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Feministischer Horror trifft auf gesellschaftskritischen Nervenkitzel Monika Kims Sunday Times-Bestseller ist ein fesselnder feministischer Horrorroman über Wut, Obsession und die Grenzen der Moral. Nach der Trennung ihrer Eltern gerät Jiwons Leben ins Chaos – und der neue, selbstgefällige weiße Freund ihrer Mutter macht alles nur schlimmer, indem er sie und ihre Schwester fetischisiert und ihre Kultur verhöhnt. Jiwons Gedanken werden immer radikaler. Wie weit wird sie gehen, um ihre Familie zu retten? - Good for her? – Eine schockierende weibliche Rachegeschichte - Female Rage & Horror – Die blutige Geburt einer Serienmörderin Ein Debüt, das Grenzen sprengt: Monika Kim verbindet gesellschaftliche Themen mit Gänsehaut-Horror!
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Seitenzahl: 348
Veröffentlichungsjahr: 2025
Monika Kim
Roman
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Titelseite
Über Monika Kim
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Monika Kim ist eine koreanische Amerikanerin der zweiten Generation, die in Los Angeles’ Koreatown lebt. Das Essen von Fischaugen und anderen koreanischen Aberglauben hat sie von ihrer Mutter gelernt, die 1985 aus Seoul nach Kalifornien eingewandert ist. THE EYES ARE THE BEST PART ist ihr Debütroman.
Jasmin Humburg ist promovierte Amerikanistin, literarische Übersetzerin aus dem Englischen und Literaturvermittlerin. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Hamburg.
zur Kurzübersicht
Jiwons Leben ist in Aufruhr, nachdem ihr Vater die Familie verlassen hat. Als dann der unausstehliche neue weiße Freund ihrer Mutter auftaucht, der mit seinem mangelhaften Wissen über die koreanische Kultur prahlt und asiatischen Kellnerinnen in Restaurants hinterherglotzt, gerät Jiwons Gefühlswelt ins Wanken. Sie steigert sich immer mehr hinein in eine Obsession, die die strahlend blauen Augen ihres Stiefvaters betrifft. Jiwon fasst einen folgenschweren Entschluss: Sie muss ihre Familie retten … und gleichzeitig ihr Verlangen stillen.
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Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KGBahnhofsvorplatz 150667 Köln
Titel der Originalausgabe: The Eyes Are The Best Part
Die Originalausgabe erschien 2024 bei Brazen, einem Imprint von Octopus Publishing Ltd, London
Copyright © Monika Kim 2024
All rights reserved
Aus dem Englischen von Jasmin Humburg
kiwi sphere
© 2025, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München, nach einem Entwurf von Brazen Verlag, 2024
Abbildungen im Innenteil: © Brazen Verlag
ISBN978-3-462-31390-1
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Motto
Widmung
Das Beste sind die Augen
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
62. Kapitel
63. Kapitel
64. Kapitel
65. Kapitel
66. Kapitel
67. Kapitel
68. Kapitel
69. Kapitel
70. Kapitel
71. Kapitel
72. Kapitel
73. Kapitel
Danksagung
Schlussabbildung
Meine Mutter mag zu schwach sein
und meine Schwester zu jung,
aber ich bin weder das eine
noch das andere …
Für meine Umma
Umma sagt, die Augen sind das Beste.
Sie beugt sich über den Esstisch, die dunklen Haare ordentlich hinter die Ohren gestrichen, und bearbeitet mit flinken, manikürten Fingern geschickt den Fisch auf ihrem Teller. Sie hat es schon so oft gemacht, dass sie es auch mit verbundenen Augen erledigen könnte. Als Erstes zerteilt sie den Fisch, indem sie den Körper mit Edelstahlstäbchen von oben aufbricht, dort, wo sich Kopf und Rückenflosse treffen und wo sie eine saubere Reihe winziger, beinahe unsichtbarer Gräten freilegt. Das Innere des Fisches ist noch dampfend heiß, aber meine Mutter scheint das nicht zu stören. Sie zieht an der Mittelgräte, die sich im Ganzen löst, und legt sie dann beiseite, um sich wieder dem weichen, weißen Fischfleisch zuzuwenden.
Als sie fertig ist, ist der ganze Fisch zerlegt, die Gräten hat sie fein säuberlich auf der Papierserviette neben ihrem Teller abgelegt. Umma sieht Ji-hyun und mich an, auf ihrem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus. Wir wissen, was jetzt kommt und trotzdem ist uns überhaupt nicht wohl bei der Sache.
»Wer will das Auge haben?«, fragt sie und deutet auf den Teller. Der Fisch glotzt uns ausdruckslos an.
Meine Schwester Ji-hyun ist fünfzehn und niemand ist so kritisch wie sie, wenn es ums Essen geht. Sie kann nicht mal ein Stück Tomate in den Mund nehmen, ohne zu würgen; von der schleimigen Konsistenz wird ihr übel. Jedes Mal, wenn unsere Mutter über Fischaugen spricht, wird Ji-hyun blass und bekommt Schweißausbrüche.
»Niemals.« Meine Schwester schüttelt den Kopf und geht auf Abstand. »Da sterbe ich lieber.«
Ji-hyuns Antwort lässt Umma kalt.
»Ji-won?«, fragt sie. »Was ist mit dir? Willst du es?«
Ich bekomme eine Gänsehaut. »Nein. Lieber nicht.«
»Bleibt mehr für mich!«, sagt Umma fröhlich. Sie nimmt eines der Stäbchen und sticht damit in den Fischkopf. Ji-hyun macht ein Geräusch, das irgendwo zwischen keuchen und würgen liegt. Ich muss sie nicht ansehen, um zu wissen, dass ihr Mund weit offen steht. Mir geht es genauso, mein Ausdruck spiegelt sich in ihrem.
Ein paar Sekunden später hält Umma beide Stäbchen hoch, damit Ji-hyun und ich die kleine, weiße Kugel sehen können, die zwischen den schmalen Metallspitzen klemmt. Sie hat ein triumphierendes Funkeln in den Augen und bevor wir reagieren können, steckt sie sich das Ding in den Mund.
»So köstlich!« Sie zeigt uns ihre leere Zunge. Die silbrige Füllung ihrer Zähne schimmert im Licht. »Seht ihr? Eure Umma lügt nicht. Ihr zwei verpasst was.«
Uns ist der Appetit vergangen. Ji-hyun und ich stochern um den Fisch herum, lassen ihn links liegen und konzentrieren uns stattdessen auf den gedämpften Reis und die Beilagen. Ich weiß, dass der Fisch schon lange tot war, als meine Mutter ihm das Auge ausstach, aber irgendwie war mir das doch zu extrem.
