abwinken. Vielleicht sollte er sie nach ihrer Telefonnummer fragen? Zwar hielt Jakob nichts von festen Beziehungen – dafür hatte er zu viele Ehepartner beim Fremdgehen ertappt – aber gegen einen kleinen, unverbindlichen Flirt hatte er nie etwas einzuwenden.

In diesem Moment hörte er hinter sich ein Räuspern.

Nichts Gutes ahnend, drehte er sich langsam um und setzte dabei sein charmantestes Lächeln auf, das schon so manche Klientin überzeugt hatte.

Nicht so Rosa Sindlinger. Beim Anblick ihres erzürnten Gesichts erstarb das Lächeln sofort auf seinen Lippen.

»Wie ist die Frau Sindlinger denn?«, fragte sie spitz und bedeutete ihm mit einem Kopfnicken, ihr ins Büro voranzugehen.

Jakob zog es vor, die Frage unbeantwortet zu lassen, und trat in den großen, hellen Raum mit der wunderschönen Stuckdecke. Gerahmte Tierfotografien an allen Wänden hätten für den sanften Charakter der Eigentümerin sprechen können, aber Jakob wusste es besser. In der Mitte des Zimmers stand ein riesiger Massivholzschreibtisch, der wie bei jedem Besuch mit Dokumentenstapeln nur so überladen war.

Wie ein gerügter Schulbub nahm er vor diesem Schreibtisch Platz und sie – ganz die Frau Direktor – ging um ihn herum, um sich im Chefsessel niederzulassen. Dabei ließ sie ihn nicht aus den Augen.

Diese Augen hatten es wahrlich in sich. Nicht nur, dass sie wunderschön waren mit ihrem intensiven Blau und den dichten, geschwungenen Wimpern, man spürte auch die außergewöhnliche Intelligenz, die Rosa Sindlinger so faszinierend machte.

Denn ja, diese Frau brachte Jakob jedes Mal, wenn sie sich trafen, zur Weißglut mit ihrer arroganten, bevormundenden Art, aber sie war auch ungewöhnlich schön und hatte etwas an sich, dass ihm gegen seinen Willen unter die Haut ging. Immer wieder musste er sich daran erinnern, dass sie nur eine Klientin war, nicht mehr, und noch dazu eine besonders anstrengende.

»Sie sollten Ihre Zeit nicht mit Flirten vergeuden, sondern lieber Ihre Arbeit tun, Herr Köpping. Zwei Monate warte ich schon auf Ergebnisse, und Sie haben meinen Bruder noch immer nicht gefunden.«

Da hatte er es. Wann immer er sich für den Bruchteil einer Sekunde der Illusion hingab, in dieser feschen, schlanken Blondine mit dem Büro-Ensemble aus taillierter weißer Bluse und dunkelblauer Hose stecke ein warmes Herz, wurde er sofort eines Besseren belehrt. Diese Frau trug harte Bandagen.

Jakob schüttelte kaum merklich den Kopf und legte die Aktenmappe auf seinen Schoß.

»Bei einer Personensuche kann es durchaus eine Weile dauern, bis man konkrete Ergebnisse hat«, gab er zu bedenken, während er die Fotos hervorzog. »Vor allem nach so langer Zeit.«

»Freilich wären Sie trotzdem schneller, wenn Sie sich auf die Sache konzentrieren würden. Meine Sekretärin ist für Sie tabu.«

Das ging ihm jetzt doch zu weit. Er ließ sich doch einen harmlosen Flirt nicht verbieten! »Ich glaub net ...«

Rosa Sindlinger sah ihn scharf an.

»Was Sie glauben, ist mir offen gestanden völlig gleich. Hier in meinem Büro lassen Sie gefälligst die Anzüglichkeiten. Ich dulde keine Schürzenjäger unter meinen Angestellten.«

Jakob schnappte nach Luft. Schürzenjäger? Dann jedoch glitt ein heimliches Grinsen auf sein Gesicht. Traute sie ihm etwa Erfolge bei den Madeln zu? Nun ja, die hatte er wohl, wenn auch nicht in dem Ausmaß, das sie anscheinend vermutete.

