Das Dorf Domrémy - Barbaros Güzelses - E-Book

Das Dorf Domrémy E-Book

Barbaros Güzelses

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Beschreibung

Die Schauspielerin Maria Kaufmann, ein ehemaliger Star der Deutschen Wochenschau, verstirbt 1969 in Ost-Berlin bei einem Verkehrsunfall. Im Jenseits erwacht sie im Dorf Domrémy, einem Ort umgeben von Finsternis und Verdammnis, fern jeder menschlichen Vorstellungskraft, surreal und apokalyptisch. Hier begegnet Maria Richard, einem Ritter des dritten Kreuzzuges, sowie anderen Seelen aus verschiedenen Ländern und unterschiedlichen Zeiten. Mit Rückblicken in ihr vergangenes Leben sehen sie nicht nur ihre guten Taten, sondern müssen sich auch ihren Sünden stellen. In Domrémy geht es um Schuld und Bestrafung, um Reue und Vergebung, vor allem aber um Gerechtigkeit. Gemeinsam erleben sie die Nacht ohne Morgen, unausweichlich kommt der Tag des Jüngsten Gerichts immer näher, keine Seele weiß, wie Gottes Urteil ausfallen wird . . .

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Seitenzahl: 770

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


B A R B A R O S G Ü Z E L S E S

D a s D o r f D o m r é m y

J e n s e i t s d e s T o d e s

R o m a n

Das irdische Leben ist vergänglich,

die Gegenwart ist flüchtig,

nur das ewige Leben ist unendlich.

Inschrift über dem Tor zur Hölle

Lasciate ogni speranza,

voi ch‘entrate

„Gebt jede Hoffnung auf, die ihr hier eintretet!“

aus

Die Göttliche Komödie

von

Dante Alighieri

Im Leben zählt nur, was man getan hat.

Nicht was man tun wollte, hätte tun müssen

oder hätte tun können.

P r o l o g

Von Anbeginn der Zeit suchen Menschen nach dem Sinn des Lebens, nach dem Sinn ihres Lebens.

Jeder Mensch stellt sich irgendwann die Frage, ob es ein Sein nach dem Tod gibt. Werden wir noch sein oder nichts sein? Was ist jenseits der Sterne, der Materie, und vor allem, was ist jenseits des Todes?

Der Mensch mit seiner Gestaltungsgabe, seiner Schöpfungskraft in Kunst und Kultur, seinen Errungenschaften in den Wissenschaften, das alles ordnet sich einer einzigen Frage unter, die von Bedeutung ist. Wer oder was hat uns Menschen erschaffen?

Unausweichlich wird der Tod zu jedem Menschen kommen. Der Tod ist die einzige Wahrheit, die von niemandem geleugnet wird, das größte unbekannte Mysterium der Menschheit.

Ebenso wie niemand entscheiden kann, wann man geboren wird, kann auch niemand entscheiden, wann man dieses Leben verlässt. Im Leben gibt es kein Glück und keinen Zufall, sondern nur Schicksal.

Dieses niedergeschriebene Bekenntnis vom Glauben beruht teilweise auf Fiktion, teilweise auf historischen Ereignissen. Es erzählt die Lebensgeschichte von Maria Kaufmann, ihrem Leben, ihrem Tod und ihrem Erwachen jenseits des uns bekannten Lebens.

Inhaltsangabe

Leben und Tod

Das Erwachen - Fürchte Dich nicht!

Domrémy – Das Dorf der Hoffnung

Zusammenkünfte – Die Sünder

Früchte vom verbotenen Baum

I N R I

Wer zum Schwert greift . . .

Erkenntnisse und Reue

Du sollst kein falsches Zeugnis . . .

Armageddon – Das Wort Gottes

Was ihr dem geringsten meiner Brüder . . .

Der brennende Dornbusch

Die Schauspielerin Maria Kaufmann, ein ehemaliger Star der Deutschen Wochenschau, verstirbt 1969 in Ost-Berlin bei einem Verkehrsunfall. Im Jenseits erwacht sie im Dorf Domrémy, einem Ort, umgeben von Finsternis und Verdammnis, fern jeder menschlichen Vorstellungskraft, surreal und apokalyptisch.

Hier begegnet Maria Richard, einem Ritter des dritten Kreuzzuges, sowie anderen Seelen aus verschiedenen Ländern und unterschiedlichen Zeiten. Mit Rückblicken in ihr vergangenes Leben sehen sie nicht nur ihre guten Taten, sondern müssen sich auch ihren Sünden stellen.

In Domrémy geht es um Schuld und Bestrafung, um Reue und Vergebung, vor allem aber um Gerechtigkeit.

Gemeinsam erleben sie die Nacht ohne Morgen, unausweichlich kommt der Tag des Jüngsten Gerichts immer näher, keine Seele weiß, wie Gottes Urteil ausfallen wird . . .

Texte: © Copyright by Barbaros GüzelsesUmschlaggestaltung: © Copyright by Barbaros Güzelses

Verlag:epubli GmbHKöpenicker Straße10997 Berlin

Herstellung:

epubli – ein Service der neopubli GmbH,

Köpenicker Straße 154a, 10997 BerlinKontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:

[email protected]

Leben und Tod

Ost-Berlin, Januar 1969. Es war ein wunderschöner, herrlicher Tag, ein Sonntag. Schnee lag knöchelhoch in den Straßen, der Himmel wolkenfrei und strahlend blau. Maria hatte eine alte Freundin in Karlshorst besucht, es war ein gemütlicher, geselliger Nachmittag bei Kaffee und Kuchen gewesen.

Nun war sie gut gelaunt unterwegs nach Biesdorf, sie war zum Abendessen verabredet. Dieses Treffen war der eigentliche Grund ihres Besuchs in der DDR. Das Restaurant hieß Moskau und wurde von jedem Reiseführer wegen seiner guten Küche empfohlen. Man hatte sich jedoch nicht wegen der rustikalen russischen Küche, sondern aus strategischen Gesichtspunkten für dieses Restaurant entschieden. Es wurde überwiegend von Besuchern aus Westdeutschland bevorzugt, Maria würde da überhaupt nicht auffallen, wenn sie sich mit ihrem Führungsoffizier traf.

Von ihm würde sie die Kontaktdaten ihrer Unterstützer erfahren. Für den Fall, dass ihre Identität aufgedeckt, eine Verhaftung drohte, sollten sie Maria bei ihrer Flucht in ein neutrales Land helfen. Diese Unterstützer, im MfS-Jargon „Reisebegleiter“ genannt, kannten jeden Grenzübergang nach Österreich und in die Schweiz, besonders die Schwachstellen, Marias Identität aber kannten sie nicht, diese würden sie erst erfahren, wenn es so weit war.

Maria war vor einigen Tagen beim Grenzübergang Helmstedt-Marienborn in die DDR eingereist, um Verwandte und Freunde zu besuchen. Die Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Deutschland nicht nur in zwei Staaten geteilt, sondern auch die Bevölkerung mittendurch getrennt. Fast jede Familie hatte Verwandte, Bekannte und Freunde auf der anderen Seite.

Es wäre ausgesprochen verdächtig gewesen, wenn Maria ihre verwandtschaftlichen Beziehungen nicht pflegen würde. Ihre Besuche der DDR waren auch ein idealer Vorwand, um sich mit ihrem Führungsoffizier zu treffen. Da dem Auftrag von Maria oberste Priorität beigemessen wurde, hatte man ihr zwei Führungsoffiziere zugeteilt. Einen in München, dem sie Bericht erstattete, sowie einen Führungsoffizier in Ost-Berlin, der auch ihr direkter Vorgesetzter war.

Der Arbeitgeber von Maria, die Firma Krauss-Maffei mit Hauptsitz in München, produzierte als Generalunternehmer den Hauptkampfpanzer der Bundeswehr, den Leopard I. Dieser galt als der modernste und leistungsstärkste Panzer seiner Zeit. Maria hatte in der Buchhaltung zwar keine Einblicke in die technischen Daten des Panzers, da aber in der Buchhaltung die Rechnungen der Zulieferfirmen zusammenkamen, konnte man daraus Rückschlüsse auf die Produktion ziehen.

Zu diesem Zeitpunkt, dem Höhepunkt des Kalten Krieges, wurde ein Krieg in Europa zwischen den USA und ihren Verbündeten in der NATO und der Sowjetunion und ihren Verbündeten im Warschauer Pakt für sehr wahrscheinlich gehalten. Viele Politiker und Militärs hielten ihn sogar für unvermeidlich. Die Frage war nur, wer ihn wann beginnen würde.

Da es hauptsächlich ein am Boden geführter Krieg sein würde, waren alle Daten des gegnerischen Hauptkampfpanzers von entscheidender Bedeutung. Dieser Wissensdrang war dem Bushido, dem Ehrenkodex der Samurai, entnommen. Du sollst das Schwert deines Gegners kennen, noch bevor er daran denkt, es zu ziehen.

Die von Maria übermittelten Daten über die Produktion des Leopard-Panzers waren zwar Gold wert, jedoch war man mit diesen Daten äußerst vorsichtig. Maria könnte enttarnt und ohne ihr Wissen falsche Daten übermitteln. Es wäre auch möglich, dass sie enttarnt, umgedreht und nun für die Gegenseite arbeitete. Bei diesem unsichtbaren und geheimen Krieg der Geheimdienste war schon alles vorgekommen.

