3,99 €
Hamburg, Januar 1980: Das Böse schleicht durch die vereisten Straßen Hamburgs. Es entführt Kinder. Als die Leiche einer Elfjährigen gefunden wird, treibt allein das Wegner fast an den Rand des Wahnsinns. Selbst Hauptkommissar Kallsen verliert seine übliche Gelassenheit. Denn auch, wenn ein Schuldiger schnell gefunden zu sein scheint, schlägt das Böse erneut zu. Jeder Tag bringt neues Grauen mit sich, das anfangs noch völlig willkürlich erscheint. Aber ist das tatsächlich so …? (Jeder Wegner-Fall ist eine in sich abgeschlossene Geschichte. Es kann jedoch nicht schaden, auch die vorangegangenen Fälle zu kennen ...;)
Lektorat/Korrektorat: Michael Lohmann
Aus der Reihe Wegners erste Fälle:
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2022
Das Böse
Wegners erste Fälle (5. Teil)
von Thomas Herzberg
Alle Rechte vorbehalten
Fassung: 2.0
Cover: Titel: secretgarden / photocase.de; Hamburg Skyline: pixelliebe/stock.adobe.com
Covergestaltung (oder Umschlaggestaltung): Marius Gosch, www.ibgosch.de
Die Geschichte ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und/oder realen Handlungen sind rein zufällig. Sämtliche Äußerungen, insbesondere in Teilen der wörtlichen Rede, dienen lediglich der glaubhaften und realistischen Darstellung des Geschehens. Ich verurteile jegliche Art von politischem oder sonstigem Extremismus, der Gewalt verherrlicht, zu selbiger auffordert oder auch nur dazu ermuntert!
Ein großes Dankeschön geht an:
Michael Lohmann (Lektorat, Korrektorat: worttaten.de)
die beste Bärbel von allen (für ihr 2. Korrektorat und viele tolle Ideen)
meine lieben Testleser/Innen Birgit, Lia und Nicolas
Aus der Reihe Wegners erste Fälle:
»Eisiger Tod« (Teil 1)»Feuerprobe« (Teil 2)»Blinde Wut« (Teil 3)»Auge um Auge« (Teil 4)»Das Böse« (Teil 5)»Alte Sünden« (Teil 6)»Vergeltung« (Teil 7)»Martin« (Teil 8)»Der Kiez« (Teil 9)»Die Schatzkiste« (Teil 10)Aus der Reihe Wegner & Hauser (Hamburg: Mord)
»Mausetot« (Teil 1)»Psycho« (Teil 2)Aus der Reihe Wegners schwerste Fälle:
»Der Hurenkiller« (Teil 1)»Der Hurenkiller – das Morden geht weiter …« (Teil 2)»Franz G. - Thriller« (Teil 3)»Blutige Rache« (Teil 4)»ErbRache« (Teil 5)»Blutiger Kiez« (Teil 6)»Mörderisches Verlangen« (Teil 7)»Tödliche Gier« (Teil 8)»Auftrag: Mord« (Teil 9)»Ruhe in Frieden« (Teil 10)Aus der Reihe Wegners letzte Fälle:
»Kaltes Herz« (Teil 1)»Skrupellos« (Teil 2)»Kaltblütig« (Teil 3)»Ende gut, alles gut« (Teil 4)»Mord: Inklusive« (Teil 5)»Mörder gesucht« (Teil 6)»Auf Messers Schneide« (Teil 7)»Herr Müller« (Teil 8)Aus der Reihe "Hannah Lambert ermittelt":
»Ausgerechnet Sylt« (1)»Eiskaltes Sylt« (2)»Mörderisches Sylt« (3)»Stürmisches Sylt« (4)»Schneeweißes Sylt« (5)»Gieriges Sylt« (6)»Turbulentes Sylt« (7)Aus der Reihe "Zwischen Mord und Ostsee":
»Nasses Grab« (1)»Grünes Grab« (2)Weitere Titel aus der Reihe Auftrag: Mord!:
»Der Schlitzer« (Teil 1)»Deutscher Herbst« (Teil 2)»Silvana« (Teil 3)Unter meinem Pseudonym „Thore Holmberg“:
»Marthas Rache« (Schweden-Thriller)»XIII« (Thriller)Weitere Titel:
»Zwischen Schutt und Asche« (Nachkrieg: Hamburg in Trümmern 1)»Zwischen Leben und Tod« (Nachkrieg: Hamburg in Trümmern 2)»E.S.K.E.: Blutrausch« (Serienstart E.S.K.E.)»E.S.K.E.: Wiener Blut« (Teil 2 - E.S.K.E.)»Ansonsten lächelt nur der Tod«
Weitere Titel, Informationen und einen Newsletter-Service gibt es auf meiner Homepage: ThomasHerzberg.de
Thomas Herzberg auf Facebook
Hamburg, Januar 1980: Das Böse schleicht durch die vereisten Straßen Hamburgs. Es entführt Kinder. Als die Leiche einer Elfjährigen gefunden wird, treibt allein das Wegner beinahe an den Rand des Wahnsinns. Selbst Hauptkommissar Kallsen verliert seine übliche Gelassenheit. Und obwohl ein Schuldiger schnell gefunden zu sein scheint, schlägt das Böse erneut zu. Jeder Tag bringt neues Grauen mit sich. Anfangs noch völlig willkürlich, aber ist das tatsächlich so …?
