Das Böse, das im Herzen schläft - Erin Kelly - E-Book

Das Böse, das im Herzen schläft E-Book

Erin Kelly

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Beschreibung

Wie weit würdest DU gehen, um das zu schützen, was du liebst ...

Die Familie MacBride versammelt sich jeden November auf ihrer abgelegenen Farm in Devon. Doch dieses Mal ist alles anders. Nicht nur der Tod der Mutter, auch Eheprobleme und andere Krisen belasten die Geschwister Sophie, Tara und Felix. Ausgerechnet dieses Jahr hat Felix eine neue Freundin mitgebracht: Kerry scheint ein wenig seltsam, auch wenn sie sich größte Mühe gibt, von allen gemocht zu werden. Als man sie für einige Stunden mit Sophies kleiner Tochter im Haus alleinlässt, verschwinden die beiden spurlos. Noch ahnen die MacBrides nicht, wen sie da in ihrer Mitte aufgenommen haben – und dass ein tödlicher Racheplan seinen Lauf nimmt, dessen Ursprung viele Jahre zurückliegt ...

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Seitenzahl: 540

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Buch

Die Familie MacBride versammelt sich jeden November auf ihrer abgelegenen Farm in Devon. Doch dieses Mal ist alles anders. Nicht nur der Tod der Mutter, auch Eheprobleme und andere Krisen belasten die Geschwister Sophie, Tara und Felix. Ausgerechnet dieses Jahr hat Felix eine neue Freundin mitgebracht: Kerry scheint ein wenig seltsam, auch wenn sie sich größte Mühe gibt, von allen gemocht zu werden. Als man sie für einige Stunden mit Sophies kleiner Tochter im Haus allein lässt, verschwinden die beiden spurlos. Noch ahnen die MacBrides nicht, wen sie da in ihrer Mitte aufgenommen haben – und dass ein tödlicher Racheplan seinen Lauf nimmt, dessen Ursprung viele Jahre zurückliegt ...

Weitere Informationen zu Erin Kelly sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Erin Kelly

Das Böse, das im Herzen schläft

Thriller

Aus dem Englischen von Rainer Schmidt

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »The Burning Air«

bei Hodder & Stoughton

An Hachette UK Company

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung September 2013

Copyright © der Originalausgabe 2013 by Erin Kelly

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagfoto: Leslie Garland Picture Library/Alamy; JMP Stock/Alamy

Redaktion: Gerhard Seidl

AB · Herstellung: Str.

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-10446-7

www.goldmann-verlag.de

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Für– aber nicht über– meine Mutter.

MRSBINGLEY: Aber Inspektor, er ist doch noch ein Junge!

INSPEKTORGOOLE: Wir alle sind Jungen für unsere Mütter.

J. B. Priestley, Ein Inspektor kommt

LYDIA

EINS

Saxby Cathedral School

15. Januar 2013

Ich betrachte dies als Geständnis und Entschuldigung. Ich schreibe es heimlich, während Rowan auf der Arbeit ist. »Der letzte erste Tag eines Frühlingstrimesters«, sagte er beim Frühstück. »Mein Jahr der letzten Male ist halb um.« Er meint natürlich das Schuljahr. Für ihn beginnt das Jahr nicht, wenn der neue Kalender anfängt, sondern im September, wenn die Schule sich wieder füllt. Nach fünfzig Jahren hier ist er stolzer Bestandteil der Institution. Ich werde nicht hier sein, wenn er im Juli in den Ruhestand geht. Auch für mich sind dies Tage der letzten Male. Ich habe meine letzte Weihnachtsgans gegessen, mein letztes »Auld Lang Syne« gesungen und meinen letzten Besuch in Devon gemacht.

»Genieße den Tag, Liebling«, sagte er, als er seinen Talar überzog und die einzige Krawatte geraderückte, die er je besessen hat.

Ich habe gewartet, bis die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte und ich seine Schritte hörte, als er quer über den Hof ging. Dann habe ich mich ins Bett geschleppt, wo ich drei Stunden lang döste und von meinem einzigen noch übrigen ersten Mal träumte, von meiner ungeborenen Enkelin. Belebt von der verheißungsvollen Aussicht auf sie bin ich aufgewacht. Ich werde sie sehen. Ich werde sie im Arm halten.

Gegen Mittag bin ich aufgestanden, habe ein bisschen Suppe heruntergewürgt und dann weitergeschrieben. Ich habe inzwischen Mühe, den Stift zu halten. Meine Handschrift ist zu dem zittrigen Gekritzel einer alten Dame geworden, und die wackligen Buchstaben lassen ein Alter vermuten, das die Schreiberin gar nicht mehr erreichen wird.

Dieses Tagebuch sieht genauso aus wie die paar Dutzend Bände, die ihm vorausgegangen sind und in denen ich alles von meiner Heirat bis zu meinem Eintritt ins Richterinnenamt aufgezeichnet habe. Ich habe über alles geschrieben, was mir je wichtig war. Über alles mit Ausnahme der Sache. Es ist ein so schönes Buch, und es ist schade, dass ich es nach dem Schreiben werde vernichten müssen.

Ich bin gezwungen zu schreiben, dem Risiko der Entdeckung zum Trotz. Ich kann nicht sagen, warum. Ich weiß nur, dass dieser Zwang seit meiner Diagnose bei mir ist und täglich an Kraft gewinnt– Vergleiche mit dem Tumor sind von grimmiger Unausweichlichkeit. Bevor ich geschrieben habe, kann ich nicht wissen, ob ich den Worten Zeit geben werde, auf dem Papier zu atmen, oder ob ich das Papier aus der Bindung reiße, bevor die Tinte trocknen kann. Aber ich weiß, dass andere Augen als die meinen das alles niemals lesen dürfen. Ich werde dafür sorgen, dass es nicht geschieht.

Es ist merkwürdig, aber in gewisser Weise wäre es mir lieber, mein Geständnis würde öffentlich gemacht, als dass es von meiner Familie gelesen wird. Unser Ansehen würde leiden, meine Karriere bei Gericht würde noch im Rückblick unterminiert und Rowans Beziehung zur Schule ebenfalls. Aber darüber hinaus– nichts. Damit meine ich: keine Verurteilung. Das Gesetz, gegen das ich verstoßen habe, ist ein relativ geringfügiges, und ohnedies läuft das Ganze auf den glitschigen Fisch namens Absicht hinaus. Solange die Justiz nicht lernt, Gedanken zu lesen, werde ich nicht bestraft.

