Das Blut der heiligen Anastasia - Enrico Caria - E-Book

Das Blut der heiligen Anastasia E-Book

Enrico Caria

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Beschreibung

Die schöne Stella ist Schlagersängerin und muss von der Liebe singen. Doch im Moment ist ihr gar nicht danach, denn der Mann, der ihr Herz zum Schmelzen bringt, ist spurlos verschwunden. In ihrer Not wendet sie sich an den raubeinigen Privatermittler Willy Calone und entfacht ein gefährliches Feuer. Nicht nur weil Willy ihrem Charme erliegt, sondern weil seine Nachforschungen im Schatten des Vesuvs zwei mächtige Familienclans aufschrecken …

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    Übersetzung aus dem Italienischen von Luis Ruby       ISBN 978-3-492-98141-5 © für diese Ausgabe: Fahrenheitbooks, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2014 © 2006 Enrico Caria Titel der italienischen Originalausgabe: »L’uomo che cambiava idea«, Rizzoli, RCS Libri S.p.A., Mailand 2006 Published in agreement with the Author through Piergiorgio Nicolazzini Literary Agency © Piper Verlag GmbH, München 2012 Covergestaltung: FAVORITBUERO, München Covermotiv: © Nikos Psychogios / Shutterstock.com Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck   Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 1. Auflage 2012   In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich Fahrenheitbooks die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.  

… die Forderung der natürlichen Begierden, vermöge deren jeder den Gebrauch der gemeinsamen Dinge für sich allein verlangt. Thomas Hobbes, De Cive Wer gehabt hat, hat gehabt, hat gehabt, wer gegeben, hat gegeben, hat gegeben … Fiorelli-Valente, Simmo ’e Napule paisà

1

Er war glücklich, aber auch ein bisschen unglücklich.

Er packte das Lenkrad mit der Linken und führte die Rechte zur Nase, um die letzten Spuren ihres Duftes zu genießen. Dabei kam ihm die kleine Asiatin aus den Fernsehnachrichten in den Sinn, die den Nobelpreis gewonnen hatte, aber nicht zur Verleihung kommen konnte. Er schüttelte den Kopf und grinste. Ihm ging es im Grunde nicht anders: Der schöne Michele hatte die umwerfendste Frau seines Lebens flachgelegt, aber er konnte es keinem sagen.

Mit diesem bittersüßen Gefühl bog er von der Via Orazio ab und nahm eine enge, steile Abkürzung nach Mergellina.

Er hatte kaum die erste Haarnadelkurve hinter sich gelassen, da rannte auf einmal eine brennende Maus unter seinen gepanzerten Mercedes. Instinktiv zog er die Füße an, und der Wagen geriet außer Kontrolle und schlitterte gegen zwei brennende Müllcontainer, die die Straße blockierten. Einer davon kippte beim Zusammenstoß um und spuckte lodernden Unrat aus, und eine flambierte Plastikflasche prallte gegen die Kühlerhaube.

Der Motor starb ab.

Im Rückspiegel erschien das flackernde Bild zweier dunkler Gestalten, deren riesenhafte, runde Köpfe durch den schwarzen Qualm hindurch sichtbar wurden.

Von Panik erfasst, startete Michele den Motor, doch die Stoßstange hing in dem umgefallenen Container fest. Die Reifen drehten durch und brachten das glänzende Porphyrpflaster zum Glühen.

Wieder sah Michele sich um, und ihm war, als kämen die Gestalten auf ihn zugelaufen, die überdimensionierten Köpfe schüttelnd.

Quietschende Reifen, Vollgas, das Lenkrad erst in die eine, dann in die andere Richtung gekurbelt. Dem schönen Michele schlug das Herz bis zum Hals, aber es gelang ihm, den Mercedes im Rückwärtsgang zu befreien, und dann legte er den ersten Gang ein und steuerte den Wagen zwischen dem noch stehenden Container und der verwitterten Tuffsteinmauer hindurch.

Die Lücke war fast zu eng, doch die Panzerlimousine schrammte mit ihrer Hülle aus einsatzgehärtetem Stahl an der Wand entlang, verbog Blech, pflügte durch Stein, und dann knirschten die Reifen übers Pflaster, und der Wagen verschwand hinter der nächsten Biegung.

Ein Dutzend Haarnadelkurven später hatte der Mercedes die Tredici discese di Sant’Antonio hinter sich. Er schaltete in den zweiten Gang herunter und kam schließlich auf die Piazza San Nazzaro, wenige Meter vor den großzügig ausgebreiteten Tischen der Pizzeria Marchese.

