Das Brauhaus an der Isar: Im Sturm der Zeit - Julia Freidank - E-Book
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Das Brauhaus an der Isar: Im Sturm der Zeit E-Book

Julia Freidank

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Beschreibung

Neue, schillernde Zeiten brechen in der großen Münchner Brauhaus-Saga von Julia Freidank an. Es ist die Zeit der Weimarer Republik. Die lebenslustige Clara wird 1919 von ihren Eltern zurück in die Stadt gerufen. Nach der Kriegszeit soll sie helfen, das Brauhaus Brucknerbräu zu alter Größe zu führen und es später übernehmen. Zwar glaubt Clara seit dem Tod ihres Bruders an den Segen der abstinenten Gesundheitsbewegung. Doch die Aufgabe ist auch verführerisch. Es ist eine neue Zeit: Frauen können früher Undenkbares tun. Clara ist entschlossen, mit ihrer Freundin Magdalena etwas zu bewegen. Dann aber begegnet sie einem Mann, der so gar nicht zu ihren Plänen passt – mitten in dieser politisch aufgeheizten und zugleich lebenshungrigen Zeit, in der Freundschaft wie Liebe jederzeit zu zerreißen drohen.

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Julia Freidank

Das Brauhaus an der Isar – Im Sturm der Zeit

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

München in der schillernden frühen Weimarer Republik: Die Spanische Grippe hat Tausende Leben gefordert – auch das von Thomas Bruckner, dem Erben der Brauereidynastie Brucknerbräu. Seine sonst so lebenslustige Schwester Clara sucht auf dem Land Halt in der Gesundheitsbewegung. Nun aber soll sie in der Stadt seine Aufgabe übernehmen und helfen, die Brauerei nach der schweren Kriegszeit zu alter Größe zu führen. Eine Herausforderung, die sie, die Abstinenzlerin, nie wollte – aber auch verführerisch. Es ist eine neue Zeit: Frauen können früher Undenkbares tun. Clara ist entschlossen, mit ihrer Freundin Magdalena etwas zu bewegen. Dann aber gerät Magdalena in den verhängnisvollen Sog nationalistischer Kreise, und Clara begegnet einem Mann, der so gar nicht zu ihren Plänen passt – mitten in dieser politisch aufgeheizten und lebenshungrigen Zeit, in der Freundschaft wie Liebe jederzeit zu zerreißen drohen.

 

Der zweite Band der großen Familiensaga um das Münchner Brauhaus Brucknerbräu

Vita

Julia Freidank ist das Pseudonym einer vielfach veröffentlichten Autorin von Romanen und Sachbüchern. Als gebürtige Münchnerin hat sie die aufregende Geschichte ihrer Heimatstadt immer schon sehr fasziniert. Da München ohne das Brauereiwesen nicht zu denken ist, lag es nahe, irgendwann einmal über ein Münchner Brauhaus zu schreiben. Das Ergebnis ist die vorliegende farbenprächtige Familiensaga, die mit «Das Brauhaus an der Isar – Spiel des Schicksals» ihren Anfang genommen hat.

Dramatis Personae

Clara Bruckner, Brauereierbin und leidenschaftliche Abstinenzlerin

Melchior und Antonia Bruckner, ihre Eltern, die gern in Rente gehen möchten, vorher aber ihre Tochter vom Bierbrauen überzeugen müssen

René Kurowsky, adrenalinsüchtiger Journalist, der lieber Scotch trinkt als Bier

Magdalena Moser, Erbin einer Malzfabrik und ebenfalls Abstinenzlerin

Ferdinand Schwabinger, Isar-Gatsby mit Vermögen ungeklärter Herkunft

Alfred Bauer, Tanzgigolo mit Ambitionen

Angelika, Bierkellnerin auf dem Weg zur Heiligkeit

Tilda DuCourt, eigentlich Mathilde Hofer, Varieté-Soubrette mit Vergangenheit

Marei, Köchin, die noch immer nicht weiß, wie man nein sagt

Ihre Kinder Vroni und Hias

Katharina, Arbeiterin, die existenziellere Probleme hat als Neinsagen

Ihre Kinder Anna, Schorsch und Lieserl

Peter, Braumeister, der einer Abstinenzlerin das Bierbrauen beibringen soll

Hans, Brauknecht mit Sympathie für die Rotgardisten

Xaver, Altknecht mit wenig Sympathie für die Rotgardisten

Ernst Toller, abgesetzter Sozialistenführer auf der Suche nach einem Versteck

Tante Vevi und Onkel Benedikt, Freunde von Antonia, Schwabinger Künstler

 

Dorian Gray, Hauskater im Brucknerschlössl

Donisl und Wally, Braurösser

Tasso, Wachhund am Sudhaus

Vorbemerkung

In die wilden zwanziger Jahre ist München eher hineingestolpert. In nicht einmal vierzig Jahren vom Märchenkönig Ludwig II. zu Charleston und Bubikopf, von Wagner zu Swing und Jazz – das ging dem einen oder anderen doch ein wenig zu schnell. Während in der Tram die neuen Frauen in kurzen Kleidchen, mit Lippenstift und Nagellack durch Schwabing gondelten, wurde in den Bierwirtschaften noch lange über die mögliche Rückkehr des Königs debattiert. Im ersten demokratisch gewählten Parlament Bayerns saßen kommunistische Räte neben Monarchisten. Und an der Schnittstelle steht das Oktoberfest für eine Tradition der Monarchie auf dem Weg in die Gegenwart.

Wie sollte es weitergehen mit einem Fest, das seinen Anfang bei einer königlichen Hochzeit genommen hatte und traditionell vom König eröffnet wurde? Konnte man so etwas überhaupt demokratisieren? Es war die Stunde der großen Brauhäuser, die mit ihrem krisenfesten Produkt zu Geld gekommen waren. Trotz der allseits grassierenden Armut nach dem Ersten Weltkrieg, trotz der politischen Wirren in der bayerischen Räterepublik formierte sich schnell ein Verein, der das Oktoberfest zukunftsfähig machen wollte. König oder Kommunisten, wen interessierte es? O’zapft werden musste, komme, was da wolle!

Unbeeindruckt von der Politik veränderte sich die Gesellschaft: Während die einen noch vom König im Hermelinmantel träumten, warfen die anderen den Muff der wilhelminischen Prüderie ab. Haare und Röcke wurden kürzer, die Sexualität freier. Mit der Befreiung von moralischen Zwängen kamen für die Frauen endlich langersehnte Rechte: das Wahlrecht, das Recht zu studieren, selbst so banale Dinge, wie Zigaretten zu kaufen – und das Recht, den eigenen Körper zu zeigen. In Europa entwickelte sich die FKK-Kultur. Eines ihrer ersten Zentren war die Wiener Lobau, wo in den Donauauen endlich Luft und Licht an die so lange in hochgeschlossenen Kleidern eingeschnürten Körper dringen durften. Nachdem der Krieg und die Spanische Grippe Hunderttausende Todesopfer gefordert hatten, entdeckten viele Menschen die Natur und das einfache, gesunde Leben. Während die einen ihre Kriegstraumata mit Kokain und Morphium betäubten, verschrieben sich andere einer asketischen Natürlichkeit. Während die einen sich auf die neue Demokratie einließen, verfielen andere dem sektenartigen frühen Nationalsozialismus – der Film Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) beschreibt diese Entwicklung anhand des Bildes vom wahnsinnigen Schausteller, der Schlafwandler zu Mördern abrichtet. Wer über all das mehr wissen möchte, findet im Nachwort noch Anmerkungen zur Geschichte und zu intertextuellen Bezügen.

Es sind die Extreme, die die zwanziger Jahre für uns heute so interessant machen. Nie gekannte Freiheiten kontrastieren mit dem Machtkampf radikaler politischer Gruppen. Absoluter Exzess mit Abstinenz. Die Zeit wurde förmlich zerrissen zwischen diesen Polen. Die neue Freiheit war vielen ein Dorn im Auge, die Presse oft parteiisch, was vor allem Linke wie Kurt Eisner und Liberale wie Thomas Mann beklagten. Die Folge war ein Rückzug ins Private und Unpolitische. Die rauschenden Partys, die heute das Bild der Zeit prägen, waren die Kompensation eines Lebens, das ständig bedroht schien: durch Armut und Krankheit, durch Krieg und Radikalismus. Es war eine Ära des radikalen Umbruchs, ein Dasein auf Messers Schneide, in stürmischen Zeiten.

«Radikale Askese, das bedeutet immer und überall nur Charakterschwäche.»

Thomas Mann

– 1 –

Wien, April 1919.

Askese, dachte Melchior Bruckner, war nichts als der Versuch, durch äußeren Verzicht wettzumachen, was einem an innerer Standfestigkeit fehlte. Aber diese philosophische Erkenntnis trieb ihm noch mehr Sorgenfalten auf die Stirn.

Aus dem Fond der Mietkraftdroschke blickte er durchs Fenster. Hier in der Lobau war die Natur unberührt wie einst, lange vor Kultur und Industrie. Vor Giftgas und Bomben, welche die Wälder von Verdun zu grauen, nach Verwesung stinkenden Wüstenlandschaften gemacht hatten. Wo die ehemaligen Schleifen der Donau nach und nach begradigt worden waren, hatten sich verschwiegene Seen und Altwässer gebildet. Weidenzweige streiften tiefgrüne Algenteppiche, und Stämme spiegelten sich in geheimnisvollen schwarzen Flächen. Es roch nach Erde. Nicht nach der Erde der Massengräber, sondern nach feuchtem, fruchtbarem Humus, nach frischem Gras und hellgrünen Tannenspitzen. Die sich selbst zurückgegebene Natur überwucherte die Reste der Zivilisation. Regenschauer hatten die Spuren verwischt, niedergetretenes Gras stand jetzt hoch, von keiner Sense geschnitten. Bemooste Äste verwitterten im Wasser, Biberburgen stauten ungehindert Nebenarme des Flusses zu flachen Seen auf. Enten und Frösche quakten am Ufer, wo kein Jäger lauerte. Wenn die Sonne zwischen den Zweigen hindurchfiel, ließ sie das stille Wasser wie flüssiges Quecksilber gleißen. Die atmende Natur brachte die aufgewühlte Seele zur Ruhe, ließ die verkohlten Stämme und zerfetzten Leiber der Westfront verblassen, erinnerte an die unbezwingbare Macht des Lebens.