Maria übermittelte nun seit über einem Jahr nicht nur Daten über die Produktion des Leopard-Panzers, sondern spähte auch die Belegschaft aus. Wer ist aufgrund einer nicht erfolgten Beförderung frustriert oder mit seiner Entlohnung unzufrieden, geht fremd, spielt, trinkt, ist überschuldet. Jede menschliche Schwäche war eine Angriffsfläche, die Mitarbeiter von Krauss-Maffei tratschten und klatschten wie in jedem Betrieb.

Sie ahnten nicht im Geringsten, dass die Hauptverwaltung Aufklärung, der Auslandsgeheimdienst der DDR, Akten über sie angelegt hatte. Um Maria nicht zu kompromittieren, wurden diese Informationen vorerst nur gesammelt. Zu gegebener Zeit würde man umso gnadenloser die Daumenschrauben ansetzen.

Das MfS hatte mit Maria große Pläne, als nur Daten auszuspähen, jedoch all das würde an diesem Sonntag ein Ende haben.

Maria fuhr an diesem Tag auf der Straße Am Tierpark, welche auch am Tierpark entlangführte, eine der beiden zoologischen Gärten in Berlin. Um nach Biesdorf zu kommen, musste sie auf der großen Kreuzung in Lichtenberg nach rechts abbiegen, dafür waren zwei Spuren vorgesehen.

Gut gelaunt und etwas zu übermütig, nahm sie die linke Spur, viel zu unachtsam, viel zu schnell. Noch bevor Maria reagieren konnte, verlor sie die Kontrolle über ihren Wagen. Sie rutschte auf der glatten, teilweise gefrorenen Fahrbahn auf die Hauptstraße, ihr Renault 16 drehte sich.

Kaum zum Stehen gekommen, krachte auch ein ZIL-131, ein schwerer russischer Militärlastwagen, mit voller Wucht seitlich in den Renault. Maria hatte keine Chance, sie war auf der Stelle tot.

An diesem Tag, dem 12. Januar 1969, war die Lebensuhr von Maria Kaufmann abgelaufen, keine Sekunde zu früh oder zu spät. Sie starb mit 56 Jahren, so war es niedergeschrieben worden, so war es unausweichlich geschehen.

Im Leben gibt es kein Glück und keinen Zufall, sondern nur Schicksal.

Das Erwachen - Fürchte Dich nicht!

Als Maria die Augen öffnete, sah sie das Gesicht eines alten Mannes. Er hatte lange stahlgraue Haare, einen stahlgrauen Bart. Lebendige, sogar sehr lebendige Augen, die sie zu durchdringen schienen. Obwohl er die Lippen nicht bewegte, drangen seine Gedanken klar und deutlich in ihr wahrgenommenes Bewusstsein.

»Fürchtet euch nicht, ihr seid hier bei Freunden.«

Wo war sie und wer war dieser große, merkwürdig gekleidete Fremde? Sie griff unbewusst nach seinem Arm und bemerkte, dass er unter seinem merkwürdigen Gewand ein Kettenhemd trug. Ein Kettenhemd? Maria war erschrocken und noch mehr verwirrt, einen solchen Augenblick hatte sie noch nie in ihrem Leben erlebt.

Was war geschehen, und wo bin ich hier, dachte sie. Als ob der Fremde ihre Gedanken lesen konnte, drangen seine Worte erneut klar und deutlich in ihr Bewusstsein.

»Fürchtet euch nicht, ihr seid hier bei Freunden.«

Benommen blickte Maria sich um und richtete sich langsam auf. Sie lag auf einem Bett, und was für ein Bett und was für ein fürchterlicher Raum. Alles sah so alt, heruntergekommen, düster und unheimlich aus. Maria bemerkte, dass da etwas abseits noch eine weitere Gestalt im Raum war, gekleidet wie ein Mönch.

Die Gestalt war von einer bläulichen, mystischen Lichtaura umrahmt, so etwas hatte Maria noch nie in ihrem Leben gesehen. Die Gestalt war ebenso unheimlich wie unbeschreiblich, Maria konnte das Gesicht der Gestalt nicht sehen. Der Fremde an ihrem Bett schien ihre Unsicherheit, Benommenheit und ihr grenzenloses Erstaunen genauestens beobachtet zu haben. Erneut vernahm sie seine Worte, vielmehr waren es seine Gedanken.

»Mein Name ist Richard.«

Ja, dieses Mal hatte sie es ganz deutlich beobachten können. Er hatte überhaupt nicht seine Lippen bewegt und dennoch hatte sie ihn klar und deutlich verstanden. Nun lächelte er ein wenig und wieder vernahm sie im Geiste seine Gedanken.

»Wenn ihr etwas sagen möchtet, dann denkt es. Wir werden euch genauso verstehen, wie ihr mich jetzt versteht.«

Wer ist dieser Fremde und was meint er mit „wir“, dachte Maria. Das ist ein Albtraum, was für ein fürchterlicher Albtraum. Der Fremde blickte sie sehr ernst an und erneut vernahm sie klar und deutlich seine Gedanken.

»Maria, das ist kein Albtraum, ihr müsst jetzt stark sein für das, was euch erwartet.«

Anscheinend konnte er ihre Gedanken lesen, Maria versuchte, ihre Gedanken zusammenzufassen.

»Woher kennt ihr meinen Namen? Wer seid ihr, und wo bin ich hier?«

Der Fremde blickte in ihre Augen und nahm ihre Hand in seine Hände.

»Wir danken Gott, dass er euch hierhergeführt hat. Maria, ihr seid jetzt jenseits eures irdischen Lebens, auf Erden seid ihr verstorben!«

»Was sagen Sie da, ich . . . ich bin tot?«

Mit grenzenlosem Erstaunen blickte Maria den Fremden an.

»Nein, das kann nicht sein, das kann . . . einfach nicht sein!«

»Maria, ich kann euch gut verstehen, es ist am Anfang schwierig zu akzeptieren, ihr seid noch verwirrt. Wir sind alle wie ihr hier aufgewacht, ich werde euch nach und nach alles erklären. Die Erinnerungen an euer irdisches Leben werden bald zurückkommen, dann werdet ihr es auch verstehen. Es ist kein Albtraum, Maria, ihr seid jetzt jenseits eures irdischen Lebens.«

»Ich . . . ich kann das einfach nicht glauben . . . «

Richard zeigte mit einer Handbewegung auf die Gestalt im Raum.

»Wenn ihr mir nicht zu glauben vermögt, vielleicht glaubt ihr an euer vergangenes Leben.«

Die Gestalt trat nun einige Schritte an das Bett heran. Ja, tatsächlich, von ihr ging ein bläuliches Leuchten aus, es war ebenso unheimlich wie faszinierend. Mit beiden Händen warf die Gestalt die Kapuze nach hinten und Maria blickte in das Gesicht einer wunderschönen, jungen Frau. Ihre gesamte Gestalt, besonders ihr Haupt, war von einer Lichtaura umrahmt.

Ihr Anblick war außergewöhnlich, ebenso übernatürlich wie erhaben, besonders ihre Augen leuchteten wie Kristalle. Maria kannte das von Darstellungen der Jungfrau Maria bei Kirchenfenstern, wenn die Sonne durchschien. Diese junge Frau, diese Erscheinung, Maria hatte in ihrem Leben noch nie auch nur Annäherndes gesehen. Ihr Blick war warmherzig und gütig, es nahm Maria ihre Verwirrung, beruhigte sie.

»Erkennen Sie mich, Frau Kaufmann?«

Maria konnte ihren Blick nicht von ihrem Gesicht abwenden.

»Nein . . . ich kenne Sie nicht.«

Die junge Frau lächelte, ihre Blicke durchdrangen Maria bis tief in ihr Herz, bis tief in ihre Seele . . .

»Mein Gott, das kann doch nicht wahr sein . . . ich kenne euch . . . ihr seid . . . Sarah.«

Die Gedanken von Maria, Sarah und Richard verschmolzen miteinander und gingen gemeinsam zurück in Raum und Zeit. Ja, Maria kannte diese junge Frau . . . sie kannte sie sogar sehr gut . . .

. . . das Jahr 1938, Berlin, Hitlerdeutschland. Adolf Hitler, einer der größten Verbrecher aller Zeiten, auf dem Zenit seiner Macht, eines der dunkelsten Kapitel in der Menschheitsgeschichte.

Eine Wohnung auf dem Kurfürstendamm. Maria hatte es heute ausgesprochen eilig. Sie war wütend auf ihren Intendanten, fluchend versuchte sie, ein Dirndlkleid für ihren heutigen Auftritt zu bügeln. Selten hässliches Teil dachte sie, auch noch mit einer Hakenkreuzarmbinde.

Maria spuckte auf das Hakenkreuz und bügelte mit reichlich Zorn darauf los. Sie hielt sich selbst für eine verdammt gute Schauspielerin, wie halt alle Schauspieler von sich dachten. Nur sie war eine ganz miserable Hausfrau, das wiederum würde sie ungern von sich behaupten. Die Falten glattzubügeln fiel ihr überhaupt nicht leicht.

Obwohl er wusste, dass sie sich den Tag freinehmen wollte, hatte Heinz Hilpert, der Intendant des Deutschen Theaters, sie am frühen Morgen angerufen. Die Vorstellung wäre vorgezogen worden, eine Anordnung vom Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda.

Wie aufgeregt, übereifrig er am Telefon geklungen hatte, Dr. Goebbels wird eine Rede halten, Hermann Göring wird auch kommen, was für ein Affentheater für diese Parteibonzen, dachte Maria. Sie hasste die Nazis, aber wie so viele war sie gezwungenermaßen in der NSDAP, andernfalls kam man im Dritten Reich einfach nicht voran.

