Helden des Olymp 5: Das Blut des Olymp - Rick Riordan - E-Book

Helden des Olymp 5: Das Blut des Olymp E-Book

Rick Riordan

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Beschreibung

Die legendären Sieben im Kampf gegen Monster und Götter: Das packende Finale der Fantasy-Buchreihe  Die Erdgöttin Gaia ist kurz vor dem Erwachen ihres tausendjährigen Tiefschlafes und stark wie nie zuvor. Sie braucht nur noch das Blut zweier Halbgötter, um vollends zu erwachen und die Herrschaft über die Welt an sich zu reißen. Percy und seine Freunde versuchen alles, um das zu verhindern, doch dafür müssen sie sich nicht nur gegen Gaias Monsterarmee behaupten, sondern auch gleichzeitig den bevorstehenden Krieg zwischen römischen und griechischen Halbgöttern im Camp Half-Blood aufhalten. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt! Helden des Olymp: die Fortsetzung der Jugendbuch-Bestsellerserie 'Percy Jackson'   Nachdem Jason ohne Erinnerung auf einer Klassenfahrt aufwacht, überschlagen sich die Ereignisse: Als Sohn des Jupiter zählt er zu den sieben legendären Halbgöttern, die den Olymp gegen die Urgöttin Gaia und ihre Gefolgschaft verteidigen sollen. Doch nur, wenn sich die römischen und die griechischen Halbgötter zusammenschließen können sie den Kampf gegen Gaia aufnehmen.  "Helden des Olymp" ist eine fünfteilige Fantasy-Buchreihe rund um die jugendlichen Halbgötter Jason, Piper, Leo, Percy, Annabeth, Hazel und Frank. Der spannende Mix aus Action, Witz und Mythologie begeistert Jung und Alt.    ***Griechische Götter in der Gegenwart: actionreich, wild und urkomisch – für Leser*innen ab 12 Jahren und für alle Fans der griechisch-römischen Mythologie*** 

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Seitenzahl: 629

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Rick Riordan: Helden des Olymp – Das Blut des Olymp

Aus dem Englischen von Gabriele Haefs

Die Erdgöttin Gaia ist stark wie nie – ihre Armee aus Riesen ist auferstanden und sie selbst steht kurz davor! Sie braucht nur noch das Blut zweier Halbgötter, um vollends zu erwachen und die Herrschaft über die Welt an sich zu reißen. Und dieses Blut wollen ihr Percy und seine Freunde auf keinen Fall geben! Doch wie sollen sie gegen die Monsterarmee bestehen? Und wie können sie gleichzeitig den drohenden Krieg zwischen römischen und griechischen Halbgöttern daheim im Camp Half-Blood verhindern? Jetzt geht es um alles …

Alle Bände der »Helden des Olymp«-Serie: Helden des Olymp – Der verschwundene Halbgott (Band 1) Helden des Olymp – Der Sohn des Neptun (Band 2) Helden des Olymp – Das Zeichen der Athene (Band 3) Helden des Olymp – Das Haus des Hades (Band 4) Helden des Olymp – Das Blut des Olymp (Band 5)

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  Leseprobe

Für meine wunderbaren Leserinnen und Leser.Bitte, entschuldigt meine Entschuldigung für den letzten Cliffhanger. Ich werde in diesem Buch versuchen, alle Cliffhanger zu vermeiden.

Dem Ruf werden folgen der Halbblute siebenDie Welt wird sterben in Sturm oder FeuerEin letzter Atem ist zur Erfüllung des Eides geblieben

I

Jason

Jason fand es schrecklich, alt zu sein.

Seine Gelenke taten weh. Seine Beine zitterten. Als er versuchte, den Hügel hochzuklettern, rasselte seine Lunge wie ein Kasten voller Kiesel.

Er konnte glücklicherweise sein Gesicht nicht sehen, aber seine Finger waren knotig und knochig. Blaue Adern traten hervor und zogen sich kreuz und quer über seinen Handrücken.

Er roch sogar wie ein alter Mann – nach Mottenkugeln und Hühnersuppe. Wie war das möglich? In Sekundenschnelle war er von sechzehn auf fünfundsiebzig gealtert, aber der Geruch nach altem Mann war noch schneller da gewesen: Bumm! Glückwunsch! Du stinkst!

»Sind gleich da«, Piper lächelte ihn an. »Das machst du großartig.«

Sie hatte gut reden. Piper und Annabeth waren als reizende griechische Dienstmägde verkleidet. Nicht einmal ihre ärmellosen weißen Gewänder und ihre Sandalen mit den langen Riemen machten ihnen auf dem felsigen Pfad Probleme.

Pipers mahagonibraune Haare waren in einem Zopf um ihren Kopf gewickelt, silberne Reifen schmückten ihre Arme. Sie sah aus wie eine antike Statue ihrer Mom, Aphrodite, was Jason ein wenig einschüchterte.

Mit einem schönen Mädchen zusammen zu sein, war schon nervenaufreibend genug. Mit einem Mädchen zusammen zu sein, dessen Mom die Göttin der Liebe war … na ja, Jason hatte immer Angst, aus Versehen etwas Unromantisches zu tun, worauf Pipers Mom dann vom Olymp herab die Stirn runzeln und ihn in ein Wildschwein verwandeln würde.

Jason warf einen Blick nach oben. Der Gipfel war noch immer hundert Meter entfernt.

»Blödeste Idee aller Zeiten.« Er lehnte sich an eine Zeder und wischte sich die Stirn. »Hazels Magie ist zu gut. Wenn es zum Kampf kommt, bin ich nutzlos.«

»Das wird schon nicht passieren«, versprach Annabeth. Sie schien sich in ihrer Verkleidung als Magd gar nicht wohlzufühlen. Sie krümmte immer wieder die Schultern, damit ihr das Kleid nicht hinunterrutschte. Ihr blonder Haarknoten hatte sich hinten aufgelöst und ihre Haare baumelten herab wie Spinnenbeine. Jason, der ihren Hass auf Spinnen kannte, beschloss, das nicht zu erwähnen.

»Wir schleichen uns im Palast ein«, sagte sie. »Wir besorgen uns die Informationen, die wir brauchen, und dann machen wir, dass wir wegkommen.«

Piper stellte ihre Amphore ab, den großen tönernen Weinkrug, in dem ihr Schwert versteckt war. »Wir können ruhig eine Sekunde Pause machen. Damit du wieder zu Atem kommst, Jason.«

Von ihrer Taille hing ihr Füllhorn herunter – das magische Horn des Überflusses. Irgendwo in den Falten ihres Gewandes war ihr Dolch Katoptris versteckt. Piper sah nicht gefährlich aus, aber bei Bedarf könnte sie mit Klingen aus Himmlischer Bronze zuschlagen oder ihren Feinden reife Mangos ins Gesicht feuern.

Annabeth lud sich ihre Amphore von der Schulter. Auch sie hatte ein verstecktes Schwert, aber auch ohne eine sichtbare Waffe sah sie tödlich aus. Ihre stürmischen grauen Augen überflogen die Umgebung und hielten Ausschau nach Gefahren. Wenn irgendein Dussel Annabeth um einen Schluck Wein angehauen hätte, dann würde sie dem Typen wohl eher einen Tritt ins Bifurcum verpassen, dachte Jason.

Er versuchte, ruhig zu atmen.

Unter ihm glitzerte die Bucht von Aphales, das Wasser war so blau, als ob es mit Lebensmittelfarbe behandelt worden wäre. Einige Hundert Meter vom Ufer entfernt lag die Argo II vor Anker. Ihre weißen Segel sahen nicht größer aus als Briefmarken, ihre neunzig Ruder wirkten wie Zahnstocher. Jason stellte sich vor, wie seine Freunde an Deck seinen Aufstieg verfolgten, abwechselnd durch Leos Fernglas schauten und versuchten, nicht zu lachen, während Opa Jason den Hügel hochhumpelte.

»Ithaka ist doof«, murmelte er.

Dabei war die Insel ja durchaus schön, fand er. Ein Rückgrat aus bewaldeten Hügeln zog sich durch ihre Mitte. Kreideweiße Felsen fielen zum Meer hin ab. In den Buchten gab es felsige Strände und Häfen, wo Häuser mit roten Dächern und Kirchen mit weißem Putz sich an die Hänge schmiegten.

Die Hügel waren gesprenkelt mit Mohn, Krokus und wilden Kirschbäumen. Der Wind duftete nach blühender Myrte. Alles sehr schön … nur waren es ungefähr vierzig Grad. Die Luft war so feucht wie der Dampf in einem römischen Badehaus.

Es wäre Jason ein Leichtes gewesen, den Winden zu befehlen, ihn zum Gipfel zu fliegen, aber nichts da. Um nicht aufzufallen, musste er sich als alter Trottel mit kranken Knien und Hühnersuppengestank dahinschleppen.

Er dachte an seine letzte Kletterpartie, zwei Wochen früher, als Hazel und er auf den kroatischen Klippen dem Wegelagerer Skiron gegenübergetreten waren. Da war Jason zumindest bei voller Kraft gewesen, und was ihnen jetzt bevorstand, war viel schlimmer als ein Wegelagerer.

»Bist du sicher, dass das hier der richtige Hügel ist?«, fragte er. »Kommt mir irgendwie … na ja … sehr ruhig vor.«

Piper musterte den Hügelkamm. Sie hatte sich eine strahlend blaue Harpyienfeder in die Haare geflochten – ein Andenken an den Überfall der vergangenen Nacht. Die Feder passte nicht unbedingt zu ihrer Verkleidung, aber Piper hatte sie sich verdient, denn sie hatte allein einen ganzen Schwarm Dämonenhennen zurückgeschlagen, als sie gerade Wache schob. Sie spielte ihre Leistung herunter, aber Jason konnte sehen, dass sie mit sich zufrieden war. Die Feder erinnerte sie daran, dass sie nicht mehr dieselbe war wie im vergangenen Winter, als sie im Camp Half-Blood angekommen waren.