«Die Nackerten!», empörte sich der Fahrer vorn und riss Melchior profan aus seinen Betrachtungen. «Da wären wir. Sind Sie wirklich sicher, dass Sie da hinwollen?» Er blickte nach seinem eleganten Fahrgast, der, wann immer er sich die Stirn mit einem Tüchlein aus feinem Kattun tupfte, dreinsah, als sei dieser schöne Apriltag schuld an dem Unbill, welches ihn hierhergeführt hatte.

Melchior entstieg dem Automobil, ohne zu antworten. Er schwang nur sich räuspernd den Gehstock und fragte: «Diese Richtung also?»

«Die sind das Ärgernis der ganzen Stadt», schnaubte der Fahrer. «Freikörperkultur nennen sie die Sauerei! Die haben nicht das kleinste Fetzerl Stoff am Leib, sag ich Ihnen, Männer und Frauen!» Er musste erst einmal tief durchatmen, um der Bedeutung dieses Skandals gerecht zu werden. «Sodom und Gomorrha!» Sprach’s und betätigte im Zorn der Gerechten das Gaspedal, sodass der Wagen einen Satz nach vorn machte und Melchior Bruckner samt Gehstock zur Seite springen musste.

«Nix für ungut», entschuldigte er sich. Melchior justierte mit einer Grimasse den Sitz seines modischen schwarzen Huts, was ihn immerhin einer Antwort enthob.

«Was macht ein Herr wie Sie eigentlich hier?»

Melchior hob das Kinn, worauf der Fahrer zusammenzuckte und sich unwillkürlich stramm aufrichtete.

«Sie haben gesagt, das geht mich nichts an. Scho recht, Herr Geheimrat. Ich warte hier. Gehorsamster Diener.»

Aber sein Fahrgast hatte bereits den Gehstock mit einem eleganten Schwung unter dem rechten Arm verstaut und war in die angegebene Richtung losmarschiert.

Der Taxifahrer stieg aus und lehnte sich an seinen Wagen. Nachdenklich schob er sich die Mütze aus der Stirn und sah dem hochgewachsenen, schlanken Mann mit dem schmalen, glattrasierten Gesicht und dem modisch aus der Stirn frisierten hellbraunen Haar nach, der zwischen den Bäumen verschwand. Im Grunde konnte es ihm gleich sein. Die Uhr lief, und jede Minute brachte ihm mehr Geld ein. Das war es schon wert, in diesem Sumpf eine Weile herumzustehen. Dennoch beschäftigte ihn die Frage, was so ein feiner Herr wohl hier wollte, bei den Nackerten?

***

Melchior schlenderte den schmalen Pfad entlang. Seine Schuhe waren aus Leder, und er achtete darauf, nicht die zahlreichen Pfützen zu treten, was die Sohlen schnell durchnässt hätte. Sumpfdotterblumen und Wiesenschaumkraut, das überall an den lichten Stellen zwischen den Bäumen wuchs, streiften seine Hosenbeine. Immer wieder blitzte Wasser im Grün auf, und Algenteppiche schimmerten geheimnisvoll wie grüner Samt im Schatten. Die Luft war warm, und irgendwo roch er sogar schon Flieder. Er hätte den Spaziergang genossen, hätten nicht die sorgenvollen Gedanken auf seiner Seele gelastet.

Er erreichte eine Lichtung, die sich sanft zu einem der Altwässer senkte. Und da waren sie. Unübersehbar.

Er seufzte.

Auf der Wiese war ein Transparent aufgespannt, auf dem zu lesen stand «Alkohol verdirbt den Geist». Unterhalb davon lagen nackte Leiber in der Sonne. Tatsächlich nackt. Ohne das geringste bisschen Kleidung.

In seiner Jugend hatte Melchior es selbst genossen, seine Mutter mit künstlerischen Abbildungen nackter Frauen zu schockieren. Dennoch blieb er jetzt einen Moment stehen und schnappte nach Luft.

Dann presste er grimmig die Lippen zusammen und steuerte auf die kleine Blockhütte zu, die am Rande des Auwaldes stand.

Während er über die Wiese lief, richteten sich alle Augen auf ihn. Auf einmal hatte er das Gefühl, er wäre der Nackte und alle anderen angezogen. Es war ein seltsames Gefühl der Scham, das ihn ergriff und unangenehm in seinem Nacken saß. Das Gefühl, unpassend zu sein. Als ob sich alle Blicke auf ihn richteten, empört ob der Schamlosigkeit, hier Kleidung zu tragen.

Der Mann auf den Stufen der Blockhütte erhob sich, als Melchior auf ihn zutrat.

«Ich suche Clara Bruckner», sagte Melchior. Obwohl er sich bemühte, war es gar nicht so leicht, hier einen würdevollen Ton zu bewahren.

Der Nackte wies hinter die Hütte, und als Melchior sie umrundete, verlor er doch beinahe die Contenance. Gemeinsam mit einer zarten Blondine, die er unschwer als Claras Freundin Magdalena Moser erkannte, war sein Nachwuchs über ein weiteres Transparent gebeugt. Und die Aufschrift, mit der sie es versahen, lautete «Bier – das Große Tier».

Demnach verdiente er also sein Geld mit einem apokalyptischen Monster. Es hat mich zwar schon so mancher für eine Inkarnation des Leibhaftigen gehalten, dachte Melchior, aber das hier ist doch ein wenig provokant. Ich hätte es ahnen müssen. Dass Antonia und ich keine bezopften Klosterschülerinnen zeugen würden, war absehbar.

Als die Mädchen ihn hörten, richteten sie sich auf. Seine Tochter streifte sich mit der einen Hand das offene braune Haar aus dem Gesicht und schirmte die Augen gegen die Sonne.

«Vater!», rief sie überrascht.

Sie hat meine Augen, dachte Melchior mit einem Anflug von Rührung. Riesengroß und blau, dieselben geraden Brauen. Und Antonias hübschen Mund. Nur wann, um Himmels willen, ist sie so erwachsen geworden?

Clara warf den Pinsel hin und lief auf ihn zu, um ihn zu umarmen.

Mit einem peinlich berührten Räuspern schob er sie von sich weg. «Ich bin keineswegs prüde», meinte er, «aber wie wäre es, wenn du dir wenigstens ein Feigenblatt anziehst?»

«Nacktheit ist nichts Unmoralisches», wandte Magdalena ein und rollte das Transparent zusammen. Melchior erinnerte sich, dass ihr Vater, der Inhaber der Malzfabrik Moser, im Sommer gefallen war. «Der Körper benötigt Luft und Licht, um gesund zu bleiben. Es ist die Kleidung, das schamhafte Verbergen der Haut, das überhaupt erst zu erotischen Begierden führt. Hier gibt es kein Reich und Arm, kein Männlich oder Weiblich. Hier gibt es nur Menschen.»

Sie stand auf und schob die hellblonden Locken über die Schulter. Auch wenn sie eher ein Modell für Cranach denn für Rubens abgegeben hätte, war das Gesicht mit den wasserblauen Augen und den fein geschwungenen Lippen von einer klassischen Schönheit. Wie eine Heilige auf dem Bild eines alten Meisters, dachte Melchior unwillkürlich. Allerdings hatten die mehr Kleidung getragen.

«Sie hat recht», stimmte Clara zu. «Wir holen nur den Naturzustand des Paradieses zurück. Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein – allerdings sollte er dabei vielleicht nicht gerade im Glashaus sitzen, nicht wahr, lieber Vater? Pflegtest du nicht zu sagen: ‹Wer Angst vor Nacktheit hat, hat auch Angst vor der Wahrheit›?»

Melchior hob die Brauen. Vermutlich waren Mädchen wie Clara der Grund, warum sich so viele Väter hübsche, dumme Töchter wünschten. Die merkten sich nicht alles, was man sagte, um einen im falschen Moment wieder daran zu erinnern. «Kann das Paradies einen Augenblick warten? Ich habe mit dir zu reden.»

***

Es war eigentlich ein viel zu schöner Tag, um sich anzuziehen, dachte Clara, als sie mit Magdalena in der Hütte verschwand, um ihr Kleid zu holen. Es war blau und weit geschnitten. Ein wenig zu klein, aber der Krieg war gerade erst ein paar Monate vorbei, und selbst wer es sich leisten konnte, hatte keine Zeit für seine Garderobe gehabt. Nach dem Vormittag an Luft und Licht kam es ihr kratzig vor, eine überflüssige künstliche Haut.

«Er will uns zurück nach München holen», meinte Magdalena, während sie sich anzogen.

Claras Lebhaftigkeit verflog, und mit einem Schlag war die Erinnerung an das, wovor sie hierhergeflohen war, wieder da.

«Das war zu erwarten», sagte sie endlich. «Weißt du noch, wie es im Februar nach Unruhen aussah, nachdem Ministerpräsident Eisner ermordet wurde? Vermutlich ist Vater uns nur deshalb nicht sofort nachgereist. In unserer Wiener Pension bei der dicken Frau Kammerer waren wir sicherer. Aber jetzt scheint es ruhiger zu sein, sonst wäre er nicht hier.» Clara zupfte das Kleid am Saum gerade und schlüpfte in ihre Schuhe. Sie wollte nicht über das reden, was hinter ihnen lag.

