Das Bild der Zeit - Ruprecht Günther - E-Book

Das Bild der Zeit E-Book

Ruprecht Günther

4,9

Beschreibung

Was passiert mit einem Menschen, dessen Geist in einen anderen Körper ersetzt wird? Worauf gründet sich unser so sicher geglaubter Eindruck von Identität? Als Sigi Schnitzler, ein begnadeter Kunstmaler, und sein Freund Karl-Heinz in einem Berliner Keller eine mysteriöse Schwarze treffen, ahnen sie nicht, dass bald genau diese Fragen auf sie einstürmen werden. Ohne es zu wissen, sind sie Figuren in einem tödlichen Spiel, dessen Anfänge zurückreichen in das Berlin und Lissabon des Zweiten Weltkriegs. Auch Sigis brasilianische Frau Joana gerät unter die Schatten der Vergangenheit, während ihr Mann um ein Werk ringt, das die Protagonisten in seinen Sog zieht: Das Bild der Zeit. Sigi und Karl-Heinz werden innerhalb weniger Tage von Freunden zu Feinden. Einer von ihnen würde alles tun, um das Spiel weiterzuführen; der andere will es beenden; um jeden Preis …

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Ruprecht Günther

DAS BILD DER ZEIT

Roman

adakia Verlag UG (haftungsbeschränkt)

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechts ohne Zustimmung des Verlags ist unzulässig.

Gesamtherstellung: adakia Verlag, Gera

1. Auflage, März 2015

ISBN 978-3-941935-19-8 (Print)

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-941935-31-0 (ePub)

ISBN 978-3-941935-32-7 (Mobi)

ISBN 978-3-941935-33-4 (PDF)

Für Neném

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Zitat

Prolog

1. Friedrichshain

2. Kamila

3. Atelier

4. Der Leib der Erde

5. Karl-Heinz

Montag

6. Die erste Begegnung

7. Kamila

Dienstag

8. Erwachen

9. Entscheidung

10. Kamila

11. Atelier

12. Büro

13. Fremde Nähe

14. Kamila

15. Umschwung

16. Sertão

Mittwoch

17. Sigi

18. Joana

19. Kamila

20. Sigi

21. Karl-Heinz

22. Der Landstreicher

23. GGK

24. Kamila

25. Freundinnen

Donnerstag

26. Das Fest

27. Der Anfang vom Ende

28. Maria Mulambo

29. Sertão

Freitag

30. Die Aufgabe

31. Sigi

32. Susi

33. Karl-Heinz

34. Kamila

35. Im Park

36. Atelier

37. Auf der Jagd

38. Friedhof

39. Joana

40. Gejagte

41. Im Keler

42. Unter der Erde

43. Der Doktor

44. Das Bild

45. An einem Strang

46. Der dritte Versuch

47. Joana

48. Sigi

49. Joana

50. Das Ende

Epilog

Eines Schattens Traum

ist der Mensch.

Pindar

Prolog

Auf einmal war es so, als berge selbst das Licht ein Geheimnis. Ein schräger Sonnenstrahl tastete sich über die Stufen hinab und zeichnete schnurgerade Bahnen aus glitzerndem Staub. Die zerbrochenen, vor Schmutz starrenden Scheiben glühten auf wie flüssiges Feuer. Selbst die Spinnweben stapelten hoch und wirkten für Augenblicke, als seien sie aus Gold gewebt. Der Abenddunst verspann sich zu einem transparenten Pulver, das alles, worauf es sich legte, verwandelte in etwas höher Geordnetes und Edles:

Der rostige alte VW-Bus war plötzlich ein Gefäß für Zauberformeln und magische Utensilien; die Blätter des rachitischen Buschs vor der Kellertür dienten in Wahrheit zur Zubereitung eines kostbaren Aphrodisiakums; der Schimmel an der bröckelnden Hauswand war ein Pilz, der je nach Dosierung töten mochte oder einen Adepten einführen in uralte und geheimnisvolle Riten.

Die hintere Klappe des Busses war geöffnet. Dahinter stapelten sich in wilder Unordnung Masken, diverse Kleider und Perücken, eine Glaskugel und mystisch anmutende Figuren. Ein dürrer dunkelhäutiger Mann, dem sein erschrockener Ausdruck auf dem Gesicht festgeschrieben schien, griff mit spitzen Fingern nach einer rot-schwarzen Statuette und ließ sie um ein Haar fallen.

»Pass doch auf, du Idiot«, zischte sein Mentor Valtinho, ein hochgewachsener, gut gebauter Schwarzer mit kurz geschnittenen Haaren. »Oder willst du, dass dich Exu auf der Stelle in die Hölle nimmt?«

Der Kleinere zuckte zusammen. »Jetzt noch nicht!«

Er schlug sich an die Stirne und lies die Figur dabei um ein Haar erneut fallen. Valtinho lachte schallend. Ungeduldig riss er seinem Assistenten die Statue aus den Fingern und erteilte ihm einen Tritt. Er wog den Exu liebevoll in der Hand und eilte mit schwingenden Hüften über die Treppe nach unten.

»Wenn ich nicht wäre, lägen meine Heiligen längst alle zerbrochen auf dem Müll.«

Er lachte wieder. Vorsichtig setzte er die Figur an der rechten Seite des Eingangs ab. An der linken thronte bereits ein ähnliches Exemplar. Valtinho hob beide Hände an und murmelte Beschwörungen in einer fremdartigen gutturalen Sprache. Dann öffnete er die quietschende Türe und betrat den Keller.

Ihm schlug ein stechender Geruch nach Moder und verdorbenem Fleisch entgegen. An der Rückwand hing ein sorgfältig gebündelter blutroter Vorhang. Davor standen ein heruntergekommener Sessel und größere Statuetten mit Darstellungen des Exu, des großen Dämons. Er besaß die Macht, Menschenwege zu öffnen und zu schließen, und mit seiner Hilfe sollte jedes wichtige Vorhaben auf der Erde beginnen.

Zu ihm gesellte sich die im Tanz erstarrte Gestalt Maria Mulambos, deren schwarz glänzende Haare in einem imaginären Wind zu flattern schienen. Vor dem Sessel stand ein kleiner, in schmutziges Weiß gedeckter Tisch mit zwei Stühlen. Über den staubigen Betonboden breitete sich ein zerschlissener Teppich. Zu beiden Seiten des spärlich beleuchteten Raums lagerte Gerümpel.

Valtinho trat konzentriert an den Tisch. Darauf lagen zu einem Kreis gebündelte Ketten aus bunten Perlen. In ihrer Mitte ruhte ein Satz kleiner Miesmuscheln.

Seine Hand fasste nach den Muscheln und warf sie mit einer raschen Bewegung flach auf den Tisch. Aufmerksam betrachtete er den Wurf. Er drehte nachdenklich seinen goldenen Ring und schürzte die Lippen. »Sie verlangt wieder ein Spiel …«

Sein sinnlicher Mund verzog sich zu einem Lächeln.

1. Friedrichshain

Ende August 2010

Kaum einen Kilometer in Luftlinie entfernt saß ein Mann in einem Friedrichshainer Lokal und telefonierte. Die letzten Sonnenstrahlen illuminierten seine mühsam beherrschten Züge und liehen ihnen einen überraschenden und wenig passenden Glanz.

Die Bedienungen zündeten Kerzen an, deren flackerndes Gelb mit dem schrägen Licht der Sonne konkurrierte. Kleine Kinder rasten um die weiß gedeckten Tische und spielten Fangen, während ihre Eltern bei einem Glas Wein oder Bier plauderten. Die Luft war nach dem heißen Tag angenehm lau, und die meisten Menschen bemühten sich, die Unbilden des Lebens für ein paar Stunden zu vergessen.