Micheles zähnefletschendes Gesicht und seine Hände, die das Lenkrad umklammerten, waren so weiß wie ein Pinguinbauch. Wenn er noch Blut in den Adern hatte, dann pulsierte es anderswo. Er strich sich durchs rabenschwarze Haar: Die Schädeldecke war in Schweiß und Gel gebadet, und hier und dort traten an seinem Scheitel kleine, matte Tropfen hervor. Er knöpfte sich das indische Gazehemd auf und führte den 18-Karat-Jesus an die Lippen, der an einem Kettchen am Kreuz hing.

Hoffentlich, dachte er, waren diese angezündeten Container nicht für ihn bestimmt.

Seit Wochen setzten die Leute in der Hoffnung auf ein besseres Leben den Müll in Brand, in dem sie schier erstickten. Das war normal. Und selbst dass dieses stinkende kleine Lagerfeuer mitten auf der Straße stattfand, war normal: Chaos gebiert Chaos.

Aber die Silhouetten mit den großen runden Köpfen?

Wenn es sich dabei nicht um Außerirdische gehandelt hatte, dann mussten es wohl Erdlinge mit Motorradhelmen gewesen sein. Und in Neapel trugen nur ganz bestimmte Erdlinge einen Helm – Auftragskiller.

Es gab also zwei Möglichkeiten: Entweder hatte der schöne Michele gerade eine unheimliche Begegnung der dritten Art erlebt oder er war mit knapper Not einem Hinterhalt der Camorra entronnen.

Er fuhr über eine rote Ampel und kam auf die Strandpromenade.

Bleierner Himmel, quecksilbriges Meer, eiserne Fische: Eine flüssige Sonne war hinter dichten grauen Zirruswolken hervorgebrochen. Als zwei dick geschminkte Politessen ihn aufforderten, rechts ranzufahren, wurde Michele endlich klar, warum ihm die anderen Fahrer alle Zeichen machten. Die Plastikflasche klebte an seiner Kühlerhaube und stand immer noch in Flammen. Zum Glück erkannte ihn eine der Beamtinnen, und so ließ sich die Sache in wenigen Minuten regeln – mit ein paar Autogrammen auf der kartonierten Rückseite des Strafzettelblocks.

Auf der restlichen Fahrt die Strandpromenade entlang sah er sich immer wieder um. Erst als er den Autobahnzubringer erreichte und Vollgas gab, konnte Michele sicher sein, dass ihm niemand auf den Fersen war.

Allerdings hatte er wenig Grund, sich zu beruhigen: Die beiden Killer kamen von Carmine Villanova.

Er bog von der Autobahn auf die staubige Landstraße Richtung Melito ab, die zehn Minuten später in die Hauptstraße des Städtchens einmündete. Alles lag in einer unwirklichen Stille da, die es im Sommer sonst nie gab. Kein alter Mann stand auf dem Balkon, kein Fernseher lief, keine zänkischen Stimmen, kein Babygeschrei aus einem der Fenster hinter den geschwärzten Stuckfassaden. Selbst die Wäscheleinen wirkten verlassen, das Licht der Laternen fahler als sonst.

Von den Mauern, die mit alten Wahlplakaten übersät waren, grinsten ihm die Kandidaten entgegen, gewählte wie durchgefallene. Das Gesicht zur Hälfte von einer Flamme in den drei Landesfarben bedeckt, lugte auch Michele Trevi alias der schöne Michele von einem Plakat herunter, einer Ankündigung zum letzten Fest der heiligen Philomena. Die überfüllte Piazza hatte ihn bis zwei Uhr morgens singen hören. Jetzt aber erinnerte sein verblichenes Gesicht ihn daran, dass sein Leben an einem seidenen Faden hing. Er stand mit einem Fuß auf der Bühne, mit dem anderen im Grab.

Ein Glück, dachte er, dass Donatella und die Mädchen auf Ischia waren.

Auf Höhe der braunen Padre-Pio-Statue mit den halblangen weißen Handschuhen überholten ihn zwei Motorradfahrer mit Vollvisierhelmen. Er bremste abrupt, und der rote Bucklige, sein Glücksbringer am Rückspiegel, baumelte hin und her. Er wollte die beiden Rennfahrer abschütteln, aber das erwies sich als unnötig: Die zwei traten aufs Gas und verschwanden.

Michele hielt den Wagen an.

Sein Herz pochte wie ein in einer Schlinge gefangenes Wiesel: Wenn sie waren, was er glaubte, warum hatten sie dann nicht sofort abgedrückt? Vielleicht wussten sie ja, dass der Mercedes gepanzert war, und erwarteten ihn lieber vor dem Haus?