Bevor Umma damit anfing, konnte ich problemlos Fisch essen. Immer wenn es ihn zum Abendessen gab, aß ich gierig und lutschte auch noch das letzte bisschen Fischfleisch von den Gräten. Jetzt kann ich kaum einen Fisch ansehen, ohne mir grausam vorzukommen. Das war mal ein lebendiges Wesen. Es konnte sehen und fühlen und denken. Es hatte vermutlich eine Familie, vielleicht sogar Freunde.
Ungeachtet unserer getrübten Stimmung plappert Umma weiter und bedient sich währenddessen an Reis und Fisch. Sie hört auch mit vollem Mund nicht auf zu reden und gelegentlich fallen halb zerkaute Reisbrocken auf den Tisch. Zu allem Übel verspeist sie jetzt auch noch die Fischhaut, die knusprig gebraten ist und nur so vor Öl trieft. Es kracht zwischen ihren Zähnen.
»Ihr seid noch zu jung«, sagt sie lachend. »Als ich klein war, habe ich Fischhaut und Fischaugen auch gehasst. Vermutlich weil meine Eltern mich zum Essen gezwungen haben. Wir waren arm und sie wollten nichts verschwenden. Sie haben uns erzählt, dass es Glück bringt, die Augen zu essen, und trotzdem habe ich mich geweigert. Erst als ich älter wurde, habe ich Geschmack daran gefunden, erst als ich nach Kalifornien kam und euren Vater kennenlernte –«
Sie verstummt abrupt. Ihr Gequassel weicht einer unangenehmen, fast unerträglichen Stille. Ji-hyun und ich werfen uns heimliche Blicke zu. Es ist das erste Mal, dass Umma unseren Vater erwähnt, seit er uns vor zwei Wochen urplötzlich verlassen hat.
Umma streicht sich den Pony aus der Stirn, ihre Mundwinkel zucken nach oben. Ein gezwungenes Lächeln. Sie steht auf, ihr Stuhl kratzt laut über das Linoleum. »Das war ein fabelhaftes Essen, oder?«, sagt sie. »Ich bin so satt, ich platze gleich.«
Ich nicke, bemühe mich um einen neutralen Gesichtsausdruck. »Köstlich.«
Sie stellt ihr Geschirr in die Spüle und dreht den Wasserhahn auf. Ji-hyun und ich lauschen dem Quietschen des Küchenschwamms in ihrer Hand und dem Plätschern des Wassers. Dann verschwindet sie ohne ein weiteres Wort und mit leisen Schritten in ihrem Schlafzimmer.
Unsere Wohnung ist klein. Küche und Wohnzimmer gehen ineinander über, dahinter ein kurzer Flur, ein Badezimmer für uns alle, und zwei Schlafzimmer. Es sind insgesamt nur fünfundsechzig Quadratmeter, und man hört alles. Jedes Flüstern, jeden Schritt, jedes Knarren, jede Klospülung.
Ich warte, bis Ummas Schlafzimmertür geschlossen ist, dann stehe ich auf und nehme den Teller hoch, auf dem der halb gegessene Fisch liegt, mit einem Loch dort, wo sein Auge sein sollte. Er ist noch warm.
»Du willst davon nichts mehr, oder?«, frage ich Ji-hyun. Sie legt den Kopf schief und sieht mich mit schmalen Augen an.
»Ganz sicher nicht.«
Ich gehe zum Mülleimer und kratze die Reste vom Teller, die Zinken der Gabel schrammen kreischend über das Porzellan. Der Fisch landet auf Kaffeesatz und geringelter Zwiebelschale und starrt mich vorwurfsvoll an, als wäre ich diejenige, die ihm Leid zugefügt hat. Wenn Ji-hyun nicht da wäre, würde ich jetzt sagen, »Ich war das nicht. Ich habe nichts getan.«
Erst als der Deckel zufällt, spüre ich so etwas wie Erleichterung.
Wenn ich ehrlich bin, wusste ich bis vor zwei Wochen gar nicht, dass es überhaupt Menschen gibt, die Fischaugen essen. Als es zum ersten Mal passierte, dachte ich, meine Mutter hätte den Verstand verloren, weil mein Vater weg war.
Es war wenige Tage nachdem Appa uns verlassen hatte. Umma war untröstlich. Sie weinte die ganze Nacht und auch wenn sie versuchte, es vor Ji-hyun und mir zu verbergen, war es nicht zu übersehen. Am Morgen waren ihre Augen rot und geschwollen, ihre Nase ganz wund. Außerdem hörten wir alles, das leise Wimmern und Stöhnen drang durch die dünne Wand in unser Schlafzimmer, wo Ji-hyun und ich uns ein Bett teilten. Hellwach lagen wir da und sahen uns an.
Ji-hyun war die Erste, die ihre Sprache wiederfand. So leise, dass ich sie kaum hören konnte, flüsterte sie, »Sollen wir irgendwas sagen?«
»Nein«, murmelte ich. »Ich will sie nicht in Verlegenheit bringen.«
Dabei hatte ich eigentlich bloß Angst. Ji-hyun wollte, dass ich die Zügel in die Hand nahm, die Rolle der großen Schwester spielte. Vielleicht hätte ich das tun sollen. Aber allein bei dem Gedanken daran, in das Zimmer meiner Mutter zu gehen und sie zusammengerollt dort liegen zu sehen, wurde mir ganz anders. Ich wollte schlafen und einfach alles ausblenden, was gerade passierte. Doch jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, wurde das Schluchzen meiner Mutter lauter, erfüllte den ganzen Raum, bis keine Luft zum Atmen mehr übrig war.
Ji-hyun stieß mich mit dem Ellenbogen an. »Was?«, fragte ich.
»Appa kommt wieder zurück, oder?«, flüsterte Ji-hyun. »Er lässt uns doch nicht einfach so sitzen.«
Ich starrte geradeaus.
»So was Schlimmes würde er nie machen«, sagte Ji-hyun. »Oder was meinst du?«
Ich wusste, dass unser Vater nicht zu uns zurückkommen würde. Aber sogar im Dunkeln konnte ich das Gesicht meiner Schwester sehen, ihre Sorgenfalten. Es tat mir so weh, dass ich ihr eine Lüge auftischte.
