Das Dach kommt später - Murat Topal - E-Book
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Murat Topal

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Beschreibung

»Fenster werden ja komplett überschätzt.«

Spätestens, als Murat diesen Satz von seinem Bauleiter hört, fragt er sich, ob er die richtige Entscheidung getroffen hat. Vielleicht hätte trotz des Babys die Zweizimmerwohnung gereicht? Aber wie sagt sein schwäbischer Schwiegervater immer: Warum ein altes Haus kaufen, wenn man ein neues bauen kann? Eben! Murat beschließt, all jene eines Besseren zu belehren, die meinen, wer knietief im Dispo watet, sollte nicht nach den Sternen greifen. Doch Hausbau und Wahnsinn liegen nah beieinander ...

Murat Topal, „der Star am Comedy-Himmel“ (Welt) und stolzer Eigenheimbesitzer, berichtet vom (Alp-)Traum eines Familienvaters, seinen Lieben ein Haus zu bauen.

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Seitenzahl: 296

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Murat Topal

Roman

Ausschnitt aus dem Comedy-Programm zum Buch.http://youtu.be/​ucCMdW66C54

Impressum

ISBN 978-3-8412-0452-3

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, August 2012

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Originalausgabe erschien 2012 bei Aufbau Taschenbuch, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Redaktionelle Mitarbeit: Mario Savino, Uli Beckers

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung und Illustration

Mediabureau Di Stefano, Berlin

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

www.aufbau-verlag.de

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Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor

Impressum

Inhaltsübersicht

1. Kapitel: Hadi, hadi, Häusle baue

2. Kapitel: Geld regiert die Welt

3. Kapitel: Halali

4. Kapitel: Raus aus der Stadt

5. Kapitel: Rein in die Stadt

6. Kapitel: Fundamentale Fragen

7. Kapitel: Ja, mach nur einen Plan

8. Kapitel: Zwei schwere Geburten

9. Kapitel: Eine folgenschwere Entscheidung

10. Kapitel: Mein Feind, der Baum

11. Kapitel: Auf Partnersuche

12. Kapitel: Aller schlechten Dinge sind drei

13. Kapitel: Was nicht passt, wird passend gemacht

14. Kapitel: Wer andern eine Grube gräbt, muss wissen, wie das geht

15. Kapitel: Ins Blaue hinein

16. Kapitel: Ein verhängnisvolles Versäumnis

17. Kapitel: Hilf dir selbst

18. Kapitel: Aufräumarbeiten

19. Kapitel: Nachspiel

Ja, mach nur einen Plan

Sei nur ein großes Licht

Und mach dann noch ’nen zweiten Plan

Gehn tun sie beide nicht.

Bertolt Brecht, Lied von der Unzulänglichkeit

menschlichen Strebens

Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden,

kann man Schönes bauen.

Johann Wolfgang von Goethe

Eine frei erzählte Geschichte –

nach leider sehr wahren Begebenheiten.

1. Kapitel

Hadi, hadi, Häusle baue

»Murat, ich bin wieder schwanger.«

»…«

»Murat?«

Die Mitteilung, dass unser zweites Kind unterwegs war, verschlug mir die Sprache. Nicht, weil ich etwas gegen Kinder oder gegen ein zweites Kind im Speziellen hätte, auf keinen Fall. Aber mehr Familienmitglieder brauchen mehr Platz. Kein böses Wort über knapp vierzig Quadratmeter große Zweizimmerwohnungen. Zu dritt wird es dort jedoch schnell eng. Und zu viert könnte man ohne Komfortverlust genauso gut in die letzte Reihe eines Charterfliegers ziehen. Also war klar: Wir brauchten eine größere Wohnung.

»Murat, kannst du bitte aufhören, immer nur über die Wohnung zu reden.«

Ann-Marie, die normalerweise liebenswerteste Ehefrau von allen, war von meiner pragmatischen Herangehensweise schwer genervt.