»Die Ruinen sind da oben«, versprach sie. »Ich habe sie in der Klinge von Katoptris gesehen. Und du hast ja gehört, was Hazel gesagt hat. Die größte …«

»Ja, die größte Versammlung böser Geister, die ich je gespürt habe«, erinnerte sich Jason. »Richtig, klingt toll.«

Nachdem er sich durch den unterirdischen Tempel des Hades gekämpft hatte, waren noch mehr böse Geister wirklich das Letzte, womit Jason zusammentreffen wollte. Aber hier stand ihre Mission auf dem Spiel. Die Besatzung der Argo II musste eine schwerwiegende Entscheidung fällen. Wenn sie die falsche Wahl träfen, würden sie versagen und die ganze Welt würde zerstört werden.

Pipers Klinge, Hazels magisches Gespür und Annabeths Instinkte waren alle einig – die Antwort lag hier auf Ithaka, im uralten Palast des Odysseus, bei einer Horde von bösen Geistern, die sich versammelt hatten, um auf Gaias Befehle zu warten. Sie hatten vor, sich bei diesen bösen Geistern einzuschleichen, sich ein Bild der Lage zu verschaffen und dann über ihr Vorgehen zu entscheiden. Und danach zu machen, dass sie wegkamen, am liebsten lebend.

Annabeth zog ihren goldenen Gürtel gerade. »Ich hoffe, unsere Verkleidung reicht. Diese Freier waren schon zu ihren Lebzeiten miese Typen. Wenn sie herausfinden, dass wir Halbgötter sind …«

»Hazels Magie wird ausreichen«, sagte Piper.

Jason versuchte, das zu glauben.

Die Freier waren ungefähr hundert der gierigsten, gemeinsten Halsabschneider aller Zeiten. Als Odysseus, der griechische König von Ithaka, nach dem Trojanischen Krieg verschollen war, war diese Meute aus zweitrangigen Fürsten in seinen Palast eingedrungen und hatte sich nicht vertreiben lassen, denn jeder hatte gehofft, Königin Penelope heiraten und das Königreich des Odysseus übernehmen zu können. Odysseus war dann heimlich zurückgekehrt und hatte sie alle erschlagen – also eine richtig schöne Heimkehr. Doch wenn Pipers Visionen zutrafen, waren die Freier jetzt wieder da und gingen in dem Palast um, in dem sie gestorben waren.

Jason konnte nicht fassen, dass er gleich den Palast des Odysseus sehen würde – eines der berühmtesten griechischen Helden überhaupt. Aber andererseits war bei diesem ganzen Einsatz ein umwerfendes Erlebnis auf das andere gefolgt. Annabeth dagegen war eben erst aus den ewigen Abgründen des Tartarus zurückgekehrt. Und unter diesen Umständen sollte Jason sich vielleicht nicht darüber beklagen, dass er jetzt ein alter Mann war.

»Na …« Er stützte sich auf seinen Gehstock. »Wenn ich so alt aussehe, wie ich mich fühle, dann muss meine Verkleidung jedenfalls perfekt sein. Machen wir, dass wir weiterkommen.«

Im Weiterklettern lief ihm der Schweiß den Hals hinunter. Seine Waden schmerzten. Trotz der Hitze fing er an zu zittern. Und sosehr er es auch versuchte, er musste immer wieder an seine Träume der letzten Zeit denken.

Seit dem Haus des Hades waren sie lebhafter geworden.

Manchmal stand Jason im unterirdischen Tempel in Epirus und der Riese Klytius ragte über ihm auf und sprach als Chor körperloser Stimmen: Ihr wart allesamt nötig, um mich zu besiegen. Was macht ihr, wenn die Erdmutter die Augen öffnet?

Dann wieder fand Jason sich auf dem Gipfel vom Half-Blood Hill. Gaia, die Erdmutter, erhob sich aus dem Boden – eine wirbelnde Gestalt aus Lehm, Blättern und Steinen.

Armes Kind. Ihre Stimme hallte über die Landschaft und ließ den Felsboden unter Jasons Füßen beben. Dein Vater ist der Erste unter den Göttern, und doch kommst du immer nur an zweiter Stelle – für deine römischen Kameraden, für deine griechischen Freunde, sogar für deine Familie. Wie willst du dich beweisen?

Sein schlimmster Traum begann auf dem Hof des Wolfshauses in Sonoma. Vor ihm stand die Göttin Juno und leuchtete wie geschmolzenes Silber.

Dein Leben gehört mir, donnerte ihre Stimme. Eine Friedensgabe von Zeus.

Jason wusste, dass er nicht hinschauen durfte, aber er konnte seine Augen nicht schließen, als Juno zur Supernova wurde und ihre wahre, göttliche Gestalt offenbarte. Er wurde innerlich von Schmerz zerfetzt. Sein Körper verbrannte schichtweise, wie eine Zwiebel.

Dann änderte sich alles. Jason war noch immer im Wolfshaus, aber jetzt war er ein kleiner Junge – höchstens zwei Jahre alt. Eine Frau kniete vor ihm, ihr Zitronenduft war so vertraut. Ihre Züge waren zerlaufen und unklar, aber er kannte ihre Stimme: Sie war hell und brüchig, wie eine hauchdünne Eisschicht auf einem Bach.

Ich komme dich holen, Liebster, sagte sie. Ich bin bald wieder da.

Immer wenn Jason aus diesem Albtraum erwachte, war sein Gesicht schweißnass und seine Augen brannten vor Tränen.

Nico di Angelo hatte sie gewarnt: Das Haus des Hades werde ihre Erinnerung aufwühlen, sie Dinge aus der Vergangenheit sehen und hören lassen. Ihre Geister würden ruhelos werden.

Jason hatte gehofft, dass gerade dieser Geist nicht auftauchen würde, aber der Traum wurde jede Nacht schlimmer. Und jetzt kletterte Jason zu den Ruinen eines Palastes hoch, wo eine ganze Geisterarmee sich versammelt hatte.

Das heißt noch lange nicht, dass auch SIE dort sein wird, sagte er sich.

Aber seine Hände wollten nicht aufhören zu zittern. Jeder Schritt fiel ihm schwerer als der davor.

»Gleich sind wir da«, sagte Annabeth. »Wir könnten …«

BUMM! Der Hang dröhnte. Irgendwo hinter dem Hügelkamm brüllte eine Menge zustimmend auf, wie die Zuschauer in einer Arena. Bei diesem Geräusch bekam Jason eine Gänsehaut. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er vor einem jubelnden geisterhaften Publikum im römischen Kolosseum um sein Leben gekämpft. Er hatte es durchaus nicht eilig damit, dieses Erlebnis zu wiederholen.

»Was war das für eine Explosion?«, fragte er.

»Keine Ahnung«, sagte Piper. »Die scheinen sich jedenfalls zu amüsieren. Dann lasst uns doch mal ein paar nette Tote kennenlernen.«

II

Jason

Natürlich war alles noch schlimmer, als Jason erwartet hatte.

Sonst wäre es ja auch nicht lustig gewesen.

Als er oben auf dem Hügelkamm durch die Olivenbüsche lugte, sah er etwas, das aussah wie eine durchgeknallte Party bei einem Zombieverein.

Die Ruinen an sich waren nicht so beeindruckend – einige Mauern, ein von Unkraut überwucherter Innenhof, eine in den Felsen eingehauene Treppe, die ins Leere führte. Spanplatten bedeckten eine Grube, und ein Metallgerüst trug einen brüchigen Torbogen.

Aber über den Ruinen lag wie eine zweite Schicht eine andere Realität – ein gespenstisches Bild des Palastes, wie er in seinen Glanzzeiten ausgesehen haben musste. Weiß gekalkte Stuckmauern erhoben sich, gesäumt von Balkons, drei Stock hoch. Säulengänge blickten auf das Atrium in der Mitte, wo ein riesiger Brunnen und bronzene Kohlepfannen standen. An einem Dutzend Tische hielten Geister ihr Festmahl ab, johlten und stießen sich gegenseitig aus dem Weg.

Jason hatte etwa hundert Geister erwartet, aber hier wimmelten mindestens doppelt so viele herum, jagten gespenstische Dienstmägde, zerbrachen Teller und Becher und ließen total die Sau raus.

Die meisten sahen aus wie die Laren aus Camp Jupiter – durchscheinende lila Erscheinungen in Toga und Sandalen. Einige wenige Festgäste hatten verweste Leiber aus grauem Fleisch, mit verfilzten Haarbüscheln und scheußlichen Wunden. Andere sahen aus wie ganz normale lebende Sterbliche – einige trugen Toga, manche einen modernen Anzug oder Uniform. Jason entdeckte sogar einen Typen mit lila Camp-Jupiter-T-Shirt und römischer Legionärsrüstung.

Mitten auf dem Atrium stolzierte ein grauhäutiger Geist in zerfetzter griechischer Tunika durch die Menge und hielt eine Marmorbüste über seinen Kopf wie einen Siegespokal. Die anderen Geister johlten und hauten ihm auf den Rücken. Als der Geist näher kam, sah Jason, dass ihm ein Pfeil in der Kehle steckte, der gefiederte Schaft ragte aus seinem Adamsapfel. Noch beunruhigender war die Büste, die er hochstemmte – war das etwa Zeus?

Es war schwer, sich da sicher zu sein. Die meisten griechischen Statuen sahen ziemlich gleich aus. Aber das bärtige übellaunige Gesicht erinnerte Jason doch stark an den riesigen Hippie-Zeus in Hütte 1 von Camp Half-Blood.