»Das Böse« ist Teil 5 der Serie »Wegners erste Fälle«
(Jeder Wegner-Fall ist eine in sich abgeschlossene Geschichte. Es kann jedoch nicht schaden, auch die vorangegangenen Fälle zu kennen ...;)
Lektorat/Korrektorat: Michael Lohmann - worttaten.de
»Ich war gestern bei deiner Mutter.«
»Du warst was, bitte?« Wegner schaute seine Freundin Coco mit offenem Mund an. Zunächst wollte allerdings nichts mehr herauskommen. Auch, weil die beiden in einem Restaurant saßen und zwei ältere Frauen am Nachbartisch schon lange Ohren bekamen.
»Wir haben zusammen Kaffee getrunken und uns unterhalten, mehr nicht.«
»Mehr nicht«, wiederholte Wegner mit gequälter Stimme. Seine Miene ließ keinen Zweifel daran, was er von diesem – zumindest für ihn – überraschenden Kaffeekränzchen hielt. »Und was ist bei diesem Informationsaustausch herausgekommen?«
»Seitdem du wieder bei ihr wohnst, weiß sie, dass du dich keinen Deut verändert hast. Du bist ein richtiger Pascha, sagt sie.« Coco lachte und bekam sich gar nicht wieder ein. »Außerdem hat sie kein Problem damit, dass ich Tänzerin bin.«
Wegner lachte ebenfalls, biss sich jetzt allerdings auf die Unterlippe, um schnell aufhören zu können. »Mädchen, du bist keine Tänzerin, du arbeitest in einem Stripladen.«
»Und … da … tanze ich!«, betonte Coco Wort für Wort. »Oder wie würdest du es sonst nennen?«
Bevor er antworten konnte, störte der Kellner Wegners Ansinnen, eine exakte Definition zu liefern. Das war vielleicht auch besser so.
»Was darf ich Ihnen bringen?«, fragte der Zwerg mit ausdrucksloser Stimme.
»Ich nehme vorweg den gemischten Salat, dann das Wiener Schnitzel und zum Nachtisch Eis mit heißen Kirschen.« Es war Sonntagabend. Coco hatte das ganze Wochenende gearbeitet und offensichtlich Bärenhunger. Jetzt fuhr sie sich mit der Zunge über ihre rot geschminkten Lippen. Ein Anblick, der dem winzigen Kellner sofort die Schamesröte ins Gesicht trieb. »Und falls ich hinterher noch mehr möchte, melde ich mich schon.« Sie kicherte albern und warf Wegner einen aufmunternden Blick zu. »Was ist denn mit dir los, Manfred? Du siehst ja fürchterlich aus! Bist du plötzlich krank?«
»Krank nicht, aber fast pleite.« Wegner hielt dem Kellner seine Speisekarte entgegen. »Mir reicht das Schnitzel – vielleicht mit ein paar mehr Fritten als beim letzten Mal. Und am besten ’ne Lupe, um das Gemüse zu finden.«
»Wir haben gerade erst Monatsmitte«, flüsterte Coco, nachdem der Kellner mit pikiertem Gesicht und der Bestellung das Weite gesucht hatte. »Was machst du denn mit deinem Geld?«
Wegner stöhnte geräuschvoll, hob dann aber doch zu einer Antwort an: »Schon vergessen? Ich bin Beamter, das ist geregelte Armut.« Er lachte kurz, ohne viel Freude zu versprühen. »Außerdem bin ich im Januar traditionell pleite.«
»Dann lade ich dich heute Abend ein.«
»So weit kommt’s noch!« Wegner sah tatsächlich aufrichtig empört aus. »Bevor mich mein Mädchen zum Essen einladen muss, geh ich lieber los und überfall ’ne Bank.«
Coco kicherte schon wieder. »Okay ... und falls sie dich schnappen, backe ich dir einen Kuchen mit ’ner Feile drin.«
Wegner verzichtete auf eine Antwort und nickte nur mit schiefem Grinsen.
»Ist sonst noch was?«, fragte Coco. In ihrer Stimme schwang ein misstrauischer Unterton mit. Das vorangegangene Thema hatte sie augenscheinlich völlig verdrängt und ging gleich zum nächsten über: »Du hättest nach deinem Wohnungsbrand lieber gleich bei mir einziehen sollen. Erst das Chaos bei deinem Freund Helge, dann die Tage auf Kallsens Sofa und jetzt ...«
»... lebe ich wieder bei meiner Mutter«, vervollständigte Wegner mit einer Stimme, die zu diesem Fazit bestens passte. Trotzdem zuckte er mit den Schultern. »Und?«
»Was soll das heißen, und?« Coco war auf Hochtouren. »Ich habe dir angeboten, dass du auch bei mir wohnen kannst. Aber du wolltest ja nicht!«
Erneut sparte sich Wegner eine Antwort. Diese Taktik war, im Rahmen derartiger Auseinandersetzungen, wohl die schlechteste Wahl. Und weil er beharrlich schwieg, setzte Coco umso energischer nach: »Du willst nicht mit einer Stripperin zusammenleben, richtig?«
»Das hat mit Wollen doch überhaupt nichts zu tun!«, protestierte Wegner nach kurzer Bedenkzeit. »Ich bin Bulle ... da setzt man ein gewisses Verantwortungsbewusstsein voraus. Leider!«
»Wer?«
»Wer, was?«
»Wer setzt dieses Verantwortungsbewusstsein voraus?« Coco hatte offensichtlich nicht vor zurückzuziehen.
»Meine Vorgesetzten.« Wegner tat ein paar schwere Atemzüge und fuhr etwas leiser fort. Die beiden Frauen am Nebentisch lehnten sich mittlerweile in seine Richtung, um nichts zu versäumen. »Wenn ich Glück habe, dann werde ich irgendwann Chef der Mordkommission. Verstehst du?«
»Nö!« Coco schenkte ihm ein künstliches Lächeln. »Wie auch ... ich bin doch nur eine blöde Stripperin. Wie soll ich da ...?«
»Das habe ich weder gesagt noch gemeint, verdammt!« Wegner wollte schon mit der Faust auf den Tisch donnern, schaffte es aber knapp, sich zu bremsen.