Das Urteil der Öffentlichkeit ist nichts im Vergleich mit dem, was Rowan und die Kinder von mir halten würden, wenn sie meinen Bericht lesen dürften. Das Ansehen ist eine Sache, die Familie eine ganz andere. Die Familie ist wichtig. Es würde sie vernichten, jeden Einzelnen aus einem anderen Grund. Nicht meine Eitelkeit, sondern die Liebe zu ihnen veranlasst mich, ihr Bild von mir als anständiger und wahrheitsliebender Frau zu erhalten.

Natürlich war es die Liebe zu meinen Kindern, die Liebe zu meinem Sohn, die mich handeln ließ– die mich tun ließ, wie ich es getan habe. Ein Mangel an Urteilskraft. Hätte ich geahnt, was für schreckliche Konsequenzen meine Entscheidung haben würde, hätte ich anders gehandelt. Aber als ich die Folgen erkannte, war es zu spät.

In meinen Jahren als Richterin habe ich sämtliche Ausreden gehört. Keine davon kann ich in Anspruch nehmen. Ich war nicht jung, ich war nicht arm, ich war nicht ungebildet. Die Mutterschaft war meine einzige Ausrede. Ich habe versucht, das Richtige für meinen Sohn zu tun, und das hat mich vorübergehend blind für die inneren Gesetze gemacht, nach denen zu leben ich immer bemüht war. Wir alle wollen das Beste für unsere Kinder, aber ich habe die Grenze zwischen schützendem und strafbarem Tun überschritten.

Die Uhr der Kathedrale hat eben zweimal geschlagen. Ich habe heute keine Zeit mehr zum Schreiben, wenn ich meinen Termin einhalten will. Ich schäme mich für die Erleichterung, die ich empfinde. Mein Geständnis wird warten müssen, auf ein Morgen, auf einen anderen meiner geborgten Tage. Jetzt werde ich mein Tagebuch verschließen und mir ein Taxi rufen, das mich in die Klinik bringt. Ich muss wieder zu Hause sein, bevor Rowan überhaupt erfährt, dass ich weg war.

Der Arzt missbilligt meine Entscheidung, die Krankheit vor meiner Familie zu verheimlichen. Aber warum soll ich sie monatelang vorauseilende Trauer durchleiden lassen? Ich glaube nicht, dass die Kenntnis meiner Diagnose sie auf das Leben ohne mich vorbereiten würde, wie ich es in gewisser Weise– zumindest mit meinen Kindern– an jedem Tag ihres Lebens getan habe. Eine gute Mutter liebt mit Inbrunst, aber letzten Endes erzieht sie ihre Kinder dazu, ohne sie zu gedeihen. Für die Mutter müssen die Kinder das Wichtigste im Leben sein, aber wenn die Mutter es für die Kinder ist, dann hat sie versagt.

SOPHIE

ZWEI

29. Januar 2013

Es heißt, man vergesse den Schmerz, und das Überleben der Art hänge davon ab.

Am Morgen redete Sophie sich immer noch ein, es sei kein Schmerz, sondern ein Gefühl. Alles eine Frage der Wahrnehmung. Man musste es als intensives Gefühl umdeuten, als notwendigen Bestandteil des Prozesses, und dann würde es nicht wehtun. Vor dem Eingang der Klinik blieb sie stehen, atmete ein, atmete aus und ließ sich das Gefühl erleben, das ohnehin nur ein falscher Alarm war, Übungswehen vor dem Beginn des Eigentlichen, völlig normal. Einatmen, ausatmen, aufrichten, weitermachen.

Saxby Wellhouse Hospital war im Stil der viktorianischen Hochgotik erbaut: Wenig natürliches Licht gelangte durch die Spitzbogenfenster in das Atrium, das riesig war wie eine Kathedrale. Der Fliesenboden war abgenutzt von schlurfenden Füßen, deren Besitzer, Patienten und Verwandte, die Lippen bewegten wie im stillen Gebet. Eine junge Schwester in OP-Kleidung legte ihr die Hand auf den Arm und fragte: »Ist alles in Ordnung, meine Liebe? Suchen Sie die Entbindungsstation?«

Sophie schaute hinüber zu dem schimmernden weißen Korridor, der in den modernen Anbau mit den Kreißsälen führte.

»Nein danke.«

Mit bleischwerem Herzen ging sie unbeirrt weiter hinein in die dunkle Architektur, die das Gegenteil der Geburt beherbergte. Vor dem Aufzug standen Leute Schlange, aber sie traute sich auch gar nicht zu, in dieser Enge still zu stehen, nicht einmal für diese kurze Fahrt in den zweiten Stock. Die Treppenstufen waren flach, und ihre Hebamme hatte sie dazu ermuntert, aktiv zu bleiben. Sie war froh über diesen Vorwand, zu gehen, zu zappeln, die unablässige Bewegung aufrechtzuerhalten, die, wie sie manchmal glaubte, das Einzige war, das sie daran hinderte, laut zu schreien. Mit der linken Hand zog Sophie sich hinauf, die rechte lag auf ihrem Bauch. Das Geländer war alt und glatt von langer Abnutzung; nur manchmal stießen ihre Finger gegen eine Messingschraube, die irgendein Spielverderber aus dem 19.Jahrhundert in das Holz gedreht hatte, damit man nicht darauf hinunterrutschen konnte. Auf halbem Wege blieb sie stehen, um wieder zu Atem zu kommen, und beruhigt fühlte sie die harten Tritte, mit denen das Baby protestierte. Wenn die Wehen wirklich im Gange waren, wurden sie langsamer. In der Zeitspanne eines Lidschlags zwischen ihrem Kollaps und dem Abgleiten in diesen lebenden Tod hatte Lydia geschworen, sie werde am Leben bleiben, bis das Baby zur Welt kam. Sophie hatte es so verstanden, dass die Ankunft des Babys ihr erlauben werde zu sterben, und sie würde mit Vergnügen für alle Zeit im neunten Monat schwanger bleiben, wenn das nötig wäre, um ihre Mutter am Leben zu erhalten.