»Unsere nächste Opfergabe!«, brüllte der Geist und seine Stimme summte durch den Pfeil in seiner Kehle. »Jetzt wollen wir die Erdmutter füttern!«

Die Festgäste schrien los und hämmerten auf ihre Becher. Der Geist ging weiter zum Brunnen in der Mitte. Die Menge wich zurück und Jason ging auf, dass der Brunnen kein Wasser enthielt. Aus dem drei Fuß hohen Sockel entsprang ein Geysir aus Sand und bildete einen regenschirmähnlichen Vorhang aus weißen Sandkörnern, die in das runde Brunnenbecken fielen.

Der Geist schleuderte die Marmorbüste in den Brunnen. Sowie der Kopf des Zeus die Sanddusche passiert hatte, zerfiel der Marmor, als ob er in eine Häckselmaschine geraten wäre. Der Sand funkelte golden, in der Farbe von Ichor – göttlichem Blut. Dann erdröhnte der gesamte Berg mit einem erstickten BUMM!, wie jemand, der nach einer Mahlzeit rülpst.

Die toten Festgäste brüllten zustimmend.

»Gibt’s noch Statuen?«, schrie der Geist in die Menge. »Nein? Dann müssen wir wohl warten, bis wir ein paar echte Götter opfern können.«

Seine Kumpels lachten und klatschten, als der Geist sich an den nächststehenden Tisch fallen ließ.

Jason packte seinen Gehstock fester. »Der Kerl hat gerade meinen Dad zermahlen. Für wen hält der sich eigentlich?«

»Ich nehme an, das ist Antinoos«, sagte Annabeth. »Einer der Anführer der Freier. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, hat Odysseus ihm den Pfeil durch den Hals geschossen.«

Piper schauderte es. »Man sollte doch meinen, dass so ein Typ danach nicht wieder aufsteht. Was ist mit den anderen? Warum sind das so viele?«

»Ich weiß nicht«, sagte Annabeth. »Frische Rekruten für Gaia, nehme ich an. Manche müssen ins Leben zurückgekehrt sein, ehe wir die Tore des Todes verschließen konnten. Andere sind einfach nur Geister.«

»Einige sind Ghule«, sagte Jason. »Die mit den klaffenden Wunden und der grauen Haut, wie Antinoos … Mit solchen habe ich schon gekämpft.«

Piper spielte an der blauen Harpyienfeder herum. »Können die getötet werden?«

Jason dachte an einen Einsatz, den er Jahre zuvor in San Bernardino für Camp Jupiter durchgeführt hatte. »Nicht so einfach. Sie sind stark und schnell und intelligent. Und sie fressen Menschenfleisch.«

»Fantastisch«, murmelte Annabeth. »Ich weiß trotzdem nicht, was wir anderes machen sollten, als bei unserem Plan zu bleiben. Uns aufteilen und einschleichen, feststellen, warum sie hier sind. Wenn die Sache schiefgeht …«

»Dann kommt Plan B«, sagte Piper.

Jason hasste Plan B.

Ehe sie das Schiff verlassen hatten, hatte Leo ihnen allen eine Notrakete von der Größe einer Geburtstagskerze in die Hand gedrückt. Wenn sie eine davon hochwarfen, würde die als Streifen aus weißem Phosphor in die Luft sausen und der Argo II mitteilen, dass es Ärger gab. Jason und die Mädchen hätten dann einige Sekunden, um in Deckung zu gehen, ehe die Katapulte des Schiffes auf ihre Stellung feuerten und den Palast in Griechisches Feuer und Geschosse aus Himmlischer Bronze hüllten.

Nicht gerade ein Plan, bei dem nichts schiefgehen konnte, aber immerhin hatte Jason das befriedigende Wissen, dass er einen Angriff auf diese lärmende Bande aus Toten lostreten könnte, wenn die Lage knifflig würde. Natürlich nur unter der Voraussetzung, dass er und seine Freundinnen entkamen. Und nur, wenn Leos Katastrophenkerzen nicht aus Versehen hochgingen – das passierte manchmal bei Leos Erfindungen –, denn dann würde es gleich viel heißer werden und die Chance einer feurigen Apokalypse würde auf neunzig Prozent steigen.

»Vorsicht da unten«, mahnte er Piper und Annabeth.

Piper kroch auf die linke Seite des Hügelkammes. Annabeth ging nach rechts. Jason zog sich an seinem Gehstock hoch und humpelte auf die Ruinen zu.

Er dachte an das letzte Mal, als er sich in eine Meute aus bösen Geistern gestürzt hatte, im Haus des Hades. Wenn Frank Zhang und Nico di Angelo nicht gewesen wären …

Bei allen Göttern … Nico!

Wann immer Jason in den vergangenen Tagen einen Teil seiner Mahlzeit dem Jupiter geopfert hatte, hatte er seinen Vater gebeten, Nico zu helfen. Der Junge hatte so viel durchgemacht und trotzdem hatte er sich für die schwierigste Aufgabe angeboten: die Statue der Athena Parthenos nach Camp Half-Blood zu bringen. Wenn ihm das nicht gelänge, würden die römischen und griechischen Halbgötter sich gegenseitig abschlachten. Und egal, was in Griechenland passierte, dann hätte die Argo II kein Zuhause mehr, in das sie zurückkehren könnte.

Jason durchschritt den geisterhaften Torweg des Palastes. Ihm ging gerade noch rechtzeitig auf, dass ein Teil des Mosaikbodens vor ihm eine Illusion war, die eine drei Meter tiefe Ausgrabungsstätte verbarg. Er wich der Grube aus und humpelte dann weiter zum Hof.

Die beiden Ebenen der Realität erinnerten ihn an die Titanenfestung auf dem Othrys – ein verwirrendes Labyrinth aus schwarzen Marmorwänden, die sich nach Lust und Laune zu Schatten auflösten und dann wieder fest wurden. Aber bei jenem Kampf hatte Jason immerhin hundert Legionäre an seiner Seite gehabt. Jetzt hatte er nur den Körper eines Greises, einen Stock und zwei Freundinnen in eng anliegenden Kleidern.

Mehr als dreißig Meter vor ihm bewegte sich Piper durch die Menge, sie lächelte und füllte Weingläser für die geisterhaften Zecher. Wenn sie Angst hatte, dann zeigte sie es nicht. Bisher schenkten die Geister ihr keine besondere Aufmerksamkeit. Hazels Magie schien also zu funktionieren.

Auf der rechten Seite sammelte Annabeth leere Teller und Becher ein. Sie lächelte nicht.

Jason dachte an das Gespräch, das er vor dem Verlassen des Schiffes mit Percy geführt hatte.

Percy war an Bord geblieben, um nach Bedrohungen von der Seeseite Ausschau zu halten, aber ihm hatte die Vorstellung gar nicht gefallen, dass Annabeth sich ohne ihn auf diese Expedition begeben würde – zumal es ihre erste Trennung seit ihrer Rückkehr aus dem Tartarus war.

Er hatte Jason beiseitegenommen. »Hör mal … Annabeth würde mich umbringen, wenn ich auch nur andeutete, dass sie jemanden braucht, der sie beschützt.«

Jason lachte. »Ja, das würde sie.«

»Aber pass auf sie auf, ja?«

Jason drückte die Schulter seines Freundes. »Ich sorge dafür, dass sie unversehrt zu dir zurückkommt.«

Jetzt fragte sich Jason, ob er dieses Versprechen wohl halten könnte.

Er erreichte den Rand der Menge.

Eine kratzige Stimme rief: »IROS!«

Antinoos, der Ghul mit dem Pfeil in der Kehle, starrte ihm ins Gesicht. »Bist du das, alter Bettler?«

Hazels Magie tat ihre Wirkung. Kalte Luft strich über Jasons Gesicht, als der Nebel behutsam sein Aussehen änderte und den Freiern das zeigte, was sie zu sehen erwarteten.

»Genau der!«, sagte Jason. »Iros.«

Ein Dutzend weitere Geister drehten sich zu ihm um. Einige runzelten die Stirn und griffen nach ihren leuchtenden lila Schwertern. Zu spät fragte sich Jason, ob Iros wohl ihr Feind sein könnte, aber er hatte sich schon zu dieser Rolle bekannt.

Er humpelte weiter und machte sein bestes übellauniges Greisengesicht. »Da komme ich wohl zu spät zur Party. Ich hoffe, ihr habt mir was zu essen aufbewahrt.«

Einer der Geister fauchte angewidert. »Undankbarer alter Tippelbruder. Soll ich ihn umbringen, Antinoos?«

Jasons Nackenmuskeln verkrampften sich.

Antinoos sah ihn drei Sekunden lang an, dann kicherte er. »Ich bin heute gnädig gestimmt. Komm, Iros, setz dich an meinen Tisch.«

Jason blieb nicht viel anderes übrig. Er nahm Antinoos gegenüber Platz, während weitere Geister sie umdrängten und feixten, als ob sie mit einer ganz besonders gemeinen Partie Armdrücken rechneten.

Aus der Nähe waren die Augen des Antinoos von kräftigem Gelb. Seine Lippen spannten sich papierdünn über Wolfszähne. Zuerst dachte Jason, die dunklen Locken des Ghuls wären in Auflösung begriffen. Dann ging ihm auf, dass ein stetiger Bach aus Schmutz von der Kopfhaut des Antinoos rieselte und sich über seine Schultern verteilte. Lehmklumpen füllten die alten Schwertwunden in seiner grauen Haut. Weiterer Dreck quoll unten aus der Pfeilwunde in seinem Hals.

Die Macht der Gaia, dachte Jason. Die Erde hält den Kerl zusammen.

Antinoos schob einen goldenen Becher und einen Teller voll Essen über den Tisch. »Ich hätte hier ja nicht mit dir gerechnet, Iros. Aber ich nehme mal an, sogar ein Bettler kann auf Wiedergutmachung klagen. Oder?«

Eine dicke rote Flüssigkeit schwappte in dem Becher herum. Auf dem Teller lagen dampfende braune Klumpen undefinierbares Fleisch.