Tief in ihrem Inneren sympathisierte sie mit dem Sozialismus, nur das durfte niemand, nicht einmal ihr Ehemann Karl-Heinz, wissen. Das wäre viel zu gefährlich gewesen, es galt das Prinzip, wenn zwei es wissen, ist es schon kein Geheimnis mehr.

In einer Diktatur muss man gewisse Dinge sogar vor den eigenen Kindern geheim halten, ganz besonders vor denen. Kindermund tut Wahrheit kund. Kinder reden unbedacht, und in jeder Diktatur hört man ihnen aufmerksam zu.

Zur gleichen Zeit auf dem Kurfürstendamm vor Marias Wohnung. Mehrere schwarze Limousinen der Gestapo standen in zweiter Spur und warteten auf SS-Standartenführer Hans Gerber. Kaum, dass er eingetroffen war, verteilte er die Fotografie einer jungen Frau an die Gestapomänner.

»Heil Hitler, meine Herren. Ich muss gleich weiter, daher fasse ich mich kurz. Diese Aktion wurde von oberster Stelle, dem Reichsführer SS Himmler, persönlich angeordnet. Wir suchen diese jüdische Ratte, Sarah Elisabeth Goldmann, Schauspielerin. Ihr Vater, vermögender Kaufmann, ihr Onkel, wie kann es anders sein, ein steinreicher Bankier. Dieses Drecksjudenpack hat schon zu lange das deutsche Volk bestohlen, jetzt wird abgerechnet. Verschärfte Vernehmungen haben ergeben, dass reiche Juden ihrem Vater, Isaak Goldmann, eine erhebliche Menge Diamanten übergeben haben. Wir sprechen hier von Hunderttausenden Reichsmark Volksvermögen, meine Herren.«

Verschärfte Vernehmung, damit war im Nazi-Jargon physische und psychische Folter gemeint. Stockhiebe, Bastonade, Dunkelzelle, Schlafen auf dem Boden, Essens- und Schlafentzug. Verschärfte Vernehmung, mit dieser verharmlosenden Bezeichnung wollten die Nazis das Wort Folter umgehen, welches eher nach Mittelalter klang, als nach den Praktiken eines modernen Polizeiapparates.

Das Inhaftieren von politischen und „rassischen“ Gegnern (NS-Wortlaut) durch die SS und Gestapo in Konzentrationslagern wurde Schutzhaft genannt. Diese Bezeichnung sollte der Bevölkerung suggerieren, dass die Inhaftierten eine Gefahr für sie darstellten und sie vor ihnen geschützt würden.

Sonderbehandlung bedeutete die gezielte Tötung von Gefangenen in Konzentrations- und Vernichtungslagern. Besonders im Zusammenhang mit dem Holocaust wurde dieser Begriff im Schriftverkehr benutzt. Es würde bedeuten, dass die Menschen entweder sofort zu erschießen wären oder im späteren Verlauf des Holocaust direkt von dem Bahnsteig in die Gaskammern geführt werden sollen.

»Die Eltern und den Onkel haben wir schon einkassiert, leider verstarb dieser bei der . . . Vernehmung.«

Gerber konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er war ein überzeugter Nationalsozialist, der die Juden abgrundtief hasste. Bei der Vernehmung des Onkels war wohl ein Faustschlag zu viel gewesen.

Zur gleichen Zeit, Wielandstraße Ecke Kurfürstendamm. Sarah hatte es eilig, sie blieb oft an den Schaufenstern stehen, tat so, als würde sie sich Auslagen anschauen. Sie hielt Ausschau nach Verfolgern, konnte aber keine entdecken. Kaum dass sie auf den Kurfürstendamm, von den Berlinern auch liebevoll Ku’damm genannt, abgebogen war, gab es kein Zurück mehr.

Nach einigen Schritten sah sie das Aufgebot der Gestapo. Sie musste weitergehen, einige von ihnen blickten schon in ihre Richtung. Eine Richtungsänderung kam nicht mehr infrage, damit wäre sie sofort aufgefallen, daher entschloss sie sich einfach weiterzugehen.

SS-Standartenführer Gerber, sein Rang bei der SS entsprach dem eines Obersts der Wehrmacht, war inzwischen voll in seinem Element.

»Wir brauchen diese Ratte unbedingt lebend, um Druck auf ihren Vater auszuüben, er ist 72 und herzkrank. Wenn wir bei der Judensau einen Gang hochschalten, bekommt er womöglich noch einen Herzkasper und nimmt die Klunker mit ins Grab.«

Die Gestapomänner lachten, Sarah blickte geradeaus und ging einfach weiter. Sie sah die Tür ins Treppenhaus zu Marias Wohnung, die Gestapo genau davor auf dem Bürgersteig. Sarah musste unbedingt mit Maria sprechen, es hing so viel davon ab. Zwei der Gestapomänner blickten zwar in ihre Richtung, aber sie konnten sie nicht sehen, sie sollten sie nicht sehen.

Alles, was sie sahen, war eine leere Straße, nur das wusste Sarah nicht. Es war nicht ihr Schicksal, an diesem Tag den Nazis in die Hände zu fallen. Sie hatte Angst, wie noch nie zuvor in ihrem Leben, sie rechnete damit, jederzeit angesprochen zu werden. Zu ihrer grenzenlosen Erleichterung reagierten die Nazischergen aber überhaupt nicht auf sie.

Es fiel ihr ein riesengroßer Felsbrocken vom Herzen, als sie unbehelligt das Treppenhaus betrat, ihre Hände zitterten, ihr Herz pochte wie wild. Während sie mit raschen Schritten die Treppen hochging, gab Standartenführer Gerber weitere Instruktionen.

»Sie schauen sich hier im Haus jede Wohnung an. Im zweiten Stock ist eine Maria Kaufmann gemeldet, sie und ihr Mann sind in der Partei. Da sie auch Schauspielerin ist, könnte sie weiterführende Informationen haben. Gehen sie bei ihr aber äußerst behutsam vor, ihr Mann ist mit Artur Görlitzer, dem stellvertretenden Gauleiter von Berlin, eng befreundet. Jetzt aber los, meine Herren, finden sie diese Ratte!«

Zur gleichen Zeit in der Wohnung von Maria. Sich einer Inszenierung des Propagandaministeriums zu verweigern, wäre in jeder Hinsicht Selbstmord. Nur der Cognac, den Walter, ein Freund ihres Mannes, gestern Abend mitgebracht hatte, munterte sie ein wenig auf.

Echter französischer Courvoisier Cognac, die Flasche hatte sicherlich auch einiges gekostet. Was für ein edler Tropfen, den man auch nicht in jedem Laden bekam. Betrunken, wie er gewesen war, hatte er erneut seinen Mantel vergessen. Walter war ein hohes Tier in der NSDAP, ein überzeugter Nationalsozialist, der lange vor der Machtübernahme 1933 in die Partei eingetreten war. Ihr Mann suchte gezielt die Nähe von hochrangigen Parteifunktionären.

Es wird deiner Karriere ganz bestimmt nicht schaden, pflegte er immer zu sagen. Was für ein Kriecher, diese Seite an ihrem Mann mochte Maria ganz und gar nicht. Wie hatte Friedrich Schiller gesagt, die Großen hören auf zu herrschen, wenn die Kleinen aufhören zu kriechen.

Ein wahres Wort, selbst Mitglied in der NSDAP zu sein, gefiel ihr auch nicht, aber was soll's, so ist nun mal das Leben, dachte Maria, kein Wunschkonzert. Ihr Blick fiel auf das Programmheft, ein Bote hatte es mit dem Dirndlkleid gebracht.

Maria schaute auf das Bild von Goebbels, was für eine hässliche Visage, was für ein aalglatter, widerlicher Typ. Das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, ein deutsches Stück, im Anschluss eine Rede von Reichspropagandaminister Dr. Joseph Goebbels, natürlich im Deutschen Theater. Was für ein Theater im Affentheater, murmelte Maria vor sich hin und gönnte sich noch einen Schluck.

Ein Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda? Durch eigentlich zwei vollkommen gegensätzliche Begriffe wie „Volksaufklärung“ und „Propaganda“ wurde der Anschein erweckt, dass das Volk aufgeklärt und vor Propaganda geschützt würde. Schwachsinn, dachte Maria, ihrer Meinung nach war genau das Gegenteil der Fall. Das Volk wurde nicht aufgeklärt, sondern vielmehr durch Propaganda für dumm verkauft.

Jedoch hätte niemand im Dritten Reich es gewagt, über diesen Widerspruch laut nachzudenken, es sei denn, derjenige wollte ein Konzentrationslager von innen besichtigen. Propaganda im Dritten Reich war dazu da, der Bevölkerung bei jeder Gelegenheit die Ideen und Ideale des Nationalsozialismus vor Augen zu führen.

Jede andere Gesinnung wurde als Verbrechen am Staat und Volk angesehen, verfolgt, unterdrückt und bestraft. Man konnte der NS-Propaganda, der permanenten Gehirnwäsche, einer ununterbrochenen Flut aus Bildern, Inszenierungen und Parolen wie „Ein Reich, ein Volk, ein Führer“, nicht entgehen.

Maria war in Gedanken versunken und mit dem Bügeln beschäftigt, als auf einmal Schritte im Treppenhaus zu hören waren. Schritte, Stimmen, eine Geräuschkulisse, als würde eine Kompanie Soldaten durch das Treppenhaus marschieren. Sie wurde durch heftiges Klopfen an der Tür unterbrochen. Das wird Walter sein, dachte sie, nach dem gestrigen Umtrunk hat er nun doch seinen Mantel vermisst.