«Ich habe Angst zurückzugehen», sagte Magdalena plötzlich.

Clara sah die Lippen der Freundin zittern. Magdalena wirkte so verängstigt und so niedergeschlagen, dass Clara sie einfach in die Arme nahm. Die Traurigkeit, die sie hergetrieben hatte, überfiel sie wieder. Draußen in der Natur war der Schmerz milder, aber hier ließ er sie einen Moment sprachlos die Augen zusammenpressen. Nicht die Bilder heranlassen. Weg damit.

«Was immer geschehen ist, wir haben noch uns», sagte sie. «Wir leben gesund und gehen kein Risiko ein. Wir werden beide alt. Du warst für mich da, als ich dich am nötigsten gebraucht habe. Das werde ich nie vergessen. Wann immer du mich brauchst, werde ich genauso für dich da sein.»

Sie ließen einander los. Magdalena lächelte traurig. «Es ist eine neue Zeit.»

«Das ist es. Wir können Dinge tun, die noch vor ein paar Jahren unvorstellbar waren. Studieren, wählen. Frauen können endlich richtige Bürgerinnen werden. Vielleicht ist es gut zurückzugehen. Man kann sich nicht ewig verstecken, wenn man etwas verändern will.»

Melchior Bruckner wartete an dem einfach gezimmerten Tisch unter dem tiefhängenden Dach vor der Hütte, als Clara in dem locker fallenden wadenlangen Kleid heraustrat. Die Naturisten hatten aus Holzdielen eine schmale Terrasse gezimmert, die durch ein Geländer aus geschälten Zweigen begrenzt wurde. Durch das weit vorstehende Dach hatte man Schatten und war vor Regen geschützt. Von der Wiese drangen die Stimmen der anderen herüber.

«So, Paradiesjungfräulein», eröffnete Melchior mit seinem üblichen Sarkasmus das Gespräch. «Zeit, die Sommerfrische zu beenden.»

Clara blickte auf. «Sommerfrische?»

Ihr Vater presste die Lippen zusammen. Nur ein leichtes Zucken in seinem Gesicht verriet, dass er nicht so gleichgültig war, wie er tat. Er war noch nie gut darin gewesen, Gefühle zu zeigen, und im letzten halben Jahr war es noch schlimmer geworden. «Thomas’ Tod war für uns alle ein Schlag. Nicht nur du hast deinen Bruder verloren, deine Mutter und ich auch unseren Sohn.»

Es war kaum sechs Monate her. Mit seinem dunklen Haar hatte Thomas der Mutter ähnlicher gesehen. Aber die Augen hatten sie beide von Melchior, sodass jeder Blick ihres Vaters noch immer wie ein Schmerz durch ihr Inneres zuckte. Clara hatte es zu Hause nicht mehr ausgehalten: der leere Stuhl beim Essen, das verlassene Zimmer, die Stille abends. Mit gerade einmal 19 Jahren war Thomas noch im vergangenen Jahr eingezogen worden, erst im September. Anfangs hatte die Regierung noch verkündet, es gebe keinen Grund zur Sorge wegen der neuen Grippewelle. Doch wie üblich war das eine Lüge gewesen. Schon Ende Oktober hatten die Schulen geschlossen, die Tram fuhr nicht mehr, und in der Brauerei fehlte die Hälfte der Arbeiter. Die Lazarette, vom Krieg überfüllt, wurden zu einem Schattenreich der Verdammten. Hunderttausende starben. Thomas hatte noch Ende Oktober geschrieben, er sei mit Fieber ins Krankenhaus gebracht worden. Nur wenige Tage später hatte die Seuche seine Lunge befallen.

«Die Brauerei wird nun eines Tages dir gehören», sagte Melchior endlich. «Ich muss dich daher bitten, mit mir nach Hause zu kommen. Deine Mutter vermisst dich.» Er unterbrach sich, als seine Stimme rau wurde. Er war damals, selbst kaum gesundet, an Thomas’ Krankenbett an der Westfront gewesen. Clara wusste nicht, was schlimmer gewesen war: ihn sterben zu sehen oder zu Hause stündlich auf das Telegramm mit der Todesnachricht zu warten. Nachts hatte sie ihre Mutter weinen gehört. Auch wenn Melchior nie ein Wort über das verloren hat, was er gesehen hatte, wussten sie alle, was die Spanische Grippe anrichtete: Es begann mit Fieber und Husten. Nach ein paar Tagen kam dann die gefürchtete Atemnot. Die Haut färbte sich bläulich, und die Kranken kämpften um Luft und erstickten langsam innerhalb von Stunden, als würden sie innerlich ertrinken. Oft war die Haut der Toten am Ende fast schwarz, sodass manche sagten, die Pest sei zurückgekommen.

«Du bist damals einfach in den Zug gestiegen und verschwunden», sagte Melchior endlich. «Weißt du, was für Sorgen sich deine Mutter gemacht hat? Eine Postkarte am Nachmittag, das war alles!»

«Es tut mir leid. Ich hielt es nicht mehr aus.»

Er presste die Lippen zusammen. «Das ging uns allen so», sagte er mit ungewohnter Offenheit.

An den Schläfen ihres Vaters mischten sich erste graue Strähnen in das hellbraune Haar, und widerwillig musste sich Clara eingestehen, dass es sie berührte. Sie waren ihr früher nie aufgefallen, vielleicht waren auch in den letzten Wochen einige dazugekommen. Sie stand auf und sah hinunter, wo der Altwassersee in der Sonne des Apriltags glänzte. Zwei Enten flatterten auf, hinterließen eine Spur aus Gischt und kleinen, von den Flügeln geschlagenen Wellen. In den Wochen nach Thomas’ Tod hatte sie das Gefühl gehabt, in einen Abgrund zu stürzen. Nichts war wie zuvor. Die Stadt war wie gelähmt. Der Grippewelle im Oktober folgte noch eine weitere um den Jahreswechsel. Eine gespenstische Stille lag über den leergefegten Straßen. Niemand ging aus dem Haus, außer um das Nötigste zu erledigen, und die Angst kroch durch jeden noch so schmalen Schlitz unter der Tür. Dann hatte Magdalena auf einmal von dem gesunden Leben in der Lobau gesprochen. Nach allem, was sie hinter sich hatte, war es ihr wie die Aussicht auf ein Paradies auf Erden erschienen.

«Wir hatten endlich das Gefühl, unser Schicksal wieder selbst bestimmen zu können», sagte Clara ernst. «Nicht ausgeliefert zu sein.»

«Du scheinst dich sehr gut mit Magdalena zu verstehen», meinte ihr Vater nachdenklich. «Zu meiner Zeit gab es das nicht unter Frauen.»

«Weil ihr sie erzogen habt, einander als Rivalinnen um die Gunst der Männer zu sehen.»

«Möglicherweise hast du recht. Deine Mutter hat das einmal ganz ähnlich gesagt. Es liegt mir auch fern, deine Freundschaft zu Magdalena zu tadeln, ganz im Gegenteil. Ich möchte nur mein Kind nach Hause holen.»

Es schmerzte und tat gleichzeitig gut. Clara atmete tief durch. «Ich bin nicht mehr dieselbe wie vor einem Jahr», sagte sie endlich. «Ich bin siebzehn und erwachsen.»

«Nun, alles andere fände ich auch erschreckend», erwiderte Melchior in seiner üblichen, trockenen Art. «Nun setz dich schon.»

Langsam ging Clara wieder zum Tisch. Sie berührte das kantige Holz und ließ die Finger über die Kerben gleiten, um das harte, faserige Material zu fühlen. Die Wochen hier hatten sie gelehrt, ihren Körper zu spüren: einen leichten Wind auf der Haut, das Brennen der Sonne, das Frösteln, wenn die morgendliche Kühle die Poren zusammenzog. Wassertropfen, die herabrannen und unregelmäßige Spuren zogen, wenn sie den kaum sichtbaren Härchen auswichen. Das weiche Gras, das sich unter ihren Füßen bog und wieder aufrichtete, ein spitzer Stein, der sich in ihre Sohle bohrte, ein Haar auf ihren Lippen. So spürte sie, dass sie noch da war. Es tröstete zwar nicht über den Verlust hinweg. Aber es gab ihr Kraft, ihn auszuhalten.

«Der Krieg hat uns gezeigt, dass man sich auf nichts verlassen kann. Du wirst das Brucknerbräu einmal erben. Deine Mutter und ich müssen anfangen, dir beizubringen, was du brauchst.»

«Ich verstehe.» Clara blickte ihn an. «Da ist nur ein Problem.»

Er runzelte fragend die Stirn.

«Ich will mit Alkohol nichts zu tun haben», erklärte Clara. «Die Trinkerei spült einem das Leben aus den Adern. Thomas könnte vielleicht noch da sein, wenn sein Körper nicht von dem Gift geschwächt gewesen wäre.»

Melchior wandte unwillig den Kopf. «Es traf doch die jungen, kräftigen Menschen noch schlimmer als Alte und Kinder. Gegen die Spanische Grippe gibt es kein wirksames Mittel, hör auf, dir das einzureden!»

«Du hast doch selbst gesehen, wie Magdalenas Vater seine Frau schlug, wenn er getrunken hatte!», erwiderte Clara heftig. «Alkohol verdirbt die Seele und schwächt den Körper. Er macht Männer zu Verbrechern. Und stell dir nur vor, wie viele Lebensmittel man aus der Gerste machen könnte! Früher oder später kommt die Prohibition, und meine Stimme wird sie haben.»

