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Eine Erzählung aus der Zeit der systematischen Verfolgung und Ausmerzung der Juden im Dritten Reich. Ort der Handlung: eine Metzgerei, von der zuständigen Parteidienststelle dazu ausersehen, einmal in der Woche, am Freitagabend (dem Vorabend des Sabbat), Fleisch und Wurst an die Juden der ganzen Stadt auszugeben - gemäß den doppelt reduzierten Rationen auf den besonders gekennzeichneten jüdischen Lebensmittelkarten. Es handelt sich also um jene Frist erzwungener und aufs äußerste eingeengter Getto-Existenz, die der Ausrottung vorausging. Das unbestechliche Zeugnis der Metzgerfrau schafft in der dichterischen Prosa gleichsam einen fesselnden Originalbericht von dokumentarischem Wert. Die Metzgerin ist in all ihrer Furcht und Schwäche ein barmherziger Mensch. Und da sie nichts Wirksames zu tun vermag gegen das letzte Unheil, schickt sie sich in einer Bombennacht zur stellvertretenden Selbstopferung an, zum Brandopfer. Durch sonderbare Umstände wird sie von einem Juden gerettet - weil ihm der Eingang in den Luftschutzbunker verwehrt worden war.
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Seitenzahl: 69
Veröffentlichungsjahr: 2016
Dr. Albrecht Goes
Erzählung
»›Sie sind zu einer besonderen Aufgabe ausersehen, Frau Walker‹; fing der eine an, und der andere: ›Und da gehört allerhand politisches Fingerspitzengefühl dazu, zu dieser Aufgabe.‹«
Die Metzgersfrau muss den ghettoisierten Juden der Stadt ihre kümmerlichen Fleischrationen austeilen; als Schikane ist der Freitagnachmittag, der Vorabend des Schabbat, dafür vorgesehen. Die gutherzige, politisch aber naive Frau wird Zeugin der Unmenschlichkeit, mit der Hitlers Schergen kurz vor dem Holocaust die Juden terrorisieren. Intuitiv setzt sie sich gegen die Ungerechtigkeiten zur Wehr. Doch wie kann ein einzelner Mensch sich der Vernichtungsmaschinerie in den Weg stellen – und wie lebt man weiter, nachdem die Geschichte ihren Lauf genommen hat?
Albrecht Goes geht es nicht so sehr um ein politisches Urteil, obgleich der Schatten des NS-Regimes über der Erzählung liegt. Mit dokumentarischer Unmittelbarkeit begegnen uns Menschen, die mit ihrem Gewissen hadern und eine Möglichkeit suchen, mit ihrem persönlichen Verhalten Widerstand zu leisten gegen die allgemeine Menschenverachtung. Goes’ Vertrauen in die Menschlichkeit öffnet für die Leser eine Tür des Trosts und setzt dem Horror der Erinnerung eine, wenn auch schmerzliche, Form des Gedenkens entgegen.
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Das Brandopfer
[Das Brandopfer]
[Das Brandopfer: Fortsetzung 1]
[Das Brandopfer: Fortsetzung 2]
[Das Brandopfer: Fortsetzung 3]
[Das Brandopfer: Fortsetzung 4]
Notiz
Geschehenes beschwören: aber zu welchem Ende? Nicht, damit der Haß dauere. Nur ein Zeichen gilt es aufzurichten im Gehorsam gegen das Zeichen des Ewigen, das lautet: ›Bis hieher und nicht weiter.‹ Ein Gedenkzeichen, geschrieben – wohin und für wen? Ach, in die Luft schreibt, wer ihrer gedenkt, ihrer, deren irdisches Teil vergangen ist, Staub und Asche in Erde und Wind. Man hat vergessen. Und es muß ja auch vergessen werden, denn wie könnte leben, wer nicht vergessen kann? Aber zuweilen muß einer da sein, der gedenkt. Denn hier ist mehr als Asche im Wind. Eine Flamme ist da. Die Welt würde erfrieren, wenn diese Flamme nicht wäre.
