Das Bestiarium - Uwe Durst - E-Book

Das Bestiarium E-Book

Uwe Durst

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Beschreibung

Man wußte, wie schnell Gott in Zorn geriet, wie kleinlich und bösartig er war. Wenn es ihm gefiel, starb das Vieh, und die Äpfel faulten an ihren Zweigen. Man mußte sich vorsehen, und Mama lächelte stets freundlich, wenn der Geistliche unseren Laden betrat. Zehn Geschichten des Grauens.

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Seitenzahl: 108

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Ähnliche


Für Claudia Bath.

Durch pfadlose Öde

Und durch Klippen sodann, die starrten von brüchigen Wäldern,

Sei er zum Sitz der Gorgonen gelangt, und auf Feldern und Wegen

Ringsum hab er gesehn viel Bilder von Menschen und Tieren,

Die aus belebten in Stein der Anblick Medusas gewandelt.

Doch er habe geschaut im spiegelnden Erze des Schildes,

Den an der Linken er trug, die Gestalt der grausen Medusa,

Und als lastender Schlaf sie selber gebannt und die Schlangen,

Hab er dem Rumpf entrissen das Haupt, und der flügelbeschwingte

Pegasus sei aus dem Blute der Mutter gezeugt samt dem Bruder.

Ovid, Metamorphosen, IV, 778-786 (Übers. v. Voß)

INHALT

Frau Griese

Der Schneider

Die Handtasche

Die blaue Fackel

Der Magier

In der Gekrümmten Gasse

Das Wartezimmer

Der Diamant

Dämmerung

Fräulein Karuß

FRAU GRIESE

Ach, die Helga wieder.

"Du kannst hier nicht mehr leben."

Und dabei schielt sie im Zimmer herum. In Gedanken verkauft sie meine Möbel und richtet sich ein.

So war sie schon als kleines Kind. Eine Egoistin. Ganz der Vater.

"Das Heim der Barmherzigen Schwestern wäre das Richtige für dich. Dort ist immer jemand da, wenn du Hilfe brauchst."

"Es geht mir gut. Ich brauch' keine Hilfe. Und keine fremden Leute, die auf mich aufpassen."

Dieser Zeigefinger, mit dem sie in der Luft herumfuchtelt. Die Grundschullehrerin fordert Aufmerksamkeit, wer nicht pariert, muß in der Ecke stehen. Ich wett', daß sie jeden Tag Strafarbeiten aufgibt und nachsitzen läßt. Und wenn einer schwatzt, wird er an die Tafel gerufen und abgefragt, aber so, daß er nicht bestehen kann und sich vor der ganzen Klasse blamiert.

"Was ist, wenn du wieder stürzt?"

"Mein Gott, ich bin gestolpert und hingefallen. Was ist dabei?"

"Denke wenigstens darüber nach. Es wäre eine große Beruhigung für mich."

"Schön. Ich denk' drüber nach."

Am nächsten Tag würd' sie einziehen, und was sie einmal hat, gibt sie nicht mehr her.

"Ich komme jede Woche und sehe nach dir."

Sie kann's nicht abwarten, daß ich endlich die Augen zumach'.

"Ich muß wissen, ob es dir gut geht. Ob du etwas brauchst."

"Ich hab' alles. Was soll ich brauchen? Hier gibt's einen Supermarkt und eine Apotheke. Was brauch' ich noch?"

Jetzt grübelt sie. Irgendwie muß ich doch von ihr abhängig sein.

"Du bist nicht mehr gut zu Fuß."

"Die zwanzig Meter!"

"Und wenn du krank wirst?"

"Dann erfährst du's als erste."

Endlich. Sie geht.

"Ruf mich an, falls ich etwas besorgen soll."

"Ja, werd' ich."

Hab' schon geglaubt, daß sie bis zum Abend bleibt.

"Tschüß. Tschü-üß."

Sie sitzt in ihrem VW. Gott sei Dank.

"Komm', Tinchen. Komm' ins Haus."

Tür zu und gut ist's.

Helga hat nichts gemerkt.

"Gute Katz'. Brave Katz'. Liebes Tinchen. Ja, ja.

Wenn ich dich nicht hätt'."

Nur daß ich ein paar Bilder umgehängt hab'. Na und?

Ich kann sie aufhängen, wo ich will.