Eine ganze Weile beschränkten sich die beiden auf eisiges Schweigen. Am Ende war es Coco, die offensichtlich nicht bereit war aufzugeben. »Du bist Polizist, okay, aber deshalb kann man dich doch noch lange nicht zwingen, auf ein Privatleben zu verzichten. Außerdem vergeht kein Tag, an dem du nicht über deinen Job fluchst.« Sie schenkte Wegner ein halbwegs freundliches Lächeln. »Und vielleicht erinnerst du dich … bei deinem letzten Fall hat man sogar deine Bude angezündet. Wo sind denn jetzt deine tollen Vorgesetzten, die es am liebsten sehen würden, wenn du dir ’ne Freundin im Kloster suchst?«
Zuerst versuchte es Wegner erneut mit einem Schulterzucken. Als ihm klar wurde, dass es sich hierbei um keine gute Idee handelte, lieferte er überhastet eine Antwort: »Wenn du so genau weißt, wie bei uns der Hase läuft, dann frage ich mich, warum du nicht in unserer Führungsetage sitzt.«
»Ist mir zu wenig Kohle!«, gab Coco ganz lapidar zurück. »Außerdem weichst du aus, Manfred. Aber ich hab dich schon verstanden – keine Antwort ist nämlich auch eine Antwort.«
Der Kellner brachte gleich zwei Schüsseln mit Salat. Wahrscheinlich hatte er Wegners Bankrotterklärung gehört und Mitleid mit einem abgebrannten Polizisten.
»Hat deine Hausratversicherung mittlerweile gezahlt?«, erkundigte sich Coco mit halb vollem Mund.
Wegner musste runterschlucken, bevor er antworten konnte: »Der Schwachkopf aus der Schadensregulierung hat irgendwas von Unterversicherung gefaselt. Was das am Ende bedeuten soll, weiß ich nicht.«
»Ganz einfach: Die wollen nicht zahlen. Was sonst?«
»Bei den Tomaten kann man froh sein, wenn man sich keinen Zahn daran ausbeißt.« Wegner schob die halb volle Salatschüssel von sich und schickte ein Lächeln über den Tisch. »Gilt dein Angebot eigentlich immer noch?«
Coco schaute verwundert auf. »Welches Angebot? Ach so ... ich zahle gerne, falls dein Stolz das zulässt.«
»Und ich meinte, ob ich bei dir einziehen kann?«
Wieder herrschte Funkstille. Wegner musste sich einige skeptische Blicke gefallen lassen, bis seine Freundin zu einer Antwort anhob: »Willst du das denn wirklich?«
»Würde ich sonst fragen?«
Sie schüttelte vorsichtig mit dem Kopf. »Und was ist, wenn deine Vorgesetzten von dir verlangen, dass du mit mir Schluss machst?«
»Dann können sie mir mal den Hobel blasen.«
»Klingt gut.«
»Sag ich ja!«
Montagmorgen
»Du stinkst nach irgendeinem Parfum!«
»Nach Parfum stinkt man nicht. Man riecht danach!«, korrigierte Wegner seinen Chef kopfschüttelnd.
»Egal ... halt da rechts hinter den Streifenwagen an!«, fauchte Kallsen.
»Hätte ich sowieso gemacht.« Wegner legte beinahe eine Vollbremsung hin, zögerte aber noch den Motor abzuschalten. »Mein Gott, du hast heute ja wieder eine Laune zum Weglaufen.«
»Ist das ein Wunder? Ich bin nicht mal zu meinem morgendlichen Sch...«
»Danke, das reicht schon!« Wegners guter Laune konnte an diesem Morgen nichts und niemand Abbruch tun. Er hatte eine traumhafte Nacht mit Coco hinter sich. Die einzig negative Konsequenz war Schlafmangel, der sich allerdings erst gegen Mittag bemerkbar machen würde.
»Alles nur, weil du mich in diese Karre gezerrt hast und …« Kallsens Gezeter verstummte abrupt. »Verdammte Scheiße!«, zischte er jetzt.
Die Kommissare standen auf einem Waldweg mitten im Volkspark, hinter zwei Peterwagen. Wegner hatte gerade den Zündschlüssel abgezogen und war mit seinen Habseligkeiten beschäftigt. »Wieso, was ist los?«, fragte er abwesend.
»Siehst du die Gesichter unserer Kollegen?«
Wegners Blick wanderte von einem Uniformierten zum nächsten. Etwa ein halbes Dutzend von ihnen stand querbeet verteilt, allesamt mit hochgestellten Kragen und tief heruntergezogenen Dienstmützen. »Denke, die frieren – oder was meinst du?«
»Das sicher auch«, gab Kallsen mit Grabesstimme zurück. »Aber so sehen die nur aus, wenn’s um Kinder geht.«
»Mir hat man am Telefon bloß gesagt, dass der Hund von ’nem Spaziergänger mitten im Wald ’ne Strickjacke gefunden hat«, erklärte Wegner. »Und ...«
»Wann war das?«, fuhr Kallsen dazwischen.