Er merkte, wie sein Angstschweiß die Fahrerkabine erfüllte.

Stella! Um Himmels willen, er musste sie warnen!

»Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar.«

Er schickte eine SMS durch den Äther: »Ruf mich sofort an.« Dann warf er einen Blick auf die Rolex, die unter seiner Manschette vor sich hin tickte: Die nächste Fähre nach Ischia ging in fünfundvierzig Minuten von Pozzuoli.

Schnell den Rückwärtsgang eingelegt.

Er hatte das Wendemanöver halb hinter sich, da brausten die beiden Motorräder wieder über den Corso. Die Brust weit über den Tank geneigt.

Der eine überholte ihn links, der andere rechts, dann verschwanden sie im Dunkel am Ende der Straße. Das reinste Wettrennen.

Das waren keine von Villanova geschickten Killer, das waren zwei ganz normale Arschlöcher.

Drei Minuten später war er zu Hause.

Die Villa, die Michele und Donatella bewohnten, hatte ein Strandnachbar aus dem Urlaub in Forio d’Ischia für sie entworfen, ein Architekt aus Foggia, der Gaudí als sein großes Vorbild bezeichnete, aber der Entwurf hätte genauso gut von Moira Orfei stammen können: eine Orgie von Linien, Farben und Materialien, die auf dem Papier unvereinbar waren, und auch bei der Umsetzung hatte sich da nicht viel vereinbaren lassen.

Die Inneneinrichtung hatte Donatella selbst übernommen und sich ebenfalls an »Gaudino« orientiert, wie sie ihn nannte. Jenseits von schön und hässlich. Das Haus stand knapp vor der Einfahrt ins Städtchen und war von dreihundert Quadratmetern perfekt gepflegtem englischem Rasen umgeben; den Haushalt führte ein philippinisches Ehepaar ohne Papiere, und beschützt wurde die Villa von zwei Rottweilern mit Stammbaum. Ein sauberer Aufstieg für einen scugnizzo. Heute verfügte der ehemalige Straßenjunge Michele Trevi über ein schönes Haus, eine schöne Ehefrau, zwei wunderschöne Zwillinge und den Beinamen »der schöne Michele«, weil er grüne Augen unter zwei schwarzen Tuschestrichen hatte, ein markantes Kinn und Zähne, die in Reih und Glied standen wie die Garde der britischen Königin. Kurz, ein echter Schönling.

Aber das war auch schon die einzige Gunst des Schicksals gewesen, der Rest waren harte Jahre auf Hochzeiten, Taufen, Firmungen und Erstkommunionfeiern. Wenn der Anlass es hergegeben hätte, Michele hätte wohl auch bei Letzten Ölungen singen müssen.

Das elektrische Tor schloss sich hinter ihm. Er stieg aus dem Wagen und sah sich nach allen Seiten um. Die Filipinos waren mit Donatella auf Ischia, aber wo steckten Lucky und Luciano? Wo zum Henker blieben die beiden Rottweiler?

Dreißig Minuten bis zur letzten Fähre.

Aber wie die Dinge lagen, fuhr er nach Ischia wohl besser entsprechend ausstaffiert.

Er nahm zwei Stufen auf einmal und lief ins pistazienfarbene Schlafzimmer. Dort schob er den Astrachanvorhang beiseite und öffnete den in der Wand eingelassenen Safe.

Er schob sich sechs Bündel Banknoten und ein neues Scheckheft in die Tasche, schloss die Augen und atmete ins Zwerchfell, bis sich das Zittern seiner Hände gelegt hatte.

Dann nahm er die Kanone, lud sie, steckte sie sich vorne in den Hosenbund und ging, nun passend ausstaffiert, auf leisen Sohlen nach unten. Er linste aus dem Fenster mit dem in Fuchsia lackierten Rahmen: niemand zu sehen.

Er trat hinaus in den Garten und stieg wieder in den Wagen.

Die Hand ging zur Zündung.

Der Schlüssel steckte nicht an seinem Platz.

Er kramte noch in den Taschen, als sein Blick durchs Gatter hindurch auf die beiden vor dem Tor geparkten Motorräder fiel.

Da stellte er die Suche ein.

Und das Atmen ebenfalls.

»Miché, was suchst du denn? Etwa das hier?«

Die leise Stimme vom Rücksitz kam aus dem lippenlosen Mund von Saverio, einem dünnen Schlitz über dem fliehenden Kinn. Er saß breitbeinig da und ließ den Schlüsselbund am Mittelfinger kreisen, über dem Ring, in den ein dicker schwarzer Stein eingefasst war.