»Natürlich kommt er wieder zurück.«
Sie drehte sich zu mir und kaute auf ihrer Unterlippe. »Wie kannst du dir da so sicher sein?«
»Ich weiß es einfach.«
Erleichtert rollte Ji-hyun sich neben mir ein, wie eine gekochte Krabbe, ihre Füße hingen über den Rand des Bettes. Ich streichelte ihr seidiges, dunkles Haar, bis sie eingeschlafen war, und sah zu, wie sich ihr Brustkorb hob und senkte. Sie sah so friedlich und entspannt aus, dass ich fast kein schlechtes Gewissen hatte. Lange nachdem meine Mutter verstummt war, lag ich immer noch wach und lauschte dem Schnarchen meiner Schwester. Erst in diesem Moment wurde meinem Herzen bewusst, wie schlimm die Situation wirklich war.
Am Abend darauf bereitete meine Mutter ein Festmahl zu. Wir waren überrascht, denn schließlich war sie am Morgen noch so lethargisch und unglücklich gewesen. Sie kam früher von der Arbeit nach Hause, machte einen großen Schritt über Ji-hyun hinweg, die zwischen Stapeln von Hausaufgaben auf dem Fußboden lag, und wirbelte den ganzen Nachmittag in der Küche herum. Schweiß tropfte ihr von der Stirn. Sie wischte ihn weg und rief uns schließlich mit hoher Stimme zu Tisch. »Essen ist fertig!«
Der Kochdunst hatte sich in der ganzen Wohnung ausgebreitet. Ich hatte gehört, wie meine Mutter zwischen Küche und Wohnzimmer hin- und hergelaufen war, aber ich war trotzdem erstaunt, als ich sah, dass unser kleiner rechteckiger Esstisch bis auf den letzten Zentimeter mit Speisen bedeckt war. In der Mitte stand ein großer Steintopf mit geschmorter Rinderrippe, der Leibspeise meines Vaters. Daneben lag ein ganzer frittierter Fisch auf einer öligen Serviette. Ich sah weichen Tofu in Sojasauce und gedämpftes Ei mit Frühlingszwiebeln, das wie Pudding wackelte, wenn man den Tisch berührte. Außerdem gab es eine bunte Auswahl an Beilagen, allesamt selbst gemacht: dunkelgrünen, in Sesamöl schwimmenden Spinat; gewürzte Sojasprossen mit kleinen gelben Köpfen; mit Knoblauch angemachte, gebräunte Spitzen von Straußenfarn. Umma hatte sogar frisches Kimchi gemacht; der knackige, weiße Kohl war mit leuchtend roten Gochugaru-Flocken gesprenkelt. Ich hatte kaum genug Platz, um meine Ellenbogen abzustützen, und ich stellte mir vor, wie der Tisch sich unter dem Gewicht unseres Abendessens bog.
Es war sehr viel nur für uns drei, aber als ich sah, dass auch dort eingedeckt war, wo mein Vater normalerweise saß, dämmerte es mir. Ji-hyun und ich setzten uns auf unsere Plätze, umgeben von Tellern und Schüsseln, und fingen an zu essen. Meine Mutter hingegen saß wie auf Kohlen, ihr Löffel verharrte in der Luft. Sie behielt die Wohnungstür im Visier, als könnte Appa jeden Moment zu uns hereinrauschen.
Ji-hyun sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und deutete mit einem Kopfnicken auf Ummas angespannten Körper. Ich räusperte mich. »Du hast dir so viel Mühe gemacht. Du solltest wenigstens mal probieren.«
Widerwillig zupfte Umma ein Stück Fleisch ab und legte es auf ihren Reis. Als sie sich gerade über die dampfende Mahlzeit hermachen wollte, hörten wir ein leises Klimpern aus dem Hausflur. Das Geräusch eines Schlüssels. Umma sprang auf und hastete zur Tür. Ich hielt die Luft an und beobachtete, wie sie mit ausgestrecktem Arm stehen blieb. Wir warteten darauf, dass der Türknauf sich drehte. Stattdessen ertönte eine piepsige Stimme: »Falsche Tür, Entschuldigung!«
Es war unser Nachbar, ein vergesslicher alter Mann, der mindestens einmal pro Woche versuchte, unsere Wohnungstür aufzuschließen. Umma sank zu Boden und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Sie stieß ein ersticktes Schluchzen aus. Ji-hyun und ich eilten zu ihr. Als ich meine Mutter sanft an der Schulter berührte, zuckte sie zurück. Sie schaute mich an und ich sah, dass ihr die sorgfältig aufgetragene Wimperntusche über die Wangen lief.
Ji-hyun und ich halfen Umma auf und führten sie zurück an den Tisch, wo sie dann saß, mit zerzaustem Haar, eingefallen wie eine vertrocknete Blume. Sie schaute uns an, erst Ji-hyun und dann mich, und fing an zu lachen. Es klang rau und beunruhigend.
»Glaubt ihr, ich bin ein Pechvogel?«, fragte Umma.
»Nein«, erwiderte Ji-hyun leise. Sie hatte Angst, ihre Hände umklammerten die Tischkante. Die Fingerknöchel waren weiß. »Warum?«
Umma zuckte mit den Schultern und zeigte auf den Fisch. »Fischaugen bringen Glück. Vielleicht kommt euer Vater zurück, wenn ich eins esse.«
Bevor ich etwas sagen konnte, riss Umma das Auge aus dem Fischkopf. Es klebten noch gallertartige Stücke daran, Fetzen von Haut und Fleisch. Ohne zu zögern steckte sie sich das Auge in den Mund und zerkaute es. Ji-hyun und ich kreischten gleichzeitig auf.
»Spuck das aus!«
Zu unserem Entsetzen schluckte Umma es hinunter, ihre Halsmuskeln zogen sich zusammen. Sie ignorierte unseren Ekel und drehte den Fisch um. »Seht mal! Hier ist das andere Auge! Wer möchte mal probieren?«
Der Tofu zitterte heftig, als Ji-hyun und ich uns schwungvoll vom Tisch abstießen. Ji-hyuns Stuhl kippte und fiel krachend zu Boden.