»Heute Morgen, kurz vor sechs. Die Einsatzleitstelle hat mich aus dem Bett geklingelt. Ich hab denen die Nummer von Coco gegeben, weil ...«
»Lass gut sein!«, unterbrach der Hauptkommissar mit einem wütenden Blick auf seine Armbanduhr. »Es ist fast halb zehn! Das heißt, wir haben jetzt schon zu viel Zeit verloren.«
Wegner tat einen schweren Atemzug und holte von Neuem aus: »Was kann ich denn dafür, wenn du deinen Arsch nicht aus dem Bett bekommst?«
Kallsen tat die Nachfrage mit einer Geste ab, zumindest für ihn schien dieses Thema damit abgehakt zu sein. »Auf jeden Fall haben wir es mit einem toten Kind zu tun. Darauf verwette ich meinen besten Zwirn.«
»Den will auch keiner haben! Aber falls du recht hast, dann …«
»Dann was?«
»Wäre es für mich das erste tote Kind«, gab Wegner kleinlaut zu. Er kämpfte mit einer Kröte, die sich in seinem Hals breitzumachen versuchte. »Ich hab gehofft, es würde länger dauern«, schickte er flüsternd hinterher.
»Kannst du mir mal sagen, wie ich hier aussteigen soll?« Kallsen hatte die Beifahrertür geöffnet und schaute direkt in einen Straßengraben hinunter. Dort stand das Wasser mindestens kniehoch. »Meinst du vielleicht, ich kann fliegen?«
»Wenn, dann wäre das wenigstens mal ’n Fortschritt«, erwiderte Wegner lachend. Kurzentschlossen startete er den Motor und setzte ein paar Meter zurück, bis neben der offenen Beifahrertür wieder halbwegs fester Boden zum Vorschein kam. »Recht so, Euer Gnaden?«
Kallsen ersparte sich eine Antwort. Stattdessen stieg er aus und humpelte kommentarlos davon. Ein Stück entfernt hob ein Mitarbeiter der Spurensicherung das rot weiße Absperrband an, um den Hauptkommissar passieren zu lassen.
Neue Kunden, neue Runden, dachte Wegner und schaute seinem Chef kopfschüttelnd hinterher. So ein Blödsinn – ein paar grimmige Gesichter bedeuteten doch hoffentlich noch lange keine Kinderleiche.
Ein fataler Irrtum, der ihn in den nächsten Tagen nicht nur um seinen Schlaf, sondern auch fast um den Verstand bringen würde.
»Und, was haben wir hier?« Keine zwei Minuten später war Wegner an der Seite seines Chefs angekommen. Der stand zwischen einer Handvoll Birken, direkt vor einer frisch ausgehobenen Grube. Darüber hatten die Kollegen der Spurensicherung ein provisorisches Zelt gespannt.
»Hast du wenigstens meinen Schirm mitgebracht?«, knurrte Kallsen. Für Mitte Januar war es zwar nicht allzu kalt, stattdessen regnete es seit Tagen Bindfäden.
Wegner schüttelte nur mit dem Kopf. Er machte einen weiteren Schritt nach vorne, um ebenfalls einen Blick in die Grube werfen zu können. Mittendrin kniete Hjalmar Kruse, der Leiter der Rechtsmedizin. »Moin, Doktor!« Er ging in die Knie und reichte dem Kollegen die Hand.
Kallsen beließ es bei einem trägen Nicken und räusperte sich lautstark.
Hjalmar Kruse blinzelte nach oben. »Guten Morgen, die Herren!« Er wischte sich mit dem Handrücken Wasser und Schmutz aus dem Gesicht. »Legt ihr Wert auf meine erste Einschätzung?« Seine Stimme klang gequält. Der Teil seines Gesichts, der durch das Loch im Einmal-Overall herausschaute, lieferte den entsprechenden Rest.
»Nö …«, erwiderte Kallsen mit bösem Lachen. »Wir sind nur mal so vorbeigekommen und fahren gleich wieder. Ist mir zu nass heute.«
»Er hat mal wieder mal ’ne Scheißlaune«, nuschelte Wegner und schickte ein vorsichtiges Grinsen hinterher.
»Da hat er auch allen Grund zu!« Hjalmar Kruse hatte sich hochgestemmt. Nur sein Kopf und seine Schultern ragten über den Rand der Grube hinweg. »Wir haben ein totes Mädchen …«
»Wie alt?«, wollte Kallsen sofort wissen.
»Zwischen zehn und zwölf«, kam es genervt zurück. Die Miene des Doktors machte klar, was er von weiteren Unterbrechungen hielt. »Die Kleine hat nicht lange hier gelegen – höchstens ein paar Tage.«
Wegner stand auf der ersten Sprosse einer kurzen Leiter, deren Füße sich schon bedrohlich in den Boden der Grube bohrten. Er wollte gerade den zweiten Schritt machen, als er eine Hand an seinem Arm spürte.
»Wollen Sie sich das wirklich antun, Kollege?« Hjalmar Kruse schüttelte vorsichtig den Kopf, aber das hielt den anderen, der sich die Sache mit eigenen Augen ansehen wollte, von nichts ab.
»Ist sein erstes Mal«, bemerkte Kallsen in seltsamem Tonfall.
Wegner, der am Boden der Grube angekommen war, schaute wutentbrannt zu seinem Chef empor. Dieses Mal verzichtete er allerdings auf einen Kommentar. Seine Augen wanderten über das Erdreich und fanden eine dunkelgrüne Plane, unter der sich ein viel zu kleiner Umriss abzeichnete. »Meinen Sie wirklich, dass die Kleine schon zehn oder zwölf war? Sieht so winzig aus.«
Kruse nickte zuerst nur, lieferte dann aber doch noch eine Erklärung. »Der Täter hat sie in eine Wolldecke gewickelt, ganz stramm. Und ich will das Paket erst komplett öffnen, wenn die Lütte auf meinem Tisch liegt. Nicht, dass ich hier noch etwas übersehe.«
»Lass gut sein, Manni!«, bölkte Kallsen vom Rand in die Grube hinunter. »Das bringt sowieso nichts.«
Wegner ignorierte seinen Chef völlig. Er tat zwei schwere Atemzüge, bevor er in die Knie ging.