»Wie Sie meinen. Solang ich net Ihre Schürze jagen muss ...«, reizte er frech und legte rasch drei Fotos auf den Tisch, bevor sie etwas erwidern konnte. »Wie Sie wissen, hab ich anhand der Geburtsurkunde, die Sie mir zur Verfügung gestellt haben, drei Burschen ausgemacht, die möglicherweise als Ihr Bruder infrage kommen. Nun hab ich mich noch ein bisserl tiefer in die Recherche hineingekniet. Da Ihre Mutter damals einer Inkognito-Adoption zugestimmt hat, konnte ich bei der Adoptionsstelle net fündig werden, das hat's ein bisserl langwieriger gemacht. Sonst wüsst ich längst mehr. Aber ich kann inzwischen zwei Burschen ausschließen.« Er tippte auf zwei der drei Fotos, die vor ihm lagen.

Rosa Sindlinger warf einen kritischen Blick auf die beiden, schob sie dann zusammen und gab sie an Jakob zurück.

»Das heißt, Sie haben auch heut wieder keine Ergebnisse für mich. Ist Ihnen klar, wie wenig Zeit uns bleibt, meinen Bruder zu finden? Als ich Sie beauftragt habe, dachte ich an ein paar Tage, maximal Wochen. Nun sind es schon Monate, aber Sie haben meinen Bruder immer noch net gefunden.«

Jakob zählte innerlich bis zehn und zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Was nutzte es, ihr auseinanderzusetzen, wie kompliziert es war, ein Kind zu finden, das man vor sechsunddreißig Jahren weggegeben hatte? Wenn er ihre Mutter kritisierte, die diese Suche nicht früher unternommen hatte, bekam er nur wieder etwas zu hören.

»Eine letzte Spur bleibt uns ja noch«, sagte er begütigend und deutete auf das dritte Bild, das er im Internet gefunden hatte.

Darauf war ein junger Mann zu sehen, der – wie Jakob wusste – ebenjene sechsunddreißig Jahre alt und damals in Wien geboren war. Er hatte lockiges blondes Haar in einem ganz ähnlichen Farbton wie seine vermeintliche Schwester, deren goldblonde Wellen ihn an Weizenähren erinnerten, die in der Sonne leuchteten. Wie bei den anderen Gelegenheiten hatte sie es zu einem festen Knoten am Hinterkopf zusammengebunden, der von einem grünen Samtzopfband gehalten wurde. Jakob fragte sich jedes Mal, wie es wohl offen aussah.

Aber diesen Gedanken schüttelte er ab und sah lieber auf das Bild. Der Bursche trug Lederhosen und das karierte Flanellhemd eines echten Naturburschen – was der Städter Jakob Köpping insgeheim belächelte. Jakob interessierten bei seiner Arbeit die Umtriebe der Menschen, und Menschen fand man nun einmal am besten in der Großstadt. Rosa Sindlingers Bruder hingegen posierte vor der unberührten Natur der Tiroler Alpen, und die Bildunterschrift wies ihn als Naturführer aus. Offenbar arbeitete er mit mehreren Zillertaler Hotels zusammen und bot biologische Aufklärungsseminare für Touristen an.

»Niko Bachmann«, las Rosa Sindlinger vor. »Und der soll's jetzt sein?«

Jakob zuckte die Schultern. »Sicher sagen kann ich's net, aber er ist der Einzige, für den ich keine Ausschlusskriterien hab.«

»In Ordnung.« Rosa Sindlinger nahm das Bild und schob es in ihre Handtasche. »Dann schauen wir uns den Burschen mal an.«

»Wir?« Er musste sich verhört haben.

»Freilich. Der Bursche ist im Zillertal, und da fahren wir am Wochenende hin. Erstens müssen wir herausfinden, ob er's wirklich ist, und zweitens hab ich Sie ja net beauftragt, meinen Bruder zu finden, damit ich ihn net kennenlern.«

Damit schien das Thema für sie erledigt zu sein.

Jakob starrte sie eine Weile sprachlos an.