Zum ersten Mal an diesem Abend musste Umma ehrlich lachen. »Ich werde euch nicht zwingen, es zu essen«, sagte sie und lächelte durch die Tränen hindurch. »Eigentlich bin ich ganz froh, dass ihr es nicht haben wollt. Eure Mutter kann jedes bisschen Glück gebrauchen.«
Appa hat uns verlassen, weil er eine andere Frau kennengelernt hat. Ich habe gehört, wie er es selbst zugegeben hat.
Es war Anfang Juli. Der Unabhängigkeitstag lag hinter uns, aber überall in der Stadt knallten noch immer die Feuerwerkskörper. Ich wurde von einem lauten Bumm geweckt und schlug gerade rechtzeitig die Augen auf, um einen Funkenregen vor dem Fenster zu sehen, während der Rauch sich langsam verzog. Ächzend befreite ich mich von der Bettdecke und schob Ji-hyuns Arm beiseite, der auf meinem Oberkörper lag. Es war drückend heiß im Zimmer und die körperliche Nähe zu meiner Schwester machte es noch schlimmer. Aus irgendeinem Grund hatte der Knall sie nicht geweckt. Ich hörte Stimmen draußen und ging davon aus, dass die Nachbarn wieder einmal Streit hatten. Ich rieb mir das Gesicht und hielt dann inne, um zu lauschen.
Sofort begriff ich, dass die Stimmen nicht von draußen kamen. Sie kamen aus dem Schlafzimmer meiner Eltern. Es war nach Mitternacht, aber es war nicht ungewöhnlich, dass sie noch wach waren, denn mein Vater ging oft spät ins Bett. Ungewöhnlich war der Ton meiner Mutter. Ich konnte ihre Worte zwar nicht genau verstehen, aber ich wusste, dass etwas nicht stimmte.
Umma war eine zurückhaltende, umgängliche Frau. Sie wagte es sonst nie, mit meinem Vater zu diskutieren, denn bei uns zu Hause war er ein König und ein Gott. Sein Wort war Gesetz und wir drei, seine Untertaninnen, gehorchten.
Hellwach presste ich mein Ohr an die Wand. Jetzt konnte ich alles deutlich hören: die Schärfe und Säure im Ton meines Vaters und die erstickte Stimme meiner Mutter, als würde jemand ihren Kopf unter Wasser drücken. Sie weinte.
»Aber warum?«, fragte Umma. »Ich verstehe nicht, warum du gehen willst. Bin ich dir denn gar nicht wichtig? Sind dir die Mädchen nicht wichtig?«
»Natürlich sind sie mir wichtig«, erwiderte Appa. »Zieh Ji-won und Ji-hyun da nicht mit rein. Diese Sache hat nichts mit den beiden zu tun.«
»Warum dann? Wirklich nur wegen mir? Bitte, Yeobo. Gib mir noch eine Chance. Du hast recht. Ich war dir in letzter Zeit keine gute Ehefrau. Das habe ich jetzt verstanden. Ich kann mich bessern. Ich werde mich bessern.«
Ich hörte zu und der Knoten in meiner Brust schnürte sich immer enger zusammen. Ich musste weg von dieser Wand, konnte nicht länger lauschen, aber gleichzeitig wollte ich es unbedingt wissen. Wie würde Appa reagieren? Was würde er sagen? Ich hielt die Luft an und wartete.
Mein Vater sprach so leise, dass ich mich anstrengen musste, um ihn zu verstehen. »Ich kann nicht bleiben«, sagte er. »Ich habe jemanden kennengelernt.«
Nach einer kurzen Pause hörte ich ein schreckliches Geräusch. Es baute sich langsam auf, gewann dann immer mehr an Lautstärke und Dimension, bis es die ganze Wohnung verschluckte. Ich hielt mir die Ohren zu, ohne ganz zu begreifen, was da eigentlich vor sich ging.
Meine Mutter heulte. Der Schmerz in ihrem Schrei war so intensiv, dass sich mir die Nackenhaare aufstellten, und ich drehte mich zu Ji-hyun, in der Gewissheit, dass auch sie jetzt aufwachen würde. Aber Ji-hyuns Augen blieben geschlossen. Ich kroch neben ihr unter die Bettdecke, meine Haut fühlte sich heiß und kribbelig an.
Ich wollte nichts mehr hören. Ich wollte nichts mehr wissen. Alles, was ich wollte, war schlafen, vergessen. Doch meine Mutter hörte die ganze Nacht nicht auf zu schluchzen. Ich fragte mich, wie mein Vater es ertragen konnte, neben ihr zu liegen. Selbst als ich meinen Kopf unter dem Kissen begrub, klang es, als läge sie direkt neben mir.
Seit dieser Nacht sind zwei Monate vergangen und Umma wartet immer noch. Sie huscht ständig an unserer Wohnungstür vorbei, mehr Geist als Mensch. Sie spukt um das Schuhregal und den Schrank am Eingang herum, in dem wir alte Mäntel und kaputte Regenschirme und Weihnachtsdeko aufbewahren, die wir seit Jahren nicht benutzt haben. Sie tut so, als müsse er täglich aufgeräumt werden, aber ich weiß es besser. Sie horcht auf die Schritte meines Vaters, seinen schweren Gang. Sie hofft, dass er seine Meinung ändert und zurückkommt. Wenn ich sie so sehe, liegt es mir auf der Zunge zu sagen, »Mach dir keine Hoffnungen« oder »Das bringt doch nichts«, aber ich weiß, dass es zwecklos wäre. Sie hört sowieso nicht auf mich.
Umma ist es gewohnt zu warten. Wahrscheinlich hat sie den Großteil ihres Lebens mit Warten verbracht.
In den 1970er-Jahren, als meine Mutter ein junges Mädchen war, herrschte große Armut in Korea. Die meisten Menschen im Land hatten nicht genug zu essen. Doch besonders schlimm war es in dem kleinen Dorf in der Nähe von Seoul, wo sie mit ihrer siebenköpfigen Familie lebte und wo praktisch jeder hungerte. Umma und ihre Geschwister hatten kaum etwas anzuziehen und bekamen nur eine Mahlzeit am Tag, einen dünnflüssigen Brei, der mehr Wasser als Reis enthielt.
Die Eltern meiner Mutter standen vor einem Dilemma. Die Familie brauchte wärmere Kleidung für den nahenden Winter, der besonders hart ausfallen sollte. Außerdem brauchten sie Reis und Mehl und Salz und Medikamente, weil ihre Kinder unterernährt und krank waren. Allerdings gab es kaum freie Stellen und so fand niemand Arbeit.