Nur Karl-Heinz’ gereizte Stimmung wollte nicht recht zu dem Ambiente passen. Er okkupierte einen ganzen Tisch für sich allein und füllte ihn weniger durch sein Volumen als durch seine hektischen Gesten aus. Mit einer einzigen Bewegung fegte er eine Fliege vom Designer T-Shirt und entfernte eine Strähne von seiner Wange. »Hör mal, Sabine, es tut mir wirklich leid – ein Geschäftsessen, ja. Wir müssen das auf ein andermal verschieben.«

Er schob einen Olivenkern mit der Zunge zwischen die Zähne und legte ihn akribisch auf den Teller.

»Was? …

Faule Ausrede? …

Jetzt komm mir bitte nicht so! …

Hör mal, ich bin hier im Restaurant, ich kann jetzt nicht reden.«

Während Karl-Heinz telefonierte und dabei gelegentlich Olivenmasse auf das Handy spuckte, schlenderte ein Mann auf das Lokal zu. Er betrachtete das angehende Liebesspiel zweier Hunde, einen Landstreicher, der unter einem Busch seinen Rausch ausschlief, sowie die blühenden Stockflecken an der Fassade des Nachbarhauses. Etwa einen Meter vor Karl-Heinz blieb er stehen und hörte dem einseitigen Gespräch zu. Sein Körper war kaum weniger schmal als der des Gastes; dennoch strahlte er die Gelassenheit eines beleibten Menschen aus. Wie in Trance senkte er die Lider und lies die unfreiwillige Komödie auf sich wirken. Eine wedelnde Hand, die ihn zum Verzehr von Oliven und Käse aufforderte, riss ihn aus der Versenkung.

»Sabine, hier kommt gerade mein Geschäftspartner – wir sprechen uns später.« Erleichtert klappte Karl-Heinz das Handy zu und verdrehte die Augen.

Der Besucher verkniff sich ein süffisantes Grinsen. »Ich komme wohl ungelegen?«

»Im Gegenteil, Sigi, du hast mich gerettet! Bestell dir einen Wein, der Weiße rutscht bei dem Wetter herrlich leicht durch die Kehle. Diese Sabine raubt mir noch meinen letzten Sinn für Humor …«

Sein Freund nahm auf der anderen Seite des Tisches Platz und pickte nach einem Stück Käse. Er testete es genüsslich auf der Zunge und stellte fest: »… Wovon du ja mehr als genug besitzt, nicht wahr?!«

Karl-Heinz musterte ihn verwirrt und wechselte rasch das Thema. »Na – was macht die Malerei, alter Junge?«

»Bestens! Gestern habe ich erst ein Bild verkauft … Das heißt, ich habe einen hundertprozentigen Käufer; du weißt ja, wie das ist: kein Geld dabei, Kreditkarte vergessen – die Menschen haben heutzutage einfach zu viel im Kopf.«

Sigi merkte, dass die Bedienung, eine hübsche Schwarzhaarige, über ihm stand, und blinzelte ihr zu. Sie rückte noch ein Stück näher heran und fragte strahlend: »Was wünschen der Herr?«

Sigi nahm eine tragische Pose ein und klagte: »Was ich wünsche, ist doch nur Schall und Rauch.«

Die Bedienung nickte betroffen. Er fasste nach ihrer Hand und blickte mit seinen braunen Hundeaugen nach oben. »Wenn du mir einen kühlen Weißen bringst, bin ich schon halb zufrieden.«

Sie ließ ihre Hand in der seinen, zog die Augenbrauen hoch und fragte kokett: »Nur halb?«

Sigi seufzte und entließ ihre grünen Fingernägel in die Freiheit. »Alles Weitere, meine Schöne, würde mein Gewissen aufs Äußerste belasten!«

Er wandte sich an Karl-Heinz. »Hast du diesen jungen Käse ganz alleine niedergemacht?« Entsetzt schüttelte er den Kopf und fixierte die leuchtenden Augen über sich. »Also, dann noch einmal von dem Schafskäse mit Oliven. Der besänftigt das Gemüt …« Er runzelte die Stirn und schlug sich mit der Hand auf den Mund. »Oder war es umgekehrt?«

Die junge Frau begann zu kichern und eilte davon.

Karl-Heinz blickte ihr missgestimmt hinterher. »Ich möchte wissen, wie du das immer wieder anstellst – du bist doch eigentlich hässlich.«

Sigi zog erneut die Stirn in Falten und dachte nach. »Mit deinem aufpolierten Colgate-Lächeln kann ich natürlich nicht mithalten … aber mal im Ernst: Hattest du nicht gerade ein heißes Eisen an der Strippe? Die schien mir doch sehr bereit, bei dir einzulaufen.«

»Einlauf ist in diesem Fall die richtige Umschreibung.« Karl-Heinz nahm einen Schluck Wein und seufzte. »Nein, ich kann nicht klagen: Mein Terminkalender ist so voll mit Verabredungen, dass ich kaum hinterherkomme. Wenn ich die Mädels allerdings mit deiner Frau vergleiche …«

Die Bedienung kehrte mit der Vorspeise und einem Glas Weißwein zurück. Sie stellte den Wein auf den Tisch, gewährte Sigi dabei einen vorläufigen Einblick in ihr Dekolleté und streifte im Fortgehen dezent seinen Rücken.

Karl-Heinz fuhr, unbeeindruckt von den atmosphärischen Wirbeln, mit seinem Monolog fort. »… Für mich passt es so, wie es ist. Mein Job lässt mir ja gar keine Zeit, mich fest zu binden.«

Der Maler nickte, hielt sich die Hand vor den Mund und gähnte verhalten.

»Aber da kommt sie ja.« Karl-Heinz’ Hand wies bewundernd auf den Bürgersteig hinter seinem Freund.

»Wer, eine deiner Miezen?«

Hinter Sigis Rücken erschien die Silhouette einer dunkelhäutigen Frau. Ihre dünnen schwarzen Zöpfe wurden hinterstrahlt von einem fast unwirklichen Licht, das sich in der Lücke zwischen zwei Häuserfronten den Weg bahnte. Für Sekunden hielt halb Friedrichshain den Atem an. Selbst die Hunde unter den Tischen unterbrachen ihr gegenseitiges Ablecken und winselten devot. Die glühenden Gesichter der Kinder, das kühle Rot, das sich über den Asphalt ergoss; sogar die schillernde Luft schien erfüllt vom letzten Aufbäumen des Tages. Von einem Augenblick zum anderen war der Spuk vorüber. Stühle und Tische verloren alle Farbe und erblassten zu einem sozialistischen Grau. Einen Moment lang lag die Welt im Zwielicht, aus dem sich wie von Zauberhand das Licht der Kerzen schälte.

Über Sigis Augen legten sich zwei kräftige Frauenhände. Er sog genießerisch ihren Duft ein, tastete langsam darüber hin, entdeckte einen schmalen Ring am Finger und drehte ihn hin und her. Seine Stirn zog sich in Falten, und er überlegte laut: »Erika? … Tatjana? … Sabine?«

Seine Frau riss ihre Hände von seinen Augen, stellte sich vor ihm auf und boxte ihm auf die Brust. »Du … verflixter … sacana!« Ihre Stimme klang etwas rauchig und besaß einen höchst liebenswerten brasilianischen Akzent.