Die Leute. Sie streiten wieder.

Solang' Helga dagewesen ist, natürlich kein Mucks. Bestimmt haben sie gehorcht. Haben alles belauscht, mit dem Ohr an der Wand. Dabei ist's immer das gleiche.

'Mama, ich komme, weil wir Geld brauchen.'

Natürlich ging's um Geld.

'Otto hat seine Stelle verloren.'

Sie haben ihn rausgeschmissen.

'Es war nicht seine Schuld.'

Nirgends bleibt er länger als ein paar Monate.

'Die Aufträge sind zurückgegangen. Sie mußten Personal einsparen.'

Auf den ersten Blick hab' ich ihn durchschaut. Eine Niete ist er. Ich hab' sie gewarnt: Den heiratest du nicht.

'Und wieviel brauchst du diesmal, Helga?'

Ich wär' schön dumm, wenn ich ihr davon erzählte.

Ein herrlicher Vorwand, um mich ins Heim zu stecken.

Die Alte ist übergeschnappt. Die Alte ist senil. Und dann bauen sie das Haus um und finden ihn.

'Was hast du denn da an die Wand gekritzelt?'

'Ich wollt' ein Bild aufhängen.'

Es sind nur noch zwei Striche da. Zwei. Das ist der Beweis. Gut, daß ich die Kommode ein Stück vorgezogen hab'.

'Jedesmal wenn ich bei dir bin, kommt mir das Haus kleiner vor.'

'So ist's immer, wenn man nach 'ner Weile an einen Ort zurückkehrt.'

'Das stimmt! Nach dem Urlaub konnte ich nicht glauben, in was für einer winzigen Wohnung Otto und ich leben. Und seit Flora auf der Welt ist, sind wir zu dritt auf vierzig Quadratmetern.'

Ich versteh' schon. Aber darauf geh' ich nicht ein.

Zehn Striche hab' ich vorgestern gezogen, um die Probe zu machen. Und jetzt sind's zwei: Die Wand hat sich bewegt.

Ganz langsam. Man merkt's kaum. Und dann, mit einem Mal, ist ein Bild weg. Oder ein Möbel verschluckt.

'Das Photo von Papa hast du auch abgehängt.'

'Ich weiß, wie er ausgesehen hat.'

'Gibst du's mir?'

Wie die Zahnräder in ihrem Kopf ineinandergreifen.

Haben! Haben! Haben! Haben!

'S ist hinter der Wand. Ebenso wie die gelbe Lampe und das kleine Tischchen, auf dem meine gute Lesebrille liegt.

'Ich muß sehen, wo ich's hingetan hab'.'

'Danke, Mama. Aber nicht vergessen.'

Was will sie mit dem Bild? Ihr sauberer Papi ist längst fort gewesen, als ich sie geboren hab'.

'Mama, ich komme, weil wir Geld brauchen.'

Das Photo betrachtet sie als Vorschuß aufs ganze Haus. Jedesmal schwatzt sie mir was ab und fährt's heim in ihre ach so enge Wohnung. Es muß schon 'ne ordentliche Sammlung zusammengekommen sein.

'Und wieviel brauchst du diesmal?'

Die Geschichte war nicht gut. Ich hätt' ihr was anderes auftischen sollen. 'Dein Vater ist auf hoher See aus einem Boot gefallen und ertrunken.' Immerhin, das hat erklärt, warum's kein Grab gibt. Aber ich hätt' sagen sollen, ich wär' von einem Unbekannten überfallen und vergewaltigt worden. Das hätt' mir ihre ewigen Fragen erspart.

'Was für einen Beruf hatte er?'

'Er war Versicherungsmakler.'

'Wie alt ist er geworden?'

'Fünfunddreißig.'

'Was waren seine Hobbys? War er reich? Hatte er Geschwister?'

Die Leute. Sie streiten sich.

"Ich weiß nicht, was du willst!"

Der Kerl hat 'ne laute Stimme. Man versteht jedes Wort.

Früher hab' ich sieben oder acht große Schritte gebraucht, um von einer Seite des Zimmers zur anderen zu kommen. Die Striche beweisen, daß ich nicht verrückt geworden bin.

"Du und deine verdammte Eifersucht! Fräulein Treibel ist eine Kollegin. Nichts weiter."

"Ruhe da drüben! Wer immer Sie sind. Das ist mein Haus. Halten Sie den Mund!"