Als die Tochter der Nachbarn im Schlaf starb, war sie nur noch Haut und Knochen. Meine Großeltern nahm es sehr mit, als sie von dem Tod des Mädchens erfuhren. Sie sahen den Leichnam bei der Bestattung, dürr wie ein Skelett, und begriffen, dass sie andernorts ihr Glück versuchen mussten, um etwas Geld zu verdienen. Ihnen blieb nichts anderes übrig.
Mitten in der Nacht weckten sie Ha-joon, ihren ältesten Sohn. Mein Onkel war verwirrt, als sie ihm Geld in die Hand drückten und ihm eine ganze Reihe von Anweisungen ins Ohr flüsterten. Bevor er begreifen konnte, was passierte, waren meine Großeltern schon aus der Tür und in der kühlen Herbstluft verschwunden. Niemand sonst hatte sie gehen sehen.
Das Geld reichte nicht einmal für einen Monat, die Kinder gaben es für belanglose Dinge wie Süßigkeiten und Zeitschriften aus. Der kleine Rest Reis, den sie noch hatten, war schnell aufgebraucht und sie mussten hungern. War es wirklich überraschend, dass sie nicht wussten, wie sie für sich selbst sorgen sollten? Ha-joon war erst vierzehn.
Der Winter, der genauso brutal wurde, wie die Experten es vorhergesagt hatten, überrollte Seoul und Umgebung mit einer frostigen Schicht aus Eis und Schnee. Die kleine Blechhütte war nicht isoliert und die Kinder wurden krank, ihre Köpfe und Körper fieberheiß, ihre Ärmel voller verkrustetem, gelbem Rotz. Ha-joon hatte einen schweren Husten, der seine Lunge rasseln ließ.
Dann fiel eine zweite Schicht Schnee, noch stärker und nasser als zuvor, und Ha-joon beschloss, dem Beispiel seiner Eltern zu folgen und gemeinsam mit seinen Geschwistern nach Arbeit zu suchen. Insgeheim war er überzeugt, dass die Eltern ihre Kinder im Stich gelassen hatten und nicht wiederkommen würden.
Die anderen Geschwister waren einverstanden. Nur meine Mutter weigerte sich mitzugehen. Ha-joon stritt sich bis zum Schluss mit ihr, zog sie an den Haaren aus der Hütte, doch sie strampelte und schrie, bis er von ihr abließ.
Als sie loszogen, konnte Ha-joon nicht aufhören zu weinen. Er wusste, was es bedeutete, sie zurückzulassen, auch wenn sie zu jung und naiv war, um es zu begreifen. Er drehte sich nach jedem Schritt zu ihr um. »Bist du dir sicher? Noch ist es nicht zu spät, um mitzukommen!«
»Ich bin mir sicher.«
Noch ein Schritt. »Bist du wirklich sicher? Hundertprozentig?«
»Ja, ich bin mir sicher!«
Monate vergingen. Um zu überleben, aß meine Mutter Schnee und Baumrinde und fing sich gelegentlich einen Hasen oder eine Ratte, was ihr mit der Kraft der Verzweiflung auch gelang. Die meiste Zeit saß sie in der Hütte und zitterte vor Kälte. Im Frühling fand sie wild wachsende Zwiebeln, Knoblauch, Beifuß und Wasserfenchel und kochte daraus eine dünne, geschmacklose Suppe. Im Sommer pflückte sie zirpende Zikaden aus den Bäumen und sammelte Pilze im Wald.
Wie durch ein Wunder überlebte sie, wenn auch nur knapp. Als ihre Eltern im Spätherbst endlich zurückkehrten, war sie schwach, viel zu klein für ihr Alter, bis auf die Knochen abgemagert.
Meine Großeltern waren überrascht, Umma allein vorzufinden, und befürchteten das Schlimmste. Sie konnte kaum sprechen und schien nicht mehr wahrzunehmen, was um sie herum geschah. Letztendlich konnten sie Ha-joon und die anderen Geschwister irgendwann im Süden des Landes ausfindig machen. Als Ha-joon meine Mutter wiedersah, wurde er kalkweiß und kniete vor ihr nieder. Er war sich sicher, dass sie den Winter nicht überstanden hatte und er nun von ihrem ausgemergelten Geist heimgesucht wurde.
Ich frage mich, was aus Umma geworden wäre, wenn sie sich ihren Brüdern und Schwestern angeschlossen hätte, anstatt allein in der Hütte zu bleiben. Würde sie dann auch auf meinen Vater warten, der sie offensichtlich gar nicht haben will?
Manchmal finde ich meine Mutter seltsam, sie ist mir ein Rätsel. Als sie mir zum ersten Mal von ihrer Kindheit erzählte, von ihrer Entscheidung, allein zurückzubleiben, hätte ich sie anbrüllen und schütteln können. Sie wirkte so dumm und naiv, dass ich es kaum ertragen konnte.
»Warum?«, fragte ich. Meine unruhige Stimme verriet meine Gedanken. »Hattest du keine Angst, dass Halmeoni und Harabuji nie zurückkommen würden?«
»Nein. Ich habe nicht eine Sekunde an ihnen gezweifelt.«
»Aber wie konntest du dir so sicher sein?«
»Sie waren meine Eltern«, sagte sie sanft. »Ich wusste, dass sie zurückkommen würden.«
Ich machte den Mund auf, denn ich konnte meine wachsende Frustration nicht länger unterdrücken. Es kam mir hoch wie Galle, das Bedürfnis, etwas Gemeines und Harsches zu sagen, das Verlangen, sie wegen ihrer Dummheit runterzuputzen. Der Wunsch, sie zu demütigen. Doch kurz darauf verwandelte sich dieses Gefühl in Traurigkeit. Ich hatte Mitleid mit ihr. Es tat mir leid, dass jede Phase ihres Lebens von Kummer geprägt gewesen war. Dass sie immer noch litt.
Ihr Blick ging ins Leere. Sie war in Gedanken versunken und ahnte nicht, wie schlecht es mir gerade ging. Aber ich wusste, wo sie war und woran sie sich erinnerte. Sie saß wieder in der kleinen Blechhütte und hörte die Hagelkörner, die laut gegen die Wände prasselten. Es war Winter und sie war allein, ihr Weinen ging im Sturm unter.
Einige Dinge kann man nie ganz abschütteln. Nicht wirklich. Vielleicht hängt sie deswegen immer noch in der Vergangenheit fest, obwohl alle anderen sie bereits hinter sich gelassen haben.