Sie ging über die blanke Terracotta-Strecke der allgemeinen Onkologie-Station hinweg und geradewegs zu dem kleinen Privatzimmer am Ende des Korridors. Rowan und die anderen waren schon da. Die Körpermaße der Verwandten stimmten nicht, sie erschienen grotesk: Lydia war in der Nacht noch weiter geschrumpft. Ihre Gestalt war ein knochiges Z unter einer Art Zellstoffdecke, wie man sie benutzen würde, um ein Baby in seinem Bettchen zuzudecken. Auch Rowan wirkte irgendwie verkleinert; sein Kopf war zu klein für den Körper, der wie gefaltet in einem Sessel saß. Tara erschien noch stattlicher als sonst und sah aus wie Felix’ Mutter, nicht, als sei sie nur ein Jahr älter als er. Die Aussicht auf Mutterlosigkeit hatte sich auf die beiden unterschiedlich ausgewirkt. Sie war um ein Jahrzehnt gealtert, und die Verwerfungen der mittleren Jahre hatten sich um Augen und Mund eingegraben. Felix dagegen war wieder zu dem nagelkauenden Teenager mit den großen Augen geworden, der er gewesen war. Sophie, rund wie ein Ei, aus dem bald das Leben platzen würde, ließ sich auf den harten Stuhl neben ihrer Mutter sinken. Angestrengt beugte sie sich vor und streifte Lydias Wange mit den Lippen. Der violette Bluterguss rund um die Infusionsnadel an Lydias Hand schien seit gestern noch größer geworden zu sein.

»Wie geht’s ihr, Dad?«, fragte Sophie. »Warst du die ganze Nacht hier?«

Rowan nickte.

»Weiß sie, dass wir hier sind?« Sophie spürte die Panik wie Sodbrennen in der Brust. Was wäre, wenn Lydia nicht mehr fähig wäre, richtig zu kommunizieren? Würde das bedeuten, dass sie sich schon voneinander verabschiedet hatten?

»Das wissen wir nicht«, sagte Tara. »Sie ist immer nur fünf Minuten an einem Stück wach, und dann ist sie nicht klar. Manches von dem, was sie dann von sich gibt, ist zum Piepen.«

»Es ist überhaupt nicht lustig«, fauchte Felix. »Sie war wirklich unglücklich. Und sie hat solche Schmerzen. Fast wünschte ich…«

»Sag es nicht, Fee«, unterbrach Sophie ihn. Sie hielt die Hand ihrer Mutter, wie sie es als Kind getan hatte, an ihrem Hochzeitstag, bei der Geburt ihrer Söhne, und sie drückte sie sanft. Zwar hatte sie keine Reaktion erwartet, aber sie war doch enttäuscht, als keine kam.

Alle vier blieben den ganzen Tag da, und abwechselnd eilten sie in die Cafeteria am anderen Ende des Gebäudes und holten Kaffee und Sandwiches, die Rowan ignorierte, Felix auseinanderpflückte, Sophie herunterwürgte und Tara restlos verputzte. Die anderen wollten nicht zulassen, dass Sophie auch ging; sie solle ihre Kräfte sparen, erklärten sie hartnäckig und hörten nicht zu, wenn Sophie ihnen zu erklären versuchte, sie habe überschüssige Kräfte, die sie anscheinend überhaupt nicht aufbrauchen könne. Bei ihren häufigen Ausflügen zur Toilette tätigte sie verbotene Anrufe bei Will, dessen Stimme wie Balsam war. Auch er war auf vernichtende Nachrichten gefasst, aber er war nicht blutsverwandt mit Lydia, und anders als der Rest ihres engsten Familienkreises hatte er in seinem brechenden Herzen noch Platz für sie, um ihr dort eine Stütze zu geben. Nach dem Auflegen machte sie ihrem Schmerz mit knappem, gemessenem Schluchzen Luft, mit Einheiten der Trauer, die jeweils gerade groß genug waren, um bis zur nächsten zu halten.

Als sie wieder am Krankenbett war, ordnete Sophie die sonnenuntergangsfarbenen Tulpen auf dem Nachttisch neu und hoffte, die leuchtenden Farbkleckse würden den Blick ihrer Mutter auf sich ziehen können, wenn sie sich das nächste Mal rührte. Als es Zeit wurde, die Jungen abzuholen, war Lydia immer noch nicht richtig aufgewacht, aber ihre Atmung hatte sich verändert und war schneller und flacher geworden. Sophie hatte ein großes Verlangen danach, sich auf das erbarmungswürdig geräumige Bett zu legen und ihren Bauch an Lydias Rücken zu schmiegen, aber sie hatte Angst, irgendeinen lebenswichtigen Schlauch oder Draht abzureißen. Stattdessen begnügte sie sich damit, den Kopf auf das Kissen zu legen und zu flüstern: »Ich liebe dich.« Die Kraft der Gefühle eines ganzen Lebens stand hinter diesen Worten, und doch wirkten sie ohnmächtig.

Auf dem Gang begegnete sie einer Schwester.

»Ist es heute so weit? Was meinen Sie?«, fragte Sophie. »Sie keucht, als ob sie einen Berg hinaufsteigen würde. Ist das ein Anzeichen?«

»Sie wissen doch, dass ich das nicht sagen kann«, antwortete die Schwester freundlich. »Manchmal steht es auf Messers Schneide, und dann geht es wieder gut. Aber etwas scheint sie heute aufgeregt zu haben, und sie werden oft so, kurz bevor sie versterben. Als ob sie es wüssten. In den letzten Stunden kommt dann oft eine Art Frieden. Es klingt sonderbar, aber auf seine Art kann es sehr schön sein.« Sie legte den Kopf schräg. »Aber wie geht es Ihnen?«

»Meinen Sie mich oder das Baby?«

»Beide.« Die Schwester lächelte. »Wissen Sie schon, was es wird?«

»Ein Mädchen«, sagte Sophie.

»O wie schön. Eine Tochter«, sagte die Schwester.

Tochter. Das Wort hörte sich an wie etwas, das sie selbst war, nicht etwas, das sie bekommen würde.

»Im Ernst… Geben Sie acht auf sich?«

»Oh, machen Sie sich keine Sorgen um mich«, sagte Sophie. »Ich komme zurecht.« Sie war froh, dass keiner ihrer Verwandten dabei war, um sie zu korrigieren.

