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Helga war einmal ein beliebter Vorname. Auch Christina Maria Landerls Mutter heißt so. Hieß, besser gesagt. Sie ist früh verstorben, da waren ihre beiden Töchter und der Sohn noch Kinder. Die mittlere Tochter, Christina, hat sich aufgemacht, dem Menschen Helga auf die Spur zu kommen. Doch die Spuren sind spärlich; der Vater redet nicht gern über die Zeit mit Helga, und der Großmutter scheint die Erinnerung an ihre Tochter körperliche Schmerzen zu bereiten. Am verlässlichsten berichten noch die Freundinnen, über den streng reglementierten Tagesablauf im Klosterinternat zum Beispiel. Und zum Glück haben sich Fotos und Briefe erhalten. So lassen sich die Eckpfeiler des Buches Helga rekonstruieren, doch die Farben, die Nuancen dazwischen muss die Autorin sich vorstellen. Welche Musik hat Helga gehört, wenn sie verliebt war? Hat sie, ein Kind aus einfachen, ländlichen Verhältnissen, manchmal von einem anderen Leben geträumt? Hat sie gelacht, bis ihr die Tränen kamen, und hat sie gebetet, als sie von ihrer Krankheit erfuhr? In ihrem bisher persönlichsten Buch erweist sich Christina Maria Landerl einmal mehr als ,Meisterin der Zurückhaltung'. Hinter der scheinbaren Sachlichkeit ist immer der übergroße Verlust spürbar. Von einem viel zu kurzen Frauenleben erzählt uns dieses Buch, das der einen und zugleich all den anderen Helgas gewidmet ist.
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Seitenzahl: 115
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Das Buch
Helga war einmal ein beliebter Vorname. Auch Christina Maria Landerls Mutter heißt so. Hieß, besser gesagt. Sie ist früh verstorben, da waren ihre beiden Töchter und der Sohn noch Kinder. Die mittlere Tochter, Christina, hat sich aufgemacht, dem Menschen Helga auf die Spur zu kommen. Doch die Spuren sind spärlich; der Vater redet nicht gern über die Zeit mit Helga, und der Großmutter scheint die Erinnerung an ihre Tochter körperliche Schmerzen zu bereiten. Am verlässlichsten berichten noch die Freundinnen, über den streng reglementierten Tagesablauf im Klosterinternat zum Beispiel. Und zum Glück haben sich Fotos und Briefe erhalten. So lassen sich die Eckpfeiler des Buches Helga rekonstruieren, doch die Farben, die Nuancen dazwischen muss die Autorin sich vorstellen. Welche Musik hat Helga gehört, wenn sie verliebt war? Hat sie, ein Kind aus einfachen, ländlichen Verhältnissen, manchmal von einem anderen Leben geträumt? Hat sie gelacht, bis ihr die Tränen kamen, und hat sie gebetet, als sie von ihrer Krankheit erfuhr? In ihrem bisher persönlichsten Buch erweist sich Christina Maria Landerl einmal mehr als ,Meisterin der Zurückhaltung‘. Hinter der scheinbaren Sachlichkeit ist immer der übergroße Verlust spürbar. Von einem viel zu kurzen Frauenleben erzählt uns dieses Buch, das der einen und zugleich all den anderen Helgas gewidmet ist.
Die Autorin
Christina Maria Landerl wurde 1979 geboren und wuchs in Sierning (Oberösterreich) auf. Sie studierte Germanistik an der Universität Wien und anschließend Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Dort schloss sie 2011 mit ihrem vielbeachteten Debütroman Verlass die Stadt (erschienen bei Schöffling und Co) ab. Bei Müry Salzmann veröffentlichte sie die Romane Donnas Haus (2016) und Alles von mir (2020) sowie den Foto-Text-Band TelAviVienna in Zusammenarbeit mit der Künstlerin Ronny Aviram. Landerl ist ausgebildete Sozialpädagogin und Traumafachberaterin und arbeitete viele Jahre mit Jugendlichen und jungen Frauen. Heute lebt sie als freie Schriftstellerin in Berlin und Wien.
Das Kind Helga
Zögling Helga
Herzlichst Helga
Portraits einer jungen Frau namens Helga
Helga L. aus S.