»Ich habe neulich einen interessanten Artikel gelesen«, sagt Umma und schaut uns über den Rand ihrer Lesebrille an. Sie sitzt mit überschlagenen Beinen auf dem Sofa, ihre Füße zeigen in Richtung Tür. Ji-hyun fällt dieses winzige Detail vielleicht nicht auf, aber mir schon. Immerhin hat meine Mutter schon eine Weile nicht mehr so getan, als müssten Schrank oder Schuhregal aufgeräumt werden, was ich als riesigen Fortschritt verbuche.
Mein Studium hat erst vor wenigen Wochen begonnen, aber ich ertrinke bereits in Arbeit. Ich blicke von meinem Platz am Küchentisch auf, wo ich meine Bücher ausgebreitet habe. Alles ist voller Radierkrümel. Ich wische sie mir vom Pullover und sehe zu, wie sie zu Boden fliegen. Ji-hyun sitzt neben mir und umschlingt mit einem Arm ihre Knie. In der anderen Hand hält sie ihr Handy und scrollt stumpfsinnig vor sich hin. Sie scheint nicht mitbekommen zu haben, dass Umma etwas gesagt hat.
Umma räuspert sich und sagt dann etwas lauter, »Der Artikel war sehr aufschlussreich.«
In letzter Zeit versucht unsere Mutter ständig, uns in dämliche Gespräche zu verwickeln. Sie erwähnt völlig verrückte Dinge, wie Verschwörungstheorien, von denen sie im Internet gelesen hat, oder Nachrichtenmeldungen, die kein normaler Mensch je glauben würde. Neulich Abend beharrte sie darauf, dass die Mondlandung gefakt war. Als Ji-hyun und ich zu diskutieren anfingen, wirkte sie beinahe glücklich, auch wenn wir uns letztendlich fast eine Stunde lang stritten und Ji-hyun am Ende in Tränen aufgelöst war. Ich weiß nicht, ob es an Ummas Einsamkeit liegt oder ob sie Langeweile hat, aber Ji-hyun und ich passen inzwischen lieber auf, was wir sagen.
»Warum ignoriert ihr eure arme Mutter?«
»Tun wir doch gar nicht«, sagt Ji-hyun ausdruckslos und ohne von ihrem Handy aufzublicken.
»Sieht aber so aus.«
»Okay.«
Zerstreut blättere ich durch eines meiner Bücher. In diesem Semester belege ich Philosophie 4: Philosophische Analyse gegenwärtiger moralischer Fragen. Das Seminar ist nicht leicht und der Lesestoff ist sperrig und verwirrend. Immer wenn ich zu jammern anfange, sagt Ji-hyun, ich sei zu streng mit mir selbst.
»Gut«, sagt Umma schnippisch. »Wenn ihr euch nicht für mich interessiert, kann ich ja auch einfach direkt in ein Loch kriechen und sterben. Wenn ich weg bin, werdet ihr euch wünschen, netter zu mir gewesen zu sein.«
Ihre Stimme klingt angespannt, man kann ihre Verzweiflung hören. Umma spricht jetzt schneller, die koreanischen Wörter fließen über ihre Zunge wie Wasser. Sie macht keine Pausen, wie sie es sonst tut, damit wir ihr folgen können. Ji-hyuns Augen werden schmal. Meine Schwester weiß genauso gut wie ich, dass unsere Mutter in Tränen ausbrechen oder ihre Wut an uns auslassen wird, wenn wir sie weiter ignorieren. Seufzend lege ich meinen Bleistift beiseite und wische mir die Grafitspuren vom Handgelenk. »Okay. Ich höre.«
Ummas Stimmung schlägt augenblicklich um, ihre Melancholie ist wie weggeblasen, sie beugt sich vor und legt die Hände zusammen. Das Sofa knarzt unter ihr, als würde es sich über jede ihrer Bewegungen beschweren. »In dem Artikel ging es um eine Frau, die hundert Dates mit hundert verschiedenen Männern hatte«, sagt sie. »Es war ein Experiment, um herauszufinden, welche Männer am besten für Dates geeignet sind und welche am schlechtesten.«
Ji-hyuns Interesse ist geweckt. Sie lässt ihr Handy sinken und schaut Umma erwartungsvoll an. Ich muss ein Kichern unterdrücken. Meine Schwester ist verrückt nach Jungs, was in ihrem Alter vermutlich ganz normal ist. Ji-hyun bemüht sich, ihr Gefühlsleben zu verbergen, und sie wird jedes Mal sehr still, wenn ich sie nach Jungs aus ihrer Schule frage. Sie weiß nicht, dass ich ihr Tagebuch im Schrank gefunden habe, in dem sie ausgiebig von »Andrew« berichtet.
»Und?«, fragt Ji-hyun.
»Was und?«, sagt Umma grinsend.
»Jetzt spann uns nicht auf die Folter«, beschwert sich Ji-hyun. »Sag schon. Wer ist am besten geeignet und wer am schlechtesten?«
Umma holt tief Luft. »Die Frau sagt, weiße Männer sind am besten und koreanische Männer am schlimmsten.«
»Was? Warum?«, frage ich. Umma will uns wieder in eines ihrer haarsträubenden Gespräche verwickeln, aber ich kann nicht anders. Ich bin zu neugierig.
»Ist das nicht offensichtlich? Koreaner sind unhöflich, dickköpfig, launisch und aufbrausend.« Unsere Mutter schnieft laut und schaut kurz zur Tür. »Sie haben keine Ahnung von rücksichtsvollem Verhalten. Sie glauben, alles besser zu wissen. Die Autorin schreibt, dass sie ein Date mit einem Koreaner hatte, der sie dazu brachte, das Essen zu bezahlen, nur um sie dann später am Telefon eiskalt abzuservieren.«
»Ich finde nicht, dass das irgendetwas beweist«, sage ich und lege mir meine Worte zurecht. Ich will sie nicht vor den Kopf stoßen oder einen Streit vom Zaun brechen. »Nur weil dieser eine Kerl furchtbar war, heißt das nicht, dass alle koreanischen Männer furchtbar sind.«
»Doch, das tut es«, schnaubt Umma. »Da kannst du jeden fragen. Zum Beispiel meine Kolleginnen aus dem Supermarkt. Keine von ihnen hat einen anständigen Ehemann. Das sind alles nichtsnutzige Gauner. Und wisst ihr, was sie gemeinsam haben? Es sind Koreaner!«
»Aber wie viele Dates hatte sie denn wirklich?«, frage ich und unterbreche ihre Schimpftirade. »Wenn sie nur einen Koreaner gedatet hat und jetzt behauptet, alle Koreaner seien schrecklich, dann ist das schon schräg, oder? Warum schließt sie von einer Person auf eine ganze Gruppe? Das ist so, als würde jemand davon ausgehen, dass ich ein Ass in Mathe bin oder eine schlechte Autofahrerin, nur weil ich Asiatin bin ...«
»Du bist ja auch eine schlechte Autofahrerin«, sagt Ji-hyun. Ich funkele sie böse an.