Jasons Magen rebellierte. Selbst wenn die Geisterkost ihn nicht umbrächte, würde seine vegetarische Freundin ihn wohl einen Monat lang nicht küssen.

Er dachte daran, was Notus, der Südwind, ihm gesagt hatte: Von einem ziellos wehenden Wind hat niemand etwas. Jasons gesamte Karriere im Camp Jupiter war auf sorgfältigen Entscheidungen aufgebaut gewesen. Er vermittelte zwischen Halbgöttern, hörte sich alle Seiten einer Meinungsverschiedenheit an, fand Kompromisse. Sogar, wenn er gegen römische Traditionen aufbegehrte, handelte er nie unüberlegt. Er war nicht impulsiv.

Notus hatte ihn gewarnt, dass solches Zögern ihn umbringen könnte. Jason sollte aufhören, alles abzuwägen, und sich das nehmen, was er wollte.

Wenn er ein undankbarer Bettler war, dann musste er sich auch wie einer verhalten.

Er riss sich mit den Fingern ein Stück Fleisch ab und stopfte es sich in den Mund. Er schüttete rote Flüssigkeit in sich hinein und zum Glück schmeckte die wie mit Wasser verdünnter Wein, nicht wie Blut oder Gift. Jason unterdrückte den Drang, sich zu übergeben, aber er kippte nicht um und explodierte auch nicht.

»Köstlich!« Er wischte sich den Mund ab. »Und jetzt erzähl mir von dieser … Wie hast du das genannt? Wiedergutmachung. Wo kann ich die beantragen?«

Die Geister lachten. Einer stieß Jasons Schulter an, und Jason fand es besorgniserregend, dass er das wirklich spüren konnte.

Die Laren im Camp Jupiter besaßen keine physische Substanz. Diese Geister hier offenbar doch. Das bedeutete mehr Feinde, die ihn schlagen, erstechen oder enthaupten könnten.

Antinoos beugte sich vor. »Sag mal, Iros, was hast du anzubieten? Wir brauchen dich nicht als Laufburschen, wie in den alten Tagen. Und ein Kämpfer bist du auch nicht. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, dann hat Odysseus dir den Kiefer zerschmettert und dich in den Schweinestall geworfen.«

Jasons Neuronen loderten auf. Iros … der alte Mann, der im Austausch gegen Essensreste für die Freier den Boten gespielt hatte. Iros war sozusagen ihr persönlicher Haus-Obdachloser gewesen. Als Odysseus als Bettler verkleidet heimgekehrt war, hatte Iros geglaubt, dieser Fremde wolle ihm seinen Rang streitig machen. Die beiden waren aneinandergeraten …

»Du hast Iros …«, Jason unterbrach sich. »Du hast dafür gesorgt, dass ich gegen Odysseus gekämpft habe. Du hast Geld darauf gesetzt. Sogar, als Odysseus sein Hemd ausgezogen hat und du seine Muskeln sehen konntest … da hast du noch immer auf dem Kampf bestanden. Dir war es doch egal, ob ich überlebe!«

Antinoos bleckte nur seine spitzen Zähne. »Natürlich war mir das egal. Ist es noch immer. Aber du bist hier, also hatte Gaia einen Grund, dich in die Welt der Sterblichen zurückkehren zu lassen. Sag mal, womit hast du einen Anteil an unserer Beute verdient?«

»Was für eine Beute?«

Antinoos hob die Hände. »Die ganze Welt, mein Freund. Bei unserer ersten Begegnung hier waren wir nur scharf auf Land, Geld und Frau des Odysseus.«

»Vor allem auf die Frau!« Ein kahlköpfiger Geist in zerlumpter Kleidung versetzte Jason einen Rippenstoß. »Diese Penelope war wirklich eine scharfe kleine Nummer.«

Jason sah für einen Moment zu, wie Piper am Nachbartisch Getränke servierte. Sie hob diskret einen Finger an ihren Mund, in einer Schweigegeste, dann flirtete sie weiter mit den Toten.

Antinoos grinste höhnisch. »Eurymachos, du greinendes Weichei. Du hattest bei Penelope doch nie eine Chance. Ich weiß noch, wie du geflennt und bei Odysseus um dein Leben gebettelt hast, und ich sollte an allem schuld sein!«

»Hab ich aber auch nicht viel von gehabt.« Eurymachos hob sein zerfetztes Hemd und zeigte ein drei Zentimeter breites rundes Loch mitten in seiner Brust. »Odysseus hat mir ins Herz geschossen, nur weil ich seine Frau heiraten wollte.«

»Jedenfalls …« Antinoos drehte sich zu Jason um. »Wir haben uns hier jetzt versammelt, um etwas viel Größeres zu erringen. Wenn Gaia erst die Götter vernichtet hat, dann werden wir die Reste der sterblichen Welt unter uns aufteilen.«

»Ich will London!«, rief ein Ghul am Nebentisch.

»Montreal«, brüllte ein anderer.

»Duluth!«, schrie ein dritter, und sofort verstummten alle Gespräche und die anderen Geister musterten ihn verwirrt.

Speis und Trank verwandelten sich in Jasons Magen in Blei. »Was ist mit den anderen … Gästen? Ich zähle an die zweihundert. Mindestens die Hälfte habe ich noch nie gesehen.«

Antinoos’ gelbe Augen funkelten. »Das sind alles Bewerber um Gaias Gunst. Alle haben Forderungen und Klagen gegen die Götter oder ihre Lieblingshelden. Der Schurke da drüben ist Hippias, ehemals Tyrann von Athen. Er wurde entmachtet und tat sich mit den Persern zusammen, um seine eigenen Landsleute zu bekämpfen. Keine Moral, der Kerl. Er würde für Macht alles tun.«

»Danke!«, rief Hippias.

»Der Gauner mit dem Truthahn im Maul«, fuhr Antinoos fort, »das ist Hasdrubal der Karthager. Er hat mit Rom ein Hühnchen zu rupfen.«

»Mmmmhmm«, sagte der Karthager.

»Und Michael Varus …«

Jason hätte sich fast verschluckt. »Wer?«

Am Sandbrunnen drehte sich der dunkelhaarige Typ in lila T-Shirt und Legionärsrüstung zu ihnen um. Seine Umrisse waren verschwommen und rauchig, deshalb hielt Jason ihn für eine Art Geist, aber die Legionstätowierung auf seinem Unterarm war doch deutlich zu sehen: SPQR, das doppelte Gesicht des Gottes Janus und sechs Striche für die Dienstjahre. Auf seinem Brustpanzer hingen das Prätorenabzeichen und das Emblem der Fünften Kohorte.

Jason war Michael Varus nie begegnet. Der berüchtigte Prätor war in den Achtzigerjahren umgekommen. Aber Jason bekam trotzdem eine Gänsehaut, als er dem Blick des Varus begegnete. Diese eingesunkenen Augen schienen Jasons Verkleidung zu durchdringen.

Antinoos machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das ist ein römischer Halbgott. Hat den Adler seiner Legion verloren, in … Alaska, oder? Ist ja auch egal. Gaia lässt ihn hier mit rumhängen. Er behauptet, er hätte Ahnung davon, wie Camp Jupiter besiegt werden kann. Aber du, Iros – du hast meine Frage nicht beantwortet. Warum solltest gerade du uns hier willkommen sein?«

Varus’ tote Augen brachten Jason aus der Fassung. Er konnte spüren, wie der Nebel um ihn herum auf seine Unsicherheit reagierte und dünner wurde.

Plötzlich tauchte Annabeth hinter Antinoos auf. »Noch Wein, hoher Herr? Huch!«

Sie goss Antinoos den Inhalt einer silbernen Kanne in den Nacken.

»Bah!« Der Ghul krümmte sich. »Du dummes Ding! Wer hat dich denn aus dem Tartarus zurückkehren lassen?«

»Ein Titan, hoher Herr.« Annabeth senkte beschämt den Kopf. »Darf ich Euch ein paar Feuchttücher bringen? Euer Pfeil tropft.«

»Verschwinde!«

Annabeth fing Jasons Blick auf – eine stumme Versicherung ihrer Unterstützung –, dann verschwand sie in der Menge.

Der Ghul wischte den Wein ab und gab Jason damit die Möglichkeit, Ordnung in seine Gedanken zu bringen.

Er war Iros – einstmals Laufbursche der Freier. Warum mochte er hier sein? Warum sollten sie ihn aufnehmen?

Er schnappte sich das nächstbeste Bratenmesser und rammte es in den Tisch. Alle Geister fuhren zusammen.

»Warum ihr mich willkommen heißen solltet?«, knurrte Jason. »Weil ich noch immer Botschaften für euch überbringe, ihr Elendsgestalten. Ich komme gerade vom Haus des Hades und soll nachsehen, was ihr hier so treibt.«

Das mit dem Haus des Hades stimmte immerhin, und es schien Antinoos für einen Moment zu verwirren. Er starrte Jason wütend an, während noch immer Wein von dem Pfeilschaft in seiner Kehle tropfte. »Ich soll dir glauben, Gaia hätte dich – einen Bettler – geschickt, um uns auf die Finger zu schauen?«

Jason lachte. »Ich war einer der Letzten, die Epirus verlassen konnten, ehe die Tore des Todes geschlossen wurden. Ich habe die Kammer gesehen, wo Klytius unter einer gewölbten Decke aus Grabsteinen Wache stand. Ich bin im Nekromanteion über den Boden aus Knochen und Edelsteinen gelaufen!«

Auch das stimmte. Die Geister am Tisch rutschten hin und her und murmelten.

»Also, Antinoos!« Jason richtete einen Finger auf den Ghul. »Vielleicht solltest du mir erklären, womit du Gaias Gunst verdient hast! Ich sehe hier nur eine Bande aus trägen Faulenzern, die sich amüsieren und nichts zur Kriegsanstrengung beitragen. Was soll ich der Erdmutter also erzählen?«

Aus dem Augenwinkel sah Jason, wie Piper ihn beifällig anlächelte. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder einem leuchtend lila Griechen zu, der versuchte, sie auf seinen Schoß zu ziehen.