«Was?!» Melchior verschluckte einen Fluch. «Du weißt, dass das schöne Leben, das du dir hier machst, nur möglich ist, weil deine Eltern mit Bier eine Stange Geld verdienen. Trotz des Kriegs und der Ausfälle wegen … im Herbst stehen wir nicht so schlecht da wie viele andere. Und es geht hier nicht nur um dich. Schließlich hängen einige Arbeiter und ihre Familien von uns ab. Wenn Menschen ums Überleben kämpfen müssen, werden sie kriminell. Die Prohibition könnte also genau das verstärken, was sie verhindern soll.»

Leider war ihr Vater nicht gerade auf den Mund gefallen. Aber es ging hier auch um die Welt, in der die jungen Menschen einmal leben würden. «Der Fortschritt lässt sich nicht aufhalten. In Russland und Norwegen gibt es schon ein Alkoholverbot, und in Amerika tritt es nächstes Jahr in Kraft. Es wird kommen, genau wie das Frauenwahlrecht. Man kann mit anderen Getränken Geld verdienen, die niemanden umbringen und zum Verbrecher machen.»

Jetzt schaffte sie es, dass ihr Vater doch einen Fluch zwischen den Zähnen knirschte. Allerdings hatte er sich wie üblich sofort wieder in der Gewalt. «Sieh es doch so: Wer Bier trinkt, ist wenigstens vom Schnaps los.» Melchior hatte offenbar keine Lust mehr auf weitere Debatten, da er sich in seinen üblichen Sarkasmus flüchtete. «Magdalena soll ich übrigens auch mitnehmen», bemerkte er dann. «Deine spirituelle Führerin wird ebenfalls von ihrer Mutter vermisst.»

Seine ironische Art machte Clara wütend. Sie gab einem immer das Gefühl, als würde er auf alles und jeden herabsehen.

Er stand auf. «Hol Magdalena. Ihr packt eure Sachen in der Pension, und dann steigt ihr mit mir in den Zug nach München!»

Und als sie ihm trotzig ins Gesicht starrte, um dann wütend in der Hütte zu verschwinden, hörte sie ihn hinter sich murmeln: «Gott steh mir bei, dieses Kind bringt mich so weit, dass ich klinge wie meine eigene Mutter!»

– 2 –

Der kalte, leere Flur der Münchner Klinik verlor sich im schier Unermesslichen. So schien es jedenfalls dem Besucher, der unwillkürlich die Krawatte lockerte. Es roch nach Leinöl, der Boden war mit grünlichem Linoleum ausgelegt. Die Tür hinter ihm fiel krachend ins Schloss, und als er sich umsah, fiel ihm auf, dass sie auf der Innenseite keine Klinke hatte. Beunruhigt blickte er zu dem kräftigen Wärter, der vor ihm herlief. Der Mann war seine einzige Möglichkeit, hier herauszukommen.

Merkwürdige Laute drangen aus den Räumen links und rechts, manche klangen nicht einmal menschlich. Bisweilen standen Türen offen, und er konnte Reihen spartanisch nebeneinander gestellter Betten sehen. Hinter einer davon war ein militärisches Hackenschlagen zu hören, ein Befehl, dann die beruhigende Stimme eines Wärters. Urplötzlich ein langgezogener Schrei, dann ein Wimmern, und schließlich schloss jemand hastig von innen die Tür.

Der Wächter öffnete einen Raum zur Linken.

Die Betten standen so dicht nebeneinander, dass an keinen privaten Augenblick zu denken war. Ein hagerer Kerl salutierte vor ihnen und folgte ihnen kichernd mit den Augen.

«Wir haben hier viele von denen», erklärte der Wärter. «Ist nicht immer klar, welche wirklich verrückt sind und welche bloß nicht mehr zurück an die Front wollten. Viele sind auch wie der da.» Er zeigte auf einen Mann, der zusammengekauert und wimmernd in der Ecke saß, die Arme schützend über den Kopf gelegt. «Kriegszitterer. Ab und zu überkommt sie ein Anfall. Manchen hilft Morphium oder Kokain. Werd mich gleich darum kümmern. Ist vermutlich was im Gehirn zerstört worden, als eine Granate vor ihm explodierte.» Er ging zu dem Mann hinüber und schob einen Arm von seinem Gesicht weg. Der Besucher wandte sich hastig ab. Das Gesicht war grauenhaft entstellt. Der Unterkieferknochen musste links komplett fehlen, dort hingen nur schlaffe verfärbte Hautfetzen herunter und gaben ihm das Aussehen eines Monsters. Das linke Auge war durch eine Glaskugel ersetzt worden, die Nase gebrochen.

«Kanonenfutter für Berlin! Dieser Wahnsinn ist jetzt vorbei.» Der Besucher sah sich um, als erwartete er, beobachtet zu werden. «Zeigen Sie mir, wonach ich suche», befahl er scharf. «Ich bin nicht hier, um eine Schlossführung zu machen.»

Der Wärter zuckte die Achseln und ließ den Mann los. «Nach dem Attentat auf Präsident Eisner haben ihn dessen Begleiter niedergeschossen. Die Spartakisten wollten ihn aburteilen, aber Professor Sauerbruch liefert keinen Todkranken der Justiz aus. Sie haben Zeit, bis er gesund ist.»

Sie hatten ein Bett erreicht, in dem ein pausbäckiger, dunkelhaariger junger Mann lag. Er war sicher nicht älter als Anfang zwanzig. Kopf und Hals waren verbunden, der Verband bedeckte die eine Hälfte seines Gesichts fast vollständig.

Der Besucher zog langsam einen Umschlag aus seinem Mantel, während er sich dem Kranken näherte.

«Da haben Sie ihn», sagte der Wärter. Er streckte die Hand aus, um den Umschlag entgegenzunehmen. «Anton Graf Arco auf Valley. Den Mörder von Präsident Kurt Eisner.»

***

München hatte sich verändert, dachte Clara, als sie auf dem Rücksitz des Automobils saß. Selbst in der kurzen Zeit zwischen Februar und Mitte April. Sie hatten Magdalena in Obergiesing abgesetzt. Als sie auf dem Hochufer der Isar entlangfuhren, konnte sie immer wieder drüben auf den Zwiebeltürmen der Frauenkirche die rote Fahne wehen sehen. Auch auf Schulen und allen anderen öffentlichen Gebäuden flatterte Rot. Eingeschlagene Fenster zeugten von kriegsähnlichen Ausschreitungen. Manche Geschäfte sahen aus, als wären sie regelrecht geplündert worden – in diesen Zeiten konnte jeder alles brauchen. Beinahe an jeder Kreuzung sah man Militärautomobile, vollbesetzt mit Soldaten mit roten Armbinden. An den Straßenecken hockten zerlumpte Kriegsveteranen und bettelten. Manchen fehlten Arme oder Beine, andere wiegten sich faselnd hin und her, benebelt vom Schnaps. Auch ihr Vater schien überrascht. Er ließ sogar bei einem Zeitungsjungen anhalten, überflog aber nur kurz die Schlagzeilen.

Das Automobil fuhr in den Hof des Brucknerschlössl, und Clara atmete tief ein. Das Haus war ganz mit Rosen überwuchert, sie rankten sich bis an das Türmchen, das ihm den Namen «Schlösschen» eingebracht hatte. Noch waren die Knospen geschlossen, blühten Narzissen und Tulpen, Maiglöckchen und Vergissmeinnicht duckten sich unter die Jasminhecken. Als Kind hatte Clara Buschwindröschen und Osterluzei ausgegraben und hier eingepflanzt, die weiße, rosa und blaue Tupfer setzten. Die Veilchen hatten sich wieder vermehrt und überzogen die Rasenflächen wie ein duftiger violetter Schleier. Das mehrstöckige Gebäude wirkte wie ein jahrhundertealtes Märchenschloss, auch wenn es in Wahrheit erst vor vierzig Jahren von ihrem Großvater erbaut worden war. Hinter den Hecken und an der Treppe hinunter zum Keller hatte sie mit Thomas Verstecken gespielt. Sie warf einen Blick zu ihrem Vater. Er hatte den Hut nicht abgenommen, und seine hellen, kühlen Augen verrieten nichts.

Als die Haustür aufgerissen wurde, versetzte es Clara einen Stich. Antonia Bruckner war auch mit Ende dreißig noch eine Frau, nach der sich die Männer umdrehten; ein Alter, in dem viele bereits verbraucht wirkten und ihre Körper unter formlosen Schürzenkleidern verbargen. Ihr noch immer dunkles Haar trug sie locker im Nacken geknotet, das wadenlange Kleid zeigte ihre Fesseln in den Schnürstiefeln. Sie schminkte sich, was viele für verdorben hielten, und unter der Hand tuschelten die Leute, dass ihre Bekanntschaft mit dem Malerfürsten Franz von Stuck darauf zurückgehe, dass sie ihm vor langer Zeit nackt Modell gestanden habe.

Melchior Bruckner öffnete den Wagenschlag für Clara. Langsam stieg sie aus. Und jetzt kam die Erinnerung an die Wärme und den Geruch ihrer Mutter. Sie lief die wenigen Meter hinüber in Antonias Arme.

 

«Marei hat dein Lieblingsessen gekocht», sagte Antonia, als sie alle am Abendtisch saßen. Sie hatte sich Mühe gegeben, die Sitzordnung zu verändern, und hatte für ihren Mann nicht mehr an der Spitze der Tafel decken lassen wie früher, sondern alle einander gegenüber an die Längsseiten des Tisches gesetzt. Dennoch fühlte es sich an, als müsste Thomas jeden Augenblick um die Ecke kommen. Die hochlehnigen Stühle aus dunklem Holz waren dieselben, das Kanapee stand neben dem modernen Art-déco-Schrank. Die vertrauten Bilder: eine Zeichnung von Antonia als jungem Mädchen, die ihr Onkel gemacht hatte, ein kleiner Hund von Anton Ažbe und schließlich ein modernes Gemälde, eine Salome. Es gab auch noch einen weiblichen Akt mit abgewandtem Gesicht, den angeblich die Skandalgräfin Franziska zu Reventlow gezeichnet hatte. Aber der lag im Schrank, seit Magdalenas Großmutter bei seinem Anblick gekreischt hatte, die Dargestellte sei Claras Mutter, und danach mit einem Herzanfall ins Spital hatte gebracht werden müssen.