»Was die Todesursache betrifft, würde ich auf den ersten Blick von einer stumpfen Gewalteinwirkung gegen den Schädel ausgehen«, erklärte Hjalmar Kruse auf routinierte Weise. Trotzdem war auch dem Rechtsmediziner anzumerken, welche besondere Herausforderung ein totes Kind selbst für ihn darstellte. Sein nächster Satz machte das noch deutlicher: »Kann mir einer von euch sagen, wer so was anrichtet?«
Wegner hatte die Plane ein Stück weit gelüftet und fand den Kopf des Mädchens, der ein Stück aus der Wolldecke herausragte. Er sah lange Haare, die wohl mal strohblond gewesen waren. Jetzt waren sie klitschnass und vom Erdreich völlig verschmutzt. Er zog die Plane noch ein Stück weiter nach unten und legte damit einen geflochtenen Zopf frei. An dessen Ende hing eine leuchtend rote Schleife, mit einem Marienkäfer daran. Wegner griff nach einem der Stoffenden und ließ es durch seine Finger gleiten. Bei dem grenzenlosen Wahnsinn dieser Szenerie kam ihm dieses Teil wie ein Fremdkörper vor. Aber er hätte nicht sagen können, warum.
Kruse und Kallsen tauschten einen Blick. Der endete beiderseits mit stummem Kopfschütteln.
Wegner schaute auf seine Finger, die zitterten. Er hatte diesen Moment natürlich kommen sehen. Sein erstes Mal. Und es war nie die Frage, ob, sondern vielmehr wann ihn seine Arbeit bei der Mordkommission an diesen ultimativen Abgrund führen würde. Jeder Kollege sagte, es sei unmöglich, sich auf solch eine Situation vorzubereiten – auf den Superlativ des Wahnsinns: ein totes Kind.
Sie hatten recht, musste Wegner auf bitterste Weise feststellen. In ihm machten sich Trauer und Wut breit. Eine Wut, wie er sie nie zuvor in seinem Leben verspürt hatte. Vorausgesetzt, dieses Monster würde im nächsten Moment auf der Bildfläche erscheinen – keine Sekunde würde er zögern, dem Mistkerl seinen Kopf herunterzureißen und den auf einen Ast zu spießen.
»Manni, bitte …« Kallsen klang ungewohnt sanft. Mit seiner Prothese konnte er zwar nicht in die Knie gehen, trotzdem streckte er Wegner seine Hand entgegen. »Lass es gut sein … komm da raus! Bitte!«
»Wann wissen wir Näheres über Todesursache und Zeitpunkt?« Wegner stand noch immer mitten in der Grube und starrte Hjalmar Kruse mit leerem Blick an. »Wir müssen uns das Schwein schnappen. Schnellstmöglich!«
»Spätestens heute Abend.«
»Tun Sie mir einen Gefallen …?«
Kruse nickte nur.
»Finden Sie eine Spur zum Täter. Irgendwas!«
»Ich tue mein Bestes – wie immer.«
Zur selben Zeit und nicht weit entfernt
Sarah hatte an diesem Montagmorgen erst zur dritten Stunde Unterricht. Ihre Kunstlehrerin war schon seit Monaten krank. Das verhalf der ganzen Klasse zu einer willkommenen Doppel-Freistunde. Viele ihrer Mitschüler fanden sich trotzdem pünktlich um acht ein. Sie lachten, spielten oder stellten gemeinsam dummes Zeug auf dem Schulhof an.
Aber nicht Sarah.
Sie war zwar neu an der Heinrich-Wolgast-Grundschule in St. Georg, aber nicht neu in Hamburg. Nein! Nur, dass sie bis vor Kurzem – genauer gesagt, bis zum Ende des ersten Halbjahres der vierten Klasse – noch in Sasel zur Schule ging. Im Gegensatz zur Innenstadt wirkte der noble Stadtteil im Hamburger Norden mittlerweile wie ein Märchenland auf sie. Hier in St. Georg, zwischen all dem Lärm, Gestank und all den fremden Leuten, hatte sie sich noch nicht eine einzige Minute wohlgefühlt.
»Mama und ich haben beschlossen, ab sofort getrennte Wege zu gehen.« Das waren die einzigen Worte ihres Vaters gewesen. Vor ein paar Monaten. Direkt nach dem Abendessen. Einfach so.
Zuerst hatte sie gar nicht verstanden, was das bedeuten sollte. Als dann aber Onkel Peter – Mamas Bruder – mit seinem Kastenwagen vorfuhr und Sarahs Kinderzimmer Stück für Stück aus dem Haus schleppte, schwante ihr langsam Böses. Die meisten anderen Möbel blieben notgedrungen zurück. Mama hatte unentwegt geweint und sich geweigert, während der ganzen Aktion auch nur ein einziges Wort zu sprechen. Erst als sie mitten in St. Georg, unweit des Hauptbahnhofs, die Tür der winzigen Zweizimmerwohnung hinter sich zuzog, platzte es regelrecht aus ihr heraus: »Es wird alles gut, Liebes! Glaub mir, wir bekommen das schon hin.«
Sarah hatte viel geweint. Hauptsächlich, weil sie immer noch nichts mit dieser neuen Situation anzufangen wusste. Außerdem wollte sie ihrer Mutter helfen. Aber wie?
Dann kam die neue Schule. Gleich am ersten Morgen war ihr mitten im Unterricht übel geworden und sie musste zur Toilette rennen, um ihr Frühstück wieder auszuspucken. Die Jungs waren allesamt blöd, die Mädchen taten, als wären sie allesamt etwas Besseres. Prinzessinnen, die auf wen oder was auch immer warteten.
Und Sarah?