Im Auto zog wieder ein Krampf fächerförmig über Kreuz und Bauch. Zehn Minuten später raubte ihr sein Echo noch einmal den Atem, aber sie holte Toby und Leo aus der Vorschule und dann Charlie aus dem benachbarten Kindergarten, als wäre nichts weiter. Zu Hause lag die Post in der Diele verstreut. Mit einem wackligen Plié bückte sie sich, um sie aufzuheben. Sie legte Rechnungen und Bankauszüge auf das Sideboard und blieb stehen, um den letzten Brief zu betrachten. Der Umschlag war dick und steif wie bei einer Grußkarte. Von wem mochte er sein? Es war noch zu früh, sowohl für Glückwünsche als auch für Beleidsbekundungen. Der Lärm von drei kleinen Jungen, die einander prügelten, übertönte den Fernseher und ihre Gedanken. Sie legte den Brief beiseite, krempelte die Ärmel hoch und schickte sich an, den Schiedsrichter zu spielen.

Jungen, Abendbrot, Bett. Ehemann, Essen, Sofa. Als es zehn Uhr geworden war, konnte Sophie nicht länger so tun, als sei dies ein Probelauf. Es waren Wehen, und es ging damit viel schneller voran als bei ihren früheren Geburten. Zu Will sagte sie nichts. Er fläzte sich vor dem Fernseher und sah Newsnight, einen Brandy in der Hand, die langen Beine, immer noch in Nadelstreifen, von sich gestreckt. Müde sah er aus. Er hatte sich am Morgen rasiert, aber auf seinen Wangen lag ein blauschwarzer Schatten wie Staub. Er hatte ebenfalls eine lange Nacht vor sich, und sie wusste, er war leichter zu beherrschen, wenn die Aussicht auf die bevorstehende Vaterschaft ihn noch nicht mit Adrenalin versorgt hatte. Während er fernsah, tappte sie im Haus umher und schaltete alle bis auf die kleinsten, sanftesten Lichter aus. Im Halbdunkeln fühlte sie sich geschützt. Einatmen, ausatmen. Kein Schmerz, sondern ein Gefühl.

Sie räumte den bereits aufgeräumten Schreibtisch auf, der ihr schon als Teenager gehört hatte und jetzt als Telefontisch diente, und sah Briefe durch, Briefe über Sporttage, Elternabende, Schulmützen. Die alten zerknüllte sie, die anderen, noch aktuellen, strich sie glatt. Sie strich mit der Fingerspitze über den Buchstaben D, ein neues Graffito in der Tischplatte, Künstler unbekannt, und schob die Reihe der Bücher gerade, die an der Tischkante standen, Bücher, an denen sie in dem kurzen Leben zwischen dem Abschied von der einen Familie und der Erschaffung der anderen geschrieben hatte. Eine Sekunde lang wünschte sie sich zurück nach London– kinderlos, erfolgreich und mit unsterblichen Eltern.

Das Schrillen des Telefons riss sie in die Gegenwart zurück.

»Sie ist immer noch unverändert«, sagte Tara. »Redet immer noch Unsinn… Okay. Ich gehe nach Hause, um ein paar Stunden zu schlafen und nach Jake zu sehen. Morgen früh bin ich wieder da. Dad schläft heute Nacht dort, damit sie nicht allein ist.«

»Gibt’s was Neues?«, rief Will. Das war der anerkannte Euphemismus für: »Ist sie jetzt tot?«

»Keine Veränderung.«

Er klopfte mit der flachen Hand neben sich auf das Sofa und streckte ihr die Arme entgegen. Sie sehnte sich nach seiner Umarmung, aber sie zögerte, zu ihm zu gehen. Ohne Abstand würde er gleich wissen, dass das Kind unterwegs war, und dann würde sie selbst die Augen nicht länger davor verschließen können.

Der ungeöffnete Brief fiel ihr wieder ein. Sie wühlte in der Schreibtischschublade nach ihrem Brieföffner, einem kleinen Dolch, der ihrer Großmutter gehört hatte. Sie schlitzte das Papier auf und fand keine Grußkarte, sondern ein paar hochglänzende Schwarz-Weiß-Fotos. Die ersten beiden waren verschwommen; sie erkannte menschliche Gestalten, umrahmt von einem Fenster, aber nicht viel mehr. Sie schaltete die Deckenlampe ein. Jedes Bild in der Reihe war klarer als das vorige, als habe der Fotograf sich seinem Motiv jedes Mal um einen Schritt genähert oder als habe er ein Stück weiter herangezoomt. Als Sophie beim fünften und letzten Bild angekommen war, sah sie zumindest eine der Gestalten nicht mehr verschwommen, sondern in beweiskräftiger Schärfe, und das Gesicht war so erkennbar wie bekannt. Nein. Nein. Nein, nein, nein. Sie starrte das Foto an und hoffte, es werde sich irgendwie in etwas Schönes verwandeln, in ein Meerespanorama, ein Familienporträt, einen blühenden Baum. Erst dann erkannte sie das Datum, digitalisierte Ziffern in der unteren rechten Ecke des Bilds. Ein Stechen, vielleicht eine neue Wehe, vielleicht auch nicht, ließ sie auf die Knie sinken, und die Fotos fielen ihr aus der Hand, ein stumpfes Schiefergrau vor den Blau- und Rosttönen des Perserteppichs.

Will war auf den Beinen und dann bei ihr auf den Knien, und sein Gesicht war vor Schrecken ausdruckslos.

»Soph? Hat es angefangen?« Er griff nach dem Autoschlüssel, nahm die Krankenhaustasche, stellte sie wieder hin, nahm sein Telefon. »Soll ich Ruth anrufen?«

Er wusste nicht, dass er ertappt worden war, und paradoxerweise verlieh ihm das eine Art Unschuld. Dieser merkwürdige Gedanke ritt auf dem Wellenkamm des bisher stärksten Gefühls. Mit klauenförmiger Hand griff sie nach dem schlimmsten der Bilder.

»Was ist… was ist das?«

Will fasste das Foto mit Daumen und Zeigefinger. In seinem Gesicht sah Sophie Entsetzen, Fassungslosigkeit und wieder Entsetzen. Er taumelte regelrecht zurück, bis er fast wieder im Wohnzimmer war.

»O Gott, zum Teufel«, sagte er. »Ich kann das erklären…«

Sophie ließ sich auf Hände und Knie sinken. Will kam mit ausgestreckten Armen wieder auf sie zu. Sie winkte ihn weg.