Sigi hob die Hände zum Zeichen, dass er sich ergab. Er grinste bis über beide Ohren. »Hallo mein Schatz, ich dachte, du wärest heute auf deinem Mädel-Treff.«

Joana bedachte Karl-Heinz mit einem entwaffnenden Lächeln. »Entschuldige, dass ich hier so reinplatze! Ich bin auch gleich wieder weg.«

An Sigi gewandt, setzte sie hinzu: »Schatz, so was Blödes: Ich habe meinen Wohnungsschlüssel vergessen.« Sie zerrte ihn vom Tisch fort, winkte Karl-Heinz zu und flüsterte: »Zu Hause war praktisch kein Geld in der Schublade. Hast du nicht noch ein bisschen Kleingeld?«

»Natürlich, Liebling.« Sigis Stimme wirkte auf einmal belegt. Er drehte sich von seinem Freund fort und zog den Beutel aus der Tasche. Unauffällig durchsuchte er dessen Innenleben und fand endlich zwischen verschrumpelten Rechnungen und alten Visitenkarten einen Zwanzig-Euro-Schein. Erleichtert fischte er ihn heraus und steckte ihn Joana zu. Er lächelte hölzern. »Amüsier dich!«

»Und du, querido? Kommst du den Abend klar?«

»Keine Sorge«, sagte er leise, »ich sitze mit dem Geldadel am Tisch.« Laut setzte er hinzu: »Viel Spaß mit den Mädels! Und verlier den Schlüssel nicht.«

Joana drückte ihm einen Kuss auf den Mund, lächelte, winkte Karl-Heinz noch einmal zu und rief: »Ich bin schon wieder weg. Tschau und bis bald!« Mit wiegenden Hüften eilte sie davon.

Sigi setzte sich zurück an den Tisch und seufzte. »Frauen! Na, zum Glück sitzen wir ja immer in derselben Kneipe.«

Gedankenverloren tastete er nach seiner Hosentasche und griff sich an die Stirn. »Verdammt, ich glaube, ich habe zu Hause meine Börse vergessen.« Seine zutraulichen Augen richteten sich auf den Freund. »Du hast doch bestimmt etwas dabei, oder?«

»Na klar, Alter. Du bist in letzter Zeit aber recht vergesslich …«

Sigi trank einen Schluck Wein und lächelte entspannt.

2. Kamila

September 1941

Sie spürte sofort, dass er wieder hinter ihr stand. Kamila begann vor Wut und Scham zu zittern; die Demütigung brannte ihr noch immer heiß auf den Wangen. Ihr Körper reagierte sofort, und sie merkte, dass ihr der Schweiß unter den Achseln hinunterrann. Der Mann roch es vielleicht auch, denn er beugte sich noch tiefer über das graue Kopftuch und sah ihren geschickten Fingern bei der Arbeit zu, wie um sie noch mehr zu quälen. Kamila verstand nicht, warum er es immer auf sie abgesehen hatte. Die anderen Frauen ließ er weitgehend in Ruhe. Nur um sie kreiste er herum wie ein Schakal, der nur darauf wartete, zuzuschnappen und sich in ihren Hals zu verbeißen. Oder vielleicht in etwas anderem …

Kamila war klar, dass sie ihn irgendwann umbringen würde. Eines Tages würde sie ihm die Kehle durchschneiden und zusehen, wie sein ekelhaftes fauliges Blut aus der Halsschlagader spritzte. Sie würde das Entsetzen und den Tod in seinen Augen sehen und ihn so lange anstarren, bis das letzte Quäntchen Leben daraus gewichen war. Erst dann würde sie sich wieder sauber fühlen.

Ihre Finger schlossen sich um das Gehäuse des Feldstechers, als wollten sie es brechen.

»Na na«, bellte Herr Kurz und erteilte ihr einen scharfen Klaps auf den Arm. »Wir wollen doch das Gerät nicht beschädigen, oder?!«

Kamilas Hand zitterte erneut. Sie spürte den besorgten Blick von Justyna neben sich und den Fuß, der unter der Werkbank heftig gegen den ihren trat. Sieh dich vor, sollte das heißen, mach bloß keine Dummheiten!

Das Mädchen schloss einen Moment lang die Augen. Die wohltuende Schwärze hüllte sie ein und legte sich um sie wie ein Mantel. Nichts kann mich zerstören, dachte sie trotzig und fühlte, wie die Angst mit scharfen Krallen nach ihr griff, nichts.

Herr Kurz wand ihr das Gehäuse aus den Fingern und betrachtete es von allen Seiten. Seine feingliedrigen Hände schienen wie dazu geschaffen, das Innere eines filigranen Mechanismus zu entschlüsseln, gezackte Rädchen übereinander zu legen und in eine wohl durchdachte Bewegung zu versetzen. Er war Feinmechanikermeister und im Grunde dafür verantwortlich, dass die Geräte Fabrik Reinickendorf, kurz GFR, ausschließlich Qualitätsware an Zeiss lieferte, wo die Linsen mit den Gehäusen zusammengefügt wurden.

Es handelte sich um Spezialgehäuse für die Wüste und die Tropen. Kurz war auf ihre Entwicklung besonders stolz: leichtes Druckgasmetall mit versenkten Schrauben und einer Bedeckung aus tropenfestem Leder. Ideal für Rommels Wüstenfüchse. Die Kuppe seines Zeigefingers glitt liebevoll über das Rad zur Scharfeinstellung. Es bewegte sich nur zögernd. Seine linke Hand schoss nach unten und wies anklagend auf das Mädchen.

»Kleiner Sabotageversuch, was? Damit unsere deutschen Soldaten im Feld blind sind? Ich werde diesen Vorfall melden!«

Justyna, Kamilas Nachbarin, hatte so etwas schon kommen sehen. Seit geraumer Zeit beobachtete sie die merkwürdige Obsession des Meisters für das Mädchen, das Tag für Tag wütender wurde. Verzweifelt blickte sie nach oben und sagte in einem annehmbaren, wenn auch stark akzentuierten Deutsch: »Bitte, Herr, das war keine Absicht. Kamila arbeitet immer sehr gut, Sie werden sehen.«

In diesem Augenblick trat ein weiterer Mann zu den dreien. Im Gegensatz zu Kurz verbreitete er eine gewisse Aura der Lässigkeit, die mit seinem gut geschnittenen aber legeren Anzug korrespondierte. Er schüttelte amüsiert den Kopf. »Was gibt’s denn, Kürzelchen; irgendwelche Probleme?«

Der Meister fuhr herum, als habe ihn eine Natter gebissen. Seine Züge wurden fast übergangslos beflissen. »Ach Herr Doktor, ich hatte Sie gar nicht gehört.«

Er wies vorwurfsvoll auf das Gerät in seiner Hand. »Ich war gerade auf meinem Kontrollgang, da sah ich, wie diese Ostarbeiterin« – er zeigte auf Kamila – »ihre Faust um das Gehäuse schloss, als wollte sie es brechen. Bei einer flüchtigen Untersuchung musste ich feststellen, dass das Rad zur Scharfeinstellung verbogen ist.« Seine schmutzig braunen Augen wurden schmal. »Herr Doktor, das ist einwandfrei Sabotage!«

Der Firmenchef nahm das Gerät entgegen und drehte gedankenvoll an dem Rädchen. Sein Blick fiel auf Kamilas Werkbank und streifte suchend darüber hin. Endlich hatte er das Gewünschte gefunden und ergriff ein winziges Kännchen mit Öl. Mit einer fast zarten Bewegung, die man seinen dicklichen Fingern kaum zutraute, goss er einen Tropfen über das Rad. Er drehte es ein paar Mal hin und her. Das Rädchen bewegte sich unter seinem Finger, als sei es eigens für ihn geschaffen.