»Und wenn ich am Wochenende keine Zeit hab?« Und keine Lust auf einen Ausflug ins Grüne ...

Darauf legte sie den Kopf schief.

»Haben Sie eine Verabredung mit meiner Sekretärin?«

»Hätten Sie was dagegen?«

Das Lächeln, das nun auf ihren Lippen erschien, war alles andere als warm.

»Wissen Sie, mir kann's eigentlich gleich sein, aber wenn ich mit dieser Reise verhindern kann, dass meine Assistentin, die ich sehr schätz, auf einen wie Sie hereinfällt, dann soll's mir recht sein.«

Einen wie mich. Jakob wollte empört aufstehen und den Auftrag Auftrag sein lassen. Warum tat er sich das überhaupt an?

Aber dann funkelten ihre kobaltblauen Augen so frech, dass er nicht widerstehen konnte. Ein Wochenende allein mit ihr im Zillertal? Vielleicht sogar länger, wenn den Bruder nicht gleich identifizieren konnten? Das sollte doch recht interessant werden.

Und wer wusste schon? Vielleicht würde er der kühlen Blonden noch zeigen, was in einem Schürzenjäger wie ihm steckte. Nicht, dass er sie verführen wollte. So weit ging seine Faszination für schnippische Schönheiten nun auch wieder nicht. Aber sie hatte etwas in ihm gereizt, das sich ihr nun beweisen wollte. Das danach verlangte, aus ihrem Mund die Anerkennung zu hören, die seine Arbeit verdiente.

»In Ordnung, ich hole Sie Freitagnachmittag ab. Wir fahren mit meinem Auto.«

»Schmarrn. Wir treffen uns dort. Ich hab viel zu tun und will flexibel sein.«

Er verdrehte die Augen. »Meinetwegen auch das.«

»Meine Sekretärin mailt Ihnen die Hoteldaten.«

Damit wandte sie sich ab und ihrem Bildschirm zu. Wie zum Zeichen, dass der aufmüpfige Schulbub entlassen war und die Direktorin jetzt weiterarbeiten musste.

Na, der würde er das Herumkommandieren schon noch abgewöhnen!

***

Erst als die Tür hinter dem Privatdetektiv ins Schloss gefallen war, sackte Rosa in ihrem Bürostuhl zusammen.

Was für ein unverschämter Kerl! Erst schäkerte er mit ihrer Sekretärin, anstatt zu arbeiten, und dann kam er ihr auch noch frech.

Solche Männer kannte sie zur Genüge. Nach dem, was ihre Mutter erzählte, war selbst ihr eigener Vater nicht anders gewesen. Er hatte ihre Mutter mit ihr als Baby allein gelassen und sich anderen Madeln zugewandt, anstatt sich zu kümmern. Kennengelernt hatte Rosa ihn freilich nicht. Die Beziehung war längst vorbei gewesen, als Rosa geboren war. Aber ihre Mutter hatte genug erzählt, um Rosa vor solchen Männern zu warnen.

Jakob Köpping war ein klassischer Schürzenjäger. Die waren ihr am liebsten! Statt den Madeln hinterherzuschauen, sollte er sich besser auf die Suche nach ihrem Bruder machen.

Dabei war sie natürlich nicht taub und blind. Sie verstand schon, was die Madeln an ihm fanden. Er war schlagfertig und trug eine Lässigkeit vor sich her, als könne ihm niemand etwas anhaben. Manch eine fand das sicher anziehend. Aber Rosa fiel auf dieses Gehabe freilich nicht herein. Ebenso wenig wie auf seine warmen, grünlich-braunen Augen und das coole Äußere aus Lederjacke, eng anliegendem, weißem T-Shirt und Jeanshose. Wobei es durchaus ansehnlich war, wie sich seine Muskeln unter dem T-Shirt abzeichneten. Rosa vermutete, dass ein Privatdetektiv sich für die Arbeit fit halten musste ...

Stopp! Jetzt hatte sie sich doch tatsächlich ablenken lassen. Unzählige Tierschutzprojekte warteten auf ihrem Schreibtisch, durchgearbeitet und von der Geschäftsführerin abgesegnet zu werden.