»Hör zu, wir können später darüber reden«, sagte er, »aber jetzt bringe ich dich in die Klinik.«

»Nein!«, sagte Sophie mit einer Heftigkeit, die ihren ganzen Körper erschauern ließ. »Nein! Ich will nicht… Ich lasse mich von Ruth fahren. Und wenn du mitkommst, sage ich, du bist gewalttätig, ich sage, du bist betrunken, und ich erlaube nicht, dass sie dich hereinlassen. Wenn es sein muss, lasse ich die Polizei rufen. Das meine ich ernst, Will.«

Er wurde still. Sie sah, dass sie ihn verwundet hatte. Gut. Sie sah auch, dass er überlegte, ob er ihre Vergangenheit gegen sie verwenden sollte. Schlecht. Er öffnete den Mund, und in der Sekunde des Zögerns, bevor er sprach, fauchte sie: »Wag es ja nicht.«

Sie sah ihm an, dass er sie nicht herausfordern würde. Vielleicht wusste sie nichts von dem, was er schon getan hatte, aber was er tun würde, konnte sie immer noch voraussehen. Immer noch auf den Knien sammelte sie die Fotos ein und steckte sie ins Seitenfach ihrer Krankenhaustasche.

Eine neue Welle von Schmerz rollte heran. Kein Gefühl, sondern Schmerz, ein unbezwingbarer Schmerz, der ihre Glieder zittern und vor ihren Augen alles verschwimmen ließ. Die Welt schrumpfte auf diesen Schmerz zusammen, der sie von allen Seiten attackierte. Sie kapitulierte davor. Sie hatte ihn genauso wenig unter Kontrolle wie alles andere.

DREI

Freitag, 1. November 2013

Sie hatten auf ihrer Reise nach Devon den Punkt erreicht, wo der Kampf darum, dass die Kinder endlich einschliefen, zu Ende ging und das Spiel begann, sie möglichst wachzuhalten, bis sie ihr Ziel erreichten. Es war Halbzeit, und ihre Aufregung steuerte allzu früh dem Höhepunkt entgegen. Will öffnete alle Fenster. Hier und da wehte der Wind von Guy-Fawkes-Feuern in der kalten Abendluft. Nachdem sie dem Radio behutsam zugeredet hatte, fand Sophie einen Sender, der beschwingte Musik spielte, und sie drehte die Lautstärke auf, um die beharrlichen Molltöne von Charlies Gequengel zu übertönen.

Die vertraute Straße nach Far Barn war diesmal mit Zweifeln und Angst gepflastert. An diesem Wochenende zusammenzukommen und Lydias Asche zu verstreuen war zum Zeitpunkt der Verabredung eine gute Idee gewesen. Je näher es heranrückte, desto klarer wurde, dass Zeit und Geschichte, Ort und Zweck jeweils die Last eigener Bedeutungen in sich trugen, die in ihrer Summe unerträglich sein würden. Die Familie hatte die Feiern zur Guy-Fawkes-Nacht immer ebenso ernsthaft betrieben wie das Weihnachtsfest und besuchte jedes Jahr am ersten Sonntag im November das Volksfest in Ottery St. Mary. Neben dem riesengroßen Feuer und einer Kirmes fand dort das Rollen der Teerfässer statt, ein Volksbrauch, bei dem auf Gesundheit und Sicherheit gepfiffen wurde und dessen Ursprünge vom Rauch der Jahrhunderte verschleiert waren. Die Einheimischen tobten durch die engen georgianischen Straßen und trugen lodernde Teerfässer auf den Schultern. Sophie schloss die Augen und stellte sich die Stadt vor: die Ladenfassaden, die sich seit ihrer eigenen Kindheit kaum verändert hatten, die immer gleichen, freundlichen alten Gesichter, die Pubs. Fast konnte sie den Geruch des Holzfeuers riechen, den Schießpulverdunst des Feuerwerks. Die Tradition war ihr tröstlich erschienen, als sie dieses lange Wochenende arrangiert hatte, aber jetzt wünschte sie, sie hätte eine Villa irgendwo im Ausland ausgesucht, etwas Helles und Neutrales. Far Barn hatte natürlich den Vorteil der Vertrautheit, aber es hatte auch den Nachteil der Vertrautheit. Es würde jede Menge Schatten geben, aber keine Möglichkeit, sich zu verstecken.

»Geht’s dir gut?«, fragte Will. Im Beifahrerspiegel warf sie einen Blick auf den Rücksitz. Toby hörte zu.

»Mir geht’s prima!«

Wills Hand streifte die ihre, als er schaltete. Instinktiv zuckte sie zurück und strafte ihre eigenen Worte Lügen. Dieses Wochenende sollte den fragilen Waffenstillstand in ihrer Ehe auf die erste wirkliche Probe stellen. Heute Nacht und während der ganzen Zeit würde sie in einem Bett mit ihm schlafen müssen. Das weckte ihre Nervosität, eine groteske Parodie auf das Flattern vor dem ersten Date. Sie schlang die Arme um den Oberkörper und spielte mit dem Gedanken daran, Felix, der immer als Letzter nach oben und ins Bett ging, zu fragen, ob er auf sein Zimmer verzichten und auf dem Sofa pennen könnte, aber das würde bedeuten, dass sie Erklärungen abgeben müsste.

Die Straße verengte sich auf eine Spur, als es ins Tal hinabging, und wurde so steil, dass es in den Ohren der Kinder knackte. Als sie bis auf eine Meile an die Scheune herangekommen war, schien es, als drückten die Hecken ihr übergroßes Auto die Straße entlang wie ein Blutgerinnsel in einer Ader. Zweige stachen mit Hexenfingern durch die Fenster, sodass die Jungen in einer Mischung aus Entsetzen und Vergnügen quietschten, und Edie machte ihre Geräusche nach. Der Wegweiser nach Far Barn, weiße Buchstaben auf einer schwarzen Holztafel, war unleserlich verblichen, aber die Scheune bekam nur noch selten neue Besucher zu sehen. Will bog nach rechts auf den ausgefahrenen Feldweg ein, der ihr Land mit dem Rest der Welt verband.

Die Scheune war ein schwarzer Klotz in einer dunklen, wolkenverhangenen Nacht. Das einzige Licht- oder Lebenszeichen waren die Reflexionen ihrer Scheinwerfer in den leeren Fenstern und im Glanz der ebenholzschwarzen Schindelwände. Kein anderes Auto war zu sehen. Es war normal, dass sie alle einzeln von Saxby nach Devon fuhren, aber dass die Woodfords als Erste ankamen, war ungewöhnlich. Sophie sah Will an und formte mit lautlosen Lippenbewegungen die Worte: »Er sollte hier sein. Er hätte heute Morgen hier ankommen sollen.«

»Vielleicht wurde er irgendwie aufgehalten«, mutmaßte Will.