Der Doktor reichte das Gerät an den Meister zurück und säuberte sich die Hand mit einem Lappen. Sein Blick fiel dabei auf das Mädchen, das ihn mit einer seltsamen Mischung aus Furcht, Trotz und Verzweiflung anstarrte.

»Na na, Kürzelchen«, sagte er freundlich und versank plötzlich in den gelb schimmernden Augen. Sie erinnerten ihn an etwas, das er erst kürzlich erlebt hatte; er kam nur nicht darauf, was es war. Angestrengt runzelte er die Stirne und überlegte. Ach ja, jetzt hatte er es: Vor einigen Wochen auf der Jagd hatte er einen Luchs entdeckt, der in eine Falle gerannt war. Er winselte und fletschte dabei gleichzeitig mit den Zähnen. Seine zitternde Lefze war voller Blut. Das Tier litt entsetzliche Schmerzen, die es sich selbst zugefügt hatte. Seine in dem Eisen gefangene Pfote hing nur noch an ein paar Muskelfasern und einem Stück Knorpel. Es fehlte ein einziger Biss, dann wäre es wieder frei. Sterben allerdings würde es so oder so. Sein Blick war wie der des Mädchens gewesen, voller Verzweiflung und Hass. Diese Polin, dachte er nachdenklich, erträgt keine Ketten. Sie wird hier in den Baracken sterben. Er riss sich von ihren Augen los und blickte auf Kurz. »Dem Rädchen hat nur ein wenig Öl gefehlt, sehen Sie?«

Sein Blick schweifte über die kleine Gruppe wie der eines Bürgermeisters, der ein paar unverbesserliche Streithähne beschwichtigt.

»Ich glaube, diese Frauen und Mädchen hier tun ihre Pflicht und, wenn es auch nur Ostarbeiterinnen sind, wollen wir doch nicht gleich annehmen, sie seien bösartig, nicht wahr? In dubio pro reo, wie der Lateiner so schön sagt; daran wollen wir uns doch gerade in diesen Zeiten halten, nicht wahr Kürzelchen?«

Er wollte sich bereits abwenden, da fiel ihm noch etwas ein. Er beugte sich zu der scharf riechenden jungen Frau hinunter und fragte sanft: »Wie heißt du denn? Du kannst doch Deutsch, oder?«

Sie starrte ihn noch immer aus wilden Augen an und nickte trotzig. »Kamila«, presste sie so heiser hervor, als müsste sie ihre Stimmbänder dazu zwingen.

Damit war ihr weiteres Schicksal besiegelt.

3. Atelier

8. September 2010

Das Künstleratelier direkt unter dem Dach verdiente seinen anspruchsvollen Namen zu Recht: Es wurde durchweht vom Atem eines kreativen Chaos. Der wellige Parkettboden war übersäht mit alten Zeitungen voller Farbe. Etwa in der Mitte stand ein Tisch, auf dem sich gebrauchte Paletten, ein voller Aschenbecher, eine halb leere Flasche Wein und mehrere verklebte Gläser zu einem Stillleben verbanden. Das an sich gemütliche Sofa war belegt von alten Zeichnungen und Skizzen. An den geraden Wänden hingen großflächige abstrakte Bilder, während die Freiflächen darunter vollgestapelt waren mit Materialschränken, Leinwand, Holzteilen und kaputtem Werkzeug.

Sigi trug über seiner Alltagskleidung einen ehemals grauen Kittel, der völlig verschmiert war. Während er mit einem Kunden von Bild zu Bild schritt, versuchte er immer wieder vergeblich, den störenden Unrat aus dem Weg zu räumen.

Der stattlich gebaute, mittelalterliche Wirt nickte begeistert. »Also, was du da machst, ist … toll, sensationell!« Ede trat unentschlossen von einer Wand zur anderen. »Welches passt jetzt am besten in meine Kneipe? … Dies hier … oder das andere?«

Sigi breitete die Arme aus, als wolle er seinen Segen gleichmäßig zwischen seinen Bildern und ihrem potentiellen Aufkäufer verteilen. »Nimm doch einfach beide, dann bist du den Druck los.«

Der Wirt schlug ihm jovial auf die Schulter. »Würde ich wirklich gern! Du weißt ja, wie das ist: Die Umstände sind auch nicht mehr, wie sie einmal waren. Aber du bist ein feiner Kerl, und Kunst soll man ja unterstützen. Also, ich mache dir einen Vorschlag: Ich nehme dieses Bild hier mit, und du bekommst als Anzahlung bar auf die Hand fünfzig Euro! Spätestens in einem Monat erhältst du die restlichen Zweihundert.«

Der Künstler griff sich an die hohe Stirn. »Hatten wir in deiner Kneipe nicht von Dreihundert gesprochen – und das mit der Anzahlung …«

Ede schüttelte seinen voluminösen Kopf, dessen Resthaar zu einem rachitischen Pferdeschwanz gebündelt war. »Dreihundert ist völlig unmöglich. Schon die Zweihundertfünfzig sind eigentlich zu viel. Ich mache das nur, weil ich dein Freund bin, mehr ist beim besten Willen nicht drin.«

Er riss den Mund auf wie ein Walfisch auf dem Trockenen, gähnte ausgiebig und wandte sich zum Gehen. »Also überlege es dir. Aber nicht zu lange – du weißt, die Bilder von Oskar sind fast genauso gut wie deine; und der ist absolut wild drauf, seine Ergüsse bei mir hängen zu sehen …« Der Wirt eilte mit stampfenden Schritten in Richtung Ausgang.

Sigi hastete hinterher und lächelte verkrampft. »Nein, es ist schon in Ordnung. Ich dachte nur, die Anzahlung … könntest du nicht vielleicht doch hundert …?

Ede wandte sich zu ihm um und feixte. »Nichts da, fünfzig Euro, mehr habe ich gar nicht dabei. Wenn du willst, kriegst du die Kohle sofort, und ich nehme das Bild gleich mit.«

Sigi fühlte einen leichten Schwindel; einen Augenblick lang drehten sich seine wunderbaren Bilder, die Farbtiegel, Paletten und Haufen von alten Zeitungen vor ihm im Kreis. Sein Blick irrte durch die sich bewegende Materie, stieß sich an den Schweinsaugen des Wirts und brachte den schwankenden Raum zum Stillstand.

»Also gut!« Er seufzte leise, nahm vorsichtig das Bild von der Wand, strich abschließend über die farbige Leinwand und wickelte es in Papier. »Pass gut darauf auf! Das ist eines meiner Lieblingsbilder.«

»Na klar.«

Ede nahm das Werk in Empfang und zog mit großer Geste den Geldbeutel aus der Tasche. Er war prall gefüllt mit Scheinen. Der Wirt leckte sich die Finger, zog einen Fünfziger heraus und drückte ihn Sigi in die Hand. »Aber nicht gleich alles ausgeben!« Er schlug dem Maler auf die Schulter und hastete endgültig zum Ausgang.

Sigi blickte nachdenklich dem Bild und seinem neuen Besitzer hinterher. Einen Moment blieb er versonnen mitten im Raum stehen. Dann gab er sich einen Ruck und eilte an die Staffelei, wo er vergessene Farbtuben aufräumte. Er summte eine alte Melodie von den Rolling Stones. Sigi spürte einen warmen Luftzug im Rücken und drehte sich um.

Joana stand in der Tür zum Wohnbereich und blickte ihn erwartungsvoll an. Sein Blick glitt über ihre braune Haut und blieb wie so oft an ihren Händen haften.

4. Der Leib der Erde

Sigi stand gelangweilt in der schicken Menge, die weniger den angesagten Künstler als sich selbst feierte. Er hätte doch nicht auf die Vernissage kommen sollen. Warum hatte er nur seinem anfänglichen Widerwillen nicht getraut?