»Als ich Levin bekommen habe, warst du so wunderbar romantisch. Ständig hast du mir Blumen mitgebracht, mir Komplimente ins Ohr geflüstert und geschwärmt, wie wunderbar unser neues Leben zu dritt wird. Und jetzt redest du andauernd von dieser blöden Wohnung.«

Meine Frau hatte leicht meckern. Als Sohn einer deutschen Mutter und eines türkischen Vaters habe ich doppelt so viele Wertvorstellungen wie andere Menschen vermittelt bekommen. Unter anderem erwarte ich von mir selbst, der Paterfamilias zu sein, die starke Schulter, an die meine Liebsten sich vertrauensvoll anschmiegen können. Je größer die Familie – und damit meine Verantwortung – wird, desto weniger Platz bleibt für Romantik. Als sich drei Jahre vor dem Beginn dieser Geschichte unser kleiner Wildfang Levin ankündigte, war das Leben noch vergleichsweise einfach. Ich war als Polizist verbeamtet, hatte ein zwar bescheidenes, aber regelmäßiges Einkommen und war zuversichtlich, dass die Neuköllner Zweizimmerwohnung, in die Ann-Marie und ich nach unserer Hochzeit gezogen waren, auch für drei Bewohner reichen würde. In der Zwischenzeit war ich jedoch ins Comedyfach gewechselt und hatte den sicheren Beamtenstatus trotz der lautstarken Warnungen meiner Eltern gegen die Freuden – und die Unwägbarkeiten – des freien Künstlerlebens eingetauscht. Das Geld kam seitdem nicht mehr ganz so regelmäßig, und für vier Personen würden die vierzig Quadratmeter definitiv nicht reichen. Das war der Grund, warum ich auf die zweite Schwangerschaft meiner Frau nicht annähernd so entspannt und einfühlsam reagieren konnte wie auf die erste. Aber versuchen Sie das mal einer werdenden Mutter klarzumachen, die gerade im Infight mit ihren Hormonen steckt.

»Lass mich bloß in Ruhe mit deinen billigen Ausreden. Du kannst ruhig sagen, dass du mich nicht mehr attraktiv findest!« Türenknallen, Schmollprogramm, Versöhnungsdatum ungewiss.

Zusätzlich beunruhigte mich die Tatsache, dass wir selbst unsere Neuköllner Kuschelwohnung einst nur über dunkle Beziehungskanäle meines Vaters bekommen hatten. Irgendwie kannte er jemanden, der jemanden kannte, der jemandem einen Gefallen schuldete und deshalb meinem Baba diese Wohnung vermittelte, der sie wiederum großzügig seinem Sohn und seiner Schwiegertochter überließ. Ich weiß, die Geschichte klingt kompliziert, das war allerdings schon die vereinfachte Version. Jedenfalls machte ich mir Sorgen, wie mein Baba auf unseren Plan reagieren würde, das von ihm vermittelte Heim aufzugeben. Er war in solchen Dingen manchmal unberechenbar, selbst bei banalsten Anlässen konnte er sich gekränkt fühlen. Ich verstehe das, denn mein Vater hatte kein einfaches Leben. Schon mit Anfang zwanzig verließ er seine Heimatstadt Bursa, um als einer der ersten türkischen Migranten sein Glück in Deutschland zu versuchen. Er und seine Schicksalsgenossen nahmen den damals gängigen Begriff »Gastarbeiter« noch wörtlich. Sie zogen in die Fremde, weil sie einige Jahre später mit üppigen Ersparnissen als gemachte Leute wieder in ihre Heimat zurückkehren wollten. Doch stattdessen lernte Baba meine Mutter kennen, eine »orijinal jebürtije Balinarin«, und gründete mit ihr in Neukölln eine Familie. Um diese vernünftig über die Runden bringen und seiner türkischen Verwandtschaft trotzdem regelmäßig Geld schicken zu können, schuftete er nicht nur im Akkord, sondern legte auch ständig Sonderschichten ein.

»Euer Vater verlegt die Kabel, durch die der Strom zu uns kommt«, war Mutters Standardantwort auf unsere ständige Frage: »Wo ist Baba?« Die Auskunft fand ich wenig glaubwürdig, denn der Strom kam jahraus, jahrein aus den gleichen Steckdosen – wozu also die ganzen neuen Kabel? Meine Mutter wird seit ihrer Hochzeit übrigens »Melek« genannt, was auf Deutsch »Engel« bedeutet. Für uns Kinder war sie aber immer Anne, das türkische Wort für »Mama«.