Michele drehte sich nicht um, seine linke Hand öffnete die Fahrertür, und schon rollte er über den Rasen und rannte auf den Grill zu, hinter dem ein Törchen aus Eichenholz aufs freie Feld führte. Saverio stieg gemächlich aus dem Auto und verlieh seinem Missfallen über so viel Tatendrang durch ein leichtes Kopfschütteln Ausdruck.

Er bückte sich, um die Knarre aufzuheben, die dem Hausherrn aus dem Bund gefallen war, und inspizierte sie. Ein prächtiger, brandneuer 32er Woodsman, bereits entsichert und mit einer Kugel im Lauf. Perlen vor die Säue, dachte er mit wachsendem Verdruss.

Michele war wenige Meter von seinem Schlupfloch entfernt, als aus der Dunkelheit Demetrios stämmige Gestalt vor ihm auftauchte. Ein pockennarbiges Gesicht, um den Mund so viele Falten, wie ein Barcode Striche hat. Zwei Hände wie Ziegelsteine. Wenige Sekunden, und Michele lag mit gebrochener Nasenscheidewand am Boden. Der schöne Mund war aufgeplatzt. Das feuchte Gras streichelte ihm übers Gesicht, und von hier aus sah er endlich Luciano, den jüngeren der beiden Rottweiler, der winselnd unter einer Hecke kauerte und Luckys Kopf leckte. Luckys Körper lag einige Meter weiter unter dem Rosenstrauch, doch das war aus Micheles Position nicht zu erkennen.

Was er sehen konnte, das waren die blütenweißen Mokassins von Carmine Villanova, die eine Handbreit vor seiner blutenden Nase stehen blieben.

»Na, so was, hat der ’ne Wumme! Bist ja ein ganz gefährliches Bürschchen …«

Carmine war noch ziemlich jung, hatte jedoch ein altes Gesicht, ähnlich den Straßenbengeln, die auf sepiafarbenen Fotos Spaghetti mit den Händen essen, oder den Banditen auf Zeichnungen aus dem achtzehnten Jahrhundert. Er besah sich den Revolver, den Saverio aufgehoben hatte: »Da hört man ihn mit seiner Vibratostimme singen, sieht ihn den Clown spielen und glaubt, das ist so einer, der kommt immer hintenrum, aber … Wer hätt’s gedacht, der schöne Michele hat ja richtige Eier!«

Saverio fand es herrlich, wenn Carmeniello um den heißen Brei herumredete und den Schrecken in kleinen Schlucken genoss; Demetrio nicht, er war ein ernster Mensch, und Leute zu erschrecken, bereitete ihm nicht das geringste Vergnügen. Wenn jemand umgelegt werden musste, dann tat er es und basta.

Michele versuchte sich aufzurichten und schüttelte dabei den Kopf: »Aber Carmine, was habe ich dir denn getan? Ich habe dir immer Respekt erwiesen.«

Villanova zog die Nase hoch – er war allergisch gegen Begonien, und selbst wenn er hier keine sehen konnte, war er sicher, dass sich irgendwo welche befanden. Jedenfalls hatte er nicht vor, die Nacht mit Diskussionen in diesem Garten zu verbringen.

Er packte den Revolver beim Lauf und hielt ihn Michele hin.

»Du hast nur eine Chance, mir zu beweisen, dass du Stella nicht flachgelegt hast. Erschieß mich!«

Michele war zwar ein begabter Sänger, aber als Schauspieler eher Durchschnitt, und so kam anstelle eines entwaffnenden Lachens nur ein hysterisches Krächzen: »Ich … ich … waaas? Carmenié! Was redest du denn da? Das ist doch Irrsinn! Wer erzählt dir denn so einen Quatsch? Stella? Stella?! Die würdigt mich doch keines Blickes … Carmenié, ich habe auf deiner Hochzeit gesungen, auf der Taufe deiner Kinder!«

Bevor er die Wirkung seiner Worte feststellen konnte, klingelte ein Handy. Sein eigenes.

Er erstarrte.

Villanovas Stimme klang gelassen, fast verständnisvoll: »Willst du nicht rangehen?«

Michele blieb stumm.

»Was ist? Hast du etwa die Zunge verschluckt?«

Das Handy hörte auf zu klingeln und zeigte kurz darauf mit einem Signalton eine SMS an.

Villanova knöpfte behutsam Micheles Hemdtasche auf und zog mit zwei Fingern das Handy heraus.

Auf dem Display blinkte das Briefkastensymbol, darunter der Name, unter dem Michele den Absender in seinem Adressbuch gespeichert hatte: »Stellì mein Leben«.