Maria wurde so langsam säuerlich, erst versaut man ihr den freien Tag, dann kommt sie mit diesen widerwärtigen Falten nicht klar, jetzt lässt man sie nicht mal in Ruhe bügeln. Auch gut, dachte sie, Walter könnte sie ja ins Deutsche Theater fahren, das würde ihr viel Zeit ersparen und öffnete die Tür.

»Walter, schön, dass du . . . «

Zu ihrem Erstaunen war es nicht Walter. Sie blickte in das zutiefst verängstigte Gesicht von Sarah.

»Sarah, was machen Sie denn hier?«

»Frau Kaufmann, bitte helfen Sie mir, sie sind hinter mir her.«

Maria kannte Sarah, sie war eine äußerst sympathische und ausgesprochen talentierte Kollegin. Aufgrund ihres Glaubens hatten die Nazis die Juden aus Kunst und Kultur, aus dem Staatsdienst, praktisch aus dem öffentlichen Leben verbannt. Erst viele Jahre später würde die Welt erfahren, welche unmenschlichen Verbrechen am jüdischen Volk begangen worden waren und noch begangen werden würden.

Maria hatte noch nie so viel Angst in den Augen eines Menschen gesehen, pure Todesangst. Mit einem kräftigen Handgriff zog Maria Sarah in ihre Wohnung und schloss die Tür. Im Hintergrund hörte sie immer noch Stimmen und Schritte.

»Jetzt mal ganz ruhig, Sarah, wer ist hinter ihnen her?«

Sarah, aschfahl im Gesicht, atmete erstmals tief ein und aus, bevor sie antworten konnte.

»Die Gestapo, sie haben bereits meine Eltern abgeholt, jetzt suchen sie nach mir. Bitte helfen Sie uns, es darf den Nazis nicht in die Hände fallen.«

Maria war noch nie in solch einer Situation gewesen, ihr unterdrückter Groll auf die Nazis kam in ihr hoch, der Cognac tat auch schon seine Wirkung. Diese verfluchten Nazis, wenn sie ein Theaterstück wollen, sollen sie es auch bekommen, und zwar jetzt, hier und gleich!

Maria ging mit schnellen Schritten zum Fenster, blickte durch die Gardine auf den Ku‘damm. Ja, da standen sie, nicht zu übersehen, Gestapo.

»Sarah, Sie tun jetzt genau das, was ich ihnen sage!«

Sarah blickte verzweifelt, jeden Augenblick konnte die Gestapo da sein. Maria betrachtete Sarah, zum Glück hatte sie die gleiche Größe, gleiche Statur. Sie ging zum Tisch und füllte das Glas halb voll.

»Hier, austrinken! Sie gehen sofort ins Schlafzimmer und warten dort.«

Was sagte ihr Mann immer, eine gute Schauspielerin muss in jeder Lage schnell improvisieren und absolut überzeugend sein. Genau richtig, dachte Maria, während sie im Kopf ein kurzes Theaterstück entwarf und durchspielte. Requisiten, war doch alles vorhanden. Das Programmheft, das Dirndlkleid, sie blickte sich um. Wunderbar, Walters Mantel, am Revers prangte das goldene Parteiabzeichen der NSDAP. Sie nahm das Abzeichen ab und steckte es an ihre schwarze Kostümjacke.

Auch sie füllte sich ein Glas Cognac ein, eine kleine Fahne sollte schon zu riechen sein. Kaum dass sie das Glas ausgetrunken hatte, klopfte es schon an der Tür, nach einer kleinen Pause noch kräftiger.

»Staatspolizei!«

Erster Akt, erste Szene:

Jetzt geht die Vorstellung los, dachte Maria, und atmete einmal tief ein und aus. Verärgert und etwas angetrunken war es, für sie in diesem Augenblick, so etwas wie ein Dumme-Jungen-Streich.

Vorhang hoch.

Kaum dass die Tür offen war, hielten ihr zwei Gestapomänner ihre Marken entgegen. Nur in Nachkriegsfilmen wurden Gestapomänner als bullige Schlägertypen mit Ledermänteln und Schlapphüten dargestellt, die Angst und Schrecken verbreiteten, ein weitverbreitetes Klischee. In der Realität trugen sie Anzüge, waren ganz normal gekleidet.

Sie waren angewiesen, möglichst nicht aufzufallen, nur so konnten sie verdeckt observieren. Die beiden Gestapomänner, die nun vor Marias Tür standen, sahen eher aus, als würden sie in einem Damenbekleidungsgeschäft arbeiten. Angst entstand im Dritten Reich erst, wenn diese gefürchteten Schergen eines Polizeistaates ihre Marken zückten.

GEHEIME STAATSPOLIZEI in Großbuchstaben, darunter die eingestanzte Dienstnummer. Auf der Rückseite der Reichsadler mit dem Hakenkreuz in seinen Klauen. Erst diese Marke erzeugte Angst und Schrecken, welche man mit Einschüchterung, brutalen Verhörmethoden und Schmerzen assoziierte. Hemdsärmelige Schlägertypen, mit mehr Muskeln als Verstand, waren in der SA, der Sturmabteilung, organisiert. Die Beamten der Gestapo hingegen waren erfahrene Kriminalisten, überzeugte Nationalsozialisten.

Die Gestapo besaß weitreichende Befugnisse bei der Identifizierung und Bekämpfung von allen, die das Naziregime als Staatsfeinde klassifizierte. Um diese Ziele zu erreichen, durfte sie verhaften, inhaftieren und foltern. Geheime Staatspolizei, die Kurzform GESTAPO, verdankte sie der Reichspost, für deren Frankiermaschinen der Name Geheime Staatspolizei zu lang gewesen und sie es auf die Kurzform GESTAPO abgekürzt hatten. GESTAPO, ein Wort, welches für alle Zeiten ein Synonym für Angst, Einschüchterung und Unterdrückung sein wird.

Ihre Zentrale hatte die Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße 8, es wurde sarkastisch als das „Polizeigewahrsam besonderer Art“ bezeichnet. Es war nicht nur die Zentrale, sondern auch das Hausgefängnis der Gestapo. Wegen brutaler Verhörmethoden war es die gefürchtetste Adresse in Deutschland, und genau das war von den NS-Machthabern auch so beabsichtigt. Angst, Einschüchterung, Unterdrückung und blanker Terror waren die Grundlagen der Herrschaftssicherung des NS-Regimes.

Noch ehe die beiden was sagen konnten, zerrte Maria den groß gewachsenen Gestapomann schon mit einem arroganten Lächeln und einer eleganten Bewegung in ihre Wohnung.

»Heil Hitler, nun kommen Sie doch rein, junger Mann, nicht so schüchtern, Sie auch und machen Sie doch bitte die Tür zu.«

Sofort rochen die beiden den Alkohol und ließen gewohnheitsmäßig ihre Blicke durch das Wohnzimmer gleiten. Sie waren beim Anblick ihrer Marken an verängstigte Blicke gewohnt, dass man sie so familiär in die Wohnung zog, überrumpelte sie. Das hatten sie bislang nicht erlebt und genau das war von Maria auch so beabsichtigt.

Als erfahrene Schauspielerin wusste Maria, dass in der Psychologie der sogenannte „erste Eindruck“ bei der ersten Begegnung zwischen zwei Menschen weitgehend darüber entschied, wie man einander wahrnimmt. Unbewusst werden dabei Faktoren wie Aussehen, Körperhaltung, Stimme, Bekleidung und andere visuelle Wahrnehmungen zu einem Gesamturteil zusammengefasst. Für den ersten Eindruck, die Zeitspanne beträgt gerade mal sieben, maximal zehn Sekunden, gibt es keine zweite Chance.

Wenn Maria bei ihren Auftritten die Bühne betrat, schaute sie für fünf Sekunden mit einem strahlenden Lächeln ins Publikum, um einen positiven, visuellen Kontakt herzustellen, erst dann spielte sie ihre Rolle, das war ihr Erfolgsrezept.

Die Gestapomänner, die den „ersten Eindruck“ nicht kannten, glaubten, dass sie dank ihrer Gestapomarken Maria eingeschüchtert, die Situation unter Kontrolle hätten. Sie ahnten nicht im Geringsten, dass Maria, seit sie die Tür geöffnet, bereits die Kontrolle übernommen hatte.

Maria würde agieren und kontrollieren und spielte gleich zu Anfang die Rolle einer von der Gestapo unbeeindruckten, aber hilfsbereiten Person, die in Eile war. Sie würden den Gestapomännern noch weitere Rollen vorspielen. Mit schnellen Schritten ging sie zum Bügeltisch, ließ die beiden erst gar nicht zu Wort kommen.

Erster Akt, zweite Szene:

»Meine Herren, was immer sie auch wollen, ich habe es verdammt eilig«,

nahm einen Schluck und widmete sich emsig ihrer Bügelei, als wären die beiden gar nicht anwesend.

»Sind Sie Maria Kaufmann?«

Maria antwortete so beiläufig, ohne hochzublicken,

»Maria kommt erst heute Abend wieder. Mein Name ist Rökk, Erika Rökk, sie werden eher meine Schwester Marika kennen, aber jetzt entschuldigen sie mich bitte, ich muss in einer Stunde im Deutschen Theater sein«,

und bügelte munter weiter.

Maria war Marika Rökk zwar nie persönlich begegnet, aber jeder im Dritten Reich kannte sie. Sie war ein Star der UFA, ein Liebling der Nazis, ebenso eine enge Freundin von Propagandaminister Goebbels, den man auch den Bock von Babelsberg nannte. Er nutzte von Regimegegnern beschlagnahmte Villen in dem Potsdamer Stadtteil Babelsberg für seine Affären. Schäferstündchen gegen Karriere, eine nicht nur in Nazideutschland gültige universelle Währung.