Wie viele Menschen, die ihr Leben lang hart gearbeitet haben und das verständlicherweise gewürdigt sehen möchten, kann mein Vater manchmal etwas barsch werden, wenn er findet, dass ihm der nötige Respekt versagt wird. Dabei achten und lieben wir ihn sehr. Obwohl es anstrengend ist, dass er zu – ungelogen – jedem Thema eine Meinung hat. Insofern haben wir ein enges, aber nicht ganz unkompliziertes Verhältnis – wie so oft bei Vätern und Söhnen der Fall, sind wir uns eben einfach zu ähnlich.

»Murat, Junge«, antwortete er, als ich mir endlich ein Herz fasste und ihm beichtete, dass wir umziehen wollten. »Waren wir sechs Kinder daheim. Und lebten nicht nur mit unsere Baba und Anne, sondern auch mit Baba und Anne von unsere Baba und mit Baba und Anne von unsere Anne. Macht zwölf Leute, und war trotzdem nicht mehr Platz als achtzig Meter im Quadrat. Ist pro Person viel weniger als bei euch.«

»Ja, Baba. Ich weiß, du bist ein Ass im Rechnen.«

Das stimmte wirklich. Als wir zum ersten Mal unsere Verwandtschaft in der Türkei besuchen wollten, ich war damals vielleicht sechs Jahre alt, stellte mein Baba über lange Zeit komplizierte mathematische Berechnungen an. Es ging dabei um den Rauminhalt seines gebraucht gekauften Benz-Kombis in Relation zur Stapelbarkeit und Größe handelsüblicher Umzugskartons. Mit Hilfe eines im Antiquariat günstig erstandenen Mathematiklehrbuchs kritzelte er wochenlang Servietten, Blöcke und alles, was ihm unter die Finger kam, mit abenteuerlich anmutenden Formeln voll. Selbst beim gemeinsamen Abendessen schob er manchmal ruckartig den Teller zur Seite und begann wie ein Besessener auf den Servietten meterlange Zahlenkolonnen und Gleichungen zu notieren. Dabei murmelte er mit fanatisch blitzenden Augen vor sich hin. So übergeschnappt sein Verhalten wirkte: Zwei Tage vor der Abreise führte Baba meiner Mutter, meinen zwei jüngeren Schwestern und mir voller Stolz seine Pack- und Planungsberechnungen in einer Art wissenschaftlicher Neujahrsansprache vor.

»Genial, perfekt«, nickten wir mitfühlend, als unser Familienvorstand seine so langatmige wie mysteriöse Rede beendet hatte. Für uns war klar, dass sein armer Verstand die komplizierten Formelstudien nicht verkraftet hatte. Wie unrecht wir hatten. Ich weiß bis heute nicht, ob seine krude Theorie kompletter Humbug oder einfach genial war. Aber es war schlichtweg nicht zu glauben, wie präzise sich seine geheimnisvollen Berechnungen erfüllten und welche Unmengen an Kisten wir mit ihrer Hilfe in den Benz gequetscht bekamen.

»Aber die Zeiten, Baba, haben sich geändert. Menschen in unseren Breitengraden wollen mehr Platz zum Leben als früher. Und Schwaben sind von Geburt an gewohnt, in großen Häusern zu leben, die ihnen ganz allein gehören. Es gibt dort seit Urzeiten ein Gesetz, das lautet: Schaffe, schaffe, Häusle baue.«

»Schaffe, schaffe? Was heißt das?«

»Hadi, hadi!«, erklärte ich.

»Hadi, hadi, Häusle baue? Das ist Gesetz?«

»Ist Gesetz, Baba.«

»Schipinnen die, die Schwaben?«

Tja, wer weiß. Habe ich schon erwähnt, dass meine Frau Schwäbin ist? Familie Häberle, Heilbronner Bürgeradel. Schwäbischer geht’s kaum. War mein Vater von unserer Umzugsidee deshalb nicht begeistert, weil er unsere Wohnung groß genug fand, so lehnten meine Schwiegereltern unsere Pläne aus anderen Gründen ab.