Auf einmal bemerkte er die nussfarbene junge Frau, die selbstvergessen, wie ein verirrtes Geschöpf des Dschungels in dem glitzernden Ambiente stand. Er betrachtete ihren wohlgeformten Rumpf und dann die Hände. Sie schienen im Verhältnis zu den Armen auffallend groß. Nein, wies er sich zurecht – das war es nicht: Sie wirkten groß, weil sie von etwas Unsichtbarem schöpften. Obgleich die Hände leer und entspannt an den muskulösen Armen hingen, schienen sie wie Gefäße bis an den Rand gefüllt.

Vielleicht gehörten sie einer Töpferin, die Tag für Tag an einer Drehbank saß und mit Hingabe ihr Leben formte …

Sie lächelte ihn an und machte eine winzige Bewegung mit dem Kopf. Sigi starrte auf ihre nach innen gebeugten Finger und dachte: Diese Frau malen; Schicht um Schicht von ihr abtragen, bis nichts zurückbleibt als die Essenz … Fast schon schüchtern schritt er auf sie zu und fragte, ob er sie einmal zeichnen dürfe.

Die Frau trug ein langes, weit auslaufendes Kleid mit archaischen Mustern, die ihren Leib umspielten und flatterten wie im Abendwind verwehte Blätter. Was sie umhüllten, ließ sich erahnen durch die katzenhafte Anmut ihrer Glieder. Ihre ausdrucksvollen Züge schienen nicht ganz zu dem Stromlinienkörper zu passen. Die hübsche Nase neigte sich einen Hauch nach links, und die schön geformten Lippen schienen ein wenig zu voll. Nichts an ihren Zügen war vollkommen synchron: weder die Augenbrauen, von denen die rechte eine Kleinigkeit höher stand, als die linke, noch die Ohren oder Wangen.

Erst jetzt landete sein Blick in ihren Augen, und er begriff, dass sie das erstaunliche Gesicht zusammenhielten. Sie besaßen die Farbe von braun schillernden Flusssteinen im Wasser; oder von Brunnen, in deren Grund sich ein Strahl Sonne fängt. Im ersten Eindruck begegnete er dort Freundlichkeit, bereit, sich auf alles zu verteilen, das atmete und lebte. Dahinter lag ein Schleier. Dahinter eine tiefe Trauer. Und dahinter …

Joana war gerade einmal sechs Monate in Deutschland, hatte zwei unglückliche Affären hinter sich und stand kurz davor, endgültig das Weite zu suchen.

Was wollte dieser Mann nur mit ihren Händen? Er hatte sie angesehen wie ein Bauer, der sich achtsam nach einem Stück Erde bückt und es so sachte auf dem Handballen wiegt, als sei es das Kostbarste auf der ganzen Welt. Seit sie in diesem kalten Land war, hatte sie sich so nach diesem Blick gesehnt wie nach der brennenden Sonne, den dösenden Geckos auf den heißen Felsen und dem staubigen Wind über dem Sertão …

… Joanas übervolle Lippen lächelten ihn an; doch in ihren Augen stand eine einzige Frage. Sigi grinste, als habe er einen Sechser im Lotto gewonnen.

»Fünfzig Euro!« Er hielt den Schein des Wirts in die Höhe und wedelte ihn durch die Luft.

Joana zog eine Grimasse und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. »Fünfzig Euro? Dieses Arschloch!«

Der Maler trat beschwichtigend auf sie zu und nahm sie in den Arm. »Das war doch erst die Anzahlung. In einem Monat bekomme ich die restlichen zweihundert.«

Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und seufzte. »Ach Sigi, dieser Wichser betrügt dich doch nach Strich und Faden! Deine Werke sind das Fünf-, ach was sage ich: das Zehnfache wert. Ich wette, das Bild wirst du niemals in der Kneipe sehen. Der hat doch bestimmt schon einen Käufer und verscherbelt es für ein Vermögen.«

Plötzlich rannen ihr Tränen über die Wangen. Ihre kräftige braune Hand fuhr über sein dünnes Stirnhaar. »Warum habe ich nur einen Künstler geheiratet? Einen Künstler! Ich hätte jeden reichen Unternehmer haben können!«

Sigi knabberte an ihrer rechten Ohrmuschel, die um ein winziges größer war als die linke. »Vielleicht, weil du den reichen Unternehmer schon hattest? Vielleicht …«, er bedeckte ihr Gesicht mit Küssen, »… weil der nur einen brasilianischen Hintern wollte, um sich damit vor aller Welt zu zeigen?«

Joana wischte sich über die Augen und zwickte ihn in die Nase. »Und du? Du interessierst dich überhaupt nicht für einen brasilianischen Hintern!«

Sigi umfasste ihr wohlgeratenes Gesäß und sagte leise: »Das ist wirklich das allerletzte, was mich beschäftigt!«

Er streifte ihr sacht das Kleid von den Schultern. »… Aber als Künstler muss ich schließlich – rein akademisch – jedes Detail deines Körpers überprüfen.«

Sie schloss die Augen und flüsterte: »Dann zeig mir noch einmal, welche Stellen du meinst – rein akademisch …«

Die beiden warfen sich auf den Boden und gingen zur Kür über. Kurz bevor Joana die unbezahlten Rechnungen, Gläubiger und Schuldenberge vollständig vergaß, strich Sigi hauchzart über eine Stelle am Ansatz ihres Halses, als gäbe es dort ein exotisches Instrument, das ausschließlich seine Malerhände zum Klingen brachten.

5. Karl-Heinz

Karl-Heinz verstand wie so oft die Welt nicht mehr. Warum nur waren alle Menschen um ihn herum Idioten? Man musste doch nur so wie er klar analysieren, Prioritäten setzen und dann handeln.

Er stöhnte verhalten und unterdrückte eine scharfe Bemerkung an seine Sekretärin. Sie hatte wieder einmal alle Termine verwechselt, danach die Blumenvase umgeworfen und dabei einen unterschriftsreifen Vertrag besprenkelt. Wenn sie nicht hin und wieder zum Bumsen taugte, er hätte sie längst schon entlassen. Dazu kam ein renitenter Besitzer, der seine Bauerntruhe aus dem siebzehnten Jahrhundert partout nicht unter dem Preis verkaufen wollte. Heutzutage waren sogar schon die Landwirte clever. Wie sollte man da noch auf seine Kosten kommen? Doch Karl-Heinz jammerte auf hohem Niveau.

Er hatte seinerzeit die merkwürdig anmutende Fächerkombination von Kunstgeschichte und Informatik studiert. Nach zwei erfolgreichen Abschlüssen und im Gedenken an das exklusive Geschäft seines Vaters eröffnete er einen Antiquitätenvertrieb. Schon nach gut einem Jahr lief der Laden wie von allein. Karl-Heinz’ Riecher für ausgefallene Stücke, die er in der Regel zum Spottpreis erwarb, war berüchtigt. Dabei bewies er stets ein sicheres Gespür für Ausgefallenheit und Echtheit. In der Branche hatte er sich den Ruf eines knallharten Händlers erworben, der den wachsenden Speckgürtel Berlins mit exquisiten Nischenstücken versorgte. Sein Rezept war dabei so einfach wie erfolgreich: Er verzichtete auf eine teure Repräsentanz in Kuhdammnähe und bot seine Artikel stattdessen online an. Damit lag er immer deutlich unter den Preisen seiner Konkurrenz, die vor Wut schäumte. Das zweite Geheimnis waren seine Quellen: Im Auffinden seltener und kostbarer Stücke schien er über magische Hände zu verfügen.