2

Die Morgendämmerung besprühte den Himmel über dem Golf von Neapel mit Purpur. Willy trat mit seinem schlaksigen Gang aus dem Dunkel der Villa Comunale, überquerte die still daliegende Straße und kam an die Rotonda Diaz, unter dem finsteren Blick von General Diaz höchstpersönlich, der ihn von seinem marmornen Ross aus stets im Auge behielt.

ORuss’ – der Rote – hatte seinen Kiosk schon geöffnet, als noch Sterne am Himmel standen, war aber so in seine Träumereien versunken, dass er noch nicht mal die Espressomaschine angeworfen hatte. Als er Willy näherkommen sah, setzte er das kleine Zwei-Tassen-Espressokännchen auf die blaue Flamme eines Campingkochers: »Kaffee schreibt man mit vier k«, dozierte er, während er den Espresso in zwei Tässchen goss. »Köstlichen Kaffee koch knallheiß.« Der Rote hatte gute Laune und war in der gesprächigen Stimmung eines Mannes, dem weder Frauen noch Schulden den Schlaf rauben.

Bei Willy verhielt sich das anders.

Er hatte schlecht geschlafen und böse Träume gehabt, an die er sich nicht erinnern konnte, aber ein ausgezeichneter Zuhörer war er immer. Manchmal nutzte sein Freund das weidlich aus, heute nicht: Der Rote sah voraus, dass es gegen elf, halb zwölf, spätestens mittags raue See geben würde. Also steckte er sich gleich nach dem Espresso eine Guten-Morgen-Zigarette an – eine Nazionale ohne Filter – und half Willy dann mit dem Glimmstängel an der Unterlippe, den Außenbordmotor am Boot anzubringen.

Willy hatte den Kahn mit eigenen Händen gebaut, oder besser gesagt, unter anderem mit eigenen Händen: Wenn der Rote nicht mit angepackt hätte, wäre das Boot nie vom Stapel gelaufen. Dieser schmerbäuchige Alleswisser verstand mehr von Holzbooten als Maradona von Lederkugeln.

Das Boot schiffte am Kap Posillipo entlang und an Marechiaro vorbei. Zwanzig Minuten später warf Willy den Anker aus, entkleidete sich und zog die Badehose an.

Er war groß gewachsen, ziemlich stämmig und ging scharf auf die vierzig zu, aber die Zeit schien ein Auge zugedrückt zu haben: Bis auf das bisschen dem Alkohol geschuldete Hüftgold hatte Willy noch immer den Körperbau des Leistungsschwimmers, der er in seiner Jugend gewesen war.

Er machte sich ein Bier auf und schlürfte es, während er die Wolken betrachtete, die sich im Wasser zwischen der Bucht von Trentaremi und der Paul-Getty-Villa spiegelten. Die Villa gehörte Paul Getty nicht mehr, hieß aber immer noch so.

Als ihm danach war, nahm er den letzten, bereits lauwarmen Schluck und steckte die Flasche kopfüber in einen Eimer, in dem er ein Reservetau und die Leuchtpistole aufbewahrte. Dann legte er die Schwimmflossen an, spuckte in die Maske, biss auf das Mundstück und ließ sich mit einem halben Salto rückwärts ins Wasser fallen.

Er war in etwa zehn Metern Tiefe angelangt, als ihm ein merkwürdiger Fisch mit smaragdgrüner Rückenflosse und türkisen Flanken begegnete, durch die ein oranger Streifen mit blauen Rändern im Zickzack bis zur Schwanzflosse lief. Der Bauch glitzerte silbern. Dieselben Farben wie bei einem Doktorfisch, dieselbe elegante, schlanke Form, nur dass der Doktorfisch so klein ist wie eine Sardine, und der Bursche hier war so groß wie ein Barrakuda. Mit seinen langsamen Bewegungen und ständigen Richtungswechseln kam er Willy müde und verwirrt vor, aber im Grunde wie ein Draufgänger. Er streckte eine Hand aus und glaubte schon, ihn berühren zu können, doch da brach der Fisch mit einem Schlenker in allen Regenbogenfarben zur Seite aus und verschwand unter einem schwarzen Felsbrocken.

Willy, dem allmählich der Sauerstoff knapp wurde, tauchte wieder auf.