Maria war voll in ihrem Element, setzte ihr ganzes Repertoire an schauspielerischem Können ein. Ihr selbstsicheres Auftreten, ihre Schauspielerei waren viel überzeugender als eine Kennkarte (Ausweis im Dritten Reich). Dass Marika Rökk gar keine Schwester hatte, wussten die beiden Gestapomänner zu diesem Zeitpunkt nicht. Sie ließen sich zwar nichts anmerken, aber sie waren, wie von Maria beabsichtigt, ein wenig aus der Spur.

Marias arrogant-überhebliches Auftreten, teure Wohnung auf dem Ku‘damm, teurer französischer Cognac, der Name Rökk, das Dirndlkleid mit der Hakenkreuzarmbinde und das goldene Parteiabzeichen taten auch ihre Wirkung. Auch war ihnen gesagt worden, dass der Wohnungsinhaber mit dem stellvertretenden Gauleiter befreundet wäre.

Die Gestapo war zwar mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet, aber einen Parteibonzen oder seine Freunde zu verärgern, war auch im Dritten Reich das nicht gerade karrierefördernd. Der groß gewachsene Gestapomann zog ein Foto aus seiner Manteltasche und zeigte es Maria.

»Kennen Sie diese Person?«

Maria blickte in das Gesicht von Sarah, eine Registrierungsnummer, der Buchstabe J für Jude und STAATSFEIND waren groß und fett aufgestempelt. Maria warf einen kurzen, desinteressierten, aber völlig überzeugenden Blick auf das Foto, drehte sich um und schnappte sich das Programmheft vom Bügeltisch.

Erster Akt, dritte Szene:

»Nein, und kennen sie diesen Herren?«,

und hielt mit strengem Blick den beiden Gestapomännern das Bild von Goebbels entgegen. Ihnen bloß keine Zeit zum Denken geben, dachte sie, Druck machen. Wohl beabsichtigt schaute sie nicht mehr so ernst, als sie sagte,

»Meine Herren, in einer Stunde wird Reichsminister Dr. Goebbels im Deutschen Theater eine Rede halten, dann kommt mein Auftritt. Wäre es möglich, dass sie mich ins Deutsche Theater fahren?«

Ehe einer der beiden was sagen konnte,

» . . . der dicke Hermann wird auch kommen«,

lächelte charmant und bügelte eifrig weiter. Im Volksmund wurde Hermann Göring, Reichstagspräsident, Generalfeldmarschall und Oberbefehlshaber der Luftwaffe, nach Hitler der zweite Mann im NS-Staat, wegen seiner Leibesfülle so genannt. Göring war ein dekadenter Lebemann, der unter der Hand wegen seines Hanges zu prunkvollen Fantasieuniformen auch als Goldfasan oder Lametta-Heini verächtlich verspottet wurde.

Mit solchen Aussagen musste man sehr vorsichtig sein. Es waren schon Leute im KZ gelandet, weil sie zu laut, blond wie Hitler, schlank wie Göring (130 kg), groß wie Goebbels (1,65 m) gesagt hatten. Die Trennlinie zwischen der Freiheit und dem KZ konnte ein Scherz oder eine banale Bemerkung sein, viele waren deswegen von der SA zu Tode geprügelt worden.

Wer so flapsige Bemerkungen auch noch in der Gegenwart der Gestapo machte, schien keine Angst zu verspüren, dafür belangt zu werden. Auf die Gestapomänner wirkte das arrogante, überhebliche Auftreten Marias wie das von jemandem, der einflussreich zu sein schien oder einflussreiche Freunde hatte oder beides.

Und genau zu dieser Schlussfolgerung sollten die beiden auch kommen. Eine arrogante, selbstsichere und einflussreiche Künstlerin mit Berliner Schnauze. Maria wechselte mit fließenden Übergängen die Rollen, je nach Lage und Situation. Sie fand, dass es jetzt an der Zeit war, die Waffen einer Frau einzusetzen. Mit einem charmanten Lächeln fragte sie erneut,

»Meine Herren, ich bin hier ja gleich fertig, wäre es doch möglich, mich ins Deutsche Theater zu fahren?«

Maria spielte nun die Rolle einer Frau, die ihren Charme einsetzt, um bei Männern eine Gefälligkeit durchzusetzen, wie Frauen das manchmal tun, sie tat das absolut überzeugend. Gleichzeitig überlegte sie fieberhaft, wie es weitergehen sollte, wenn man Sarah im Schlafzimmer entdecken würde. Darauf hatte sie keine Antwort und so langsam verspürte sie Angst.

In diesem Augenblick wurde ihr so langsam bewusst, dass ihr Handeln nicht nur für sie, sondern auch für ihren Mann ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen würde, sollte man Sarah in ihrer Wohnung entdecken. Dazu durfte es auf gar keinen Fall kommen. Die beiden Gestapomänner tauschten einen kurzen Blick miteinander aus.

»Wenn Sie diese Person sehen sollten, melden Sie es sofort, ansonsten machen Sie sich strafbar.«

Maria hob sofort ihre Hände auf Brusthöhe, lächelte charmant, beugte sich leicht nach vorn und wippte leicht mit dem Kopf hin und her.

»Ja, das werde ich tun, kann ich ihnen sonst noch irgendwie behilflich sein?«

Maria hatte bei ihrer Ausbildung zur Schauspielerin gelernt, dass man bei der menschlichen Kommunikation und Interaktion nicht nicht kommunizieren kann. Allein das bloße Erscheinungsbild eines Menschen ist schon eine Art von Kommunikation.

Sie hatte gelernt, dass die menschliche Kommunikation im Wesentlichen aus zwei Teilen besteht. Erst einmal aus der verbalen Kommunikation, der Übermittlung von Botschaften und Informationen durch das gesprochene Wort. Wie das gesprochene Wort aufgenommen wird, entscheiden die Stimmlage, die Lautstärke, die Betonung bestimmter Wörter. Die verbale Kommunikation nimmt ungefähr zehn Prozent der gesamten Kommunikation ein.

Der überwiegende Teil besteht aus der nonverbalen Kommunikation wie Gesten, Mimik, Körpersprache und Körperhaltung, wobei die Hände eine wesentliche Rolle spielen. Daher hatte Maria, als sie sagte: „Ja, das werde ich tun, kann ich ihnen sonst noch irgendwie behilflich sein?“ - ihre Hände auf Brusthöhe gehoben, sich leicht nach vorn gebeugt und mit dem Kopf hin und her gewippt, wie sie es auf der Schauspielschule gelernt hatte.

Damit hatte sie den Gestapomännern nicht nur verbal, sondern auch mit Gesten, ihrer Körpersprache und Körperhaltung die Botschaft „war's das? – ich würde ihnen ja gerne weiterhelfen, aber ich hab's verdammt eilig“ übermittelt.

Dem Grundgesetz der Kommunikation zufolge wurde eine Botschaft bewusst gesendet und unbewusst empfangen. Die Gestapomänner reagierten, wie von Maria erhofft und erwartet. Der groß gewachsene Gestapomann legte die Fotografie von Sarah auf den Bügeltisch.

»Na, dann wollen wir Sie nicht länger aufhalten.«

Maria hob sofort den rechten Arm zum Hitlergruß hoch.

»Heil Hitler, meine Herren«,

und leitete damit das Ende des Gesprächs ein. Die Gestapomänner drehten sich um und gingen zur Tür. Kaum, dass sie weg waren, atmete Maria erleichtert aus.

Erster Akt, Vorhang runter:

Das war verdammt knapp, dachte Maria, jetzt kein Cognac mehr, sie benötigte jetzt einen klaren Kopf. Wie soll es nun weitergehen? Sie musste alle Optionen abwägen und sich für das geringste Risiko entscheiden, und zwar schnell. Sie könnte weggehen und Sarah bitten, wenn die Gestapo weg war, ebenfalls zu gehen. In der Zwischenzeit könnte Walter kommen, um seinen Mantel abzuholen.

Das wäre kein Problem, er hatte keinen Wohnungsschlüssel, Sarah würde ihm einfach nicht öffnen, aber Karl-Heinz hatte einen. Er war heute Morgen früh gegangen, Maria wusste nicht, wann er zurückkommen würde. Die Gestapomänner könnten ihn ansprechen, ihm das Foto von Sarah zeigen, er entdeckt sie in der Wohnung, würde er ihretwegen Kopf und Kragen riskieren?

Nein, ganz sicher nicht, dachte Maria, obrigkeitshörig wie er war, würde er Sarah der Gestapo übergeben. Sie wusste auch nicht, wann die Gestapo abrücken würde, Sarah in der Wohnung zu lassen, war viel zu unsicher. Sie konnte aber auch nicht bleiben, sie durfte auf gar keinen Fall ihren Auftritt versäumen. Bei der am heutigen Abend erwarteten hochkarätigen Prominenz würde die Leitung des Theaters ihr die Polizei ins Haus schicken, wenn Maria nicht rechtzeitig im Deutschen Theater erscheinen würde. Bei dem heutigen Stück war sie nämlich die Hauptdarstellerin.

Sie hatte mal das Sprichwort, mit der Lüge kommst du durch die ganze Welt, aber nicht mehr zurück gehört. Jetzt verstand sie nicht nur den Sinn, sondern erlebte es auch am eigenen Leib. Es gab für sie jetzt kein Zurück mehr.