«Leberknödelsuppe. Wir haben Generalstreik. Im Norden der Stadt rücken schon wieder Regierungstruppen an. Fleisch ist rationiert und die Milch so knapp, dass man schon fürs Dampfnudelschmoren als Konterrevolutionär verhaftet wird.» Antonia hatte sogar die silbernen Kerzenständer und die teuren Spitzenservietten aus dem Schrank geholt, die sonst nur zu Festtagen auf den Tisch kamen. Und die Gläser aus böhmischem Kristallglas.

«Ich esse kein Fleisch mehr», sagte Clara, aber im selben Moment tat es ihr leid. «Es ist gesünder ohne.»

«Gesund», lachte Antonia trocken. «Ja, natürlich! Kleie ist genauso nahrhaft wie Weizen, und Eichelmehl ist viel bekömmlicher als Kaffee. Als der Krieg letztes Jahr zu der großen Hungersnot geführt hat, wurden lauter solche Studien in den Zeitungen zitiert. Ich kann dir sagen, wenn die Herren Professoren je Eichelkaffee trinken und grobes Kleiebrot kauen müssten, wäre ihnen klar, was für einen Unsinn sie schreiben. Sie sind Untertanen, genau wie alle anderen auch, und sie beweisen das, was ihrem Brotgeber gerade in den Kram passt.»

Clara hatte oft gehört, dass ihre Mutter die Tochter eines armen Bauern war, aber was so ein Leben bedeutete, konnte sie sich nicht wirklich vorstellen. Selbst während der schweren Jahre hatten sie immer genug zu essen gehabt.

Die Köchin Marei schaute enttäuscht drein. Ihr blonder Haarkranz war stark ergraut, aber die Figur füllig wie eh und je. Der Suppenduft kitzelte verführerisch in Claras Nase, und sie beschloss, dass heute nicht der Tag für eiserne Prinzipien war. «Ach, was soll’s. Es war sicher nicht leicht aufzutreiben», meinte sie und nickte Marei zu, die ihr begeistert den Suppenteller füllte. Es war dasselbe Art-déco-Porzellan wie früher, mit Flügelmuster. Die Eltern hatten das Service zur Hochzeit bekommen, ein elegantes, geschwungenes Motiv, wie ein Feenflügel zwischen dichten Blättern.

Antonia reichte ihrem Mann den Brotkorb, und er nickte ihr förmlich zu. Überrascht sah Clara ihre Eltern an. Diese sonderbare Fremdheit zwischen den beiden war neu. Unwillkürlich blickte sie zu der Hochzeitsfotografie auf der Kommode: Antonia, eine auffallend schöne Frau in einem schmal geschnittenen, nach unten weiter werdenden Brautkleid, das braune Haar in Wellen gelegt und im Nacken zu einem lockeren Knoten gewunden. Sie hatte sogar, ganz anders als sonst bei solchen Fotografien üblich, die Arme um seinen Nacken gelegt. Melchior, ein schlanker junger Mann, dessen oft so zweideutige Augen hier einfach nur glücklich aussahen, als wollte er sie jeden Moment küssen. Clara hatte sich nicht vorstellen können, dass ihre Eltern je so förmlich miteinander umgehen könnten.

Ihr Vater bemerkte den Blick und räusperte sich. «Sag bitte Bescheid, wenn du ausgehen möchtest. Seit ihr die Stadt verlassen habt, hat sich einiges verändert. Ich habe vorhin versucht, die Nachmittagszeitung zu bekommen, aber die bürgerlichen Blätter sind verboten worden. Du weißt noch, dass Kurt Eisner im November den Freistaat ausgerufen hat?»

Clara bejahte und widmete sich ihrer Suppe. Marei kochte wirklich einmalig.

«Und im Februar wurde Eisner ermordet. Das war, kurz bevor du abgereist bist.»

«Ja, ich erinnere mich. Er wollte seinen Rücktritt anbieten und einen regulären Ministerpräsidenten wählen lassen. Aber auf dem Weg ins Parlament wurde er von einem Verrückten erschossen.»

«So verrückt war der gar nicht. Graf Arco hat enge Verbindungen zur Thule-Gesellschaft und anderen rechtsnationalen Gruppen. Es heißt, er hätte durch den Mord an dem Juden und Linken Eisner seine nationale Gesinnung beweisen wollen, nachdem ihn die Thule wegen seiner eigenen jüdischen Familienseite ausgeschlossen hatte. Aber es kann natürlich auch alles ganz anders sein. Eisner war ein erklärter Gegner der Monarchie, Arco ist Royalist. Der König hat nie offiziell abgedankt. Er hat nur die Beamten von ihrem Gehorsamseid entbunden. Vielleicht war es ein Versuch, die Monarchie zurückzuholen.»

«Wenn, dann jedenfalls kein sehr erfolgreicher», meinte Antonia trocken. «Denn das Ergebnis ist eine kommunistische Räterepublik.»

Clara warf ihrem Vater einen Blick zu. «Das kommt davon, wenn man seinen Mordplan im Alkoholrausch ausheckt.»

«Anfangs waren einige Literaten an der Republik beteiligt», fuhr Antonia unbeeindruckt fort und winkte ab, als Marei ihr nachlegen wollte. Sie war klug genug, die konspirativen Gefahren des Alkoholismus nicht weiter zu erörtern. «Manche sind erklärte Pazifisten. Die offizielle SPD-Regierung ist nach Bamberg geflohen, aber letzten Sonntag – Palmsonntag – hat sie München angegriffen und beinahe erobert. Daraufhin haben die Kommunisten die Macht hier übernommen. Und jetzt sammeln sich vor den Toren der Stadt Regierungstruppen, um die letzte Räterepublik im Land niederzuschlagen.»

«Man nennt sie die «Weißen», wegen ihrer Armbinden. Diese Freikorps sollen brutal sein», meinte Melchior. «Söldner, viele Völkische. Obwohl die Regierung von der SPD gestellt wird, scheint sie das nicht zu stören. Und so sitzen wir zwischen roten Linksextremen im Rathaus und weißen Rechtsextremen vor den Stadttoren fest.»

«Der perfekte Moment, um mich hierher zurückzuholen», meinte Clara. Melchior räusperte sich, und sie bekam ein schlechtes Gewissen. Als ihr Vater nach Wien aufgebrochen war, hatte er nicht ahnen können, dass die erste Räterepublik bei seiner Rückkehr schon wieder Geschichte sein würde. «Und was hat das mit uns zu tun?», fragte sie. Bewusst provokant setzte sie hinzu: «Rotgardisten oder entfesselte Veteranen, alle wollen sich betrinken.»

Melchior nippte an seinem Wasser. «Viele Brauer wünschen sich den König zurück. Wir hatten jetzt jahrelang kein Oktoberfest, und du weißt, dass uns das immer gutes Geld eingebracht hat. Nur, ohne König kein Fest.»

«Wieso? Ist das Recht, sich mit Alkohol zu vergiften, an ein Königshaus geknüpft?»

Melchior schickte ihr einen scharfen Blick. Zwischen seinen Brauen erschienen zwei senkrechte Falten. Dann sah er seine Frau an. «Von wem hat sie das nur?»

«Die Dinge auf ihre Art machen zu wollen und nicht so, wie ihre Eltern es erwarten?» Antonia versuchte trotz der sonderbaren Stimmung ein Lächeln. «Ja, von wem nur?»

Clara hatte ihn nicht verletzen wollen, es war nur alles so beunruhigend. Sie war mit der Brauerei aufgewachsen, aber nie mit dem Gedanken, sie eines Tages zu übernehmen. Sie hatte sich darauf eingestellt, sich eine eigene, davon unabhängige Welt zu schaffen. Mit Thomas’ Tod war das alles zusammengebrochen. Sein Erbe anzutreten bedeutete, seinen Tod anzunehmen. Sie wollte das nicht. Er war ein Teil von ihr gewesen, er fehlte ihr, und sie wollte ihn zurück. Sie wollte, dass er wieder seine verschwitzten Sachen überall herumliegen ließ, wenn er vom Turnverein kam. Und dass er stundenlang auf ihrem Bett sitzen und mit ihr über ein Buch diskutieren konnte, das sie gerade beschäftigte. Solange, bis er ihr die Füße aufs Bett legte wie früher, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, und das Licht löschte. Am liebsten wäre sie in Tränen ausgebrochen.

Ihr Vater entschied sich, nicht weiter auf die Bemerkung einzugehen. «Die königliche Familie war bisher immer eng in die Bräuche eingebunden. Ihr Einzug markierte den offiziellen Beginn des Fests.»

«Gibt es da nicht diesen neuen Verein zur Erhaltung des Oktoberfests?», fragte Antonia. «Das wolltest du dir doch übermorgen ohnehin ansehen. Wie wäre es, nimm Clara doch mit. Dann kann sie gleich anfangen, sich mit der Firma vertraut zu machen.»

Und jetzt blieb Clara der Knödel im Hals stecken.