Doch die Realität war so einfach wie banal. Er hatte in wenigen Jahren ein europaweites Netz von Nachlassverwaltern aufgebaut, die ihn gegen gelegentliche Einladungen mit Insider-Tipps versorgten …

Im Augenblick führte er zwei Telefongespräche gleichzeitig, was seinen Prioritäten-Grundsatz mit den Füßen stieß.

»Nein, Herr Roland!«

Er bemühte sich um eine nach wie vor freundliche Stimme. »Der Preis ist, wie ausgezeichnet, exklusive Mehrwertsteuer und Versand. … Wie? Ja, bei Selbstabholung wird es natürlich billiger, das sagte ich ja gerade.«

In das Handy, das er an sein zweites Ohr hielt, bellte er: »Sabine, ich bin beschäftigt! Ich weiß noch nicht, ob ich mit dir zu Mittag esse. Wie? … Nein, Herr Roland, das war nicht an Sie gerichtet! Wenn Sie möchten, können Sie die Truhe bis zwölf Uhr abholen. Aber das können Sie auch gerne mit meiner Sekretärin besprechen. Ich schalte das Gespräch mal um – einen Augenblick, ja?«

Gut eine Stunde später saß er mit seiner notdürftig zurechtgemachten Freundin bei einem angesagten Chinesen zu Tisch. Ihr sonst so gelungener Lidschatten war fahrig aufgetragen und verlieh ihr die Anmutung einer Nachteule. Das blond gefärbte Haar war nicht so gekonnt toupiert wie sonst, und zu allem Überfluss hatte sie auch noch das falsche Parfum gewählt.

Ihre smaragdgrünen Augen funkelten in einem einzigen Vorwurf. »Musst du mir eigentlich immer auf den letzten Drücker Bescheid sagen? Ich hatte dich pünktlich um halb elf angerufen, und du warst indisponiert wie so oft. Ein bisschen Zeit, um mich zurechtzumachen, musst du mir schon lassen!«

Karl-Heinz musterte ungerührt die Karte. »Ich würde es an deiner Stelle vorziehen, zu bestellen, ich habe jetzt nämlich noch genau«, er warf einen Blick auf sein Chronometer, »… zwanzig Minuten Zeit … Und du willst doch sicher nicht ohne Mittagessen wieder nach Hause?«

Der Blick seiner blassblauen Augen glitt durch sie hindurch und schien die Sekunden zu zählen, die ein imaginäres Pendel stur und vollkommen exakt aus der Zeit in den Raum lud.

Sabine schnappte einen Moment lang nach Luft. Einen Augenblick lang überlegte sie sich, aufzustehen, Karl-Heinz eine zu kleben und zu gehen. Doch ihr Magen war anderer Meinung. Sie riss ihrem Freund die Karte aus der Hand und beschloss, aus Rache das teuerste Gericht zu nehmen. Sie befeuchtete ihren rosa lackierten Finger mit der Zunge und fuhr genüsslich über das edle Hochglanzpapier.

Karl-Heinz klopfte nervös auf das weiße Tischtuch. Mit dieser Ziege verlor er nur seine Zeit – so wie mit allen anderen, dachte er in einem Anflug von Selbstmitleid. Warum konnte er eigentlich nicht eine Frau wie Joana haben, die mit beiden Füßen auf der Erde stand und doch so exotisch wirkte wie eine seltene Orchidee; eine Frau, deren schwingende Hüften einen Mann vollkommen um den Verstand bringen konnten …«

»Karl-Heinz, hörst du mir überhaupt zu?«

Er zuckte zusammen und zwang sich zu einem schmalen Lächeln. Hoffentlich, dachte er, waren die achtzehn Minuten bald vorüber.

MONTAG

6. Die erste Begegnung

13. September 2010

Am heutigen Montag war das Wetter diesig. Über den Himmel spann sich eine transparente Wolkendecke, die ganz Friedrichshain in ein diffuses Licht tauchte. Gegenstände und Menschen wirkten schattenlos und schienen in einer merkwürdigen Verklärtheit über dem Boden zu schweben. Die Autos schienen leiser als sonst über den Asphalt zu rollen, die Straßenhunde winselten trübe, und die Gäste in der Kneipe redeten verhalten, so als könnten sie damit ein Unwetter, das von fern her anrollte, beschwichtigen und in eine andere Richtung lenken.

Auch die beiden Freunde waren in gedämpfter Stimmung. Karl-Heinz hatte Sigi einen Interessenten vermittelt, der jedoch abgesagt hatte. Seine Telefonrechnung war noch höher als sonst ausgefallen, und sein Konto so leer wie eine sibirische Steppenlandschaft. Susi, die hübsche Bedienung, bemerkte seine melancholische Verfassung, stellte einen Vorspeisenteller vor ihn hin und bestand darauf, dass er auf Kosten des Hauses ging.

Sigi ergriff ihre Finger, die heute hellblau lackiert waren, und drückte sie an sein Herz. »Ach«, sagte er und lächelte wehmütig, »was täte ich nur ohne dich!«

»Wenn du es nur tätest …«, formten ihre Lippen und lächelten zurück.

Auch Karl-Heinz hatte ein paar Gänge heruntergeschaltet. Seine Liaison mit Sabine war wohl endgültig beendet. Nachdem er so gut wie nie erreichbar war, hatte sie ihm auf den Anrufbeantworter gesprochen und sich unter Tränen aus seinem Leben verabschiedet. Obwohl er sie eigentlich nie sehr gemocht hatte, ging ihm das Ende doch etwas aufs Gemüt. Hätte sie nicht warten können, bis er von selber Schluss machte?

Die beiden waren bei der zweiten Flasche Wein angelangt und versicherten sich wohl schon zum vierten Mal ihrer Zuneigung.

»Du bist«, bekräftigte Karl-Heinz, »ein wahrer Freund. Wenn ich dich nicht hätte …«

»Prost, Alter! Wir beide sind wirklich ein gutes Team.« Sigis Hand fuhr in seine Gesäßtasche und stieß auf gähnende Leere. »Verdammt noch mal! Ich habe schon wieder meine Börse vergessen.«

Karl-Heinz winkte ab und warf dabei seinen Wein um. »Lass nur. Ich hab’s zum Glück ja wirklich dicke!« Er stellte vorsichtig das Glas senkrecht und schenkte mit unsicherer Hand nach. »Wenn nur diese Weiber nicht wären … Das heißt – du bist in der Richtung ja gut bedient … Deine Joana ist eine wunderbare Frau, habe ich dir das schon einmal gesagt?«

Sigi dachte einige Sekunden nach und nickte ernsthaft. »Das ist sie tatsächlich … Wenn ich ihr bloß ein besseres Leben bieten könnte. Nur ein paar Tage in eine andere Haut schlüpfen … zum Beispiel in deine. Diese Malerei ist doch total für die Katz.«

Sein Freund kniff die Augen zusammen und musterte ihn schräg.

»Weißt du was? Das ist eine gute Idee! Wenn du für einige Tage – oder sagen wir eine Woche – ich sein könntest, und ich du, das wäre …«

»Um Gottes willen! Der Satz war einfach nur so dahin gesagt.«

»Nein, tatsächlich, ich meine …« Karl-Heinz überlegte, was er mit seinem Gedanken eigentlich ausdrücken wollte. »Also, ich habe ja im Prinzip alles, was du brauchst – und du hast etwas, das ich …«

Seine Stimme wurde belegt. Er bemerkte, dass sich die Stirn seines Freundes in Falten zog und ließ den Rest des Satzes in der Schwebe.