Umma macht ein mürrisches Gesicht und verschränkt die Arme vor der Brust. »Könnt ihr nicht einmal meiner Meinung sein?«
Ich schüttele den Kopf und Ji-hyun ist klug genug, um das Thema zu wechseln. »Ich frag mich eher, warum weiße Männer die besten sind«, sagt sie.
»Du glaubst diesen Quatsch doch wohl nicht, oder?«, frage ich.
»Lass Umma doch mal ausreden. Ich will das hören, Unni.«
Umma strahlt. »Meine Süße«, zwitschert sie, bevor sie fortfährt. »Die Autorin schreibt, dass die weißen Männer am höflichsten und aufmerksamsten waren. Sie waren gute Zuhörer und sprachen offen über ihre Gefühle, ganz ohne Feindseligkeit. Sie haben die Frau gefragt, was sie gern unternehmen würde, und haben nicht über Kleinigkeiten mit ihr diskutiert. Einige brachten zur ersten Verabredung sogar Blumen mit.«
»Wie kitschig«, sagt Ji-hyun.
»Das sagst du jetzt, aber warte mal ab, bis du älter bist.« Umma schiebt ihre Brille hoch. Ihr Gesicht glänzt und sie hat Schweißperlen auf der Stirn. »Dann wirst du dich über Blumen freuen. Glaub mir. Habt ihr schon mal von einem weißen Mann gehört, der seine Freundin oder Frau schlecht behandelt? Ich jedenfalls nicht!«
»Das ist doch lächerlich. Du kennst überhaupt keine weißen Männer«, sage ich.
»Stimmt nicht. Ich kenne viele. Einige kaufen manchmal bei uns im Laden ein und die sind sehr freundlich und gut aussehend. Und groß.« Sie hebt die Hand, um das Gesagte zu verdeutlichen.
»Du projizierst doch bloß alles auf andere«, sagt Ji-hyun.
Umma weiß nicht, was projizieren bedeutet, aber sie weiß, dass es etwas Schlechtes ist. Ihre Lippen werden zu einem schmalen Strich und ihr Kinn zittert. Tränen steigen ihr in die Augen und plötzlich fängt sie an zu schluchzen. Ji-hyun und ich springen erschrocken auf und sehen uns an.
»Warum hört ihr mir nicht zu? Ist es denn so schlimm, dass ich nur das Beste für euch beide will?«, ruft Umma. »Ihr seid alles, was ich noch habe. Sonst gibt es niemanden. Ich will doch nur, dass es euch gut geht, dass ihr jemanden kennenlernt, der gut zu euch ist. Ich will nicht … Ich will nicht, dass euch das Gleiche passiert wie mir.« Sie schlägt die Hände vor das Gesicht und sackt in sich zusammen. »Ich bin eine alte, hässliche Frau, die niemand liebt. Ich werde für immer allein bleiben. Ich hätte euren Vater nicht heiraten sollen … Ich hätte warten sollen … Mir einen netten, weißen Mann suchen. Dann wäre jetzt alles anders.«
Die Zeit steht still. In meiner Brust steigt Hitze auf. Meine Mutter so verzweifelt zu sehen – tränenüberströmt und mit weit aufgerissenem Mund – ist mehr, als ich ertragen kann. Ich will aus der Wohnung flüchten, einfach verschwinden. Warum hört sie nicht auf zu weinen? Ich schließe die Augen und Ji-hyuns Stimme übertönt das Geheul.
»Du bist nicht alt«, sagt sie.
Umma wird leiser. »Bin ich nicht?«
»Nein. Du bist erst dreiundfünfzig. Das ist noch jung. Und wie kannst du sagen, dass du hässlich bist? Alle meine Freundinnen finden dich wunderschön. Und wenn du jemand anderen als Appa geheiratet hättest, dann wären Unni und ich nie auf die Welt gekommen.«
Der Knoten in meiner Brust löst sich. Meine Schwester hat ein Talent dafür, Konflikte zu umschiffen, Spannungen abzubauen, Krisen zu beenden. Ich hingegen bin grob und unbeholfen. Stresssituationen machen mich panisch. Umma sagt immer, Ji-hyun habe gutes Nunchi und sie sei aufgrund ihres ausgeprägten Taktgefühls koreanischer als ich.
»Würdest du das wollen?«, fährt Ji-hyun fort. »Ein Leben mit zwei ganz anderen Töchtern und nicht mit uns?«
Ich halte die Luft an und warte auf Ummas Reaktion. Zu meiner Erleichterung kichert sie los.
»Du hast recht«, sagt sie und streckt den Arm aus, um Ji-hyun am Kinn zu streicheln. »So weise, meine jüngste Tochter.« Ji-hyun und ich umarmen sie und für einen Moment vergessen wir unsere Probleme und sind ein glückliches Knäuel. Dann wird Umma wieder ernst und zieht die Brauen zusammen. »Trotzdem. Ich weiß, dass ihr noch nicht ans Heiraten denkt, aber es ist nie zu früh, um sich vorzubereiten. Keine koreanischen Männer. Wenn auch nur das geringste Risiko besteht, so zu enden wie ich, warum solltet ihr es eingehen?«
Ohne zu zögern, reiche ich ihr meinen kleinen Finger, um zu versprechen, dass ich ihren Rat befolgen werde. Mir kann es doch egal sein. In diesem Moment will ich einfach bloß den Frieden wahren. Ich will dieses Gespräch hinter mir lassen, mich wieder an den Tisch setzen und mich in die Sicherheit meiner Bücher zurückziehen.
Ji-hyun hingegen schüttelt den Kopf. »Ich verspreche gar nichts«, sagt sie.
Wir haben Glück. Ausnahmsweise lässt Umma es auf sich beruhen.