– 3 –

Das Karfreitagstreffen des Vereins fand – wie hätte es auch anders sein können – in einer Brauereigaststätte statt. Man traf sich in einem ehemaligen Sudhaus mit hohen Decken und Metallstreben. In den guten Jahren vor dem Krieg hatten viele Brauereien modernisiert, und die alten Gebäude waren entweder abgerissen oder umfunktioniert worden. Holzkessel standen noch zur Dekoration zwischen den Tischen – stolze Zeichen, dass sie längst durch modernere aus Metall ersetzt worden waren. Als Clara der Geruch von Bier, gekochtem Kraut und Dampfnudeln entgegenschlug, war er ihr seltsam vertraut. Marei hatte oft so gerochen. Damals war es ihr kaum aufgefallen, aber jetzt erinnerte sie sich daran. Dampfnudeln waren eine beliebte Fastenspeise. Fett und süß, aber immerhin fleischlos. Und Fastenzeit war Starkbierzeit. In Bayern wurde man nicht gerade zur Askese erzogen.

Einige Gäste trugen Tracht, wie es unter modernen Städtern immer mehr in Mode kam. Dagegen fiel Melchior in seinem wie üblich viel zu eleganten Anzug auf. Clara trug ein einfaches helles Kleid und ein Schultertuch, das neben ihrem Vater schlicht und neben allen anderen erst recht unpassend wirkte. Sie war beinahe die einzige Frau, und alle beäugten sie verwundert und ein wenig misstrauisch. Clara erinnerte sich, dass ihre Großmutter die Brauerei einige Jahre allein geführt hatte. Hatte sie auch diese unbehaglichen Blicke geerntet?

Melchior begrüßte einen Mann mittleren Alters mit einem würdevollen gezwirbelten Schnauzbart und einer waghalsig über dem Bauch gespannten Uhrenkette. «Meine Tochter Clara», stellte er sie vor. «Sie wird demnächst anfangen, sich in die Firma einzuarbeiten, Herr Hacker.»

Da war sich Clara alles andere als sicher. Sie wollte ihrem Vater nicht vor seinen Kollegen widersprechen, aber sie fühlte sich noch unwohler als vorher.

Der Brauer deutete einen Handkuss an, aber es wirkte desinteressiert. «Habe die Ehre. Mein Beileid zum Tod vom Thomas. Ein Prachtbub. Suchen S’ Eana so oan als Mann, des ist das Beste, was Sie für die Firma tun können.» Und ehe Clara noch nach Luft schnappen und etwas erwidern konnte, wandte er sich auch schon wieder an Melchior: «Der Schwabinger soll da sein, stelln S’ Eana vor!»

Clara warf ihrem Vater einen Blick zu. Melchior überging die Empfehlung, seinen verstorbenen Sohn mir nichts, dir nichts durch einen Schwiegersohn zu ersetzen, mit einem Räuspern und erklärte: «Ferdinand Schwabinger ist seit kurzem einer der reichsten Männer der Stadt. Allerdings weiß niemand so genau, woher der Reichtum stammt. Viele vermuten, dass er am Krieg verdient hat – was interessant ist, wenn man bedenkt, dass wir gerade kapituliert haben.»

«Es wird g’redt, er hat mit Waffen gehandelt. Aber ned an die unsern hat er verkauft, sondern an die Amerikaner!», schnaubte der Brauer empört. «Aber sicher für mehra als bloß dreißig Silberlinge!»

Melchior gönnte sich ein schmales Lächeln. «Ich habe auch Gerüchte gehört, danach hat er den Alliierten nicht nur Waffen verkauft, sondern vor allem auch Informationen.»

«Wurscht! Des geht ned mit rechten Dingen zu. Kriegsgewinnler san nie ganz sauber. Saukerl, dafeiter!»

Melchior verschränkte die Arme, und aus seinen hellen Augen kam ein undurchschaubares Funkeln. «Was mich vor allem interessiert, ist, wieso er hier auftaucht. Er hat mit dem Brauereiwesen nichts zu tun. Wo steht er denn politisch?»

«Woaß i ned», schnaubte Hacker. «Ist mir auch gleich. Mit dem mag i nix zum tun haben.» Er fegte sich über den Schnauzer, wie um seine Verachtung zu demonstrieren, und steuerte auf einen der Kellner zu, die mit ihren Bierkrügen vorbeiliefen. Obwohl man die Tische mit den rot karierten Decken zusammengerückt hatte, war das gar nicht so einfach, da noch kaum jemand saß. Die meisten hatten sich einfach einen Teller mit Brezen, Essiggurken und Radi geholt und aßen im Stehen.

«Denkst du, er will investieren, um politische Ziele zu verfolgen?», fragte Clara, während Melchior nachdenklich beobachtete, wie Hacker zwischen den anderen Brauern verschwand. «Dass er für uns das Oktoberfest durchsetzt, und dafür schulden wir ihm etwas?»

Der Mundwinkel ihres Vaters zuckte. «Das ist mein Mädchen. Möglich wäre es. Vermutlich veranstaltet er aus demselben Grund auch große Abendgesellschaften, während alle anderen keinen Pfennig haben. Ich werde mich mal umsehen. Wenn der Mann tatsächlich kommt, will ich mir anhören, was er zu sagen hat.»

«Wie sieht er denn aus?»

Melchior zuckte die Achseln. «Ich habe keine Ahnung. Amüsiere dich, sieh dich um, aber sei so gut und halt bei den Themen Abstinenz und Nacktheit den Mund, ja?» Und damit ließ er sie stehen.

Clara stand ein wenig verloren unter den Männern, die sich alle untereinander kannten und in angeregte Debatten vertieft waren. Sie knabberte lustlos an Radieserl und einer Breze, die sie hin und wieder in ein Schälchen Obazdn tunkte. Eine andere junge Frau fiel ihr auf, die auch mit ihren Eltern hier war. Doch gerade, als sie ihre Breze weglegte und sie ansprechen wollte, drehte sie sich weg.

«Was macht eine so reizende junge Dame allein hier?»

Clara drehte sich um und wollte zu einer Antwort ansetzen, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken.

Es war ein auffallend ansehnlicher junger Mann, vielleicht dreißig Jahre alt. Groß, schlank, aber kräftig. Das blonde Haar war zu einem eleganten Seitenscheitel frisiert, die Brauen etwas dunkler. Er sah aus, wie man sich den Helden in einer der Rittergeschichten vorstellte, die sie als Kind gelesen hatte – Ivanhoe oder König Artus. Und neben Melchior Bruckner war er ganz sicher der Einzige hier, der einen Cutaway trug.

«Ich bin …» Clara unterbrach sich. Wenn sie hier herumstammelte wie ein kleines Mädchen, war es kein Wunder, dass jeder nur wissen wollte, wann sie heiratete. «Clara Bruckner. Mein Vater leitet das Brucknerbräu, ich werde es einmal übernehmen.»

Er küsste die dargebotene Hand. «Hocherfreut. Das heißt, Sie werden bald einen Generaldirektor suchen?»

Clara runzelte die Stirn. «Warum?»

«Nun, mit diesen zarten Händen werden Sie das nicht allein stemmen wollen.»

Clara blickte demonstrativ einer Kellnerin nach, die sich gerade, mehrere Bierkrüge gleichzeitig stemmend, schwitzend durch die Gäste drängte und meinte: «Hände, die zum Servieren und Schleppen kräftig genug sind, sollten wohl auch eine Füllfeder halten können. Die zarten Hände von Marie Curie konnten immerhin zwei Nobelpreise entgegennehmen.»

«Beeindruckend. Eine Frau, die etwas über Nobelpreise weiß. Sie lieben die Wissenschaft?» Aber er wirkte deutlich interessierter und auf einmal gar nicht mehr so gönnerhaft. Vielleicht hatte er nur versucht, eine Konversation zu eröffnen.

«Eduard Buchner bekam den Nobelpreis für Chemie 1907 für seine Arbeit über die Gärung von Hefeextrakt», erwiderte Clara und dachte: Warum zur Hölle weiß ich das? «Mein Vater verwendet diese Technologie seit der Publikation der Arbeit im Jahr 1897. Nur deswegen konnten wir den Krieg gut überstehen. Ich wäre eine miserable Erbin, wenn ich die Bedeutung der Wissenschaft für unsere Arbeit ignorieren würde. Und Madame Curie ist ein Vorbild für jede junge Frau.»

«Zweifellos, obwohl sie für Frankreich arbeitet. Ich habe eine der neuartigen Radiumuhren zu Hause. Das feenhafte Leuchten nachts ist märchenhaft. Radioaktivität ist ein charmanter Zeitvertreib für eine Dame, und man hört, Radium sei äußerst gesund. Es soll gegen Gicht und Rheuma helfen, möglicherweise sogar gegen Krebs.»

Clara hätte ihm sagen können, dass es neuerdings auch Leute gab, die die Harmlosigkeit radioaktiver Strahlung bezweifelten. Aber die meisten Männer mochten keine belesenen Frauen, und es wäre doch schade gewesen, wenn er das Weite gesucht hätte.

Der junge Mann schenkte ihr erneut ein blendendes Lächeln und warf dann einen Blick durch den Raum. «Ich möchte nicht aufdringlich erscheinen. Ihr Vater ist sicher auch hier, nicht wahr? Wollen Sie uns nicht vorstellen?»

Melchior Bruckner war nirgends zu sehen, obwohl er schon aufgrund seiner Kleidung durchaus auffiel. Allerdings bedauerte sie das im Moment nicht besonders. «Er sucht diesen Schwabinger. Alle sagen, er sei hier, und ich habe eine Menge Gerüchte gehört. Vermutlich ist es Unsinn. Über meinen Vater wird auch geredet, und wenn das alles stimmen würde, hätte er einen Pakt mit dem Teufel, oder noch schlimmer, mit den Evangelischen.»

«Ja, das ist so bei Gerüchten.» Er stellte sich zu ihr und beobachtete die Menschen. «Vermutlich haben Sie das mit den Waffenverkäufen an die Alliierten gehört. Oder war es die Spionage-Geschichte?»

«Sie kennen sie?», fragte Clara überrascht.

«Natürlich. Habe ich mich noch gar nicht vorgestellt? Wie unhöflich. Ich bin Ferdinand Schwabinger.»