Sie hätte am liebsten pausenlos nur geheult.
Tage zogen ins Land, dann Wochen, am Ende Monate. Aber in all der Zeit wurde nichts besser, sondern immer schlimmer. Mama hatte nach langem Suchen endlich einen Job gefunden. Sie fing schon morgens um halb sechs in einem Hotel am Berliner Tor an. Sarah hatte ihre Mutter neugierig gefragt, was sie dort machte und als Antwort nur ein einziges Wort bekommen. »Putzen!«
Von diesem Tag an musste Sarah alleine zur Schule marschieren. Im Prinzip störte sie das wenig. Schließlich hasste sie die nervigen Vorträge ihrer Mutter auf dem gemeinsamen Schulweg und noch vielmehr die Küsse, bevor sie endlich ins Schulgebäude schlüpfte.
Am heutigen Morgen steckte kein Pausenbrot in ihrem Ranzen. Stattdessen hatte sie von ihrer Mutter eine Mark bekommen. Dazu den strengen Hinweis, die in etwas Vernünftiges zu investieren. Also stand Sarah in diesem Moment vor dem Schaufenster einer kleinen Bäckerei am Steindamm und betrachtete nachdenklich die Auslage. Für ihre Mark könnte sie leicht zwei Berliner, aber genauso auch zwei Negerkuss-Brötchen kaufen. Das schlechte Gewissen klopfte von innen gegen ihre Stirn. Ob Mama so etwas mit ›vernünftig‹ meinte?
Sei’s drum! Sie hatte Hunger und einen Entschluss gefasst.
»Na … hast du dir schon was ausgesucht?«
Sarah zuckte zusammen. Ihr Kopf wirbelte herum und sie musste sehr weit nach oben schauen, um dort das Gesicht eines Mannes zu finden. Der lächelte ganz freundlich zu ihr hinunter. Viel freundlicher, als die meisten anderen es taten.
»Die Berliner sehen lecker aus«, stellte er etwas zu laut fest. »Ich mag die mit Pflaumenmus am liebsten.« Er schaute Sarah erwartungsvoll an. Vermutlich, um ihren Favoriten herauszufinden.
»Ich darf nicht mit Fremden reden!« Diese Antwort hatte ihr Mama tausendmal eingebläut. Also schaffte sie es, die wie aus der Pistole geschossen zu präsentieren.
»Wie kommst du darauf, dass ich ein Fremder bin?« Der Mann wirkte nicht etwa wütend, sondern vielmehr erstaunt. »Dein Vater schickt mich. Ich soll dich …«
»Woher kennen Sie denn meinen Papa?«
»Wir arbeiten zusammen«, erklang es mit sonorer Stimme.
»Dann arbeiten Sie auch bei Elektro Schlothfeld?«
Der Mann zögerte einen Moment. Dann wurde sein Lächeln noch breiter. »Ganz genau, ich bin einer der Chefs dort.«
»Haben Sie oft mit Papa zu tun?«
»Jeden Tag!« Der Mann lachte. »Deshalb hat er mich ja auch geschickt, um dich abzuholen.«
»Abholen?« Sarah schaute erneut kopfschüttelnd empor. »Ich muss doch zur Schule.«
»Heute nicht.« Der Mann deutete auf die Berliner in der Auslage. »Komm, wir holen uns ein paar und danach fahren wir zu deinem Papa.«
»Können wir ihm auch einen mitbringen? Er mag am liebsten die mit Erdbeermarmelade.« In Sarah machte sich überschäumende Freude breit. Sie hatte keine Lust auf die Schule. Heute noch weniger, weil gleich in der dritten Stunde ein Diktat anstand. Und auf das verzichtete sie mit Freude.
»Erdbeermarmelade?«
Sarah nickte eifrig und machte schon den ersten Schritt in Richtung Eingangstür der Bäckerei.
»Kein Problem!«
***
»Halt an, Manni!«
»Wieso denn? Wir sind doch noch nicht mal aus dem Volkspark raus.«
»Halt an, verdammt!«
Wegner bremste hart. Der rechte Vorderreifen des Audis versank im Morast.
»Ich halt’s nicht mehr aus«, fluchte Kallsen. »Haste Taschentücher dabei?«
Wegner musterte seinen Chef mit angewidertem Gesicht. »Soll das heißen, du willst hier …?«
»Was denn sonst, du Torfkopp? Du hast mich doch in aller Herrgottsfrühe verschleppt, bevor ich überhaupt …«
Wegners Hand schnellte empor und sorgte für Ruhe. Er wühlte in den ausgebeulten Taschen seines Parkas herum und fand dort ein zerknülltes Papiertaschentuch. Aber auch ein Exemplar aus Stoff, kunstvoll bestickt.
Kallsen langte sofort nach Letzterem.
»Das ist von meinem Vater«, empörte sich Wegner. »Sind sogar seine Initialen drauf.«
»Dann passt’s ja.« Kallsen hatte die Tür aufgestoßen und versank mit seinem vorhandenen Fuß augenblicklich im Morast. »Verdammte Scheiße! Ich brauch Hilfe, Manni!«
»Was genau soll das bedeuten?«, erkundigte sich Wegner schon fast ängstlich.
»Na, was wohl? Du musst mich festhalten!«
Nach minutenlangen Diskussionen und Flüchen erklärte sich Wegner bereit, seinem Chef zu helfen. Diese Hilfe beschränkte sich allerdings nur darauf, Kallsen bis zu einem Baumstumpf zu tragen, um ihn dort – glücklicherweise allein – zurückzulassen. Mit langen Schritten floh Wegner danach zum Auto zurück und atmete zum ersten Mal erleichtert aus, als er wieder auf dem Fahrersitz angekommen war. Er musste lachen, weil er sich an die eine oder andere Anekdote im Zusammenhang mit Kallsens Unterschenkelprothese erinnerte. Langweilig wurde es in der Hamburger Mordkommission nie – selbst nach über einem Jahr nicht.