Ich geh' zum Einkaufen, und wenn ich wiederkomm', fehlen dreißig Zentimeter und die Anrichte ist weg.

'Jedesmal wenn ich bei dir bin, kommt mir das Haus kleiner vor.'

Ganz langsam verschieben sie die Wände.

'Das Photo von Papa hast du auch abgehängt.'

Aber ich kann sie nicht anzeigen. Was sollt' ich sagen?

'Herr Polizist, sehen Sie, ich hab' lauter Striche an die Wand gekritzelt, und die meisten sind verschwunden.

Das ist der Beweis: Meine Zimmer werden kleiner.'

'Oh, ich glaube Ihnen natürlich, Frau Griese. Wenn Sie sagen, daß die Wände sich bewegen, dann bewegen sie sich auch.'

'Vielen, vielen Dank.'

'Aber das Haus im Ganzen wird nicht kleiner, oder?'

'Nein. Von außen ist nichts zu sehen.'

'Dann muß hinter den Wänden ein Hohlraum sein.'

'Mit Sicherheit. Da wohnen sie ja.'

'Ich mache Ihnen ein Angebot: Ich habe einen schweren Hammer im Wagen, mit dem schlage ich im Eßzimmer die Wand auf. Dann sehen wir, wer dahintersteckt.'

'Nicht diese Wand.'

'Warum nicht?'

"Tinchen? Komm' her, es gibt Futter. Tinchen?"

Sie anzuzeigen, wär' schön dumm von mir. 'Die Alte ist übergeschnappt. Die Alte ist senil.' Und dann bauen Helga und ihre Niete von Ehemann das Haus um.

'Steigen Sie jetzt in den Wagen. Wir bringen Sie in ein Krankenhaus, dort wird man sich um sie kümmern. Und in der Zwischenzeit schauen wir, was hinter der Wand zu finden ist.'

So würd's laufen.

Abends leg' ich mich ins Bett, und bis ich aufwach', ist's wieder ein Schritt weniger.

"Tin-chen!" Wenn das Futter nicht frisch ist, will sie's nicht mehr.

Die ganze Abstellkammer ist verschwunden.

"Gratuliere. Du hast mich aufgepumpt."

Die Leute streiten.

"Du lügst."

"Das hab' ich nicht nötig."

"Hallo! Hören Sie mich?"

"Ich hab' die Pille weggelassen."

"Hören Sie mich?"

"Du wirst jetzt Papi. Das Flittchen siehst du nicht wieder."

"Das hast du mir nicht vorzuschreiben."

"Hören Sie doch! Ich bin Frau Griese."

"Wer weiß, ob das Kind überhaupt von mir ist."

Sinnlos. Bei dem Geschrei. Ich muß warten, bis es ruhiger ist. Vielleicht, daß ich etwas erreich', wenn ich mit ihnen rede. Wenn ich ihnen laß, was sie sich bis jetzt genommen haben.

"Tinchen? Wo bist du?"

Sie hat wohl draußen 'ne Ratte oder 'nen Vogel erwischt und deshalb keinen Hunger.

"Ich denke nicht daran, mit dir ein Kind in die Welt zu setzen!"

"Du hast's mir versprochen."

"Das habe ich gesagt, weil ich dich ficken wollte. Aus keinem anderen Grund."

Gott, was für 'ne Ausdrucksweise.

"Du Schwein! Du mieses Schwein!"

"Hör zu, ich bin fertig mit dir. Es ist aus."

Daß nur die Küche nicht verlorengeht. Ich brauch' 'nen Kühlschrank.

Das Telephon stell' ich mitten im Wohnzimmer auf den Boden, damit's von keiner Wand verschluckt wird.

"Tinchen? He, kleine Katz'."

_____

DER SCHNEIDER

I.

In einer süddeutschen Stadt lebte vor Jahren ein Schneider namens Achaz Bebel. Er war dürr, weil er sich nur von Brot und gelben Suppen ernährte, die Arbeit in gebeugter Haltung hatte ihm den Rücken gekrümmt, und seine schwach gewordenen, von zahllosen Falten umkränzten Augen schauten hellblau durch eine dicke Brille. Da Schneider ebenso rasch welken wie ihre Finger an Hornhaut gewinnen, war sein Alter nicht an seinem Gesicht abzulesen. Die linke Hand aber, die täglich von Nadeln zerstochen wurde, verriet, daß er um die dreißig Jahre zählte und sich nicht über einen Mangel an Arbeit beklagen konnte. Er hatte viele Kunden, in deren Kleidersäumen er feinste Tropfen seines Bluts zurückließ.