Seems So Long Ago, Helga
Helga und ich
Der Leidensweg Helgas
Helgas Rückkehr
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Cover
Haupttitel
Textbeginn
Impressum
Für meine Mutter Helga
und all die anderen Helgas
I’m so sorry for the ghost I made you be
Only one of us was real
And that was me
Leonard Cohen
Ich rufe mit meiner Stimme zum Herrn
und er erhört mich von seinem heiligen Berg
Psalm 3,5
Meine Mutter im Bikini auf einem Segelboot; sie liegt auf dem Bauch, hinter ihr sitzen zwei junge Frauen in bunten Bikinis, in unwirklichem, südlichem Urlaubslicht; alles in Farben, wie ich sie nur von Fotografien aus den Siebzigern des letzten Jahrhunderts kenne.
Meine Mutter trägt die Haare kurz, länger im Nacken, sie hält in der rechten aufgestützten Hand ihre übergroße Sonnenbrille und sieht draufgängerisch, ohne zu lächeln, in die Kamera.
Der Blick meiner Mutter Helga auf diesem Foto sagt mir etwas, erinnert mich aber nicht an meine Mutter.
(Eine Freundin, als ich ihr das Bild zeige: Ihr Blick erinnert mich an dich.)
Das Foto ist im Sommer 1973 aufgenommen worden.
Zwei Jahre später war Helga verheiratet und stand kurz vor der Geburt ihres ersten Kindes.
Fünfzehn Jahre, nachdem das Bild gemacht wurde, lag sie im Sterben.
Das ist nicht der Anfang.
Das Kind Helga
(Der Stammbaum Helgas)
Helgas Mutter war Josefa, ihr Vater war Josef.
Josefa stammte von einem Bauernhof in W., der heute zum Gemeindegebiet S. gehört. Josefas Mutter hieß ebenfalls Josefa und stammte aus S., ihr Vater war Johann aus W. Josefas Eltern waren Florian und Maria, Florians Eltern waren Mathias und Josefa. Maria war die uneheliche Tochter von Theresia, der Name des Vaters ist nicht bekannt. Theresias Eltern waren Josef und Anna Maria. Die Eltern von Helgas Großvater Johann waren Johann und Theresia aus W., Theresia war die uneheliche Tochter von Theresia, der Name des Vaters ist unbekannt. Theresias Eltern waren Michael und Anna, sie lebten in B.
Helgas Vater Josef stammte von einem Bauernhof in W. ab. Josefs Vater hieß ebenfalls Josef, seine Mutter war Barbara. Barbaras Mutter war Theresia, ihr Vater war Franz. Theresias Eltern hießen Ignaz und Barbara, Barbaras Eltern waren Philipp und Theresia, sie lebten in S. Die Mutter von Helgas Großvater Josef hieß Anna, sie stammte aus W., ihre Eltern waren Anna und Franz aus W., Annas Mutter hieß Anna, sie war mit Georg verheiratet, sie lebten in W. Der Vater von Helgas Großvater war Josef, dessen Eltern Maria und Simon waren, Maria stammte aus W., ihre Mutter war Anna, deren Herkunft unbekannt ist.
Es lassen sich, mit einiger Mühe, Namen, Daten und Orte herausfinden aus den Tauf- und Sterbebüchern, über viele Generationen zurück.
Soweit ich weiß, waren alle Ahnen und Vorfahrinnen Helgas Bauern und Bäuerinnen, manche von ihnen erst Bauernkinder, später dann Häuslerinnen und Kleinbauern; einige vermutlich Mägde und Knechte. Zu wissen gibt es: die sich stets wiederholenden Vornamen, die sich fortsetzenden Nachnamen, die immer gleichen, nebeneinanderliegenden Wohngemeinden. Keine erlernten Berufe, keine Errungenschaften oder Abweichungen sind von ihnen bekannt, aufgeschrieben worden oder in Erinnerung geblieben; nirgends steht, was für Menschen das waren.
Einige unscharfe schwarzweiße Familienportraits vor Bauernhöfen, einige Hochzeitsfotos lassen sich finden, sie gleichen einander stark.