»Muratle, warum eine größere Wohnung suchen? Da könnt ihr doch lieber glei baue. Schaffe, schaffe, Häusle baue! Weischt?«

Dieser Frontalangriff meiner Schwiegermutter bei einem opulenten Abendessen in Heilbronn kam für mich nicht unerwartet, denn auch meine Frau hatte im Zuge unserer Zukunftsdiskussionen ähnliche Gedanken anklingen lassen. Mit Blick auf unsere schmale Haushaltskasse versuchte ich, Kompromisslösungen ins Spiel zu bringen. Man könnte ja zum Beispiel eine Mietwohnung mit großem Balkon suchen.

»Muratle«, erwiderte meine Schwiegermama kopfschüttelnd. »Was isch a Balkon gege a eigene Garte? Denk an die Kinder. Von einem Balkon kann man rafalle.«

»Von einem Baum auch.«

Ich wusste, wovon ich sprach. Als Polizist hatte ich bei einem Einsatz erlebt, wie eine junge Frau aus noch nicht einmal einem Meter Höhe von einer Zwergmagnolie gefallen war und sich mehrere komplizierte Brüche zugezogen hatte. Wahrscheinlich gab es sogar Menschen, die über Blumenstängel stolperten und sich das Genick brachen. Oder sich mit dem Gartenschlauch erwürgten. Ganz zu schweigen von den Spezialisten, die bei der Gartenarbeit regelmäßig in die Zinken der auf den Boden gelegten Harke traten. Schwiegermama empfand meinen Wunsch, Mieter zu bleiben, dennoch als Angriff auf sich und das Fundament der schwäbischen Wertewelt.

»Muratle, des isch doch kein Leben net. Wenn du immer nur in einer Mietwohnung hauscht, denn stirbscht am End no zur Miete.«

»Zur Miete sterben« – ein Ausdruck, den man sich auf der Zunge zergehen lassen muss. Für einen Schwaben ist das in etwa so, als würde man seinen hart verdienten Lebensabend nackt auf einer Parkbank verbringen.

»Na, und weischt, Muratle, statt dem Vermieter dein Leben lang Geld zu schenke, kannsch du nach dem Baue des Geld auf die hohe Kante lege, denk halt mal drüber nach.«

Darüber hatte ich schon mehrfach nachgedacht und platzierte daher einen, wie ich fand, gekonnten Return. »Zugegeben, Gisela, Immobilien sind die klassische Geldanlage. Aber hört man nicht immer wieder von Leuten, die ihr gesamtes Vermögen bis auf Cent und Euro in der Baugrube versenkt haben? Und ist es wirklich erstrebenswert, zum Sklaven einer Bank zu werden? Immer unflexibel sein, jeden Cent fünfmal umdrehen …«

»Gut, des isch halt so, aber des gilt höchstens zwanzig bis dreißig Jahr. Ihr seid noch junge Leut, da kann mer ruhig a paar Momentle die Zähn zusammebeiße«, lautete die Replik meines Schwiegervaters Frank, der normalerweise immer darauf aus war, in Gefahr geratende Harmonie sofort wiederherzustellen. Sein ausgleichendes Wesen vertrug einfach keine Misstöne. Dass er hier die Geduld verlor, zeigte, wie sehr ihm meine ketzerischen Bemerkungen gegen den Strich gingen. Zwanzig, dreißig Jahre als Knecht einer Baufinanzierung zu leben empfand seine schwäbische Seele als »Momentle«. Schwaben haben offensichtlich optimistische Vorstellungen von ihrer irdischen Verweilzeit.

Mich hingegen versetzte diese Aussicht in Panik. »Das meine ich doch gerade! Mein Motorrad, der Jahresurlaub, jede kleine Anschaffung, alles, was das Leben lebenswert macht, wird plötzlich schwierig. So ein Bau, der frisst dir in guten wie in schlechten Zeiten die Haare vom Kopf.«

Ich stutzte und hoffte, dass mein Schwiegerpapa diese Bemerkung mit Blick auf sein lichtes Haupthaar nicht persönlich nahm. Da wusste ich noch nicht, dass ich ein Jahr später viel weniger Haare auf dem Kopf haben sollte als er.