»Ich bin fertig, Manni!«, klang es irgendwann durch den offenen Spalt der Fahrertür. »Sieh zu, dass du mich hier wegholst!«
Eine halbe Minute später stand Wegner vor seinem Chef und konnte es kaum glauben. Schon aus einiger Entfernung hatte er Kallsens lange Unterhosen erkennen können. Gelbbrauner Feinripp, vermutlich ein Modell, das vorm ersten großen Weltkrieg in Mode gewesen war. Kallsens Prothese hatte sich vom Knie gelöst und stand seltsam verdreht ab.
»Kannst du nicht wenigstens deine Hose hochziehen?«, erkundigte sich Wegner mit ungnädiger Stimme.
»Wie denn, du Volltrottel!« Kallsen deutete mit wütender Miene nach unten. Tatsächlich hatte sich seine ausgebeulte Cordhose in der Befestigung seiner Prothese verfangen.
»Boah, das stinkt hier wie …!«
»Halt’s Maul und wirf mich über die Schulter. Ich halt’s auch kaum mehr aus.«
»Was ist mit dem Taschentuch von meinem Vater?«
»Ist da, wo’s hingehört.«
Wegner packte seinen Chef kurzentschlossen und warf ihn sich über die Schulter. Kallsen fluchte wie ein Rohrspatz, weil er zweimal mit seinem Kopf gegen einen Ast donnerte.
»Das hast du absichtlich gemacht!«, moserte er, nachdem er auf dem Beifahrersitz angekommen war.
»Was?«
»Ach ... nichts. Schwing dich hinters Steuer. Du wirst schließlich nicht für Spaziergänge bezahlt!«
»Wie seht ihr denn aus?« Irmgard Maria Block – ihres Zeichens die gute Seele und Schreibkraft der Mordkommission – schaute ihre Kollegen entgeistert an. »Habt ihr euch im Wald verlaufen?«
»Frag nicht!« Wegner ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen. Der wäre unter seinem Gewicht fast zusammengebrochen. Rex war aus seinem Korb aufgesprungen und beschnupperte neugierig sämtliche neu hinzugekommenen Hosenbeine. Der Schäferhund liebte ausgedehnte Spaziergänge. Und wenn die irgendwo im Grünen stattfanden, umso besser.
»Manni hat schlechte Laune«, stellte Kallsen in hämischem Ton fest. »Liegt vielleicht an …«
»… einem toten Mädchen«, beendete Wegner gequält und schenkte seinem Chef einen wütenden Blick.
Auch Irmgards Miene hatte sich merklich verfinstert. »Die Sache im Wald – ich hab den Zettel auf deinem Schreibtisch gefunden, Manfred. Geht’s wirklich um ein totes Kind?«
Wegner nickte nur.
»Ist nicht mal Mittag – trotzdem Kaffee?« Irmgard schlurfte durchs Büro. »Ich hab einen Gugelhupf gebacken, mit Schokolade. Jemand Interesse?«
Die Kommissare nickten synchron.
»Wie alt ist das Mädchen?«, fragte Irmgard, während sie zwei Becher füllte.
»Zwischen zehn und zwölf, meint Doktor Kruse.« Wegner tat einen schweren Atemzug. »Nach dem Kaffee leg ich sofort los.«
»Womit?« Zum ersten Mal an diesem Morgen sah Kallsen ehrlich interessiert aus. »Womit willst du loslegen, Manni?«
»Zuerst mit den Vermisstenanzeigen. Wenn die Lütte tatsächlich seit ’ner Woche tot ist, muss doch jemand Alarm geschlagen haben.« Wegner zuckte mit den Schultern, um seine Ratlosigkeit zu verdeutlichen, was weitere Schritte betraf. »Hast du ’ne andere Idee?«
»Ich knöpf mir kürzlich entlassene Mörder und Vergewaltiger vor«, gab Kallsen ungewohnt energisch zurück. »Und wenn du mit deinen Vermissten fertig bist, fängst du an, unsere alten Fälle zu durchforsten!«
»Was soll das denn bringen?«, fragte Wegner wütend. »Du kannst von mir aus hier im Büro hocken – aber ich will raus an die Front!«
»Und was willst du da ausrichten, Kommissar Hitzkopf?« Kallsen lachte und holte sich mit Blicken Verstärkung bei Irmgard. »Bevor du jemanden verhaftest, solltest du wenigstens wissen, wen.«
»Verhaften?« Wegner lachte und schaute seine Kollegen abwechselnd an. »Du glaubst doch wohl nicht, dass ich so ein Schwein nur verhaften will?«
***
Später Nachmittag. Es wurde bereits dunkel, als Doktor Kruse zwei seiner Studenten in ihren wohlverdienten Feierabend entließ. Hinter allen dreien lag eine von diesen ganz besonderen Obduktionen. Nicht, was das Ergebnis betraf. Vielmehr ging es um das Mädchen, das vor ihm auf dem Metalltisch lag. Im Licht der Neonröhren leuchtete ihr dürrer Körper schneeweiß. Hinzu kam ein typischer Y-Schnitt. Der reichte vom Bauchnabel bis zu beiden Schlüsselbeinen empor und brüllte selbst dem erfahrenen Rechtsmediziner den Wahnsinn und die Endgültigkeit der Situation förmlich entgegen. Ein blutroter Weg, ohne Sinn und ohne Ziel. Nur das Ende stand unumstößlich fest. Und es waren genau solche Momente, in denen sich Hjalmar Kruse wünschte, er hätte sich doch für einen anderen Beruf entschieden. Vielleicht für die Lebenden, anstelle der Toten. Für ein Tagewerk, das jemandem half, womöglich sogar jemanden heilte. Für eine Aufgabe, bei der man nach Feierabend auch gerne ein Stück seiner Arbeit mit nach Hause nahm. Sich freute. Worüber auch immer.