Antinoos schloss die Hand um das Bratenmesser, das Jason in den Tisch gerammt hatte. Er zog es heraus und betrachtete die Klinge. »Wenn du von Gaia kommst, dann musst du wissen, dass wir hierhin befohlen worden sind. Porphyrion hat das angeordnet.« Antinoos fuhr sich mit dem Messer über die Handfläche. Statt Blut quoll Dreck aus dem Schnitt. »Du kennst doch Porphyrion …?«

Jason kämpfte verzweifelt gegen seine Übelkeit. Er konnte sich aus der Schlacht beim Wolfshaus nur zu gut an Porphyrion erinnern. »Der Riesenkönig – grüne Haut, dreizehn Meter hoch, weiße Augen, in die Zöpfe eingeflochtene Waffen. Natürlich kenne ich ihn. Er ist viel beeindruckender als du.«

Er beschloss, nicht zu erwähnen, dass er den Riesenkönig bei ihrer letzten Begegnung mit einem Blitz zu Boden geschlagen hatte.

Ausnahmsweise einmal sah Antinoos sprachlos aus, aber sein Freund, der kahle Geist Eurymachos, legte Jason einen Arm um die Schultern.

»Aber, aber, mein Freund!« Eurymachos stank nach saurem Wein und brennenden Stromkabeln. »Wir wollten deine Befugnisse sicher nicht anzweifeln! Es ist bloß, na ja, wenn du in Athen mit Porphyrion gesprochen hast, dann musst du doch wissen, warum wir hier sind. Du kannst mir glauben, wir halten uns ganz strikt an seine Befehle.«

Jason versuchte, seine Überraschung zu verbergen. Porphyrion in Athen!

Gaia hatte versprochen, die Götter mit der Wurzel auszurotten. Chiron, Jasons Mentor im Camp Half-Blood, hatte angenommen, das solle bedeuten, dass die Riesen versuchen wollten, die Erdgöttin am ursprünglichen Olymp auferstehen zu lassen. Aber jetzt …

»Die Akropolis«, sagte Jason. »Die ältesten Tempel der Götter, mitten in Athen. Da wird Gaia erwachen.«

»Natürlich!« Eurymachos lachte. Die Wunde in seiner Brust erzeugte ein blubberndes Geräusch, wie das Blasloch eines Tümmlers. »Und wenn sie dahin wollen, müssen diese lästigen Halbgötter übers Meer fahren, oder? Sie wissen, es ist zu gefährlich, über Land zu fliegen.«

»Was bedeutet, sie müssen an dieser Insel hier vorbei«, sagte Jason.

Eurymachos nickte eifrig. Er nahm den Arm von Jasons Schultern und tunkte seinen Finger in sein Weinglas. »Und dann werden sie sich entscheiden müssen!«

Er zog eine Linie auf dem Tisch und der rote Wein leuchtete unnatürlich auf dem Holz. Er zeichnete Griechenland wie ein verformtes Stundenglas – einen großen wackligen Klumpen für das nördliche Festland, dann darunter einen fast ebenso großen weiteren Kloß – den Landesteil, der Peloponnes genannt wird. Zwischen beiden war eine schmale Meerenge zu sehen – der Golf von Korinth.

Jason hätte dieses Bild nicht gebraucht. Er und die anderen hatten ihren letzten Tag auf See mit dem Studium von Landkarten verbracht.

»Der direkteste Weg«, sagte Eurymachos, »wäre hier vorbei, durch den Golf von Korinth. Aber wenn sie das versuchen …«

»Das reicht jetzt«, fauchte Antinoos. »Du hast ein loses Mundwerk, Eurymachos.«

Der Geist sah beleidigt aus. »Ich wollte ihm doch nicht alles erzählen. Nur, dass die Armeen der Zyklopen sich auf beiden Ufern sammeln. Und die wütenden Sturmgeister in der Luft. Und diese fiesen Meeresungeheuer, mit denen Keto das Wasser verseucht hat. Und wenn das Schiff es bis Delphi schafft …«

»Idiot!« Antinoos warf sich über den Tisch und packte den Geist am Handgelenk. Eine dünne Lehmkruste löste sich von seiner Hand und verteilte sich auf dem geisterhaften Arm des Eurymachos.

»Nein!«, wimmerte Eurymachos. »Bitte! Ich … ich wollte doch bloß …«

Der Geist schrie auf, als der Lehm seinen Körper umschloss wie eine Schale, dann barst und nur ein Häufchen Staub übrig blieb. Eurymachos war verschwunden.

Antinoos ließ sich zurücksinken und wischte sich die Hände ab. Die anderen Freier am Tisch beobachteten ihn in misstrauischem Schweigen.

»Tut mir leid, Iros.« Der Ghul lächelte kalt. »Du brauchst nur so viel zu wissen – die Wege nach Athen werden sorgfältig bewacht, wie wir versprochen haben. Die Halbgötter müssen entweder die Meerengen durchqueren, was unmöglich ist, oder die gesamte Peloponnes umsegeln, was wohl kaum ungefährlicher ist. Es ist ohnehin unwahrscheinlich, dass sie lange genug überleben, um diese Entscheidung treffen zu können. Wenn sie Ithaka erreichen, werden wir das wissen. Wir werden sie hier aufhalten und Gaia wird erkennen, wie wertvoll wir sind. Diese Botschaft kannst du in Athen ausrichten.«

Jasons Herz hämmerte gegen seinen Brustkasten. Er hatte noch nie so etwas gesehen wie die Schale aus Lehm, die Antinoos heraufbeschworen hatte, um Eurymachos zu vernichten. Er wollte lieber nicht wissen, ob das auch bei Halbgöttern funktionierte.

Zudem schien Antinoos ganz sicher zu sein, dass er die Argo II ausfindig machen könnte. Bisher hatte Hazels Magie das Schiff offenbar versteckt, aber niemand konnte wissen, wie lange das klappen würde.

Jason hatte jetzt gehört, was sie wissen mussten. Ihr Ziel war Athen. Die sicherere Route, oder zumindest die nicht unmögliche Route, führte um die Südküste. Heute war der 20. Juli. Ihnen blieben nur zwölf Tage, bis Gaia erwachte, am 1. August, dem uralten Fest der Hoffnung.

Jason und seine Freunde mussten sofort aufbrechen, solange sie noch die Möglichkeit hatten.

Aber ihm machte noch etwas anderes zu schaffen – ein kaltes Gefühl der Vorahnung, als sei das noch nicht die schlechteste Nachricht gewesen.

Eurymachos hatte Delphi erwähnt. Jason hatte insgeheim gehofft, den alten Sitz von Apollos Orakel besuchen zu können, vielleicht um etwas über seine eigene Zukunft zu erfahren, aber wenn die Monster sich auch da schon breitgemacht hatten …

Er schob seinen Teller mit dem kalten Fleisch beiseite. »Dann scheint ja alles unter Kontrolle zu sein. Das hoffe ich in deinem Interesse, Antinoos. Diese Halbgötter wissen sich meistens zu helfen. Sie haben die Tore des Todes geschlossen. Wir wollen ja nicht, dass sie sich an dir vorbeischleichen und sich vielleicht Hilfe aus Delphi holen.«

Antinoos kicherte. »Keine Gefahr. Delphi ist nicht mehr in Apollos Hand.«

»Ach so. Und wenn die Halbgötter die lange Strecke um die Peloponnes herum nehmen?«

»Du machst dir zu viel Sorgen. Diese Reise ist für Halbgötter viel zu gefährlich, und die Strecke ist viel zu weit. Außerdem ist Victoria in Olympia außer Rand und Band. Und solange das so ist, können die Halbgötter diesen Krieg unter gar keinen Umständen gewinnen.«

Jason begriff nicht, was das bedeutete, aber er nickte. »Sehr gut. Ich werde das alles an König Porphyrion weitergeben. Danke für das, äh, Essen.«

Vom Brunnen her rief Michael Varus: »Warte!«

Jason unterdrückte eine Verwünschung. Er hatte versucht, den toten Prätor zu ignorieren, aber jetzt kam Varus herüber, umgeben von einer dunstigen weißen Aura, seine tief liegenden Augen schwarz wie Moorlöcher. An seiner Seite hing ein Gladius aus Kaiserlichem Gold.

»Du musst bleiben«, sagte Varus.

Antinoos warf dem Geist einen genervten Blick zu. »Was ist denn los, Legionär? Wenn Iros gehen will, lass ihn doch. Er stinkt.«

Die anderen Geister lachten nervös. Über den Hof hinweg warf Piper Jason einen besorgten Blick zu. Ein Stück weiter weg zog Annabeth ganz lässig ein Tranchiermesser aus dem nächststehenden Braten.

Varus legte die Hand auf den Schwertknauf. Trotz der Hitze war sein Brustpanzer mit Eis überzogen. »Ich habe zweimal meine Kohorte in Alaska verloren – einmal im Leben, einmal im Tod, an einen Graecus namens Percy Jackson. Und doch bin ich auf Gaias Ruf hergekommen. Weißt du, warum?«

Jason schluckte. »Aus Trotz?«

»Das hier ist ein Ort der Sehnsucht«, sagte Varus. »Wir werden alle hierhergezogen, nicht nur durch Gaias Macht, sondern auch durch unser stärkstes Verlangen. Die Gier des Eurymachos. Die Grausamkeit des Antinoos.«

»Danke für das Kompliment«, murmelte der Ghul.

»Der Hass des Hasdrubal«, zählte Varus weiter auf. »Die Bitterkeit des Hippias. Mein Ehrgeiz. Aber du, Iros. Was zieht dich her? Wonach sehnt sich ein Bettler am allermeisten? Vielleicht nach einem Zuhause?«

Ganz hinten in Jasons Schädel setzte ein unangenehmes Kribbeln ein – ein Gefühl, als ob gleich ein gewaltiger elektrischer Sturm losbrechen würde.