Wie sich an diesem Punkt der Diskussion herausstellte, war meine Frau leider ebenfalls vom schwäbischen Hausvirus infiziert. Sie verließ die neutrale Ecke, in der sie bislang verharrt hatte, und holte zum verbalen Rundumschlag aus. »Murat, woher stammen bloß deine pubertären Vorstellungen von Freiheit und Abenteuer? Von deinen Eltern sicher nicht, die haben ihr Leben lang Verantwortung übernommen. Solltest nicht auch du dafür langsam alt genug sein? Und deine sozialromantische Abneigung gegen Banken ist einfach nur kindisch. Jeder Mensch, der was leistet, will Geld verdienen. Die paar Prozent Zinsen an die Bank, die tun nun wirklich niemand weh.«

Ann-Maries Eltern begleiteten diese Grundsatzrede mit stolzem Nicken, als wollten sie sagen: »Ist unsere Tochter nicht prachtvoll geraten? Blut von unserem Blut, Holz aus unserem Stamm.« Ich dagegen empfand ihre Einlassung als klaren Fall von Hochverrat. Wozu heiratet man eigentlich einen Menschen, wenn er einem in entscheidenden Momenten nicht den Rücken stärkt, sondern sich auf die feindliche Seite schlägt? Gut, Ann-Marie war sicher nur bedingt schuldfähig. Gegen seine Gene kann man schlecht an. Dennoch war ich tief enttäuscht und keinesfalls bereit, mich geschlagen zu geben.

»Ihr seid unfair und wollt mich unbedingt falsch verstehen. Eben WEIL ich verantwortungsbewusst bin, will ich keine unkalkulierbaren Risiken eingehen. Was ist denn, wenn ich mal länger krank werde und als selbständiger Künstler nichts verdiene? Oder wenn die Zinsen steigen? Dann sagt die Bank: ›Hasta la vista, Familie Topal. Es war schön mit Ihnen, aber wenn Sie Ihren Verpflichtungen nicht nachkommen können, zwangsversteigern wir Ihr Häuschen lieber. Das ist lukrativer!‹ Dann stehen wir vor dem Nichts! Als Mieter ist das Leben viel unkomplizierter. Wenn der Vermieter die Miete erhöht, wechsle ich einfach die Wohnung.«

Den letzten Satz wollte ich in letzter Sekunde noch runterschlucken, aber da war er dummerweise schon draußen. Ein krasser taktischer Fehler, der der Schwabensippe wie gerufen kam.

»Des mit der Miete, des isch ebä grad der Punkt! Damit hascht nix mehr zu tun, wenn du erscht mal a Häusle hascht!«, posaunte Schwiegermama unter Beifallsbekundungen ihrer Mitstreiter.

»Muratle, des isch auch eine Frage von Ehre und Stolz, dass mer sei schönes Leben lang net in was leben tut, das einem gar net gehört«, ergänzte Frank. »Die Hos, zum Beispiel, die wo du grad anhascht, die magscht du auch net von nem andere Kerl leihe. So was wird eimal im Leben angschafft und fertig, verstehscht?«

Ich kannte zwar niemanden, der sich in seinem Leben nur eine Hose kaufte, sparte mir diesen nutzlosen Konter jedoch lieber. Meine resolute Schwiegermutter setzte zum finalen Dolchstoß an.

»Irgendwo leben muscht eh, Murat, des isch halt so. Und da muscht Prioritäte setze: A Häusle isch dei Sicherheit. Und des von der Ann-Marie und von de Kinder auch, wenn se erscht eimal groß genug sind, werde sie dir’s danke.«

Mein Widerstand erlahmte. Was hatte es für einen Zweck, allein gegen eine feindliche Übermacht zu kämpfen? Vor allem, wenn der Feind Teil der eigenen Verwandtschaft war? Ich schwenkte innerlich die weiße Fahne. Es galt allerdings, den Schaden zu begrenzen und das Gesicht als Familienoberhaupt zu wahren. Darum griff ich zum in vielen Schlachten bewährten Mittel des Teilrückzugs und Zeitgewinns.