Im Umgang mit dem Roten hatte er einiges über die Tricks der Fischer und die Geheimnisse des Meeres erfahren, aber einen solchen Fisch hatte er noch nie gesehen. Er unternahm einen zweiten Tauchgang und sah sich die Ecke an, wo er ihn sich hatte verkriechen sehen. Ohne Erfolg. Dafür stieß er auf eine riesige Kolonie von roten Seeigeln. Er sammelte vorsichtig so viele, bis sein Kescher voll war, dann tauchte er wieder auf und träufelte im Boot Zitronensaft auf den Rogen. Er zerging ihm auf der Zunge. Schließlich legte er sich auf die Strandkissen am Bug, die von Salzstreifen überzogen waren, und da befiel ihn ein Gedanke in aller Unausweichlichkeit: Wenn es so weiterging, konnte er den Laden genauso gut dichtmachen.

Also zwang er sich, das Handy einzuschalten, falls doch irgendein Kunde versuchte, ihn zu erreichen.

Die Wolken zogen jetzt schnell dahin, gejagt von einem Südostwind, den der Rote nicht vorhergesagt hatte.

Willy verfolgte das mit zusammengekniffenen Lidern und versuchte dabei, sich zu erinnern, was er in der Nacht geträumt hatte. Sein Kissen war danach schweißnass gewesen. Da riss ihn plötzlich ein Motorboot aus seiner Grübelei. So schnell und so nahe, dass ihn die Bugwellen fast hätten kentern lassen. Das Handy, das just in diesem Augenblick zu klingeln begann, fiel über Bord.

Die Wasserrabauken schienen ihn nicht einmal gesehen zu haben. Als sie etwa hundert, zweihundert Meter weiter waren, sah Willy, wie sie eine weiße Plastiktüte ins Meer plumpsen ließen.

Er unterdrückte die Regung, ihnen eine Leuchtrakete hinterherzufeuern, tauchte nach seinem Handy und schwamm dann im noch sichtbaren Kielwasser des Motorboots zu der Stelle, wo die weiße Plastiktüte trieb.

An der Rotonda Diaz herrschte ein ziemlicher Trubel.

Die Fischer hatten auf dem Boden Schüsseln abgestellt, in denen Aale unermüdlich ihre Runden drehten, dazu Eimer mit Kraken, die immer noch an Flucht glaubten, und Kisten mit Blaufischen, die zu schwach waren, um an irgendetwas zu glauben. Die Kunden schützten Desinteresse vor, um die Preise zu drücken, und die Möwen gaben sich zerstreut, um den Überraschungseffekt bestmöglich auszunutzen.

Der Rote nahm seinen eigenen Wettervorhersagen zum Trotz auf einem Holzliegestuhl ein Sonnenbad, ein kleines Transistorradio auf dem Bauch.

»Ich hab grad einen Strumpfbandfisch gekriegt, der lebt noch. Hauen wir ihn uns in die Pfanne?«

»Nee, ich hab zu tun.« Willy war damit beschäftigt, den Inhalt der Plastiktüte, die er aus dem Meer gezogen hatte, auf dem Pier auszuleeren.

»Was machst du da?«, fragte der Rote, während er das Radio vom Bauch hob.

»Suchen.« Willy wühlte zwischen Dosen, Bananenschalen und zerknüllten Zigarettenschachteln.

»Wenn du darauf stehst«, der Rote packte das Radio und richtete sich in seiner Liege auf, »von dem Zeug hab ich noch zwei Tonnen voll, und dann steht noch da drüben an der Straße, so viel dein Herz begehrt.«

»Danke, mir reicht das hier.«

»Ich will mich ja nicht in deine Angelegenheiten mischen, aber hattest du das Sonnensegel aufgespannt? Ich meine bloß, weil … also, wenn einem die Sonne so aufs Hirn brennt, dann macht man manchmal komisches Zeug.«

»Na also!«

»Was gibt’s?«

Willy hielt einen Kassenzettel hoch, aus der Bar im Segelclub Beverello.

»Hast du vielleicht Zucker?«

Die Hauptverkehrszeit nahte, als der schwarze Golf, ein altes Modell ohne Klimaanlage, in den Tunnel unterhalb des Palazzo Reale einbog und im Schritttempo durchfuhr, die Scheiben hochgekurbelt gegen den Smog. Auf der anderen Seite angekommen, ließ Willy die Fenster wieder herunter. Die Luft, die von draußen hereingeblasen wurde, war glühend heiß und stank nach Pech – wegen der Bauarbeiten an einer Busspur, die sowieso kein Mensch beachten würde.

Er bog rechts ab auf eine breite Allee, auf der man kaum zwischen den in zweiter Reihe geparkten Fahrzeugen hindurchkam. Auch Willy schaltete den Motor ab und ließ den Golf mitten auf der Fahrbahn stehen, die Schlüssel im Zündschloss.