Wodurch? Seit Rowan die Schule verlassen hatte, an der er als Junge gelernt und als Mann gelehrt hatte, und in den Ruhestand gegangen war, drehte sein ganzes Leben sich um den Rest seiner Familie. Die pflichtbewusste Hingabe, die er Hunderten von Schülern hatte zuteilwerden lassen, konzentrierte sich jetzt destilliert auf seine vier Enkel– die allesamt Schüler der Cath waren, sodass die Trennung von der Schule nicht absolut gewesen war– und auf Edie, deren Geburt oft der einzige Grund zu sein schien, weshalb sie überhaupt noch alle aufrecht standen. Ohne Übertreibung konnte man sagen, er lebte für sie alle, und ihre Bedürfnisse und Gewohnheiten formten seine eigenen. Es war beunruhigend, dass er nicht in der Tür stand, mit ausgebreiteten Armen und strahlendem Lächeln.

Toby und Leo öffneten ihre Sicherheitsgurte, als Will den Wagen ausrollen ließ, und dann sprangen sie hinaus und hängten sich an die Klinke der mächtigen Eingangstür.

»Nicht, es ist abgeschlossen«, rief Sophie, aber Toby hatte die Tür schon geöffnet, und die Dunkelheit hatte ihn verschluckt. Leo folgte ihm dicht auf den Fersen. Sophie wand die dösende Edie aus ihrem Sitz und drückte sie an sich, während Will sich um Charlie kümmerte, und folgte den Jungen in die Scheune. Trotz der Dunkelheit war es drinnen warm, ja stickig. Die Radiatoren verströmten den Geruch von brennendem Staub, wie sie es immer taten, wenn sie in dieser Jahreszeit zum ersten Mal eingeschaltet wurden. Einer der Jungen stieß ein Geheul wie ein Geisterzug aus.

Sophie machte drei kleine Schritte vorwärts und strich über die kahle Wand, bis ihre Fingerspitzen den Lichtschalter gefunden hatten. Sie blinzelte, während ihre Augen sich nicht nur an das Licht, sondern auch an die Dimensionen des Hauses gewöhnten, und wie immer genoss sie die kurzen Minuten nach einer Ankunft, in denen es wieder ein gewisses Maß an Neuartigkeit bekam. Der Innenraum war vom Boden bis zur hohen Decke von einem Geflecht aus Balken und Streben durchzogen, und die satten Rottöne von Sofas, Teppichen und Wandbehängen vermittelten den Eindruck, man stehe im Bauch eines mächtigen Ungeheuers. Sophies Blick wanderte zu einem gerahmten Familienfoto, aufgenommen in einem Sommer, in dem sie etwa sieben und die anderen noch im Babyalter gewesen waren. Es war wie ein Stein, der in den stillen Teich ihrer Trauer geworfen wurde, und sie zwang sich, woanders hinzuschauen.

Sie ließ den Blick wieder durch das Wohnzimmer wandern, und jetzt suchte sie nach Schuhen, Mänteln, Büchern, Tassen, nach irgendeinem Anzeichen dafür, dass kürzlich jemand hier gewesen war.

Eine weitere Stalltür am hinteren Ende des Wohnzimmers führte in den Anbau, in dem die Küche untergebracht war. Auch sie lag im Dunkeln. Eine steile Treppe an der rechten Wand führte auf den alten Heuboden, der in Schlaf- und Badezimmer aufgeteilt worden war. Die Schlafquartiere waren so eng, wie der Wohnraum hallenartig geräumig war. Die freigelegten Streben und Tragbalken und die hohe Decke des Hauptraums waren auf Kosten der oberen Zimmer erhalten geblieben. Ein Korridor verband eine Reihe von benachbarten Schlafkammern und Bädern, die sperrig unter der Dachschräge klemmten, durchsetzt von Fallen– unebenen Böden, niedrigen Decken, winzigen Türen. Sophie knipste das Licht auf der Treppe an: nichts. Wo war er?

Mit großer Feierlichkeit fing Toby an, die antike Standuhr aufzuziehen, die dem Kamin gegenüber an der Wand stand. Dieses Ankunftsritual hatte er zu seinem eigenen gemacht. Nach getaner Arbeit wurde er wieder zum Kind und schloss sich seinen Brüdern an, die Purzelbäume über die Sofas schlugen und im Slalom um wackelnde Stehlampen rannten.

Die Scheune, daran musste Sophie jetzt wieder denken, war ein Albtraum für frisch gebackene Eltern. Sie waren ganz sicher gewesen, dass Charlie ihr Letzter sein würde, aber jetzt mussten sie das ganze Anwesen schon wieder babysicher machen, wahrscheinlich noch bevor sie heute zu Bett gingen. Wo hatten sie nur all die Steckdosendeckel und Kaminschirme hingeräumt? Ich muss Mum fragen, dachte sie reflexhaft, und eine einzelne, ätzende Träne brannte in ihrem Augenwinkel. Edie seufzte, und behutsam legte Sophie sie in den großen Sessel, dankbar für die Fähigkeit ihrer Tochter, jeden Wechsel vom Sofa zum Bett, vom Kindersitz zum Arm einfach zu verschlafen.

Ein dumpfer Schlag von oben verriet ihr, dass Leo und Charlie den Weg ins obere Stockwerk gefunden hatten. Das Geräusch schien senkrecht herunterzukommen, was vermuten ließ, dass sie in Rowans Zimmer waren, aber das musste nicht zwangsläufig so sein. Die Stimme der Scheune folgte gewundenen Wegen; manche Räume waren völlig schalldicht, andere regelrechte Flüstergalerien, in denen gedämpfte Gespräche klar und deutlich anderswo ankamen. Diese Bauchrednerkunst war einmal ein Teil ihres Charmes gewesen, aber heutzutage wusste Sophie gern genau, wo ihre Kinder sich aufhielten, und fast genauso wichtig war es ihr, dass alle wussten, dass sie es wusste.