Doch seit sie vor zwei Monaten von ihrem Bruder erfahren hatte, fiel es ihr an manchen Tagen schwer, sich zu konzentrieren. Es war einfach so unglaublich! Ein Leben lang waren da nur Rosa und ihre Mutter gewesen. Martha Sindlinger, eine gestandene Alleinerziehende, die es auch mit Baby geschafft hatte, sich ein Leben aufzubauen. Die für Rosa gesorgt und sie zu einer selbstständigen Persönlichkeit erzogen hatte. Martha und Rosa, so eng miteinander verbunden, dass sie gemeinsam diese Tierschutzorganisation aufgebaut hatten, die sich in der ganzen Welt für das Wohl der Tiere einsetzte.

Und dann war Martha krank geworden. Ein Darmtumor, der die Vierundfünfzigjährige innerhalb kürzester Zeit in einen Schatten ihrer selbst verwandelt hatte. Der sie quälte und nachts schlecht schlafen ließ. Und in einer dieser fiebrigen, gequälten Nächte hatte Rosa ihre Mutter zum ersten Mal nach dem Baby rufen hören.

Ihre Hände zitterten, wenn sie nur daran dachte.

»Mein Junge! Mein Junge! Was hab ich getan?«

Es hatte so verzweifelt geklungen, dass Rosa sie sanft an der Schulter gerüttelt hatte, um sie aus dem Albtraum zu wecken. Lange hatte sie Martha im Arm gehalten, bis diese wieder eingeschlafen war. Den verrückten Gedanken, es könnte außer ihr ein zweites Baby geben, hatte sie einfach beiseitegeschoben.

Aber die nächtlichen Attacken hatten sich gehäuft. Wieder und wieder hatte Martha nach ihrem Jungen gerufen, und es war ihr immer schlechter gegangen. Da hatte Rosa ein bisserl in den Unterlagen daheim herumgestöbert und eine Kopie der Geburtsurkunde gefunden. Das einzige Indiz, dass es diesen Bruder wirklich gab.

Rosa zog das Bild aus ihrer Tasche, das Köpping ihr mitgebracht hatte. Dieser Bursche sollte es sein? War das ihr Bruder? Und wusste er, dass er eine Schwester hatte? Vermutlich nicht, sonst hätte er sie doch gesucht, oder?

Rosa jedenfalls hatte nicht gezögert, sobald ihr klar geworden war, dass es ihn gab. Aber ihre Motive waren vielleicht auch andere. Sie pflegte ihre Mutter daheim. Wenn sie arbeitete, war eine Schwester bei Martha, doch die Nächte verbrachte Rosa mit ihr. Sie sah, wie das Leben aus ihrer Mutter heraussickerte, langsam aber beständig. All ihre Angelegenheiten hatte sie bereits geregelt, sogar schon ihrer Bestattungsvorsorge geplant. Rosa wusste, wo das Testament lag und wie sie das Vermächtnis ihrer Mutter weiterführen sollte.

Nur diese eine Sache hatte Martha nicht im Griff: Sie wusste nicht, wo ihr Sohn war. Wer ihr Sohn war. Einen Namen enthielt seine Geburtsurkunde nämlich nicht. Genauso wenig ahnte sie, ob er sich zu einem glücklichen Menschen entwickelt hatte oder ein Leben am Rande des Existenzminimums führte. Ob er die Überzeugungen seiner Mutter mit Füßen trat, indem er zum Beispiel ein Tierversuchslabor leitete, oder sich für dieselben Ziele einsetzte.

Und das quälte Martha. Rosa spürte es mit jedem Albtraum in der Nacht, hatte aber nicht das Herz, ihrer Mutter zu erzählen, dass sie davon wusste, solange sie nichts Konkretes in der Hand hatte. Sollte sie Marthas Leid verschlimmern, indem sie über ihr Baby sprach, das sie nie kennengelernt hatte, ohne ihr erzählen zu können, was aus diesem Kind geworden war?