»Also gut, vielleicht habt ihr in einigen Punkten ja recht. Ich denke drüber nach. Aber bauen ist auf jeden Fall zu aufwendig. Wenn, dann kaufen wir ein Haus«, bremste ich die gegnerische Attacke fürs Erste aus.

Mein einlenkendes »Also gut« erwies sich als eine jener unbedachten Äußerungen, die einen Menschen ohne Umwege vom Paradies direktemang in die Hölle katapultieren. Daher hat sich dieser Abend tief in mein Gedächtnis eingegraben – sofern Abende überhaupt graben können. Manche Bauarbeiter beherrschen diese Kunst jedenfalls nicht. Aber ich will nicht vorgreifen.

In der Nacht nach diesem schicksalhaften Abendessen erwachte ich von Alpträumen geplagt und schweißgebadet. Ich hatte das Gefühl, ein hoffnungsloser Versager zu sein. Ein wahrer Jahrtausendtrottel. Auf mir lag, leise schnarchend, mein kleiner Sohn. Nachts in unser Schlafzimmer zu schleichen und sich auf meinen Bauch zu legen war ein neues Hobby von ihm. Kein Wunder, dass ich Alpdrücken hatte. Doch es war nicht nur sein Gewicht, das mich bedrückte. In meinem Gefühlshaushalt schien sich irgendein Schalter umgelegt zu haben. Bis zu diesem Moment war ich, zumindest was das Wohnen betrifft, ein zufriedener Mensch gewesen. Mein ganzes Leben hatte ich als Mieter verbracht. Nie hatte ich dabei das Gefühl gehabt, etwas zu versäumen. Ganz im Gegenteil: Als Kind liebte ich es, in den Hinterhöfen Neuköllner Mietskasernen herumzutoben und abends in unsere für fünf Personen zwar etwas enge, aber für mich urgemütliche Wohnung in der Sanderstraße heimzukehren. Häuschen im Grünen kamen in meinen Zukunftsträumen, die sich um Freiheit, Abenteuer und Superhelden drehten, einfach nicht vor. Erst mit Beginn meiner Polizeiarbeit änderte sich das insofern, als sich im Kollegenkreis zahlreiche Gespräche um den Hausbau drehten und man dem Thema kaum ausweichen konnte. Wenn sich einer aus unserer Truppe den Traum vom Eigenheim erfüllte, schien ich jedoch fast der Einzige zu sein, bei dem sich keinerlei Neid regte. Mir war meine kleine sturmfreie Junggesellenbude Luxus genug.

In dieser Nacht wurde plötzlich alles anders. Ich verspürte den Drang, meine Existenz endlich in eine dem Universum wohlgefällige Richtung zu lenken – eine Empfindung, die junge Väter nach Aussage eines befreundeten Paartherapeuten häufig heimsucht. Bei mir richtete sich der Wunsch nach grundlegender Veränderung ausgerechnet auf die eigenen vier Wände. In meinem Inneren vollzog sich das, was einer meiner Polizeiausbilder in seinen langatmigen Vorträgen als Perspektivwechsel zu bezeichnen pflegte. Plötzlich erschien mir unsere Zweizimmerwohnung nicht mehr niedlich, romantisch und kuschelig, sondern winzig, deprimierend und einengend. Von einem Moment auf den anderen kam es mir vor, als wäre jedes Seufzen meines schlummernden Sohnes ein lautstarker Protest gegen seinen verantwortungslosen Rabenvater, der seinem eigenen Fleisch und Blut das im Generationenvertrag festgeschriebene Recht entzog, in besseren Verhältnissen aufzuwachsen als sein Erzeuger. Der ihm stattdessen ein Leben in grauer Stadtteiltristesse aufzuzwingen versuchte, und dies in Räumlichkeiten, die selbst einer Amöbe Platzangst gemacht hätten.