(Die Landschaft)
Helga wächst in W. auf, einer Ortschaft, in der etwa zweitausend Menschen leben. Die Gemeinde liegt im Alpenvorland, die Landschaft ist grün und hügelig, die Berge sind nahe und gut zu sehen.
Die Gegend war immer schon schön, die Lage günstig; die Menschen aus den Städten der Umgebung haben das in den letzten Jahrzehnten bemerkt. Sie bauen ihre neuen, modernen Häuser immer weiter um das alte Dorf herum, sodass es sich mehr und mehr ausdehnt und immer näher an die umliegenden Siedlungen, die zur Ortschaft gehören, heranrückt.
Schon wachsen die Häuser bis zum Bach hinunter, und auf der anderen Seite des Baches beginnt das leicht abschüssige Grundstück, wo früher Felder und Wiesen waren, auf denen einmal Schafe grasten, auf dem das kleine Haus steht, in dem Josefa, Josef und Helga wohnten.
(Josef und Josefa)
Josefa und Josef lernen sich nach dem Krieg kennen, beim Ausgehen: Der gut aussehende Josef in seinem blitzblauen Leibchen gefällt Josefa sofort. Dass sie selbst nie schön gewesen ist, darauf besteht sie ihr Leben lang.
Josef und Josefa heiraten am 9. August 1952. Auf dem Hochzeitsfoto sieht Josef feierlich ernst aus, Josefa zeigt beim Lächeln ihren schlechten Schneidezahn; die beiden legen ihre Köpfe aneinander.
Sie werden in der Kirche ihres Heimatdorfes getraut; ich stelle mir eine einfache, aber fröhliche Feier vor, die anschließend mit Musikkapelle und allen Freundinnen und Verwandten beim Kirchenwirt stattfindet.
Mit Sicherheit sind Josef und Josefa verliebt, vermutlich ist es ein heißer Tag, an dem im Gastgarten unter den Bäumen gegessen, getrunken und vielleicht auch ausgelassen getanzt wird.
Nach der Trauung fahren die beiden mit dem Zug für eine Woche in einen beliebten Urlaubsort am See; eine Hochzeitsreise ist ungewöhnlich zu dieser Zeit in dieser Gegend. Auf einem winzigen Bild mit weißem Rahmen sind die beiden in einem Ruderboot sitzend zu sehen, im Hintergrund die Berge. Josef trägt kein Hemd und legt den nackten Arm um seine Frau, seine Hand in ihren Schoß.
Im Winter darauf ist Josefa schwanger mit ihrem ersten Kind, das ihr einziges bleiben wird.
(Die Geburt Helgas)
Helga B. wird am 14. Oktober 1953 um 7:40 Uhr im Krankenhaus in S. geboren, der Name der Hebamme lautet Rosalia H.
Auf dem Taufschein, ausgestellt von der römisch-katholischen Pfarre S., ist außerdem festgehalten, dass die Taufe schon wenige Tage später in der Krankenhauskapelle stattfindet und dass Wilhelmine G., Landwirtin in W. und Josefas Schwägerin, Helgas Taufpatin ist.
Ob die Geburt schwierig gewesen ist, wie lange sie gedauert hat, ob die Schwangerschaft kompliziert war, das wäre heute nur noch von Josefa zu erfahren, aber sie will nicht mehr erzählen, will sich nicht mehr erinnern an früher, an Helga; der Versuch scheint ihr körperliche Schmerzen zu bereiten, vor denen sich die greise, zerbrechliche Frau, zu der Josefa geworden ist, windet.
(Das Haus)
Die Sölde, so wird ein kleines, eingeschossiges Haus mit etwas landwirtschaftlichem Grund genannt, wie Josef es bei seinem Auszug aus dem Elternhaus erbt, steht in einer kleinen Ansammlung von Vierkanthöfen und Häusern. Etwa hundert Meter und ein Bauernhaus weiter liegt der Hof von Josefs Eltern, den zu dieser Zeit bereits sein älterer Bruder Karl übernommen hat.
Das Haus, in dem Josef, Josefa und Helga wohnen, ist im Vergleich zu den Bauernhöfen der Gegend winzig; sie nennen es immer das Häusl.