Clara riss die Augen auf. Der Mann war bei weitem zu jung und zu attraktiv, um der reichste Mann der Stadt zu sein.

Schwabinger schenkte ihr ein jungenhaftes Grinsen, das ihr das Gefühl gab, an einer charmanten Verschwörung beteiligt zu sein. Hatte sie das laut gesagt?

«Wenn man wohlhabend ist, reden die Leute immer. Es fällt ihnen schwer zu glauben, dass man einfach durch Geschick und ein gutes Gespür reich werden kann. Sie wollen mindestens eine Verschwörung, und man kann noch von Glück sagen, wenn man in ihren Augen wenigstens kein Freimaurer ist.»

Ein Freimaurer unter Bierbrauern. Clara musste lachen. «Es wird überall gemunkelt, warum Sie wohl hier sind», meinte sie. «Die Brauer hier wollen das Oktoberfest wieder abhalten und suchen Wege. Aber es gibt genug Leute, die meinen, man sollte das Geld besser in den Wiederaufbau des Landes stecken als in ein Relikt aus der Monarchie. Was interessiert Sie daran?»

Schwabinger schien eine Gruppe von Männern in Tracht zu beobachten, die gerade lachend mit ihren Krügen anstießen. «Nun, vielleicht wird es eine lohnende Investition, und man sagt mir nach, dass ich für so etwas einen Sinn habe. Der Biermarkt ist einer der wenigen, die halbwegs stabil sind. Ich will wissen, ob das Fest eine Zukunft hat.» Er winkte einem der Kellner und fragte: «Möchten Sie etwas trinken?»

Clara verneinte. «Ich trinke nicht.»

«Provokant für die Tochter eines Brauereidirektors.»

«Sie machen sich keine Vorstellung. Ich musste feststellen, dass über Ehekandidaten für mich mehr geredet wird als über Ihre Waffengeschäfte.»

Schwabinger lachte. «Alle Achtung. Aber wie dem auch sei, ich bezweifle, dass das Oktoberfest eine Zukunft hat. Vermutlich werden in wenigen Jahren nur noch Lokalhistoriker in Geschichtsbüchern darüber lesen.»

«Wer weiß. Vielleicht gibt es das Oktoberfest sogar noch in hundert Jahren», scherzte Clara. «Dann würden Sie sich ärgern, wenn Sie nicht investiert hätten.»

Schwabinger lachte erneut. «Sie sind amüsant! Nein, ich fürchte, das ist vorbei. Ohne König kein Fest.»

«Ach, man kann alles demokratisieren: Staaten, Unternehmen, vermutlich sogar Toiletten, und eines Tages, natürlich lange nach den Toiletten, vielleicht sogar das Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Warum nicht auch das Oktoberfest?»

«Du lieber Gott, sind Sie Kommunistin?»

Clara runzelte die Stirn. «Ist es kommunistisch, die Demokratie zu unterstützen?»

Schwabinger zuckte die Schultern. «Möglich. Vielleicht auch nicht, wer hat da heutzutage noch den Überblick? Bayern geht nicht gut mit seinen Monarchen um», seufzte er. «Man erklärt sie für wahnsinnig und ermordet sie am Starnberger See.»

Ach du liebe Zeit. Gerade hatte Clara angefangen, die Unterhaltung zu genießen. Was, wenn er nun als Nächstes irgendwelche Geheimbünde oder dergleichen aus dem Hut zog? «Sie gehören zu denen, die glauben, Ludwig II. wurde ermordet?»

«Ich glaube es nicht, ich weiß es», erwiderte Schwabinger.

«Oh. Sind Sie Okkultist und hatten eine Audienz bei seinem Geist?»

«Spotten Sie nicht.» Schwabinger beugte sich zu ihr. «Ich könnte Ihnen schockierende Dinge erzählen», flüsterte er. «Dinge, die Ihren Glauben an die Menschheit erschüttern könnten. Aber ich will Ihr zartes Gemüt nicht belasten.»

«Ach, wissen Sie, mein zartes Gemüt hat einen Krieg und eine Seuche nie gekannten Ausmaßes überstanden. Mein Vater wäre fast bei Verdun von Granaten zerfetzt worden, und mein Bruder ist in einem verdreckten Feldlazarett an der Spanischen Grippe gestorben», erwiderte Clara trocken. «Ein seit vierzig Jahren toter König schreckt mich da nicht allzu sehr.»

Schwabinger bemerkte, dass Herr Pschorr gerade allein stand, und hatte es auf einmal eilig, das Gespräch zu beenden. «Sie müssen mich einmal besuchen. Es ist verzaubernd, mit Ihnen zu plaudern», sprach’s, zückte eine Karte, küsste ihr die Hand und entschwand.

Clara runzelte die Stirn und blickte ihm nach. Nun, die Einladung konnte sie in jedem Fall annehmen. Es würde schon nicht gleich der Geist Ludwigs II. dort auftauchen, um ihr den Treueschwur abzunehmen. Schwabinger war skurril, aber irgendwie amüsant.

Sie mischte sich unter die Gruppe, in der die junge Frau von vorhin stand. Das Mädchen trug Tracht wie ihr Vater, aber mit ihrem dunklen Haar und dem runden Gesicht sah es sogar ein bisschen weniger nach Verkleidung aus als bei so manch anderem. Clara erfuhr, dass sie Lisbeth Geschwendtner hieß und ihre Familie einen kleinen Stand mit Bierausschank auf dem Oktoberfest betrieben hatte.

«Die Schwester vom Thomas? O mei!», rief sie, als Clara ihren Namen nannte. «Beileid. So ein netter Bursch war der Thomas.»

«Das war er», seufzte Clara.

«Werden Sie jetzt die Brauerei übernehmen?», fragte der Vater, der seine Tochter die ganze Zeit bewachte wie ein schnauzbärtiger, glatzköpfiger Schießhund.

Clara bejahte. Sie war sich da zwar noch alles andere als sicher, aber sie wollte ihren Vater nicht in Verlegenheit bringen.

«Die Eltern haben die letzten Jahre ganz gut überstanden. Als der Krieg kam, haben sie den Vertrag mit diesem Engländer kündigen müssen. Wie hat der g’heißen?»

«Shelton. Sir William Shelton.» Ihre Eltern waren damals ziemlich wütend auf Kaiser Wilhelm gewesen – und auf den bayerischen König, der den Krieg mitgetragen hatte. Windigs Lattirl, hatte sich die heimische Mundart unversehens auf Antonias Lippen gestohlen. Unfein hatte sie das königlich bayerische Rückgrat Seiner Majestät mit einer vom Winde hin und her bewegten Lattentür verglichen.

«Ja, genau, der. Die Eltern waren zum Glück nicht auf das russische Getreide angewiesen. Das ist vielen zum Verhängnis geworden, als bei den Russen plötzlich die Kommunisten kamen und nix mehr verkauft worden ist. Pfleg die Kontakte, Madl, so wie der Vater.»

«Genau genommen waren es Freunde meiner Mutter, die uns geholfen haben», berichtigte Clara. Antonia Bruckner hatte unter den Hallertauer Bauern noch einige alte Freunde, die ihre Kontakte bei den Malzfabriken hatten spielen lassen.

Der alte Herr überging den Einwand. «Also, und das Wichtigste für ein junges Madl, das eine Brauerei erbt, ist natürlich der passende Mann. Das wird nicht schwer, es gibt trotz Krieg noch Junggesellen bei uns. Da ist doch der …»

«Verzeihung», fiel ihm Clara ins Wort. «Frauen dürfen jetzt wählen. Da werden sie auch allein eine Brauerei führen können.» Schon wieder einer, der sich berufen fühlte, ihr Privatleben zu regeln. Zwar war sie alles andere als zuversichtlich, ob sie die Brauerei würde leiten können, aber das hieß noch lange nicht, dass diese Wurzelrübe es ihr ins Gesicht sagen durfte. Sie bekam beinahe Lust, es tatsächlich zu tun, nur um es diesen Leuten zu zeigen.

Der alte Herr schaute sie an, als hätte sie sich gerade zum Atheismus bekannt.

«Vater, erzähl doch mal von diesem Journalisten», mischte sich seine Tochter schnell ein. «Das wird die Clara interessieren.»

«Ach, der», schnaubte ihr Vater. «Schaut schneidig aus. Aber a Maul wie a Abortgruben!»

Lisbeth kicherte und meinte: «Der Vater ist bös auf ihn, weil er schreibt, dass die Münchner Brauereien provinziell sind.»

«‹Provinziell, dumpf und fett›», korrigierte ihr Vater finster und rückte die straff gespannte Uhrenkette über dem Bauch zurecht. An seiner Weste war ein Knopf abgesprungen. «Den wann i derwisch!»

Das klang ja, als sei da ein neuer Martin Luther des Brauereiwesens unterwegs. «Wen denn?», fragte Clara belustigt.

«R. Kurowsky steht unter seinen Artikeln. Bestimmt ein Russ!»

«Ah geh, Vater», kicherte Lisbeth. «Der schreibt, dass der Scotch besser ist als a Bier. Das ist kein Russ. Die trinken Wodka.»

Darauf hätte Clara ihren Kopf nicht verwettet, denn sie nahm an, dass die Geschmäcker auch in Schottland und Russland unterschiedlich waren. Aber die Vorstellung, wie dieser Kurowsky mit Zobelpelzmütze oder im Schottenrock seine ketzerischen Thesen übers Bier schrieb und womöglich fünfundneunzig davon am Tor des Löwenbräu anschlug, war zu komisch.

«Ein Russ!», wiederholte der Vater trotzig, und sein Schnauzbart sträubte sich voller Abscheu. «Oder ein russischer Jud! Außer übers Bier schreibt er auch über das neumodische Flugzeug-Zeugs. So ein Schmarrn. Wenn der Herrgott gewollt hätt, dass die Menschen fliegen, nacha hätt ma Flügel. Hoffentlich darennt er sich und bricht sich ’s Gnack!»