Sie hatte sich der Gestapo gegenüber als die Schwester von Marika Rökk ausgegeben. Ein Fehler und die Gestapo würde ganz schnell herausfinden, wer sie wirklich war. Die Gestapo anzulügen war eine Sache, einer Staatsfeindin Schutz und Zuflucht gewährt zu haben, eine ganz andere. Sollte man sie dabei erwischen, könnte nichts und niemand sie vor empfindlicher Strafe bewahren.

Mit raschen Schritten war sie mit dem miserabel gebügelten Dirndlkleid im Schlafzimmer. Sarah war immer noch aschfahl im Gesicht, Maria blickte durch das Schlafzimmerfenster nach hinten auf den Hof, rauchende Gestapomänner.

»So, die sind wir zwar erst mal los, aber wir müssen hier schnell weg, ziehen Sie das sofort an.«

Maria gab Sarah das Dirndlkleid, ihr saß die Angst immer noch in den Knochen. Sie hatte an der Tür gelauscht und konnte es nicht fassen, dass es Maria so mühelos gelungen war, die Gestapomänner abzuwimmeln. Sarah hatte Angst, gleichzeitig machte Marias entschlossenes Handeln ihr auch Mut und gab ihr Zuversicht. Vielleicht würden sie es doch schaffen, hier heil herauszukommen.

»Sarah, Sie sagten vorhin, bitte helfen Sie uns, es darf den Nazis nicht in die Hände fallen. Wer sind wir und was darf ihnen nicht in die Hände fallen?«

Bevor Sarah das Dirndlkleid anzog, nahm sie einen Schlüssel aus ihrer Handtasche und gab sie Maria.

»Bitte merken Sie sich Folgendes, es darf nicht aufgeschrieben werden.«

Sie nannte Maria den Namen einer Bank in Stockholm und eine fünfstellige Zahl.

»Wenn Sie in der Bank sind, nennen Sie diese fünfstellige Zahl. Sagen Sie, dass sie zu diesem Schließfach wollen. Man wird sie bitten, eine Unterschrift zu leisten, damit sie mit der Unterschrift verglichen werden kann, welche bei der Eröffnung des Bankschließfachs geleistet wurde. Unterschreiben Sie nicht, zeichnen Sie einfach einen Davidstern, nur dann bekommen Sie Zugang zum Schließfach. Die Bank ist strikt angewiesen, danach allen ihren Instruktionen zu folgen.«

»Und was ist in diesem Schließfach?«

»Wiederholen Sie den Namen der Bank, die fünfstellige Nummer.«

Maria war eine Schauspielerin mit einem phänomenalen, fotografischen Gedächtnis. Wenn ihr das Auswendiglernen langer Texte schon keine Schwierigkeiten bereitete, hatte sie mit der fünfstelligen Zahl und mit dem Namen der Bank erst recht keine. Wie Sarah es wollte, wiederholte sie es zweimal.

»Was ist in diesem Schließfach, und was soll ich dann tun?«

»Als reiche jüdische Familien merken, dass es für sie kein Entrinnen geben wird, übergaben sie meinem Vater viele Diamanten, damit es den Nazis nicht in die Hände fällt. Aber noch viel wertvoller für mein Volk, für unseren Glauben ist eine Torarolle aus dem 14. Jahrhundert. Es ist das älteste Exemplar, Teil der Identität meines Volkes und Glaubens. Nehmen Sie sich von den Diamanten so viel Sie wollen, aber geben Sie meinem Volk seine Identität zurück. Sie sind unsere einzige und letzte Hoffnung.«

Bisher war Marias Leben nicht von bedeutsamen Ereignissen geprägt gewesen. Nun jedoch vertraute Sarah ihr eine so bedeutende Aufgabe an, viel größer als sie selbst. Aus tiefster Überzeugung wollte sie sich dieser Aufgabe stellen. Es gehörte zu Marias Prinzipien, eine Sache, die sie mal angefangen hatte, auch konsequent zu Ende zu bringen, bei ihr gab es keine halben Sachen.

Sie war ein Mensch mit festen moralischen Grundsätzen. Für sie gab es Dinge, die man tun möchte, die man tun sollte und die man tun musste. Sarah zu retten, war etwas, was sie tun wollte, was sie unbedingt tun musste, sie fühlte sich aus innerster Überzeugung dazu verpflichtet.

»Warum ich, Sarah, Sie kennen mich doch kaum?«

»Mein Vater sagt, im Leben gibt es richtig und falsch und dazwischen gibt es nur faule Kompromisse. Sie werden das Richtige tun, dessen bin ich mir sicher, sonst wäre ich nicht hier, und Sie sind Deutsche, Sie können überall hingehen, wir nicht!«

Inzwischen hatte Sarah das halbwegs gebügelte Dirndlkleid angezogen.

»Maria, wie soll es jetzt weitergehen?«

»Überlass das mir, Sarah, aber mit dem blassen Gesicht kannst du unmöglich auf die Straße.«

Maria griff in ihre Handtasche, die auf dem Bett lag, nahm ihren roten Lippenstift und strich damit Sarah kräftig über beide Wangen und Stirn, verteilte den Lippenstift sorgfältig und gleichmäßig.

»Ein wenig Farbe ins Gesicht. So, jetzt lächeln, ja, so ist es wunderbar.«

Maria war oft in der Maske geschminkt worden, sie kannte sich damit bestens aus. Sie betonte die Lippen, die dadurch ein wenig größer wirkten. Maria ging zu ihrem Schminktisch, nahm ihren Kajalstift und überbetonte ebenfalls Sarahs Augenbrauen.

In ihrer heutigen Rolle im Deutschen Theater sollte Maria eine typische deutsche Bäuerin darstellen. Der Titel der Propagandainszenierung lautete: „Das Reich - Das Volk - Der Führer“. Die politische Botschaft war, Arbeiter und Bauern stehen treu zum Reich und zu ihrem Führer Adolf Hitler. Eine Darstellung, so wie man sich in den großen Städten Bauern vorstellte, ein wenig hinterwäldlerisch, volkstümlich und staatstreu. Vor allem staatstreu, so jedenfalls war es vom Propagandaministerium vorgeschrieben worden. Propaganda hat nichts mit der Wahrheit zu tun. Verdammt, dachte Maria, warum fällt mir das jetzt ein? Mit schnellen Schritten ging sie zu ihrem Kleiderschrank.

Ja, da war sie, die blonde Perücke, die sie mal bei einer ihrer Rollen getragen hatte. Die Perücke war eine Requisite, mit der sie nach einer Aufführung angetrunken nach Hause gegangen war. Karl-Heinz hatte herzhaft gelacht, da seine Frau am Mittag brünett weggegangen, am Abend aber blond nach Hause gekommen war. Danach hatte sie vergessen, die Perücke wieder zurückzubringen, und niemand hatte danach gefragt. Ein paar Haarklammern und schon saß die Perücke perfekt auf Sarahs Kopf.

»So, jetzt können wir gehen, du sagst kein Wort und schön arrogant lächeln. Wir sind zwei Schauspielerinnen, die dringend ins Deutsche Theater müssen.«

Sarah brachte ihr bestes Lächeln zustande, sie würde nun ihr Besten geben, sie hatten jetzt auch keine andere Wahl. Maria vergaß nicht, das Programmheft vom Bügeltisch zu nehmen, es war jetzt sozusagen ihr Passierschein.

Erst viel später würde sie realisieren, dass dieses bedruckte Stück Papier sie und Sarah vor Gefängnis, KZ und Tod bewahrt hatte. Ein Bild von Joseph Goebbels, einem der größten Verbrecher in der Geschichte Deutschlands, welch Ironie des Schicksals.

Maria war inzwischen der vollen Tragweite ihres Handelns bewusst. Was spontan als Dumme-Jungen-Streich begonnen hatte, könnte in einer Katastrophe für sie und ihren Ehemann enden. Einen kühlen Kopf bewahren und keine Fehler machen, dachte sie. Sie nahm die Sachen von Sarah und warf sie im Badezimmer in den Wäschekorb.

Das Glas, aus dem auch Sarah getrunken hatte, wurde blitzschnell ausgewaschen. Ihr Foto, welches die Gestapo dagelassen hatte, ließ Maria auf dem Bügeltisch. Sie legte jedoch einige Zeitschriften darauf, wenn Karl-Heinz zurückkam, musste er das Foto nicht sehen. Den Bügeltisch würde er nicht anfassen, wie viele Männer mied er Hausarbeit wie die Pest.

Sie vergaß auch nicht, die Türklinke an der Schlafzimmertür abzuwischen. Wenn alle Stricke reißen sollten, wie sollte sie Sarahs Fingerabdrücke an ihrer Schlafzimmertür erklären? Da würden auch keine schauspielerischen Einlagen mehr helfen. Bevor sie die Wohnung verließen, blickte Maria nochmals auf den Ku‘damm.

Die beiden Gestapomänner, die bei ihr in der Wohnung gewesen waren, sah sie nicht. Wunderbar, dachte Maria, wahrscheinlich waren sie noch im Haus beschäftigt. Das war sehr wichtig, denn noch mal die Nummer mit der Schwester von Marika Rökk konnte sie nicht abziehen. Im Treppenhaus hörten sie zwar immer noch Schritte und Stimmen, aber sie begegneten niemandem. Im Parterre angekommen, gab es zwei Möglichkeiten. Entweder durch den Hinterhof raus oder direkt durch den Haupteingang auf den Ku‘damm.