Aber irgendjemand musste den Job ja machen.
Das Telefon riss den Doktor aus seinen Gedanken. Eilig stapfte er an zwei weiteren Metalltischen vorbei und schob sich durch die halboffene Tür in den Glaskasten namens Büro. Fast wäre er noch über einen Karton mit Akten gestolpert, konnte sich jedoch am Schreibtisch festhalten und nach dem Hörer greifen. Und da er, was den Anrufer betraf, schon eine Vermutung hatte, legte er direkt los: »Wir sind gerade fertig geworden.«
Nach kurzem Zögern war Wegners Stimme zu hören. Und selbst wenn es nur ein einzelnes Wort war, verhieß allein das eine Mischung aus Verzweiflung, Wut, aber auch zaghafter Zuversicht: »Und?«
»Wäre vielleicht besser, wenn ich Ihnen das persönlich erkläre«, sagte Doktor Kruse leise. »Könnte sogar sein, dass wir einen ersten Hinweis haben.«
***
Wegner hatte gerade erst aufgelegt, da platzte die logische Frage aus Kallsen heraus: »Und, was sagt Jalle?«
»Er kommt gleich rüber.«
»Und?«
Wegner hob den Kopf und schaute seinen Chef ungnädig an. »Bist du schwerhörig? Er kommt gleich rüber!«, dröhnte es Wort für Wort durchs Büro.
Kallsen wartete mit seiner Antwort noch einen Moment ab, denn Irmgard war auf dem Weg ins Archiv, um dort ein paar verstaubte Akten aufzutreiben, die zum aktuellen Fall passen könnten. Erst als sich die Tür hinter der Schreibkraft geschlossen hatte, holte der Hauptkommissar tief Luft. »Pass mal auf, Jungchen!« Kallsens Gesicht veränderte sich auf dramatische Weise. »Ich lasse dir hier einiges durchgehen, weil du hin und wieder ganz gute Arbeit leistest ...«
»Aber?« Wegner klang vorsichtig. Er wusste bereits, was die Stunde geschlagen hatte.
»Ich bin nicht dein Popanz! Und ich lasse mich von dir weder rumschubsen noch beleidigen. Ist das klar?«
Wegner nickte und verzichtete vorsichtshalber auf jegliche Antwort.
»Und falls du’s genau wissen willst … wenn es um Kindermörder geht, dann platzt mir auch schnell die Hutschnur. Aber das ändert nichts daran, dass ich dein Chef bin!«
»Ist in Ordnung«, gab Wegner kleinlaut zurück.
Einen Moment lang war nur das Atmen der beiden Männer zu hören. Am Ende war es ein Anruf, der einen der beiden wenigstens vor einer weiteren Breitseite bewahrte. »Willst du lieber ...?« Wegner deutete auf das Telefon und zuckte mit den Schultern.
Kallsen lachte. »Leg los, Jungchen! Einer wie du muss hier noch was für sein Geld tun.«
Das Gespräch dauerte nicht mal zwei Minuten. Als der Hörer wieder auf die Gabel fiel, sah Wegner aus, als würde er sich das Telefon am liebsten schnappen und es aus dem Fenster werfen.
»Gibt’s kein Mädchen, auf das die Beschreibung passt?« Kallsen hatte natürlich nur Bruchstücke der Unterhaltung mitbekommen. Die wesentlichen Fakten schienen ihm jedoch nicht entgangen zu sein. Deshalb nickte Wegner nur und ließ seinen Chef fortfahren: »Was ist da mit der anderen Lütten?«
»Heute Nachmittag war eine Frau auf der Wache in St. Georg«, erklärte Wegner nach kurzem Zögern. »Normalerweise kommt solch ein Fall noch gar nicht in die Vermisstenkartei – aber die Frau ist wohl völlig ausgeflippt. Sie ist sich hundertprozentig sicher, dass ihrer Tochter etwas passiert sein muss.«
Kallsen zuckte mit den Schultern. Das kam der Aufforderung nach weiteren Informationen gleich.
»Die Lütte heißt Sarah Urban, ist gerade mal elf und heute Morgen nicht in ihrer Schule aufgetaucht.«
»Scheiße!«
»Das kannst du laut sagen.« Wegner saß kopfschüttelnd an seinem Schreibtisch und vergrub das Gesicht in den Händen. »Wir müssen irgendwas tun.«
Kallsen langte nach dem Hörer.
»Was hast du vor?«, wollte Wegner wissen.
Anstelle einer Antwort blökte sein Chef schon ins Telefon. »Bei euch wurde heute ein Mädchen als vermisst gemeldet.« Eine kurze Pause entstand. »Was du nicht sagst, du Klugscheißer ... ihr schickt trotzdem jeden verfügbaren Beamten auf die Straße. Auch wenn es sich vielleicht nur um einen …« Erneut abruptes Schweigen. »Glaubst du etwa, ich brauch einen wie dich, der mir erklärt …?« Kallsen hielt wieder inne. »Mach einfach! Ansonsten ruf ich Klaus an und sorg dafür, dass er dir Riecher und Puper in dieselbe Richtung dreht. Verstanden?«
»Wer ist Klaus?«, erkundigte sich Wegner, nachdem Kallsen aufgelegt hatte.
»Der Chef von diesem Arschloch.«
»Und jetzt?«
»Legt das Arschloch hoffentlich los.«