»Ich muss los«, sagte er. »Noch allerlei zu erledigen.«

Michael Varus zog sein Schwert. »Mein Vater ist Janus, der Gott mit den zwei Gesichtern. Ich bin es gewohnt, Masken und Trugbilder zu durchschauen. Weißt du, Iros, warum wir so sicher sind, dass die Halbgötter nicht unbemerkt an unserer Insel vorbeikommen werden?«

In Gedanken ging Jason seinen Vorrat an lateinischen Verwünschungen durch. Er versuchte zu berechnen, wie lange er brauchen würde, um die Notrakete hervorzuziehen und abzufeuern. Mit etwas Glück würde er genug Zeit für die Mädchen erkaufen, um Schutz zu suchen, ehe diese Meute aus toten Typen ihn niedermetzelte.

Er drehte sich zu Antinoos um. »Hör mal, hast du hier das Kommando oder nicht? Vielleicht solltest du deinem Römer mal einen Maulkorb verpassen.«

Der Ghul holte tief Luft. Der Pfeil zitterte in seiner Kehle. »Ach, das hier kann doch lustig werden. Weiter, Varus.«

Der tote Prätor hob sein Schwert. »Unser Verlangen stellt uns bloß. Es zeigt, wer wir wirklich sind. Und hier ist jemand deinetwegen gekommen, Jason Grace.«

Hinter Varus teilte sich die Menge. Der schimmernde Geist einer Frau schwebte auf Jason zu, und der hatte das Gefühl, dass seine Knochen zu Staub zerfielen.

»Mein Lieber«, sagte der Geist seiner Mutter. »Du bist heimgekehrt.«

III

Jason

Auf irgendeine Weise kannte er sie. Er erkannte ihr Kleid – ein grünrotes geblümtes Wickelgewand, in dem sie ein bisschen wie ein Weihnachtsbaum aussah. Er erkannte ihre bunten Plastikarmreifen, die sich in seinen Rücken gebohrt hatten, als sie ihn beim Wolfshaus zum Abschied umarmte. Er erkannte ihre Haare, ihre brüchigen, blond gefärbten Locken und ihren Geruch nach Zitronen und Aerosol.

Ihre Augen waren blau wie seine, aber sie glitzerten wie polarisiertes Licht, als ob sie soeben nach einem Atomkrieg einen Bunker verlassen hätte und begierig in einer veränderten Welt nach vertrauten Dingen Ausschau hielte.

»Lieber!« Sie streckte ihm die Arme entgegen.

Jasons Blickfeld verengte sich. Geister und Ghule spielten keine Rolle mehr.

Seine Nebelverkleidung verbrannte. Sein Rücken wurde gerade. Seine Gelenke taten nicht mehr weh. Sein Gehstock wurde wieder zu seinem vertrauten Gladius aus Kaiserlichem Gold.

Das brennende Gefühl legte sich nicht. Es kam ihm vor, als würden Schichten seines Lebens abgesengt – seine Monate im Camp Half-Blood, seine Jahre im Camp Jupiter, sein Training bei Lupa, der Wolfsgöttin. Er wurde wieder zum verängstigten und verletzlichen Zweijährigen. Sogar die Narbe auf seiner Lippe von damals, als er als Baby an einem Tacker genagt hatte, schmerzte wie eine frische Wunde.

»Mom?«, brachte er heraus.

»Ja, Lieber.« Ihr Bild flackerte. »Komm, umarme mich!«

»Du … du bist nicht wirklich!«

»Natürlich ist sie wirklich.« Michael Varus’ Stimme schien von weit her zu kommen. »Hast du gedacht, Gaia würde einen so wichtigen Geist in der Unterwelt verschmachten lassen? Sie ist deine Mutter, Beryl Grace, Fernsehstar und Geliebte des Königs des Olymp, der sie nicht nur einmal, sondern zweimal verlassen hat, in seiner griechischen und seiner römischen Gestalt. Sie hat ebenso Gerechtigkeit verdient wie wir anderen alle.«

Jasons Herz war aus dem Takt. Die Freier drängten sich um ihn zusammen und musterten ihn aufmerksam.

Ich bin ihr Unterhaltungsprogramm, ging ihm auf. Die Geister fanden das hier sicher noch witziger als zwei Bettler, die auf Leben und Tod kämpften.

Pipers Stimme durchdrang das Summen in seinem Kopf. »Jason, sieh mich an!«

Sie stand sieben Meter entfernt und hielt ihre tönerne Amphore in den Armen. Ihr Lächeln war verschwunden. Ihr Blick war energisch und gebieterisch – so unmöglich zu ignorieren wie die blaue Harpyienfeder in ihren Haaren. »Das ist nicht deine Mutter. Ihre Stimme erzeugt bei dir irgendeine Art von Magie – wie Charmesprech, aber gefährlicher. Kannst du das nicht spüren?«

»Sie hat Recht.« Annabeth stieg auf den nächstbesten Tisch. Sie trat eine Bratenplatte beiseite und schreckte ein Dutzend Freier auf. »Jason, das ist nur ein Überrest deiner Mutter, wie eine Ara vielleicht, oder …«

»Ein Überrest!« Der Geist seiner Mutter schluchzte auf. »Ja, sieh dir nur an, was aus mir geworden ist. Daran ist Jupiter schuld. Er hat uns im Stich gelassen. Er wollte mir nicht helfen. Ich wollte dich nicht in Sonoma zurücklassen, mein Lieber, aber Juno und Jupiter haben mir keine Wahl gelassen. Sie wollten uns nicht erlauben zusammenzubleiben. Warum willst du jetzt für sie kämpfen? Schließ dich den Freiern an. Werde ihr Anführer. Wir können wieder eine Familie sein.«

Jason spürte, wie Hunderte von Augen ihn anstarrten.

Das ist die Geschichte meines Lebens, dachte er bitter. Immer hatten alle ihn angestarrt, erwartet, dass er die Führung übernahm. Von seinem ersten Moment in Camp Jupiter an hatten die Römer ihn wie einen Kronprinzen behandelt. Trotz seiner Versuche, sein Schicksal zu ändern – er hatte sich der verrufensten Kohorte angeschlossen, hatte versucht, die Traditionen im Lager zu verändern, hatte die am wenigsten ehrenhaften Aufgaben übernommen, hatte sich mit den unbeliebtesten Jugendlichen angefreundet –, war er doch zum Prätor ernannt worden. Er war der Sohn des Jupiter und damit war seine Zukunft festgelegt.

Ihm fiel ein, was Herkules in der Straße von Gibraltar zu ihm gesagt hatte: Ein Sohn des Jupiter – das ist ein ganz schöner Druck. Nichts ist je genug. Da kann man schon durchdrehen.

Jetzt war Jason fast so weit, er war angespannt wie eine Bogensaite.

»Du hast mich verlassen«, sagte er zu seiner Mutter. »Das war nicht Jupiter oder Juno. Das warst du.«

Beryl Grace trat vor. Die Sorgenfalten um ihre Augen, die schmerzlich angespannten Lippen erinnerten Jason an seine Schwester Thalia.

»Liebster, ich habe dir doch gesagt, dass ich zurückkommen würde. Das waren meine letzten Worte an dich. Weißt du das nicht mehr?«

Jason zitterte. In den Ruinen des Wolfshauses hatte seine Mutter ihn zum letzten Mal umarmt. Sie hatte gelächelt, aber ihre Augen waren voller Tränen gewesen.

Alles wird gut, hatte sie versprochen. Aber auch als kleiner Junge hatte Jason gewusst, dass das nicht stimmte. Warte hier. Ich komme dich holen, Liebster. Wir sehen uns bald.

Sie war nicht zurückgekommen. Stattdessen war Jason durch die Ruinen geirrt, weinend und allein, er hatte nach seiner Mutter und nach Thalia gerufen – und dann waren die Wölfe gekommen.

Das nicht gehaltene Versprechen seiner Mutter hatte ihn bis ins Mark getroffen. Er hatte sein ganzes Leben um seinen Ärger über ihre Worte aufgebaut, wie sich eine Perle um ein Sandkorn herum formt.

Menschen lügen. Versprechen werden gebrochen.

Deshalb hielt Jason sich an Regeln, sosehr sie ihn auch nerven mochten. Er hielt seine Versprechen. Er wollte niemals jemanden so im Stich lassen, wie er im Stich gelassen und betrogen worden war.

Jetzt war seine Mutter wieder da und zerstörte Jasons einzige Gewissheit über sie – dass sie ihn für immer verlassen hatte.

Auf der anderen Seite des Tisches hob Antinoos seinen Becher. »Wie schön, dich kennenzulernen, Sohn des Jupiter. Hör auf deine Mutter. Du hast den Göttern so viel vorzuwerfen. Warum willst du dich uns nicht anschließen? Ich vermute, diese beiden Mägde sind deine Freundinnen? Wir werden sie verschonen. Du möchtest, dass deine Mutter in der Welt bleibt? Dafür können wir sorgen. Du möchtest König sein …«

»Nein.« Jasons Gedanken wirbelten wild durcheinander. »Nein, ich gehöre nicht zu euch.«

Michael Varus musterte ihn mit kaltem Blick. »Bist du da so sicher, mein Mitprätor? Auch wenn du die Riesen und Gaia besiegen könntest, würdest du dann nach Hause zurückkehren wie einst Odysseus? Wo ist denn jetzt dein Zuhause? Bei den Griechen? Bei den Römern? Niemand würde dich aufnehmen. Und wenn du doch zurückkehren könntest, wer kann dann sagen, ob du nicht solche Ruinen vorfinden würdest wie diese hier?«

Jason sah sich auf dem Palasthof um. Ohne die Illusionen von Balkons und Säulengängen war es nur ein Haufen Ruinen auf einer kahlen Felskuppe. Allein der Brunnen sah echt aus und spie Sand wie zur Erinnerung an Gaias unbegrenzte Macht.