Sigi blickte angestrengt auf sein halbleeres Glas. Auf der Fläche spiegelten sich Karl-Heinz’ geschlängelte Gliedmaßen und ein riesiger Kopf, dessen Inhalt in Schlieren über die Fläche strömte. Interessant, dachte er und wusste einen Augenblick nicht, ob er gerade selbst dachte oder von jemand anderem gedacht wurde. Kann man eigentlich das Denken malen? Er musste unbedingt Joana fragen.

Ohne dass es die beiden merkten, hatte sich ein weiterer Gast an ihren Tisch gesetzt: ein dürrer dunkelhäutiger Mann, der vor seinem Mineralwasser hockte und hineinstierte, als könne er in den aufsteigenden Perlen Schicksale lesen.

Ein Hund, der sich unter Sigis Stuhl zu einem Nickerchen niedergelegt hatte, winselte, stand auf und suchte sich einen anderen Platz.

Der Fremde schloss einen Moment lang die umschatteten Augen. Plötzlich richtete er sich gerade, wandte seinen stechenden Blick auf die Männer und sagte mit starkem Akzent: »Vielleicht … könnte ich Ihnen helfen …«

Die Freunde fuhren aus ihrem Schweigen hoch und betrachteten den ungebetenen Gast. Seine dunkle Haut wirkte durch die weiße Kleidung nur noch schwärzer. Er war so spindeldürr, dass ihm Hemd und Hose um den Leib flatterten wie eine Gebetsfahne. Sie wussten nicht recht, ob sein Anblick komisch wirkte, bedrohlich oder zum Gotterbarmen.

Karl-Heinz setzte sein geschäftsmäßiges Lächeln auf und erwiderte kühl: »Nein, vielen Dank, wir sind bereits bestens bedient.«

Der Mann fuhr fort, die beiden anzustarren und entblößte seine wirr stehenden Zähne. »Ich weiß genau, was Sie sich wünschen!«

Die ungleichen Freunde überfiel ein Frösteln. Nach einer Schrecksekunde riss Sigi sich zusammen und prostete dem Fremden zu. Unsicher winkte er nach Susi, bestellte ein weiteres Glas und schenkte es voll bis an den Rand.

Der Schwarze hob das Utensil hoch, senkte es langsam in die Schräge und musterte es wie eine sich hochräkelnde Schlange. Die Flüssigkeit weigerte sich beharrlich, den Gesetzen der Schwerkraft zu folgen und zu tropfen. Plötzlich rollte der Mann mit den Augen, legte das Glas an die Lippen und spülte den Wein in einem einzigen Zug herunter.

Sigi lag eine ironische Bemerkung auf der Zunge, doch als er sie aussprechen wollte, hatte er sie schon vergessen. Er schenkte ein weiteres Mal voll und blickte gebannt auf das Glas. Der Fremde hob es wie einen Kelch in die Höhe und hielt es sekundenlang in der Neige. Die Flüssigkeit darin verharrte, als sei sie zu Gelatine erstarrt. Augenzwinkernd wandte er sich seinen neuen Bekannten zu und flüsterte: »Magie …«

Dann schüttete er den Wein durch die Kehle und lachte, bis ihm die Tränen kamen.

Später verstanden die beiden nicht mehr genau, wie es eigentlich hatte kommen können: War es der kühle Weiße, der ihnen so wunderbar leicht durch die Kehlen rann? Vielleicht lag es auch an dem schwülwarmen Wetter, an ihrer merkwürdigen Verfassung oder dem seltsamen Benehmen des geheimnisvollen Fremden. Eine Viertelstunde später saßen sie jedenfalls zu dritt in Karl-Heinz’ Auto und brachen in halsbrecherischen Kurven durch den Kiez.

»Es ist gar nicht weit«, hatte der Mann versichert, »nicht einmal ein Kilometer. Dort wartet Valtinho auf euch – oder sollte ich sagen: Maria Mulambo?«

Er lachte kehlig, unterbrach sich brüsk und dirigierte Karl-Heinz in eine düstere Gasse, die aussah, als sei die Maueröffnung spurlos an ihr vorübergezogen: Ein Schild vor einem leerstehenden Haus pries in verrosteten Lettern Kolonialwaren an. Graue, rußverschmierte Fassaden warben für Produkte aus Plaste und Elaste; alte Sofas, Kinderwägen und halbe Autotüren warteten auf ein Sperrmüllfahrzeug, das wohl niemals kommen würde.

Der Wagen rauschte durch ein efeubewachsenes Tor und gelangte in einen gepflasterten Hof. Schwere Seilwinden hingen nutzlos aus den Speichern und kündeten von Zeiten, als hier noch Getreide und Mehl gelagert wurden. Aus den Fenstern schälten sich hohlwangige Gesichter, die misstrauisch auf das Cabriolet hinunteräugten. Karl-Heinz fuhr in den zweiten und schließlich dritten Hinterhof, der noch trister wirkte als seine Vorgänger. Vor einer brökkelnden Kellertreppe und spinnwebenverhangenen Scheiben blieb der Wagen stehen. Ein Rabe stürzte vor Schreck aus einem Baum, landete auf einem rostigen Fensterbrett und putzte verstimmt seine Krallen.

Ihr Führer flitzte aus dem Wagen, öffnete die Tür und dirigierte die Gäste in den Keller. Benommen stolperten sie an zwei rotschwarzen Figuren vorbei nach innen. Sie befanden sich in einem Vorhof der Hölle. Oder war es das Paradies? Die beiden sahen sich nicht mehr in der Lage, solch feine Unterscheidungen zu treffen. Sie standen in einem stickigen Kabuff, das erfüllt war vom Duft nach Räucherstäbchen und einem anderen undefinierbaren Geruch, der ihnen fast den Atem raubte. Der Raum war durchdrungen von einem rötlichen Licht, das mit dem blutroten Vorhang im Hintergrund korrespondierte. Davor stand ein zerschlissener Sessel, in dem eine Frau von fast überirdischer Schönheit thronte.

Sie war so dunkel wie die Nacht. Ihre blauschwarzen Locken kringelten sich über die kräftigen Schultern. Die schwarzen Augen mit den vergrößerten Pupillen schillernden, als seien es Eilande hinter den Grenzen dieser Welt. Über den langen Wimpern malten sich rot und blau changierende Schatten. Die glänzenden, hochstehenden Wangen überzog zarter Silberstaub. Ihre kräftige, arrogante Nase stand darin wie ein Fanal. Darunter wölbte sich die sinnliche und anmaßende Linie des Mundes.

Die Frau trug lange weiße Handschuhe, die bis zur Hälfte ihrer Finger reichten; die Glieder lugten daraus hervor wie schwarze, in blutiges Licht getauchte Krallen. Sie trug ein rotes, mit schwarzen Rüschen abgesetztes tailliertes Kleid. Ihr nach innen gerichteter Blick irrlichterte durch den Raum und blieb an den Freunden hängen. Lächelnd entblößte sie ihre blitzenden Zähne und wies auf zwei windschiefe Stühle. Die Männer torkelten darauf zu und sanken nieder.

»I give you, what you like«, sagte sie in fürchterlich akzentuiertem Englisch.

»Aber ich …« Karl-Heinz versuchte kraftlos, den Nebel vor seinen Augen zu verscheuchen. »Ich will gar nicht …« Plötzlich kam er sich vor wie ein Junge, der zu Gast bei einem Freund ist und sieht, dass dessen Mutter eine Suppe gekocht hat, die ihm nicht bekommt.