Eine Bande von Straßenjungen planschte im kalten Wasser eines Marmorbrunnens faschistischer Bauart; im Schatten einer Dattelpalme döste, benommen von der Schwüle und den Fernets, die er sich zum Frühstück hinter die Binde gegossen hatte, Sasà, der offizielle illegale Parkwächter des Segelclubs Beverello.

Der Club selbst ragte hinter einer rissigen Mauer auf. Eine ockerfarbene, zweistöckige Villa aus den Zwanzigerjahren, die auf das Meer hinausblickte wie eine Vorstadtgöre vom Balkon.

Willy pfiff und winkte, um Sasà auf sich aufmerksam zu machen, der ihn zwar nicht erkannte, aber zum Zeichen seiner Beflissenheit die Hand gen Himmel reckte, Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis geformt: Okay, das Auto befand sich nun in seiner Obhut.

Als Nächstes streifte Willy die Sandalen ab.

Der Wachmann des Clubs, Pachialone, war ein armer Teufel, und er wollte ihm keinen Ärger machen, indem er durch den Haupteingang ging. Also krempelte er die Hosenbeine hoch und umlief die Mauer auf dem Meeresweg. Das Wasser reichte ihm bis zu den Knien.

Als er drin war, überquerte er den für Mitglieder reservierten Parkplatz. Er kannte sich hier aus. In den großen Vitrinen im Saal unten im Erdgeschoss stand eine Reihe von Pokalen aus seiner Jugend, als er mit der Wasserballmannschaft Erfolge gefeiert hatte.

Trophäen von gestern. Heute spielten diese Schlappschwänze von Mitgliedern bei Tageslicht am liebsten Burraco, im Dunkeln Poker.

Drei Mädchen im Bikini schlenderten eisschleckend an ihm vorbei, und die Einzige, die außer Pickeln auch noch Titten hatte, warf ihm einen aufreizenden Blick zu.

Willy Calone besah sich die vertäuten Boote.

Er ging die Zementtreppe hinunter und nahm zwei Stufen auf einmal, bis er am Kai war, dann lief er zügig weiter zu dem Motorboot.

Zwei wohlgeformte junge Damen mit großen Bastumhängetaschen gingen gerade von Bord; sie trugen identische Strandtücher und wirkten wie zwei richtige Zicken. Auf dem Boot standen die beiden Papasöhnchen in ihren Sechzig-Euro-Sundek-Bermudahosen und brachten die Fender in die richtige Position. Er erkannte die Kerle wieder. Das waren sie. Die tollen Hechte in Offshore-Stimmung.

Willy streifte die Sandalen auf dem Kai ab und betrat dieses Bügeleisen von einem Wasserfahrzeug, ohne die beiden anzusehen.

Der Hübsche mit dem Pferdeschwanz sah aus wie einer, der gerne Streit suchte; sein wie ein Affe gebauter Freund hatte ganz kurz geschorene Haare und trug ein Kettchen mit einem Runensymbol um den Hals. Ungläubig sahen die beiden zu, wie Willy auf die Tanks zuging und einen der Verschlüsse abdrehte.

»Heee! Du da! Was machst du denn, du Penner?«, blaffte der Erste und packte ihn am Arm.

Calone nahm keine Notiz von ihm und leerte unbeirrt ein Päckchen Zucker in den Tank. Den folgenden Hieb bemerkte er sehr wohl, er traf ihn voll in den Nacken. Der Schlag ließ ihn taumeln, Willys Antwort jedoch ließ den Pferdeschwanzträger, der ihn hinterrücks attackiert hatte, zu Boden gehen.

Der Orang-Utan streckte die Brust vor und griff sich ein Seemannswerkzeug, um Willy den Schädel einzuschlagen, traf aber nur den Tiefenradar. Dann schickte Willys Fußtritt ihn unter Deck, wo er scheppernd zwischen Metall und kaputtem Plastik aufschlug. Das Gerät hatte vierzigtausend Euro gekostet.

Auf dem Kai kreischten die Begleiterinnen hysterisch, eine Menschentraube bildete sich, und selbst Pachialone hinkte widerwillig zum Boot.

Er erkannte Willy, der gerade damit fertig war, auch den zweiten Tank zu süßen: Wenn sie jetzt die Motoren anließen, gab’s Kolbenfraß.

»Uìlli … du bist das! Was ist denn hier los?«

»Nichts, Pachialò, nur eine Frauengeschichte«, antwortete Willy und rieb sich den Nacken.