Die Tür zur Schmutzdiele stand offen, aber von hier aus war nicht zu erkennen, ob dort etwas durcheinandergebracht worden war. Gummistiefel und gewachste Jacken aus drei Generationen waren in Regale gestopft und an Haken gehängt worden, lagen auf dem Boden verstreut und türmten sich auf dem klobigen Wasch- und Trockenautomaten, dem einzigen Gerät von moderner, teurer, energieeffizienter Technologie in diesem Haus. Der müde alte Küchenherd hatte seinen Charme wie auch der Flötekessel und sogar der rumpelnde alte Kühlschrank, aber diese Maschine musste in der Lage sein, die Sachen der Kinder so schnell zu waschen und zu trocknen, wie diese sie schmutzig machen konnten. Wenn sie sich anzogen, um hinauszugehen, pflegte jeder sich das nächstbeste Stück zu greifen, sodass Sophie nie wusste, ob sie am Ende den alten, stockfleckigen Barbour ihres verstorbenen Großvaters oder eine moderne Gore-Tex-Jacke abbekommen würde.

In der Küche verschwand der Geruch von brennendem Staub unter etwas Stärkerem– so als sei hier kürzlich ein Feuer angezündet worden; aber als Sophie die Hand an den Herd legte, berührte sie kaltes Eisen. Das Küchenfenster hatte keinen Vorhang, und man spiegelte sich darin. Die Doppelverglasung lieferte noch ein Geisterbild von Sophies Gesicht; alles war zweimal zu sehen, auch die violetten Tümpel ihrer Augenhöhlen und die Falten, die ihren Mund einklammerten. Ein kleines weißes Gesicht drängte sich zwischen ihren Rippen hervor wie ein Ding aus einem Horrorfilm. Erst einen Augenblick, nachdem sie geschrien hatte, wurde ihr klar, dass es Toby war und dass er hinter der Scheibe draußen im Garten war. Toby schrie zurück.

Will nahm den Schlüssel aus der Hintertür und ließ Toby herein.

»Ich habe Grandpa gefunden.«

Draußen war es dann klar, woher der Brandgeruch kam: Mitten im Garten glühte die Asche eines großen Feuers. Das Küchenfenster malte eine Raute aus Licht auf den Boden, und in einer der vier Ecken saß Rowan zusammengesunken auf einem Liegestuhl, dessen Kissen fehlte. Er hielt ein Portweinglas in der Hand, in dem die dunkelrote Flüssigkeit klebte. Seine Brille saß schief auf der Nase.

»Dad, wieso versteckst du dich hier draußen? Wo ist dein Auto?«

»Hinten an der Rückseite.« Ein Strom von Äther spülte die Worte hervor. Rowans Stimme klang belegt, und seine Zähne waren violett. Er war zutiefst, ja, spektakulär betrunken.

Sophie war erstaunt. Natürlich hatte sie ihn schon beschwipst erlebt, nach dem Essen oder auf einer Hochzeit, aber einen Rausch dieses Ausmaßes, einen solchen Kontrollverlust hatte sie noch nie gesehen. Er hatte doch gewusst, dass die Kinder kommen würden. Was hatte er sich nur gedacht? Gegen ihren Willen regte sich Verachtung in ihr.

Seine Zunge war schwer, aber seine Halbsätze waren präzise.

»Deine Mutter. Nicht, was ich dachte. War ein Fehler. Ich kann das nicht ohne. Nichts ist richtig.«

»Oh, Dad.« Sophie wusste, dass sie sich den Atem sparen konnte. Die Vernunft war ertrunken. »Schau, wir alle vermissen Mum, aber früher oder später mussten wir doch zusammenkommen, oder?«

Rowan stand auf, und Asche rieselte von seiner Kleidung, als er vorwärtstorkelte. Das Glas rutschte ihm aus den Fingern und zerbrach auf den Steinplatten. Er trat auf die Scherben, als wäre es Sand. »Will meine Enkelkinder sehen. Einzige Anständige, was noch da ist. Einzige Sinn. Der einzige Grund.«

»Verflucht noch mal, Dad, pass doch auf, wo du…«

»Toby!«, brüllte Rowan. Das silbrig blonde Haar, das normalerweise von den Schläfen nach hinten gekämmt war, fiel ihm in die Augen.

»Dad, nein.«

»Du kannst mich nicht aufhalten«, sagte er mit knurrendem Unterton, und einen Augenblick lang war er nicht zu erkennen. »Toby? Komm her, mein Junge. Leo? Charlie? Edie, Schätzchen? Wo ist das Baby? Wo ist mein Mädchen?« Er taumelte seitwärts und fiel krachend gegen die Wand. Sophie hatte so etwas noch nie gesehen. Keinem anderen Mann auf der ganzen Welt brachte sie so viel Vertrauen und Bewunderung entgegen. Er war der einsame Hüter ihrer verwundeten Werte, und jetzt wartete sie so unsicher auf seine nächste Bewegung, wie sie es bei einem Betrunkenen auf der Straße getan hätte, bei einem Fremden.

Bevor sie Will rufen konnte, war er bei ihr.

»Tauschen wir die Plätze?«, fragte er und sagte dann zu Rowan: »Was hast du vor? Willst du den Garten in Brand setzen? Das können wir alles morgen machen. Es ist nicht nötig, dass du den Boden vorbereitest. Lass uns eine Kanne Kaffee kochen, ja? Sophie bringt die Kinder jetzt ins Bett. Besser, du siehst sie morgen.«

Rowan sackte zusammen wie eine Marionette, bei der man die Fäden durchgeschnitten hatte, und grunzte leise und gehorsam.

Sophie war gekränkt, weil Will erfolgreich war und sie nicht, aber gegen ihren Willen war sie dankbar für seine Hilfe. Sie trieb die Jungen nach oben, und Edie rührte sich an ihrer Schulter, als sie ihnen folgte.

Toby trödelte absichtlich langsam als Letzter hinauf, und das bedeutete, dass er vorhatte, um ein aus der Luft gegriffenes Ältesten-Privileg zu bitten. »Kann ich aufbleiben, bis Jake kommt? Bitte?«, bat er.