Die dunkelhäutige Frau streichelte ihre Locken und flüsterte: »Für zwei Liebende scheint eine Woche ein ganzes Leben. Für einen zu Tode Verurteilten ist sie wie ein Sturz in den Abgrund.« Sie lachte heiser. »Aber keine Angst, es ist alles nur ein Spiel … Ihr müsst bloß noch unterschreiben!«

Sie nahm einen Zug aus ihrer Zigarettenspitze und blies den Rauch mit Kussmund auf die Männer. Geschickt fischte sie aus ihrem Kleid ein winziges Messer und reichte es an Karl-Heinz weiter.

Er lachte, als habe er jetzt erst verstanden, dass es sich bei ihrem Besuch um ein amüsantes und prickelndes Tete-a-Tete handelte. Tollpatschig hielt er den Perlmuttgriff in der Hand, strich mit der flachen Klinge darüber und pikste sich in den Finger. Das Blut pulste auf seiner Haut und wuchs zu einer glitzernden roten Perle. Dann wurde die Flüssigkeit zu schwer, die Oberflächenspannung platzte auf, und der Tropfen fiel zu Boden.

Die Augen der Zigeunerin hatten sich völlig verdreht. Es war der Blick einer Blinden; dennoch hatte Karl-Heinz das Gefühl, sie starrte ihm unmittelbar ins Gesicht.

Vor ihm befand sich ein Tisch mit einer fadenscheinigen, ehemals wohl weißen Decke. Darauf lag ein Stapel Spielkarten, ein Bündel farbiger Ketten und eine Handvoll Muscheln. Karl-Heinz hob vorsichtig das Tischtuch an. Er blickte auf hunderte von ovalen, rostroten und braunen Tupfern. Seine Augen versanken in den milchigen Blick Maria Mulambos. Plötzlich bekam er eine Gänsehaut, und ihn schauderte von all den Leben, die ihr Schicksal in ihre goldberingte und willige Hand gelegt hatten …

Sein Freund Sigi versuchte sich zu erinnern, warum er hier saß und nicht gemütlich in seiner Kneipe. Auf einmal fiel es ihm ein: Dieser sympathische dünne Schwarze hatte sie begleitet! Wo steckte er nur? Er sah sich um und erblickte stattdessen eine dunkle Frau. Sie besaß wunderbar ausgeformte große Hände. Zwei Finger umfassten einen goldenen Ring und drehten ihn spielerisch um sich selbst. Das sind keine Frauenhände, dachte er fasziniert.

Es sind die Pranken eines Wolfs. Und ihr Gesicht ist das eines Wesens, das vor Zeiten vielleicht einmal ein Mann war …

»Du musst mich einmal malen«, schnurrte Maria Mulambo und strich sich lasziv über die Wange. »Aber nicht jetzt … später.«

Sigi spürte, wie ihn ein Nebel davontrug. Die Frau reichte ihm ein winziges Messer, das angenehm kühl in seiner Hand ruhte. Was für ein köstliches Spiel, dachte er und stach sich in den Finger.

Er starrte auf das Blut, das auf seiner Haut perlte wie der Puls des Lebens. Auch er nahm das Tuch zwischen die Finger und hörte, wie es in seiner Hand rauschte. Es erzählte von Himmel und Hölle; von unglaublichen Dingen, die den eingravierten Leben gelungen waren und von ihrem Sturz, der fortdauerte bis ins Jetzt. Fast feierlich drückte er seinen Finger in das Tuch. Er fühlte, dass ihn ein Wind hochriss und wie ein Spielzeug durch die Luft jagte. Sigi wollte schreien, doch der heftige Atem blies jeden seiner Laute fort.

Von fern her hörte er die rauchige Stimme Maria Mulambos: »Ihr habt mich gar nicht gefragt, was der Preis ist«, rief sie über den Sturm hinweg und lachte schallend.

7. Kamila

September 1941

Wie die anderen Frauen befindet sie sich mitten im Hof. Es ist etwa zwölf Uhr mittags; die Sonne steht hoch am Himmel und beleuchtet mit ihrem grellen Licht die düsteren Baracken und jeden Zentimeter ihres Körpers. Sie blickt auf den armseligen grauen Haufen, der vor ihr im Dreck liegt: ihre Kleider. Vor vielleicht einer Stunde sind sie mit dem Viehtransporter am Ostbahnhof angekommen.

Während der Reise war es dunkel, sie hatten keine Ahnung, wohin es in Wahrheit gehen mochte. Nur dass die ratternden Räder sie forttrugen, irgendwohin nach Deutschland, darüber waren sie sich klar. In dem Waggon hatte es nach Kuhscheiße und nach der Angst gerochen, die Tiere vor der Schlachtung empfinden. Die schwere Ausdünstung hatte sich vermischt mit ihrem eigenen Geruch nach Furcht und Wut. Doch wenigstens waren sie dicht beieinandergesessen; sie hatten sich an den Händen gehalten, polnische Lieder gesungen und sich gegenseitig getröstet: Fünf Frauen, die von einem Moment auf den anderen aus ihrem Leben gerissen wurden; fünf Frauen, die auf dem Feld gearbeitet hatten und plötzlich in eine Ladung Gewehrläufe blickten.

Nach der Festnahme waren sie von einem Arzt untersucht worden. Er machte einen Sehtest und überprüfte die Gelenkigkeit ihrer Finger. Tüchtige Arbeiterinnen wurden jetzt in Deutschland gebraucht, hatte man ihnen gesagt. Frauen, die scharf sahen und fingerfertig waren. Sie würden sogar Geld verdienen, mehr als bei dieser Drecksarbeit hier zu Felde!

Jetzt steht sie hier völlig nackt, so wie die anderen Gefangenen auch. Man hat sie in den Hof getrieben wie eine Herde Rindviecher. Eine Aufseherin hat in die Hände geklatscht und geschrien: »Kleider runter zur Entlausung!«

Die Gefangenen haben sich ungläubig angeblickt. Daraufhin hat die Frau zornentbrannt Justynas Bluse aufgerissen. Justyna hat ihren Hass gezügelt und sich mit aller Würde, die noch möglich scheint, ihrer Kleider entledigt. Die anderen Frauen haben es ihr zögernd nachgetan, Kamila zuletzt. Die resolute Frau geht auf Justyna zu und beginnt sie zu untersuchen. Kamila schließt die Augen und öffnet sie erst wieder, als sie spürt, dass jemand auf sie zutritt. Es ist ein Mann. Ein Mann!

Kamila spürt, dass sich alles in ihr verkrampft. Sie will davonlaufen und bleibt doch wie angewurzelt stehen. Sie tut dem Kerl nicht den Gefallen und senkt die Augen. Kamila blickt ihn an und sieht sein kaum unterdrücktes Begehren. Dahinter sieht sie noch etwas, das ihr gefällt: Angst. Der Herr Kurz, wie ihn die Aufseherin nennt, trägt über der linken Hand einen Sack aus Kautschuk. Das Gummi schlottert um seine Finger wie eine ekelerregende zweite Haut. Als er sie berührt, will Kamila schreien. Sie will ihm seine akribisch forschenden Pupillen auskratzen und ihm jeden einzelnen der über ihre Haut tastenden Finger brechen. Stattdessen geht ein Zittern durch ihren Körper, als sei er ein Baum, durch den ein heftiger Windstoß fährt. Sie macht sich vollkommen tot. Als er ihre Scham berührt, ist sie schon weit fort in Polen und schwitzt in der Sonne, die auf die prallen Ähren scheint. Sie lächelt ihrer Freundin zu. Nichts wird es fertigbringen, sie zu zerstören.

Plötzlich spürt sie eine Hand, die nach ihr greift. Sie will die Finger packen und sich darin verbeißen, doch auf einmal hört sie ein Flüstern: »Kamila, wach auf!«