Ebenerdig befinden sich darin ein Bad, in das man über den Hausflur gelangt, eine Küche, von der das Kinderzimmer abgeht, von dem aus man in ein Kabinett kommt, und ein Wohnzimmer, das sowohl mit der Küche als auch mit dem Schlafzimmer der Eltern verbunden ist. Die Räume sind klein und die Decken niedrig.Im Dachboden, der vom Flur aus erreichbar ist und der später nur noch Gerümpel, Mäuse und Kisten voller Walnüsse beherbergt, ist in den ersten Jahren ein anderes Ehepaar eingemietet; und sogar die untere Etage teilen sich Josef und Josefa nach ihrem Einzug mit einer zweiten Familie, aber wer diese Leute gewesen sind, weiß heute niemand mehr.
Ein langer Flur, der rechts vom Vorraum abgeht, führt in den Stall, in dem mehrere Tiere leben. Es stehen dort ein Schwein in einem eigenen Kobel und einige Kühe zusammen; später ziehen anstelle der Kühe Schafe ein.
(Ein Kind namens Helga)
Ich stelle mir vor, ich versuche, mir vorzustellen, wie es für Helga war, ein Kind zu sein in diesem Haus, mit diesen Eltern, zu dieser Zeit. Ich versuche, die Erinnerung daran, wie es zu der Zeit, als ich ein Kind war, ausgesehen hat, wie es zu der Zeit gerochen hat, zurückzudrehen um fünfundzwanzig Jahre, in die Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts: Josef und Josefa sind junge Eltern, die Tapeten und das Sofa sind wieder neu. Im Hintergrund läuft zu allen Zeiten, läuft morgens, mittags und abends das Radio, das von der Küche in alle Räume des Hauses dringt und, weil die Haustür immer offensteht, auch im Garten zu hören ist; es ist immer derselbe Sender, der Regionalsender, in dem Peter Alexander singt: Ich weiß was – ich weiß, was dir fehlt.
(Küche)
Aus der Küche kommen auch die Geräusche der Vor- oder Nachbereitung der Mahlzeiten und der Geruch von Essen, der das Haus selten verlässt. Hier hält Josefa sich auf, wenn sie nicht im Stall oder im Garten arbeitet.
Gegessen wird an dem schmalen Tisch, über dem das Brett mit dem Radio hängt; wochentags Suppe und Hauptspeise aus demselben Teller, sonntags aus dem mehrteiligen Sonntagsgeschirr. Josef und Josefa legen keinen großen Wert auf gute Tischmanieren, auf gutes Essen dagegen sehr.
Ich frage mich, ob Josefa für Helga deren Lieblingsspeise kocht, wie für ihre Enkelkinder später, und welches Essen das ist. Oder gibt es Leber, Zunge, Geselchtes, alles vom Schwein, alles, was Kinder hassen? Kocht sie für Helga auch Grießbrei am Abend, rührt sie Kakao aus der Bauernmilch an, brüht sie Kinderkaffee, füttert sie Helga ohne Ende mit gekauften Süßigkeiten und selbst gebackenem Kuchen?
(Kinderzimmer)
Hinter der Küche befindet sich ein kleiner quadratischer Raum, der vermutlich einmal das Elternschlafzimmer gewesen ist, bevor die anderen Parteien aus dem Haus ausgezogen sind, der zu der Zeit, als Helga ein Kind ist, deren Zimmer ist und der später, als Helga ausgezogen ist, zum Esszimmer wird.
Das erste Portrait der Familie, vielleicht hängt es damals im Kinderzimmer, über Helgas Bett, das dort steht, wo später ein großer Esstisch Platz finden wird:
Ein kleines Kind, vielleicht zwei Jahre alt, eine große Schleife in die dünnen, blonden Haare gebunden, sitzt halb auf dem Schoß von Josefa, halb auf dem von Josef, lächelt leidend und lehnt oder fällt bereits ein wenig in Richtung ihres Vaters, der einen Trachtenanzug trägt.
(Helgas Teddy)
In meiner Erinnerung ist das Kabinett hinter dem Ess- oder Kinderzimmer, in dem Josefas Nähmaschine steht, der einzige Raum, den die Sonne erwärmen kann; nachmittags kommt sie durch die Stores herein. Der Rest des Häusls ist immer eher dunkel und kühl, auch im Sommer.