»Nein, Schatz. Vielleicht kommen sie erst gegen Mitternacht. Du kannst noch das ganze Wochenende mit deinem Cousin zusammen sein.«

Toby maulte, aber er fügte sich, und Sophie sah mit Genugtuung, dass ihre Autorität zumindest in diesem Bereich noch anerkannt wurde. Wie immer sollten die Jungen in dem schrägen Zimmer über dem Garagenanbau schlafen, das als Bunker bekannt war. Sie hatte es immer deprimierend gefunden mit diesem einen Schlitz, durch den das Tageslicht einfiel, und den stark geneigten Wänden; und die schmalen Stahlrohrpritschen hatten etwas Schäbiges, Militärisches, aber anscheinend war es das, was die Jungen daran liebten. Dank der von der örtlichen Baufirma übereifrig angebrachten Isolierung war es das molligste Zimmer im ganzen Haus und nahezu vollständig schalldicht, selbst wenn die Tür offen stand. Wenn sie geschlossen war, war die Schallisolierung dermaßen effizient, dass sie Edies Babyfon aufstellen musste für den Fall, dass Charlie in der Nacht nach ihr rufen sollte. Die Standuhr schlug zur Viertelstunde, als sie oben war, aber der Klang drang kaum hinauf, und die Gesichter ihrer Söhne ließen nicht erkennen, dass sie das Schlurfen und Rülpsen draußen im Korridor gehört hatten, als Will mit Rowan vorbeigekommen war.

Sie hakte ihren BH auf und fing an, Edie zu stillen. Ruhig saß sie da, und ihre Kinder atmeten immer langsamer und regelmäßiger. Nacheinander überschritten sie die Grenze zum Schlaf, und Sophie spürte, wie sie sich körperlich mit ihnen entspannte. Im Schlaf waren die Jungen genauso unterschiedlich wie im wachen Zustand. Leos Schlaf war das reglose Koma des körperlich Erschöpften. Toby drückte die Faust an die gefurchte Stirn– ein träumender Philosoph. Charlie war wie immer der Letzte, der wegdämmerte, und auch dann war er nervös und unruhig. Seine Hände machten kleine Greifbewegungen, als melke er eine Kuh, und sein Mund formte lautlose Worte.

Sophie schloss die Tür des Bunkers hinter sich, legte Edie mit ihrem Schlafsack, den sie nachts anstelle von Bettzeug benutzte, mitten in ihr eigenes Bett und zog den Reißverschluss hoch. Sie war erhitzt und ein bisschen feucht, wo sie sich in Sophies Armbeuge geschmiegt hatte. Eine einzelne platinblonde Locke lag wie ein Gutenachtkuss auf der geröteten Wange.

Sophie ging durch den Korridor zurück, vorbei an dem Zimmer, das ihre Eltern sich immer geteilt hatten. Von drinnen kam ein tiefes, dröhnendes Schnarchen. Will hatte Rowan Schuhe und Socken ausgezogen und ihn mit dem Federbett zugedeckt, aber das hatte er wieder abgeworfen. Der Pullover war hochgerutscht und hatte seinen weichen, behaarten Bauch entblößt, und das Kopfkissen war feucht von seinem blasslila Speichel. Ihren starken, tüchtigen Vater so hilflos wie ein Baby zu sehen war ebenso verwirrend wie abstoßend, fand sie. Sie fragte sich, ob dieses Besäufnis wirklich so ungewöhnlich war, wie es aussah. Hatte er angefangen, stark zu trinken, und war sie von den Geschehnissen daheim so sehr in Anspruch genommen worden, dass sie es nicht bemerkt hatte?

Das Zimmer selbst sah beunruhigend und unvertraut aus, als sei es geplündert worden. Tatsächlich aber war nichts durcheinandergeworfen. Sophie brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass genau darin das Problem lag: Das charakteristische Chaos von Lydias Bewohnerschaft war beseitigt worden. Dort in der Ecke lagen alle ihre Fotos und Gemälde mit der Vorderseite nach unten übereinandergestapelt, und obenauf lag das kleine Samtetui mit ihrem MBE-Orden.

Rowan mochte ihr Vater sein, aber es war ein mütterlicher Impuls, der sie veranlasste, das Federbett über seine Schultern hinaufzuziehen und ihn zuzudecken. Etwas Glänzendes lag neben ihm auf dem Kissen. In Größe und Form glich es einer Dose Pulverkaffee. Sie beugte sich darüber und fuhr dann zurück, als sie die kleine silberne Urne erkannte, die die Asche ihrer Mutter enthielt. Sie sah sie zum ersten Mal seit der Bestattung. Als sie sie mit dem Zeigefinger berührte, stellte sie mit lächerlicher Überraschung fest, dass sie sich kalt anfühlte. Asche, kein Fleisch. Trotzdem legte sie die Urne sorgfältig in die Mitte des Kopfkissens und strich die Bettdecke darüber glatt.

Rowans gegenwärtiger Zustand und seine frühere Betrübnis ergaben jetzt einen Sinn. Vielleicht war es noch zu früh. Vielleicht würde es immer zu früh sein. Was war denn mit dem Ritual des Ascheverstreuens überhaupt erreicht? Lydia würde es nicht zurückbringen. Sollte er mit seiner Frau noch eine Nacht dort verbringen, wo sie immer am glücklichsten gewesen waren. Sollte er sich doch für den Rest seines Lebens an ihre staubige Asche klammern, wenn er sich nicht davon trennen konnte, ohne selbst so klein zu werden.

VIER

Wenn Far Barn nur wenige technologische Zugeständnisse an das 21. Jahrhundert machte, so nahm es viele der im späten 20. erzielten Durchbrüche fast gar nicht zur Kenntnis. Es gab keinen Fernseher. Es gab ein Telefon für Notfälle, einen altmodischen Apparat mit einem geringelten Kabel und schmuddeligen Drucktasten. Mobiltelefone waren hier nutzlos. Die Scheune lag tief im Tal, und dank Lydias ausgedehnter Kampagnenarbeit gegen die Errichtung eines Funkmastes auf dem Gipfel einer nahe gelegenen Anhöhe musste man, um Netzkontakt zu finden, in jede Himmelsrichtung fünf Minuten mit dem Auto oder eine Viertelstunde zu Fuß durch offenes Gelände zurücklegen. Es gab einen alten Plattenspieler mit einem Einzel-Kassettendeck und einem unzuverlässigen -Radio. Das Gehäuse bot im unteren Teil Raum für s und enthielt eine Sammlung von Vinylplatten, die zu Anfang der Achtzigerjahre abrupt endete. Sophie blies den Staub von einem alten Fleetwood-Mac-Album und ließ die Nadel ungeschickt in die Mitte des ersten Stücks fallen.

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