»Wenn das mit dem Kinderwagen nicht dazugegekommen wäre, hätte ichs wohl nicht getan. Lieber Herr, der Mensch ist stumpf, stumpfer als das Vieh. So ein Stück Vieh – ich weiß, wie das dreinsieht, wenn sein Stallgefährte unters Messer kommt, ich hab’ oft genug in den Schlachthof mit hinausfahren müssen damals, als mein Mann im Feld war. Ja, die Kreatur, die sieht drein. Aber wir, wir sagen: das sollte nicht sein – und sagen: aber das ist ja entsetzlich, und dann gewöhnen wir uns daran. Und im Geschäft heißt es dann gleich: Kunde ist Kunde, und gutes Geld ist gutes Geld. Und sehen Sie: ich habe von den Juden nie so richtig etwas gewußt; hier in unserer Nähe wohnten nur zwei Familien, Doktor Rosenbaums schräg gegenüber in achtzehn, aber die sind gleich, als Hitler kam, nach Holland gegangen: er war so etwas wie Sie, Herr Doktor, Bibliotheksrat, glaube ich – diese Rosenbaums und die kleine Fräulein Wolf, aber die kam nie mehr unter die Leute, und man hat es dann auch so lange nicht gemerkt, daß sie den Gashahn aufgemacht hatte … das war schon vor dem Jahr 38. Nein, so richtig gewußt habe ich nichts; ich sage das nicht, um mich zu entschuldigen, es entschuldigt ja auch wenig genug, man hätte sich eben kümmern müssen, ich weiß, jetzt weiß ich es. Vor den neuen Herren, denen in Uniform, hatte ich keinen großen Respekt. Sie kamen hereingeschnarrt und holten sich ein Viertel Leberwurst oder einen gemischten Aufschnitt, ich machte es ihnen zurecht und sagte: ›Auf Wiedersehen!‹ Und mein Mann sagte: ›Heil Hitler!‹ Da hatten wir dann manchmal einen Wortwechsel darüber. ›Nun hast du wieder nicht richtig gegrüßt‹, sagte mein Mann, ›und es war die Frau Kreisleiter persönlich.‹ Und ich sagte: ›Was ist das dann, die Frau Kreisleiter persönlich?‹ ›Mach dich nicht mausig‹, sagte dann mein Mann, ›Dachau ist nicht so weit, wie du denkst.‹ Und ich fragte: ›Dachau – was ist das?‹ Ja, lieber Herr, so habe ich gefragt, denn ich habe es wirklich nicht gewußt, und das war schon im Jahr 35 oder 36. Mein Mann sagte dann: ›Dachau – das ist nichts aus dem Gebetbuch.‹ Da war ich still und fragte nicht weiter. So ging das in den ersten Jahren. Bis dann, im Dezember 38 war es, und ich weiß den Tag noch gut, es war ein sehr kalter Tag – ja also, bis dann das erstemal eine Frau in den Laden kam, die den gelben Stern am Mantel trug. Gleich nach der Mittagspause war sie gekommen, und ich war allein im Geschäft. ›Ein halbes Pfund Rindfleisch, bitte‹, sagte sie, und dabei schaute sie zur Ladentür zurück, so wie wenn einer hinter ihr her wäre. ›Solls mit Knochen sein?‹ frage ich, wie ichs zu fragen gewohnt bin, und da sehe ich den Stern an ihrem Mantel, recht pünktlich war er aufgenäht mit gelbem Faden, so für die Dauer. ›Ja, bitte, mit Knochen‹, sagt sie. Und ich richte ihrs zu, und sie zahlt und sagt Guten Tag und geht hinaus. Aber am Abend – auch das weiß ich noch, wie wenn es gestern gewesen wäre –, mein Mann hatte die Zeitung weggelegt und machte sich am Radio zu schaffen, da fragte ich ihn: ›Wie war das eigentlich neulich mit der Synagoge, und warum habt ihr den Brand nicht löschen können?‹ Er war damals bei der Freiwilligen Feuerwehr, mein Mann, und sie waren alarmiert worden in der Novembernacht. ›Kunststück‹, sagte mein Mann, ›– wo wir doch den Schlauch gar nicht am Hydranten angeschlossen hatten.‹ ›Sondern?‹ fragte ich. ›Sondern –‹ sagte mein Mann und wurde kalkweiß, ›– man muß nicht alles wissen wollen. Beruhige dich, Grete, das ist nun vorbei‹, sagte er noch. Aber da war ich auch schon aufgestanden und zur Tür hinausgegangen, und ich lief, wie ich war, kreuz und quer durch unser Stadtviertel, eine Stunde lang oder länger. In der Petruskirche, damals stand sie ja noch, war Licht, ich blieb einen Augenblick lang im Eingangsportal stehen und hörte dem Gesang zu, und da wußte ich auch schon, wie es kommen würde, und es kam ja dann sechs Jahre später – fast auf den gleichen Tag. – ›Bist du so fortgewesen?‹ hatte mein Mann gefragt, als ich zurückkam, ›so ohne alles? Du kannst dir ja den Tod holen!‹ Und ich sagte: ›Ja, den Tod.‹
Es kam der Krieg, und mein Mann mußte gleich am zweiten Tag einrücken. Es hatte ihm nichts geholfen, daß er noch in die Partei eingetreten war und auf dem Wehrbezirkskommando gesagt hatte, eine Metzgerei sei ein lebenswichtiger Betrieb. ›Ihre Frau ist ja zu Hause, und die kennt sich aus‹, hatte es geheißen. Er wurde aber dann doch, gleich nach dem Polenfeldzug, noch einmal entlassen, nur: im Februar 40 holten sie ihn von neuem, und von da an blieb ich dann hier allein bis zum Herbst 47; im Herbst 47 erst kam er zurück aus der Gefangenschaft. Die ersten Kriegsmonate – man hatte sehr viel zu tun damals, es gab so viele Vorschriften, die mußte man alle im Kopf haben, und zwei Abende in der Woche gingen hin mit dem Markenaufkleben. Man kam gar nicht so recht zur Besinnung, und ich war beinahe froh darüber. In der Kundschaft gab es Leute, die einem sagten: ›Passen Sie auf, Sie bekommen bald eine schöne Metzgerei in Paris oder in London! Was glauben Sie, am 10. Oktober sind wir in London, mein Bruder hat es direkt vom OKW.‹ Ich gab kein Wort zurück auf solche Narrenreden, sah nur manchmal zur Petruskirche hinüber, die Turmspitze konnte man gerade sehen durch das große Ladenfenster, und dann dachte ich: wie lange noch?