Heute Abend gibt es wieder Fisch. Umma macht es wie immer, sie zieht die Haut ab und löst das Fischfleisch von den Gräten, während Ji-hyun und ich zusehen. Ich tippe nervös mit dem Fuß auf den Boden, der Tisch wackelt. Ji-hyun berührt mein Knie, damit ich still sitze.
Als meine Mutter den Fisch heute Morgen aus dem Tiefkühlfach nahm, beschloss ich, mutig zu sein. Die Makrele lag stundenlang auf der Arbeitsfläche, taute langsam auf und hinterließ eine große Pfütze, die in die Spüle tropfte. Jedes Mal, wenn ich mir ein Glas Wasser holte, starrte der Fisch mich an, als wüsste er, was ich vorhatte.
Ich muss es durchziehen, trotz der Schuldgefühle. Umma hat heute furchtbar schlechte Laune, sie ist noch betrübter als sonst. Ji-hyun und ich mussten sie heute Morgen förmlich aus dem Bett zerren und seitdem lässt sie den Kopf hängen. Mir will nichts anderes einfallen, womit ich sie aufheitern oder ihr zeigen könnte, dass sie mir wichtig ist.
Gestern Abend rief mein Vater an. Es war unser erstes Gespräch, seit er uns verlassen hat. Allerdings sagte er kaum ein Wort. Seine Antworten auf meine Fragen waren kurz und schwammig.
»Was treibst du so?«, fragte ich.
»Ach, so dies und das«, sagte er.
»Wo bist du?«
»In der Nähe.«
Ich spürte, dass er das Gespräch so schnell wie möglich beenden wollte. Vielleicht wegen der Person, die bei ihm war. Wer auch immer es war, bemühte sich, leise zu sein, schaffte es allerdings nicht. Ich konnte Geräusche im Hintergrund hören: ein leises Klicken, das Klimpern von Gläsern, ein unterdrücktes Niesen. Ich drückte das Telefon an mein Ohr, um mehr zu hören. Wer war das? War es seine neue Freundin? Wie klang sie? Hatte sie eine schöne Stimme? Ich brannte vor Neugier und stellte eine Frage nach der anderen, um ihn noch länger am Apparat zu haben. Doch nach einer Minute verabschiedete sich Appa abrupt und legte auf. Er hatte nicht nach Umma gefragt, die neben mir stand und mit ausgestreckter Hand darauf wartete, dass ich das Telefon an sie weiterreichte.
Ihr Blick trübte sich. »Er wollte gar nicht mit mir sprechen?«, fragte sie.
Kurz spielte ich mit dem Gedanken, sie anzulügen. Ich hätte ihr nichts erzählen können, was sie nicht sowieso schon wusste.
»Nein«, sagte ich und sie tat mir unendlich leid. »Er musste los. Er klang beschäftigt.«
»Okay«, sagte sie mit leiser Stimme.
Danach putzte Umma die Wohnung wie im Wahn. Ji-hyun behielt sie im Auge, während sie von Zimmer zu Zimmer huschte, und warf mir zwischendurch ängstliche Blicke zu. Ich wusste warum. Unser Vater hatte seine Sachen noch nicht abgeholt und so lag überall etwas von ihm herum. Ständig fiel uns etwas in die Hände, in den ungünstigsten Momenten, immer dann, wenn wir nicht damit rechneten. Ich machte mir Sorgen, was Umma wohl finden würde.
Neulich stieß ich im Badezimmer auf ein Paar von Appas schmutzigen schwarzen Socken. Sie mussten vor Monaten hinter den Wäschekorb gerutscht sein und als ich sie sah, hätte ich beinahe losgeheult. Und in einer Küchenschublade fand ich eine Reihe alter Kreditkarten, schon lange nicht mehr gültig, versteckt unter einem Stapel ungeöffneter Briefe.
Aber am schlimmsten ist es, wenn ich die kleinen rot-weißen Bonbons finde, die er immer nascht, seit er nicht mehr raucht. Er trägt sie immer bei sich. Wenn mir jetzt ein Hauch Pfefferminze in die Nase steigt oder ich das Knistern einer Plastikverpackung höre, schießt die Erinnerung blitzartig durch meinen Körper, wie ein Stromschlag. Ich hatte mal einen Vater.
»Traut sich denn heute Abend eine von euch?«, fragt Umma. Ihre Stäbchen schweben über dem Fischkopf.
»Ich. Ich esse ein Auge«, sage ich, nachdem ich meinen ganzen Mut zusammengenommen habe.
Ein riesiges Lächeln breitet sich auf dem Gesicht meiner Mutter aus. Ich habe die richtige Entscheidung getroffen. »Wirklich? Du machst es?«
Ich nicke, zu ängstlich, um den Mund aufzumachen.
Sie stochert das Auge heraus und lässt es auf meinen leeren Teller fallen. Es kullert hin und her, dreht sich wild im Kreis, bis es schließlich in der Mitte liegen bleibt.
»Nur zu. Probier schon!«, drängt Umma.
Fischaugen sind glitschig. Ich kann nicht besonders gut mit Stäbchen umgehen und brauche mehrere Anläufe. Schließlich schaffe ich es mit viel Konzentration, das Auge aufzunehmen, aber es entgleitet mir sofort wieder und landet mit einem leisen Pling auf dem Teller.
»Nimm doch einfach die Finger!«, sagt Umma.
»Na gut.« Ich schaue nicht hin und taste blind, bis ich den Augapfel zwischen Zeigefinger und Daumen spüre. Er ist erstaunlich fest, ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Zitternd nehme ich ihn in den Mund. Als er meine Zunge berührt, muss ich augenblicklich würgen.
»Wie eklig!«, kreischt Ji-hyun und verzieht das Gesicht.
Ich muss mich daran erinnern, dass ich es nicht für mich tue. Ich tue es für Umma. In ihrem Blick liegt so viel Zärtlichkeit, dass ich mich zwinge, das Auge im Mund zu behalten. Die erste Welle der Übelkeit legt sich und ich schiebe es mit der Zunge in meine Wange. Es fühlt sich seltsam an. Das Äußere des Augapfels ist speckig, fast wie Gelee, und hat einen salzigen, fischigen Geschmack. Unter der gallertartigen Schmiere steckt eine harte Kugel, die nach nichts schmeckt. Ich beiße zu, grinse meine Mutter an und schlucke.
»Ta-da!« Ich reiße den Mund auf. Ji-hyun hält sich die Augen zu. Umma klatscht.