»Du warst einmal ein Offizier der Legion«, sagte er zu Varus. »Ein römischer Kommandant.«

»Du auch«, sagte Varus. »Loyalitäten ändern sich.«

»Du glaubst, ich gehöre zu dieser Bande?«, fragte Jason. »Zu einem Haufen toter Versager, die auf ein Almosen von Gaia warten und herumjammern, weil sie finden, dass die Welt ihnen etwas schuldig ist?«

Überall auf dem Hof sprangen Geister und Ghule auf und griffen zu ihren Waffen.

»Vorsicht!«, schrie Piper die Menge an. »Jeder Mann hier in diesem Palast ist euer Feind! Jeder würde euch bei der ersten Gelegenheit den Dolch in den Rücken stoßen.«

In den vergangenen Wochen hatte Pipers Charmesprech an Kraft noch gewonnen. Sie sprach die Wahrheit, und die Menge glaubte ihr. Alle schauten verstohlen ihren Nebenmann an und packten die Schwertgriffe fester.

Jasons Mutter trat einen Schritt auf ihn zu. »Liebster, sei vernünftig. Verzichte auf deinen Einsatz. Deine Argo II kann es doch nie bis Athen schaffen. Und selbst wenn, dann ist da noch die Sache mit der Athena Parthenos.«

Jason durchlief ein Zittern. »Wie meinst du das?«

»Stell dich nicht dumm, mein Liebster. Gaia weiß Bescheid über deine Freundin Reyna, über Nico, den Sohn des Hades, und über den Satyrn Hedge. Um sie zu töten, hat die Erdmutter ihren gefährlichsten Sohn ausgesandt – den Jäger, der keine Ruhe kennt. Aber du brauchst nicht zu sterben.«

Die Geister rückten näher – zweihundert, die Jason voller Erwartung anstarrten, als ob er mit ihnen die Nationalhymne anstimmen sollte.

Der Jäger, der keine Ruhe kennt.

Jason wusste nicht, wer das war, aber er musste Reyna und Nico warnen.

Was bedeutete, er musste hier lebend rauskommen.

Er sah sich zu Annabeth und Piper um. Beide warteten auf sein Stichwort.

Er zwang sich, seiner Mutter in die Augen zu schauen. Sie sah aus wie die Frau, die ihn vierzehn Jahre zuvor in Sonoma verlassen hatte. Aber Jason war kein kleines Kind mehr. Er war ein erfahrener Krieger, ein Halbgott, der zahllose Male dem Tod gegenübergestanden hatte.

Und was er da vor sich sah, war nicht seine Mutter – zumindest nicht das, was seine Mutter hätte sein müssen – liebevoll, fürsorglich, selbstlos und beschützend.

Ein Überrest, so hatte Annabeth sie genannt.

Michael Varus hatte gesagt, die Geister hier würden von ihrem stärksten Verlangen am Leben erhalten. Der Geist der Beryl Grace strahlte förmlich vor Verlangen. Ihre Augen forderten Jasons Aufmerksamkeit. Ihre Arme streckten sich nach ihm aus und wollten ihn unbedingt besitzen.

»Was willst du?«, fragte er. »Was hat dich hergeführt?«

»Ich will Leben«, rief sie. »Jugend. Schönheit. Dein Vater hätte mich unsterblich machen können. Er hätte mich in den Olymp erheben können, aber er hat mich verlassen. Du kannst das wiedergutmachen, Jason. Du bist mein stolzer Krieger.«

Ihr Zitronenduft wurde bitter, als ob sie gleich in Flammen aufgehen würde.

Jason fiel etwas ein, das Thalia ihm erzählt hatte. Ihre Mutter war immer labiler geworden, und am Ende hatte ihre Verzweiflung sie in den Wahnsinn getrieben. Sie war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, nachdem sie sich betrunken ans Steuer gesetzt hatte.

Der wässrige Wein in Jasons Magen blubberte. Jason beschloss, nie wieder Alkohol zu trinken, wenn er diesen Tag überlebte.

»Du bist eine Mania«, sagte er dann, ein Wort, das er von seinen Studien vor langer Zeit im Camp Jupiter kannte. »Ein Geist des Wahnsinns. Das ist es, was aus dir geworden ist.«

»Ich bin alles, was noch übrig ist«, sagte Beryl Grace zustimmend. Ihr Bild durchflackerte ein ganzes Farbspektrum. »Umarme mich, mein Sohn. Ich bin alles, was du noch hast.«

Die Erinnerung an den Südwind meldete sich in seinen Gedanken zu Wort. Du kannst dir deine Eltern nicht aussuchen, doch die Entscheidung für deine Erbschaft liegt bei dir.

Jason hatte das Gefühl, neu zusammengesetzt zu werden, eine Schicht nach der anderen. Sein Herz schlug jetzt regelmäßiger. Die Kälte verließ seine Knochen. Seine Haut wurde von der Nachmittagssonne gewärmt.

»Nein«, krächzte er. Er schaute Annabeth und Piper an. »Meine Loyalitäten haben sich nicht geändert. Meine Familie ist nur größer geworden. Ich bin ein Kind Griechenlands und Roms.« Er sah sich ein letztes Mal zu seiner Mutter um. »Dein Kind dagegen bin ich nicht.«

Er machte die alte Gebärde, mit der Übel abgewehrt wird – drei Finger, die er von seinem Herzen wegführte –, und der Geist der Beryl Grace verschwand mit einem leisen Fauchen, wie ein Seufzer der Erleichterung.

Der Ghul Antinoos warf seinen Becher weg. Er musterte Jason mit einer Miene trägen Ekels. »Na«, sagte er, »dann nehme ich an, wir bringen dich besser um.«

Und die Feinde rückten weiter auf Jason vor.

IV

Jason

Der Kampf lief richtig gut – bis ihn der Dolch traf.

Jason schwang seinen Gladius in einem weiten Bogen und ließ die nächststehenden Freier zu Staub zerfallen, dann sprang er auf den Tisch und weiter über den Kopf des Antinoos. Mitten in der Luft befahl er seiner Klinge, zum Wurfspeer zu werden – ein Trick, den er mit seinem Schwert noch nie probiert hatte –, aber er wusste instinktiv, dass es funktionieren würde.

Er landete auf den Füßen und hielt ein ein Meter achtzig langes Pilum in der Hand. Als Antinoos zu ihm herumfuhr, stieß Jason die Spitze aus Kaiserlichem Gold durch die Brust des Ghuls.

Antinoos schaute ungläubig an sich herunter. »Du …«

»Viel Spaß auf den Feldern der Verdammnis!« Jason riss das Pilum zurück und Antinoos zerfiel zu Staub.

Jason setzte den Kampf fort, er schwenkte seinen Speer – und durchschnitt Geister und warf Ghule zu Boden.

Auf der anderen Seite des Hofes kämpfte Annabeth ebenfalls wie ein Dämon. Ihr Schwert aus Drachenknochen mähte alle Freier um, die dumm genug waren, ihr in den Weg zu treten.

Drüben beim Sandbrunnen hatte Piper ebenfalls ihr Schwert gezogen – die gezackte Bronzeklinge, die sie dem Boreaden Zetes abgenommen hatte. Sie stach und parierte mit der rechten Hand und warf ab und zu Tomaten aus ihrem Füllhorn mit der linken, und dabei schrie sie die Freier an: »Rettet euch! Ich bin zu gefährlich!«

Darauf hatten Pipers Gegner offenbar nur gewartet, denn sie nahmen die Beine in die Hand, um dann einige Meter weiter bergauf vor Verwirrung zu erstarren und sich wieder in den Kampf zu stürzen.

Der griechische Tyrann Hippias ging mit hoch erhobenem Dolch auf Piper los, doch sie knallte ihm einen köstlichen Braten voll vor den Latz. Hippias taumelte rückwärts in den Brunnen und schrie, als er zerfiel.

Ein Pfeil zischte pfeifend an Jasons Gesicht vorbei. Er blies den Pfeil mit einem Windstoß weg, hieb eine Schneise durch eine Reihe von Schwerter schwingenden Gespenstern und sah, wie sich ein Dutzend Freier beim Brunnen zusammentat, um Annabeth zu erledigen. Er hob den Wurfspeer in die Luft. Ein Blitzstrahl wurde von der Speerspitze zurückgeworfen, ließ die Geister zu Ionen zerfallen und hinterließ einen rauchenden Krater an der Stelle, wo die Fundamente des Brunnens gewesen waren.

In den vergangenen Monaten hatte Jason viele Schlachten ausgefochten, aber er hatte vergessen, was es für ein Gefühl war, in einem Kampf einfach gut zu sein. Natürlich hatte er noch immer Angst, aber ein gewaltiges Gewicht war ihm von den Schultern genommen worden. Zum ersten Mal, seit er in Arizona ohne irgendwelche Erinnerungen zu sich gekommen war, fühlte Jason sich ganz. Er wusste, wer er war. Er hatte sich seine Familie ausgesucht, und die hatte nichts mit Beryl Grace oder mit Jupiter zu tun. Zu seiner Familie gehörten alle Halbgötter, die an seiner Seite gekämpft hatten, römische und griechische, neue Freunde und alte. Er würde seine Familie von niemandem zerstören lassen.

Er rief die Winde herbei und schleuderte drei Ghule wie Stoffpuppen vom Hügelkamm. Er spießte einen vierten auf, dann befahl er seinem Speer, wieder zum Schwert zu schrumpfen, und hackte sich seinen Weg durch eine weitere Geistergruppe.