Pachialone war erleichtert. Ihm ging es nur darum, seinen großen Blähbauch aus Problemen herauszuhalten: Ja, wenn es bei dem Streit um Boote gegangen wäre … Aber eine Frauengeschichte, tja, das lag außerhalb seiner Zuständigkeit.

Er lächelte Willy zu, der ihm fünfzig Euro in die Brusttasche steckte, die Sandalen an sich nahm und sich davonmachte, während der kleine Menschenauflauf aus Clubmitgliedern, Gästen und Angestellten ihm den Weg freigab.

3

Eiswürfel seien aus, hieß es in der Bar Juliano, und so stand Willy jetzt auf dem Treppenabsatz und drückte sich ein noch eingepacktes Coca-Cola-Wassereis auf den schmerzenden Nacken.

Mit der freien Hand kramte er in den Taschen nach dem Schlüssel zur Agentur. Aber das erwies sich als unnötig. Die Tür war offen.

Drinnen herrschte absolute Stille.

Hm.

Willy ließ das Wassereis, dessen Tüte allmählich labberig wurde, über den Boden schlittern, zog mit einer entschlossenen Bewegung den Gürtel aus den Schlaufen und rollte ihn so zusammen, dass die schwere Gürtelschnalle vor seinen Fingerknöcheln lag. Unwillkürlich fuhr er sich mit der Zungenspitze über die Lippen.

Er stieß sanft die Tür auf und war drauf und dran einzutreten … Da traf ihn ein Hagel von Schimpfwörtern auf Singhalesisch, die freilich nicht an ihn gerichtet waren.

Linus, der an Willys Schreibtisch saß, war wütend und stritt sich mit jemandem am Telefon.

Vor Linus stand ein junges Pärchen, ebenfalls Singhalesen. Die Frau war klein, aber hübsch, er war hässlich, drahtig und spindeldürr. Beide starrten besorgt auf den Telefonhörer. Der Gegenstand des Streits musste ihnen sehr am Herzen liegen.

Willy legte betont ungezwungen den Gürtel wieder an, und Linus, der seine Anwesenheit endlich bemerkt hatte, beendete Hals über Kopf das Telefonat. Dann lächelte er ihm entgegen und zeigte dabei die riesigen Schneidezähne, die ihm etwas von einem harmlosen Kaninchen gaben.

Doch weit gefehlt. Linus hatte ein aufbrausendes Temperament und war so gerissen wie eine Nutte aus dem Forcella-Viertel.

»Sag mal, was machst du hier eigentlich?«

»Äh, tja … Willy, darf ich dir meine Freunde Marcus und Oshani vorstellen?«

»Ja, sicher … Hatte ich dir nicht gesagt, dass du bis Donnerstag freihast?«

»Stimmt, aber weißt du, die sind grad erst aus Sri Lanka gekommen …«

In diesem Augenblick materialisierten sich hinter Willy drei weitere Besucher mit großen Koffern aus bedruckter Pappe in der Tür, auch sie unverkennbar Singhalesen. »Linus?«, fragte der Älteste von ihnen, ein Schnurrbartträger, der den Zeigefinger gehoben hatte, als könnte der einen kompletten Satz ersetzen. Die anderen beiden, vielleicht seine Söhne, ließen ihren Blick von dem mutigen dunklen Finger zum entmutigenden Gesicht des weißen Mannes wandern, der sie da anstarrte.

Linus schüttelte den Kopf und ging ihnen entgegen wie ein Lehrer, der an die Tafel tritt, um einen Fehler zu korrigieren. Er begann, leise, aber fest auf sie einzureden, und begleitete seine geflüsterten Sätze mit weit ausgreifenden Gesten. Der Mann mit dem Schnurrbart ließ unmerklich den Kopf sinken, während seine schwarzen Augen immer wieder zu Willy wanderten, nur um sich sofort zurückzuziehen, wenn der es bemerkte.

Schließlich zogen die drei Neuankömmlinge und die beiden, die schon da gewesen waren, mit breitem Lächeln von dannen, nicht ohne Willy mit einer gewissen würdevollen Distanziertheit die Hand zu schütteln. Linus musste ihnen irgendein Lügenmärchen über ihn erzählt haben.

»Die wussten nicht mal, wo sie heute schlafen sollen«, rechtfertigte sich Willys Assistent, als seine Landsleute die Tür hinter sich zugezogen hatten.

Willy fielen zwei Umschläge ins Auge, die auf seinem Schreibtisch lagen, und er warf einen Blick darauf: ein Strafzettel und eine Mahnung.

»Kaum sind sie da, suchen alle nach Linus.«

»Hast du die Post hochgeholt?«

»Die war halt im Briefkasten.«