«Ein schneidig’s Mannsbild», unterbrach Lisbeth die frommen Wünsche ihres Vaters. «Ich hab ihn mal bei einem Fest gesehen.»

«Da bleiben dir d’ Finger sauber!», fuhr ihr ihr Vater über den Mund. «Man isst ned mit dene Schnapsjünger, man sauft ned mit eana, und scho gar ned heirat’ man oan!»

Clara zwinkerte Lisbeth zu. «Manchmal geht die Liebe sonderbare Wege.»

Der Gschwendtner holte Luft. Er griff in seine Westentasche und beförderte eine kleine, mit einer roten Bauernrose bemalte Dose Schnupftabak heraus. Er griff hinein, stopfte sich zwei Prisen in die behaarten Nasenlöcher und sog tief die Luft ein. «Und welcher Pfarrer», fragte er erbost, «sollt nacha so eine Mischehe segnen? Wie soll man da die Kinder erziehen? Da kannst ja gleich an Lutheraner heiraten! Nix da, meine Tochter heirat’ koan Ketzer ned, weder an Evangelischen noch an Whiskysäufer. Und Sie, Fräulein, Eana rat ich, suchen S’ Eana bald an guten Mann, damit Sie auf solche depperten Ideen gar nicht erst kommen!»

Clara verzog die Lippen. «Warum?»

«Sie wollen den doch nicht verteidigen?»

Clara lächelte lieb. «Oh, ganz und gar nicht. Ich stimme ihm zu, aber in einem Punkt täuscht er sich.»

Des würdigen Braumeisters Augen wollten ihm schier aus dem Kopf treten.

«Die Lösung in diesem Glaubenskrieg ist nicht der Scotch», vollendete Clara. «Sondern die Prohibition.»

– 4 –

Melchior Bruckner war kein Freund von Standpauken, er hielt sie für ordinär. Doch an diesem Abend wurde er seiner Gewohnheit untreu und wusch seiner Tochter gründlich den Kopf.

«Was genau war nicht zu verstehen an ‹Halte den Mund beim Thema Abstinenz›?», brach er das eisige Schweigen, als er den eleganten schwarz lackierten Horch mit den chromblitzenden Rädern auf dem Vorplatz des Brucknerschlössl anhielt. «Ich habe sehr viel Arbeit in die Modernisierung der Brauerei gesteckt. Das habe ich nicht getan, damit du daraus einen Saftladen machst.»

Dabei hat er selbst unter den Bierbrauern einen einschlägigen Ruf!, dachte Clara. Mein ganzes Leben schon muss ich mir anhören, dass mein Vater alle mit seiner beißenden Ironie vor den Kopf stößt. Laut sagte sie: «Es ist unmoralisch, am Alkoholismus zu verdienen.»

«Himmel, was habe ich falsch gemacht, du bist ja spießbürgerlicher als der Preußenkaiser!» Melchior verdrehte die Augen. «Unmoralisch, meine Liebe, ist nur die Moral. Wenn ich den Leuten die freie Entscheidung vorenthalte, was halte ich dann wohl von ihnen?»

Es hatte gar keinen Sinn, darauf zu antworten, er wollte sie nicht verstehen. Wütend starrte Clara geradeaus.

Melchior stieg aus, ging um die geschwungene Kühlerhaube herum und öffnete den Wagenschlag für sie. «Um eins klarzustellen», sagte er in dem eisigen Ton, den viele an ihm fürchteten: «Ich kann mir auch einen Generaldirektor suchen. Ein Studium und die Leitung einer Brauerei waren noch vor kurzem für eine Frau völlig undenkbar. Wenn ich dir beides auf dem Silbertablett serviere, dann erwarte ich zumindest, dass du das Produkt nicht für Satanswerk erklärst!»

Clara stieg aus, ohne die dargebotene Hand zu nehmen. «Oh, das tue ich nicht», erwiderte sie in demselben eisigen Ton und hielt seinem Blick herausfordernd stand. «In der Hölle würde der Alkohol verdampfen, und das wäre ja wohl kaum in deinem Sinne.»

***

Auch als sie am nächsten Morgen aufwachte, war ihre Wut nicht verflogen. Auf ihren Beinen hatte es sich der rot-weiße Kater bequem gemacht. Seinen hochtrabenden Namen Dorian Gray verdankte er Melchiors Lieblingslektüre, und genau wie das literarische Vorbild hatte auch er zwei Seiten: eine seidig schnurrende, und eine, deren Weg mit den Leichen von Mäusen und Vögeln gepflastert war. Clara bewohnte das ehemalige Zimmer der Großmutter. Die etwa hüfthoch hell getäfelten Wände waren von Fenstern durchbrochen, und von ihrem Himmelbett mit den weißen Musselinvorhängen aus blickte sie durch eine große, verglaste Flügeltür in den Garten. Clara erinnerte sich, wie die alte Frau ihr die süß duftenden Walderdbeeren gezeigt hatte, die überall wie versteckte Rubine im Schatten unter den Bäumen wuchsen. Wie sie für sie und Thomas noch in ihrem letzten Jahr einen Kirschbaum hatte pflanzen lassen. Wie sie es selbst todkrank mit einer Decke auf den Knien genossen hatte, als die weißen Blütenblätter vom Wind getrieben wie Schneeflocken auf sie herabgeregnet waren. Melchiors Verhältnis zu seiner Mutter war schwierig gewesen. Verärgerte es ihn, dass seine Tochter deren Liebe zu Pflanzen teilte? Auf dem Intarsiensekretär aus Eichenholz stand eine bauchige chinesische Vase mit helllila und weißem Flieder. Clara liebte den süßen, schweren Duft und konnte im Frühling nicht genug davon bekommen.

Sie schob die Bettdecke zur Seite, und maunzend beschwerte sich der Kater. In der Nacht war Clara ein Gedanke gekommen, aber jetzt kam er ihr albern vor. Ein Bier ohne Alkohol.

Widerwillig schüttelte sie den Kopf. Lächerlich. Melchiors Vorwürfe machten ihr zu schaffen, weiter nichts. Fragten sich ihre Eltern, warum sie überlebt hatte und nicht ihr Bruder? Sie hatte das Gefühl, sie erwarteten von ihr einen Beweis, dass sie es wert war. Aber sie hatte ja nicht einmal ihr eigenes Leben geordnet, wie sollte sie da eine Firma übernehmen? Immer wieder dachte sie an damals, als das Telegramm mit der Todesnachricht gekommen war. Die ganze Nacht hatte sie zusammengekrümmt in ihrem Bett gelegen und sich gefragt, warum es nicht sie getroffen hatte. Ohne Thomas fühlte sie sich so verlassen. Es war, als wäre ein Stück von ihr selbst amputiert worden.

Ich will nie wieder jemanden verlieren.

Diese Grübelei machte sie nur verrückt. Clara sprang auf. Sie schob den mit blühenden Kirschzweigen bemalten Paravent zur Seite, öffnete den schweren Biedermeierschrank und holte sich ein schlichtes Kleid und ihren Badeanzug.

 

Auf der Straße entlang des Flusses bettelten verkrüppelte Veteranen ohne Beine, mit weggesprengten Händen oder Narben von Streifschüssen. Es war ein sonniger Tag, kühler als die letzten, aber die Natur war nicht mehr aufzuhalten: Die Bäume blühten, und die ersten graugrünen Triebe hatten sich beinahe über Nacht zu zarten, hellgrünen Blättern entfaltet, auf denen der Tau blitzte. Büschelweise schossen Krokusse und Leberblümchen aus dem Boden. Die Luft roch nach feuchter Erde und Weißdorn, als wollte sie Frieden verkünden. Nur die Soldaten der Roten Armee passten nicht in das friedliche Bild. In Uniform und mit roten Armbinden, die Gewehre schussbereit, standen sie an fast jeder Kreuzung. Die Straßen waren unnatürlich leer.

An der Kreuzung zum Mariahilfplatz, bei der Kohleninsel, versperrten ihr drei Rotgardisten den Weg.

«Ausweis, Fräulein!»

Clara suchte das Dokument heraus. Sie musste sich zwingen, dabei ernst zu bleiben. Alle drei waren sehr jung, kaum älter als sie selbst. Ohne die Waffen hätten sie ausgesehen wie drei pickelige Pennäler auf dem Weg zum Kegelverein. Der mit dem hellen Schnauzbart kontrollierte den Ausweis.

Über das Dokument hinweg blickte er sie scharf an, als sei es ein Verbrechen, an einem so schönen Tag draußen zu sein. «Wohin geht’s?»

«Ins Müller’sche Volksbad.»

Obwohl das wohl kaum eine konterrevolutionäre Unternehmung war, runzelte er die Stirn. Clara griff in ihre Tasche. «Möchten Sie Zigaretten? Ich habe noch ein paar übrig.»

Einer streckte sofort die Hand aus. «Spassibo», bedankte er sich artig. Clara wusste, dass einige russische Söldner die Rote Armee unterstützten. Der Junge lächelte ihr sogar schüchtern zu, als sie ihm die Zigarette gab. Die anderen taten es ihm nach. Clara rauchte nicht, sie hatte die Zigaretten aus dem Etui ihres Vaters genommen. Wegen des Generalstreiks herrschte Mangel an allem, und sie hatte sich schon gedacht, dass ihr ein kleines Geschenk helfen würde, schnell ans Ziel zu kommen.

«Gehen’S weiter», grinste der Anführer, schob sich die Zigarette in den Mund und gab ihr den Ausweis zurück. «Passt scho.»

Das Müller’sche Volksbad lag einige hundert Meter weiter