Bald standen ihm keine weiteren Feinde gegenüber. Die restlichen Geister verschwanden von selbst. Annabeth erledigte Hasdrubal den Karthager, und Jason machte den Fehler, sein Schwert in die Scheide zu stecken.

Schmerz loderte in seinem Kreuz auf – so scharf und kalt, dass er glaubte, die Schneegöttin Chione habe ihn berührt.

Michael Varus fauchte ihm ins Ohr: »Als Römer geboren, nun stirb auch als Römer!«

Die Spitze eines goldenen Schwertes durchschnitt Jasons T-Shirt gleich unterhalb seines Rippenbogens.

Jason fiel auf die Knie. Pipers Schrei schien meilenweit entfernt zu sein. Er kam sich vor wie in Salzwasser versunken – sein Körper war schwerelos, sein Kopf trieb hin und her.

Piper kam auf ihn zugerannt. Er sah zerstreut zu, wie ihr Schwert über seinen Kopf jagte und Michael Varus’ Rüstung mit einem metallischen Ka-tschunk durchschnitt.

Ein Ausbruch der Kälte teilte Jasons Haare von hinten her. Staub sank um ihn herum herab, und ein leerer Legionärshelm rollte über die Steine. Der böse Halbgott war nicht mehr da – aber er hatte einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

»Jason!« Piper packte seine Schultern, als er zur Seite kippte. Er keuchte auf, als sie das Schwert aus seinem Rücken zog. Dann legte sie ihn vorsichtig auf den Boden und bettete seinen Kopf auf einen Stein.

Annabeth stürzte zu ihnen. Sie hatte am Hals einen scheußlichen Schnitt.

»Götter!« Annabeth starrte die Wunde in Jasons Bauch an. »Oh, Götter!«

»Danke«, stöhnte Jason. »Ich hatte schon Angst, es könnte schlimm sein.«

Seine Arme und Beine kribbelten, als sich sein Körper auf Krisenmodus umstellte und alles Blut in seine Brust schickte. Der Schmerz war dumpf, was ihn überraschte, aber sein T-Shirt war rot durchtränkt. Die Wunde rauchte. Er war ziemlich sicher, dass Schwertwunden nicht zu rauchen hatten.

»Alles wird gut.« Piper sagte das wie einen Befehl. Ihr Tonfall ließ ihn ruhiger atmen. »Annabeth, Ambrosia!«

Annabeth setzte sich in Bewegung. »Ja. Ja. Hier.« Sie durchwühlte ihre Tasche und wickelte ein Stück Götterspeise aus.

»Wir müssen die Blutung stoppen.« Piper nahm ihren Dolch, um einen Stoffstreifen von ihrem Kleid zu schneiden. Sie riss den Streifen in schmalere Verbände.

Jason fragte sich, warum er so viel Erste Hilfe brauchte. Piper verband die Wunden in seinem Rücken und seinem Bauch, während Annabeth ihm winzige Ambrosiastücke in den Mund schob.

Annabeths Finger zitterten. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, fand Jason es seltsam, dass sie jetzt durchdrehte, wo Piper doch so ruhig blieb. Dann ging es ihm auf – Annabeth konnte es sich leisten, Angst um ihn zu haben. Piper konnte das nicht. Sie konzentrierte sich ganz und gar darauf, ihn zu retten.

Annabeth gab ihm noch ein Stückchen Ambrosia. »Jason, ich … es tut mir leid. Das mit deiner Mom. Aber wie du das gemacht hast – das war so tapfer.«

Jason versuchte, nicht die Augen zu schließen. Jedes Mal, wenn er das tat, sah er, wie der Geist seiner Mutter zerfiel.

»Sie war es nicht«, sagte er. »Jedenfalls kein Teil von ihr, den ich hätte retten können. Ich hatte keine andere Wahl.«

Annabeth holte zitternd Atem. »Keine andere richtige Wahl vielleicht, aber … ein Freund von mir, Luke. Seine Mom … Das war ein ähnliches Problem. Er ist nicht so gut damit umgegangen.«

Ihre Stimme versagte. Jason wusste nicht viel über Annabeths Vergangenheit, Piper dagegen schaute sie voller Besorgnis an.

»Ich habe es so fest verbunden, wie ich konnte«, sagte sie. »Aber da kommt noch immer Blut durch. Und der Rauch. Das kapier ich nicht.«

»Kaiserliches Gold«, sagte Annabeth mit zitternder Stimme. »Für Halbgötter tödlich. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis …«

»Alles wird gut«, erklärte Piper energisch. »Wir müssen ihn aufs Schiff zurückbringen.«

»So schlecht geht es mir gar nicht«, sagte Jason. Und das stimmte. Die Ambrosia hatte seinen Kopf klar werden lassen. Wärme sickerte in seine Glieder zurück. »Vielleicht könnte ich fliegen …«

Jason setzte sich auf. Vor seinen Augen wurde alles blassgrün. »Oder vielleicht auch nicht …«

Piper griff nach seiner Schulter, als er zur Seite kippte. »Meine Güte, Fünkchen. Wir müssen die Argo II rufen und Hilfe holen.«

»Du hast mich schon lange nicht mehr Fünkchen genannt.«

Piper küsste seine Stirn. »Bleib bei mir, und ich beleidige dich, so viel du willst.«

Annabeth sah sich in den Ruinen um. Der magische Glanz war verflogen und nur zerfallene Mauern und Ausgrabungslöcher waren noch übrig. »Wir könnten die Notraketen nehmen, aber …«

»Nein«, sagte Jason. »Leo würde den Hügel mit seinem Griechischen Feuer skalpieren. Vielleicht kann ich gehen, wenn ihr mir helft …«

»Kommt nicht in Frage«, widersprach Piper. »Das würde zu lange dauern.« Sie suchte in ihrer Gürteltasche und zog einen kleinen Spiegel heraus. »Annabeth, kannst du das Morse-Alphabet?«

»Natürlich.«

»Leo auch.« Piper reichte ihr den Spiegel. »Er sieht sicher vom Schiff aus herüber. Geh an den Rand …«

»Ich blitze zu ihm rüber! Gute Idee.«

Sie lief an den Rand der Ruinen.

Piper zog eine kleine Flasche Nektar hervor und ließ Jason trinken. »Jetzt mal unter uns. Du wirst nicht an einem blöden Piercing sterben.«

Jason schaffte ein müdes Lächeln. »Wenigstens war es diesmal keine Kopfverletzung. Ich war den ganzen Kampf über bei Bewusstsein.«

»Du hast an die zweihundert Feinde besiegt«, sagte Piper. »Du warst umwerfend.«

»Ihr habt ja auch geholfen.«

»Ein bisschen, aber … he, bleib bei mir.«

Jasons Kopf sackte nach unten. Die Risse in den Steinen zeichneten sich deutlicher ab.

»Bisschen schwindlig«, murmelte er.

»Mehr Nektar«, befahl Piper. »So. Schmeckt’s?«

»Ja. Ja, gut.«

Der Nektar schmeckte eigentlich wie flüssiges Sägemehl, aber das behielt Jason für sich. Seit er im Haus des Hades sein Prätorenamt abgelegt hatte, schmeckten Nektar und Ambrosia nicht mehr wie sein Lieblingsessen aus Camp Jupiter. Es war, als ob die Erinnerung an sein altes Zuhause ihn nicht mehr heilen könnte.

Als Römer geboren, nun stirb auch als Römer, hatte Michael Varus gesagt.

Er sah den Rauch an, der aus seinem Verband hervorquoll. Er hatte ärgere Sorgen als den Blutverlust. Annabeth hatte Recht, was das Kaiserliche Gold anging. Das war tödlich für Halbgötter und für Monster. Die Wunde, die die Klinge des Varus ihm geschlagen hatte, würde sich alle Mühe geben, um Jasons Lebenskraft verströmen zu lassen.

Er hatte schon einmal einen Halbgott daran sterben sehen. Es war kein schöner Anblick gewesen und war nicht gerade schnell gegangen.

Ich darf nicht sterben, rief er sich in Erinnerung. Meine Freunde brauchen mich.

Die Worte des Antinoos hallten in seinen Ohren wider – über die Riesen in Athen, die unmögliche Reise, die der Argo II bevorstand, den geheimnisvollen Jäger, den Gaia losgeschickt hatte, um die Athena Parthenos abzufangen.

»Reyna, Nico und Trainer Hedge«, sagte er. »Sie sind in Gefahr. Wir müssen sie warnen.«

»Das machen wir, sowie wir wieder an Bord sind«, versprach Piper. »Im Moment musst du ganz ruhig bleiben.« Ihr Tonfall war locker und zuversichtlich, aber in ihren Augen standen Tränen. »Außerdem sind die drei ein harter Haufen. Denen passiert schon nichts.«

Jason hoffte, dass sie Recht hatte. Reyna hatte so viel riskiert, um ihnen zu helfen. Trainer Hedge war manchmal ganz schön nervig, aber er war der ganzen Mannschaft ein treuer Beschützer gewesen. Und Nico … um den machte Jason sich ganz besondere Sorgen.

Piper fuhr mit dem Daumen über die Narbe auf seiner Lippe. »Wenn der Krieg erst vorbei ist, dann kommt für Nico alles in Ordnung. Du hast getan, was du konntest, du warst ihm ein echter Freund.«

Jason wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte Piper nichts über seine Gespräche mit Nico erzählt. Er hatte Nicos Geheimnis für sich behalten.

Aber … Piper schien zu spüren, was los war. Als Tochter der Aphrodite merkte sie vielleicht, wenn jemand mit Liebeskummer kämpfte. Sie hatte Jason aber nicht gedrängt, darüber zu sprechen. Das wusste er zu schätzen.

Eine weitere Welle des Schmerzes ließ ihn aufstöhnen.

»Konzentrier dich auf meine Stimme.« Piper küsste ihn auf die Stirn. »Denk an etwas Gutes. Geburtstagskuchen in diesem Park in Rom …«

»Das war schön.«