In diesem dramatischen Augenblick wurde mir klar, dass wir eine Familie ohne Raum waren – und dass es mir als Oberhaupt dieser landlosen Sippe oblag, Gattin, Sohn und nicht zuletzt den zukünftigen kleinen Topis Platz, Auslauf und, ja, Eigentum zu verschaffen. Vor meinem geistigen Auge materialisierte sich eine wunderschöne weiße Jugendstilvilla mit drei Stockwerken, deren Garten in etwa die Größe des Berliner Tiergartens hatte. Besonderer Blickfang war ein riesiger S-förmiger See, an dessen Ufern sich unsere gesamte türkische Verwandtschaft zum Grillen niederlassen konnte. Und das Beste: Rechts vom See lag eine eigene kleine U-Bahn-Station, was die vier fetten Garagen links der Villa fast überflüssig erscheinen ließ. Ich meine, wer braucht in einer vom Verkehrsinfarkt bedrohten Stadt wie Berlin schon vier Autos? Zwei fahrbare Untersätze und der private Metro-Anschluss waren allemal ausreichend.

Es war klar, dass ich mich dieser von einer übernatürlichen Macht so deutlich visualisierten Zukunft nicht ernsthaft verweigern konnte. Im Nachhinein denke ich, dass die zum Abendessen servierten Schupfnudeln womöglich nicht nur mit Ochsenbacken, sondern Halluzinogenen serviert wurden. Okay, das ist meine persönliche Verschwörungstheorie. Aber wie soll ich mir sonst erklären, dass ich in jener Nacht ganz gegen meine Natur nicht nur von allen guten Geistern, sondern auch von sämtlichen Bedenken verlassen wurde?

In meinem Rausch stand dem Kauf der Luxusvilla nichts mehr im Weg. Oder bestenfalls eine klitzekleine Kleinigkeit: mein Kontostand. Sofern man bei einem so chronisch dehydriert darniederliegenden Konto wie meinem überhaupt von einem Stand reden konnte. Eher vorsichtig veranlagte Freunde pflegten mir gern zu sagen: »Wer knietief im Dispo watet, sollte nicht nach den Sternen greifen.« Zumindest in jenen Stunden des Deliriums sah ich das anders und orientierte mich lieber an der glorreichen Vergangenheit meiner türkischen Ahnen. Niemals wäre das Osmanische Reich mit einer an finanziellen Realitäten ausgerichteten Denkweise zu seiner (zumindest vorübergehenden) Pracht und Größe gelangt. Mein Entschluss war gefasst, und wer mich kennt, weiß: Den Murat in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf. Um keine unnötige Zeit zu verlieren, beschloss ich, mich gleich am nächsten Tag dem Duell mit meinem ärgsten Widersacher zu stellen – meinem Bankberater.

Vorsichtig stand ich auf und trug meinen kleinen Jungen in sein Bettchen. Als ich ihn zudeckte, öffnete er kurz die Augen und sah mich nachdenklich an. Dann streckte er die Ärmchen nach mir aus und sagte: »Babi, ich hab dich lieb.«

Ich fühlte mich stark und unbesiegbar.

2. Kapitel

Geld regiert die Welt

Bankberater ist einer dieser Begriffe, die sich in der Umgangssprache eingebürgert haben, aber purer Nonsens sind. Denn diese aalglatten Damen und Herren sollen ja nicht die Bank, sondern deren Kunden beraten. Außerdem beraten sie nicht, sondern verkaufen – und zwar nach Möglichkeit Produkte, für die ihr Arbeitgeber eine hohe Provision kassiert. Mein Kundenschröpfer also war seit den ersten Tagen meiner Berufstätigkeit ein steter Quell des Ärgernisses für mich gewesen. Herr Florian von Feuchtleben, wie er laut seinem Namensschild genannt werden wollte, hatte schon in den ersten Monaten unserer krisengeschüttelten Geschäftsbeziehung entschieden, mich für einen hoffnungslosen Fall zu halten. Als Spross einer Adelsfamilie legte er eine vermutlich genetisch bedingte Arroganz an den Tag, die in eigentümlichem Kontrast zu der Servilität stand, die ihm offenbar während seiner Banklehre eingebläut worden war. Voll ausgefahren locker über zwei Meter groß und mich also um gut zwei Köpfe überragend, versuchte er aus verhandlungstaktischen Gründen hinter seinem Schreibtisch um eben diese zwei Köpfe kleiner zu wirken. Dies gab ihm ein seltsam verknäultes Aussehen. Seine speckig gegelten Haare und der Tick, stets eine, zu allem Überfluss schief hängende, Fliege zu tragen, taten das Übrige.

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