Durch den Hinterhof, auf Maria wirkte das irgendwie nach Flucht und danach durfte es auf gar keinen Fall aussehen. Maria musste sich erneut auf ihr schauspielerisches Talent verlassen. Immerhin hatte sie es geschafft, vor nicht einmal zehn Minuten die Gestapo auszutricksen. Beide Frauen hofften, dass es mit etwas Glück erneut gelingen würde.

Es ging jetzt im wahrsten Sinne des Wortes um Leben oder Tod. Sein oder Nichtsein, wie Shakespeare es ausgedrückt hatte. Sie waren aber nicht auf einer Theaterbühne, sondern in einer äußerst gefährlichen Situation.

Angst kann einen Menschen zum Tode führen, Misstrauen durchs Leben bringen, aber nur Mut und Tapferkeit führen zum Erfolg. Maria war schon klar, dass sie jetzt nur eine Rolle spielen musste, und zwar die einer autoritären, einflussreichen Künstlerin, die dringend zu einer Aufführung musste, an der mächtige Männer teilnehmen würden.

Kaum auf der Straße, steuerte Maria zielstrebig auf die Gestapomänner. Was Maria und Sarah in diesem Augenblick ihres Lebens nicht wussten, die Gestapomänner sahen nur Maria, Sarah, die zwei Schritte hinter Maria ging, sahen sie nicht. Sie konnten sie nicht sehen, sie sollten sie nicht sehen.

Zweiter Akt, erste Szene:

Nach der Devise Angriff ist die beste Verteidigung, ging Maria sofort in die Offensive.

»Heil Hitler, meine Herren. Sie sind doch von unserer tüchtigen Staatspolizei?«

Die Formulierung tüchtige Staatspolizei war von Maria bewusst gewählt worden, es klang politisch naiv. Ein wenig Schmeichelei hat auch noch nie geschadet, wusste Maria aus guter Erfahrung. Ihnen keine Zeit zum Denken geben, dachte sie, Druck machen und bevor einer der Gestapomänner auch nur zucken konnte . . .

»Wie ich ihren beiden Kollegen bereits erklärt habe, muss ich so schnell wie möglich ins Deutsche Theater, eine Aufführung im Auftrag des Propagandaministeriums.«

Maria hielt den Gestapomännern demonstrativ das Programmheft mit dem Bild von Goebbels entgegen. Nachdem Standartenführer Gerber gegangen war, beaufsichtigte Kriminalinspektor Otto Reinhard die Hausdurchsuchungen. Sein Rang entsprach dem eines Oberleutnants der Wehrmacht. Obwohl er wusste, wen er vor sich hatte, fragte er dennoch.

»Sind Sie Maria Kaufmann?«

Dies war der entscheidende Moment. Jetzt würde sich entscheiden, ob sie es erneut schaffen oder im Gefängnis landen würden. Maria musste ihrem Anliegen einen offiziellen, amtlichen Charakter geben und erneut setzte sie verbale und nonverbale Botschaften ein. Kerzengerade aufrecht schaute sie Reinhard streng ins Gesicht und antwortete mit arrogant-autoritärer Stimme.

»Ja, könnten die Herren mich ins Deutsche Theater fahren, ich bin etwas spät dran. Reichsminister Dr. Goebbels legt größten Wert auf diese Aufführung, Generalfeldmarschall Göring wird auch erwartet. Die Aufführung soll in der Wochenschau gezeigt werden . . . «

Maria machte eine kleine Pause, bevor sie sagte,

» . . . auf Befehl des Führers!«

Bewusst betonte sie das Wort „Führer“ und hielt mit einem strengen Blick erneut das Programmheft hoch. Ebenfalls nach einer kleinen Pause, damit das Gesagte seine volle Wirkung entfalten konnte, setzte sie sofort nach.

»Eine Verspätung oder Verzögerung wäre gänzlich inakzeptabel.«

Damit hatte Maria die drei mächtigsten Männer im Reich erwähnt, auch wenn Reinhard keine Miene verzog, verfehlten Marias Worte ihre Wirkung auf ihn nicht. Ihr Anliegen beinhaltete auch eine Drohung. Wenn ich nicht rechtzeitig ankomme, wenn sich die Veranstaltung verspäten sollte, wir wollen doch Göring und Goebbels nicht verärgern.

Sarah, die neben Maria stand, sprang vor Angst fast das Herz aus der Brust. Sie rechnete damit, dass sie jederzeit auffliegen würden. Auch Maria erging es nicht anders, aber sie ließ sich nichts anmerken, verzog auch keine Miene, war eiskalt, übertraf sich selbst mit ihrer Schauspielerei.

Reinhard war ein erfahrener Kriminalist, für gewöhnlich entging ihm weder ein verdächtiges Wort noch eine verdächtige Geste. Er hatte zwei Mann pro Wohnung eingeteilt und da Maria von den beiden Kollegen gesprochen hatte, nahm er an, dass sie Marias Wohnung durchsucht und sie nach Sarah befragt hätten.

Dass eine wichtige Veranstaltung im Deutschen Theater stattfinden würde, wusste er. Sein Vorgesetzter war eingeladen worden, er nicht, dafür war sein Rang nicht hoch genug. Er hätte es nicht genauer definieren können, aber etwas störte ihn.

Nach über einem Jahrzehnt bei der Gendarmerie und Polizei entwickelt man ein gewisses Gespür dafür, wenn etwas faul war, wenn jemand log, aber er hatte nicht die geringste Veranlassung, Maria aufzuhalten. Ganz im Gegenteil, sie war nicht die gesuchte Person, Parteimitglied mit goldenen Abzeichen, unterwegs zu einer wichtigen Veranstaltung, an der führende Männer des Reiches teilnehmen würden . . .

»Heinz, fahr doch die Dame ins Deutsche Theater.«

»Ich danke ihnen. Heil Hitler, meine Herren.«

Einer der Gestapomänner hielt die hintere Autotür auf, Sarah stieg sofort ein, danach Maria. Bis zu diesem Tag hatte Maria noch nie eine so schwierige Rolle unter derartigen gefährlichen Umständen gespielt, noch nie einen so großartigen Auftritt hingelegt. Sie hatte praktisch aus dem Stegreif improvisiert, alle Elemente, alle Feinheiten der schauspielerischen Kunst eingesetzt.

Sie hatte ihre Angst verdrängt, meisterhaft und absolut glaubwürdig gleich mehrere Rollen perfekt gespielt. Einmal in ihrer Wohnung und dann noch auf der Straße vor einem Publikum aus erfahrenen Kriminalisten.

In ihrem späteren Leben würde sie niemals eine so schwierige Rolle spielen wie die der Erika Rökk, wie Maria Kaufmann, die der Maria Kaufmann. Jedoch, wenn die Gestapomänner Sarah gesehen hätten, wäre das Leben von Maria und Sarah ganz anders verlaufen. Im Leben gibt es kein Glück und keinen Zufall, sondern nur Schicksal.

Zweiter Akt, Vorhang runter:

Stunden später in der Prinz-Albrecht-Straße, Lagebesprechung. Kriminalinspektor Reinhard bekam fast einen Tobsuchtsanfall, als er so nebenbei hörte, wen man bei den Hausdurchsuchungen am Ku‘damm angetroffen hatte.

»Ihr Schwachköpfe, die Rökk hat genauso wenig eine Schwester, wie ihr beiden Verstand habt . . . «

brüllte er seine Untergebenen an. Dass Marika Rökk keine Schwester hatte, wusste er, weil er ein Bewunderer von ihr war, insgeheim war er auch in sie verliebt. Nur das durfte niemand wissen, am allerwenigsten seine Frau, auch Gestapomänner hatten ihre kleinen Geheimnisse.

Die beiden Kriminalassistenten, die bei Maria in der Wohnung gewesen waren, fühlten sich auf einmal gar nicht wohl in ihrer Haut. Reinhard war als besonnener Vorgesetzter bekannt, der selten wütend und noch seltener brüllte. Was als flapsige Bemerkung unter Kollegen begonnen hatte, könnte sie Kopf und Kragen kosten. Der Einlauf erfolgte auch noch vor allen anderen, die an den Hausdurchsuchungen teilgenommen hatten, manche von ihnen lächelten schon schadenfroh.

»Und wie sah diese . . . Schwester aus?«,

fragte Reinhard in einem ironischen Ton.

»Ungefähr 1,80 Meter groß, schlank, brünett, weiße Bluse, schwarzes Kostüm, goldenes Parteiabzeichen.«

Kriminalassistent Werner, so hieß der Gestapomann, berichtete knapp über alles, was in der Wohnung von Maria vorgefallen war.

»War sonst noch jemand in der Wohnung?«

Werner war nicht dumm, mit dieser Frage hatte er gerechnet. Er musste mit seiner Antwort sehr vorsichtig sein. Alle gingen davon aus, dass sie in Marias Wohnung sich jedes Zimmer angeschaut hätten, nur er und Kriminalassistent Oskar wussten, dass sie nur das Wohnzimmer gesehen hatten. Also antwortete er knapp und bündig.

»Nein, außer ihr war niemand da gewesen«,

was aus seiner Sicht auch der Wahrheit entsprach. Niemand hatte die gesuchte Person gesehen, daher nahmen er und Oskar an, dass sie nicht in der Wohnung gewesen war. Sie konnten irgendwie nicht verstehen, wie leichtsinnig sie sich von dieser Schauspielerin hatten übertölpeln lassen.

Sie verstanden aber sehr wohl, was passieren würde, wenn ihre Nachlässigkeit ans Tageslicht käme. Dass sie nicht nach einer Kennkarte gefragt hatten, war schon eine grobe Pflichtverletzung. Dass sie sich wie befohlen die Wohnung nicht genauer angeschaut hatten, würde eine Strafe nach sich ziehen, bestenfalls eine schriftliche Rüge, schlimmstenfalls Strafversetzung. Nachlässigkeit wurde bei der Gestapo weder geduldet noch toleriert.