Trotzdem lebte er in grausamer Armut. Die Kleider, die er selbst am Leibe trug, waren abgewetzt, und die Suppen, die er schlürfte, verdünnte seine Frau, denn der Schneider war mit einem bösen Weib gestraft und hatte ein feiges Herz. Sooft Una vor ihn hintrat und ihn zwang, ihr die Einnahmen Münze für Münze in die Hand zu zählen, klopfte es schwer in seiner Brust; sein Rücken krümmte sich noch mehr, und ein Ausdruck der Angst trat ihm in die Augen, weil seine Frau immerzu neue Wege ersann, ihm etwas anzutun.

Darüber hinaus hatte es dem Teufel gefallen, sie mit großer Schönheit zu begaben. Ihre Augen strahlten, sie hatte volle Lippen, ihr Haar war pechschwarz, und sie tat, was immer notwendig war, um diese Pracht zur Geltung zu bringen. Das Schneiderlein vergoß sein Blut für wohlriechende Wässer, teure Seifen und farbige Stifte, mit denen sie ihr Gesicht bemalte. Einen Schrank voll herrlicher Kleider hatte er ihr nähen müssen, in denen sie gleich einem Edelstein funkelte und blitzte, und wenn sie sich herbeiließ, gemeinsam mit ihm auf die Straße zu treten, bildete ihre Köstlichkeit einen schroffen Gegensatz zu dem eingeschrumpften Männlein an ihrer Seite.

Freilich hatte Bebel so viel zu arbeiten, daß er die Werkstatt kaum verließ und recht eigentlich in ihr wohnte, zumal es ihm verboten war, die anderen Räume des Hauses zu betreten. Nur am späten Abend durfte er hervorkommen, um seiner Frau das Haar zu bürsten und ihre erstaunlich rasch nachgewachsenen Nägel zu schneiden. War dies getan, mußte er in die Werkstatt zurückkehren und sich auf dem Schneidertisch zur Ruhe legen, während Una ihn einsperrte und den Schlüssel zweimal umdrehte.

Bebels einziges Vergnügen bestand darin, seiner Frau jeden Abend einige Haare, die sich in der Bürste verfangen hatten, zu stibitzen, sie hernach auf ein fein gewebtes Tuch zu knüpfen und sich an der wachsenden Fülle zu ergötzen, die gleich einem schwarzen Bach über seine liebkosenden Finger glitt. Tagsüber versteckte er die Perücke in einer Schublade, um sie nachts auf den Kopf einer fleischfarbenen Stoffpuppe zu setzen, die er sich angefertigt und mit zwei grünen Knöpfen als Augen versehen hatte. Dann legte er sich das Menschlein zärtlich auf den Leib und küßte es.

Der Schneider hatte schon viele Jahre an der Seite seiner Gemahlin verbracht, sich nie beklagt, nie zu seufzen gewagt und süßen Trost aus der Tatsache gezogen, daß seine Gattin die allerschönste Frau auf Erden war, als er eines Nachts von einer lauten Unterhaltung geweckt wurde.

"Du sollst selbst Tote behexen können", sagte jemand.

"So geht die Rede. Und es ist wahr", bestätigte Una.

"Was verlangst du für deinen Zauber?"

"Kommt darauf an, was du begehrst", erwiderte die Gattin des Schneiders.

Bebel war über diese Worte ebenso erstaunt wie über den nächtlichen Besuch eines Fremden. Er erhob sich vom Tisch, auf dem er sich ausgestreckt hatte, und die Puppe, die er liebkost und im Schlaf an sich gedrückt, fiel zu Boden. Una und ihr Gast verstummten.

Das Gesicht des Vollmonds spähte durchs Fenster und erleuchtete die Werkstatt, die Nacht war still. Nur das Miauen verliebter Katzen war zu hören.

Was man nicht alles träumt, dachte der Schneider kopfschüttelnd, tastete nach der Brille und erhob sich, um die Puppe wieder an sich zu nehmen und ihr Haar zu streicheln.