Sollten sie nochmals danach gefragt werden, würden sie stocksteif behaupten, jedes Zimmer sich angeschaut und dass, außer Maria, niemand da gewesen war. Werner nahm sich vor, nach der Besprechung sofort unter vier Augen mit Oskar darüber zu sprechen. Zum Glück für sie ging Reinhard davon aus, dass sie vorschriftsmäßig vorgegangen und sich jedes Zimmer angeschaut hatten.

»Heinz, wir fahren sofort ins Deutsche Theater.«

Bevor Reinhard aufstand, warf er den beiden, die glaubten, die Kuh wäre nun halbwegs vom Eis, einen eiskalten Blick zu.

»Meine Herren, wir sprechen uns noch!«

Auf der Fahrt ins Deutsche Theater überlegte Reinhard, warum sie sich nicht als Maria Kaufmann ausgewiesen hatte, gegen sie lag überhaupt nichts vor. Warum hatte sie sich als die Schwester von Marika Rökk ausgegeben? Die Gestapo anzulügen konnte einen in ernsthafte Schwierigkeiten bringen, warum hatte sie das getan?

Diese Frau schien als Schauspielerin nicht nur talentiert, sondern auch hochintelligent zu sein. Aus seiner Erfahrung als Kriminalist wusste er, dass nichts ohne Grund geschieht und Menschen ohne Grund nicht lügen. Für ihr Verhalten musste es einen triftigen Grund geben. Er hatte einige Fragen im Kopf, auf ihre Antworten war er sehr gespannt.

Dass er es mit einer einflussreichen Person zu tun hatte, war ihm bewusst, daher wollte er vorsichtig und behutsam vorgehen, auf jeden Fall aber wollte er vorher mit seinem Vorgesetzten sprechen. Er wollte dieser Angelegenheit nicht ohne dessen Zustimmung auf den Grund gehen.

»Heinz, du hast doch diese Schauspielerin gefahren, ist dir etwas Verdächtiges an ihr aufgefallen?«

»Nein, sie hat mich immer wieder gedrängt, schneller zu fahren.«

Am Deutschen Theater angekommen, war dort großer Bahnhof, Polizei und SS an jeder Ecke. Für die Veranstaltung waren die Straßen rundherum abgesperrt worden. Reinhard musste seine Marke zeigen, um überhaupt durchgelassen zu werden. Das Theater war von großen Scheinwerfern angestrahlt, mit Hakenkreuzfahnen festlich geschmückt, die vom Dach bis auf den Bürgersteig reichten.

Vor dem Eingang standen schwarze Limousinen, allen voran der Dienstwagen von Hermann Göring. Ein Wagen, welcher nicht nur seines Rangs würdig war, sondern auch seinem Ego schmeichelte. Ein über sechs Meter langer, auf Hochglanz polierter schwarzer Horch, mit der Standarte des Oberbefehlshabers der Deutschen Luftwaffe.

Göring war 1938 der einzige Generalfeldmarschall in Deutschland. Erst im Laufe des längst geplanten, noch zu beginnenden Zweiten Weltkrieges würde Hitler noch weitere Offiziere in den Rang eines Generalfeldmarschalls befördern. Um Görings Rang ebenfalls aufzuwerten, würde für ihn der Rang eines Reichsmarschalls des Großdeutschen Reiches geschaffen werden.

Görings Chauffeur sowie die anderen Chauffeure und einige SS- und SA-Männer standen rauchend neben den Limousinen ihrer Dienstherren. Kaum dass Reinhard ausgestiegen war, kam ihm auch schon ein SS-Rottenführer mit einem Klemmbrett entgegen.

»Heil Hitler, meine Herren, auch wenn sie eine Einladung haben, kommen sie zu spät. Die Veranstaltung geht dem Ende entgegen.«

Reinhard zückte erneut seine Dienstmarke und sagte in einem für ihn typischen sarkastischen Ton.

»Reinhard, Staatspolizei, Heil Hitler. Wir sind immer eingeladen und wir kommen nie zu spät.«

Er betonte das „immer“ und das „nie“.

»In einer dringenden Angelegenheit des Reiches muss ich sofort mit meinem Vorgesetzten, Reichskriminaldirektor Mohr, sprechen.«

Der SS-Rottenführer, sein Rang entsprach dem eines Unteroffiziers der Wehrmacht, war nun in einer Zwickmühle. Er hatte die einfache Aufgabe, die geladenen Gäste auf seiner Liste abzuhaken. Die Gestapo, eine dringende Angelegenheit des Reiches, ein Reichskriminaldirektor, das alles ging weit über seinen Rang hinaus.

Erleichtert vernahm er die Stimme seines Vorgesetzten, SS-Hauptsturmführer Friedrich Rehmer, der die Szene aufmerksam beobachtet hatte. Sein Rang entsprach dem eines Hauptmanns der Wehrmacht. Seine Aufgabe war es, das Theater rundherum abzusichern, und das nahm er sehr ernst. Es bedurfte schon mehr als einer Gestapomarke, um ihn zu beeindrucken. Er mochte es auch nicht, sich von Zivilisten, auch wenn sie von der Gestapo waren, etwas vorschreiben zu lassen.

»Heil Hitler, meine Herren. Was geht hier vor?«

Erneut zeigte Reinhard seine Dienstmarke und wiederholte sein Anliegen. Am liebsten hätte Rehmer die Gestapomänner hier draußen warten lassen, aber es könnte tatsächlich wichtig sein. Immerhin war es die Gestapo, das könnte ein Nachspiel für ihn haben, das wollte und konnte er nicht riskieren. Während er Reinhard mit einem strengen Blick bedachte, fragte er den Rottenführer,

»Steht dieser auf der Liste?«

»Jawohl, Herr Hauptsturmführer, Erich Mohr, Reichskriminaldirektor Berlin.«

»Nun gut, aber nur Sie, ihre Dienstwaffe geben Sie bei mir ab.«

Reinhard wollte mit diesem arroganten SS-Typen nicht weiter diskutieren, er wollte die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen und gab widerwillig seine Dienstwaffe ab.

»Heinz, park den Wagen ein und warte auf mich.«

Im Foyer des Deutschen Theaters ging es noch festlicher zu. Allein schon wegen Göring, der bekanntermaßen übermäßig aß und trank, hatte man ein kolossales Büfett aufgefahren. Gekrönt von einem Spanferkel, mit einem Apfel im Maul, so etwas kannten einfache Volksgenossen nur aus Illustrierten, von einem derartig üppigen Mahl konnten sie nur träumen.

Es gab Hummer, persischen Kaviar, geräucherte Forelle, Rinder- und Schweinebraten. Ebenso Gänseleberpastete aus Frankreich, Schinken aus Italien und Spanien, üppige Wurst- und Käseplatten, Wild und Rehbraten. Dazu gab es Champagner, Cognac, edle Weine aus Frankreich und Italien, natürlich auch erlesene deutsche Weine.

Was für ein Festschmaus für die Parteibonzen, ging Reinhard durch den Kopf. Man ließ es sich schmecken, die Rechnung übernahm das Ministerium von Goebbels und letztlich als Steuerzahler der einfache Volksgenosse, der aber nicht mitessen durfte. So war es schon vor dem Dritten Reich gewesen, so würde es in Zukunft auch immer sein.

Zwischen den festlich gekleideten Gästen fühlte sich Reinhard in seinem Straßenanzug deplatziert. Alles, was in Berlin Rang und Namen hatte, war eingeladen worden. Er sah Offiziere der Wehrmacht, vom Oberst aufwärts, ranghohe SA- und SS-Offiziere, vom Standartenführer aufwärts.

Ebenso den stellvertretenden Gauleiter von Berlin, Oberbürgermeister Julius Lippert, viel Prominenz und hochrangige Funktionäre der NSDAP. Als Reinhard Maria sah, wusste er, dass er sein Vorhaben, ihr einige Fragen zu stellen, gleich vergessen konnte.

Sie trug ein Dirndlkleid und stand zwischen Hermann Göring, nicht zu übersehen in seiner mit Orden übersäten Uniform eines Generalfeldmarschalls der Luftwaffe und Goebbels, der einen eleganten, grauen Maßanzug trug. Der kostet sicher mehr, als ich in einem Monat verdiene, dachte Reinhard, womit er nicht Unrecht hatte. Die Herrschaften hielten Sektkelche in der Hand, man lachte und trank. Reinhard blickte sich nach seinem Vorgesetzten um, als er von ihm angesprochen wurde.

»Guten Abend, Reinhard. Was machen Sie denn hier?«

»Guten Abend, Herr Direktor. Es geht um die heutigen Hausdurchsuchungen am Ku‘damm.«

»Da Sie hier uneingeladen, in unpassender Kleidung erschienen sind, gehe ich davon aus, dass die gesuchte Person verhaftet wurde.«

»Leider nicht, Herr Direktor.«

Er berichtete kurz, knapp und präzise, was vorgefallen war. Ebenso von seinem Vorhaben, Maria dazu befragen zu wollen. Reichskriminaldirektor Mohr hörte aufmerksam zu, er schmunzelte, als er sagte,

»Na wie gut, dass sie sich nicht als Frau Hitler ausgegeben hat«,

dabei blickte er zu Maria, die immer noch zwischen Göring und Goebbels stehend sich wunderbar zu amüsieren schien. Reinhard wollte etwas sagen, als er von Mohr unterbrochen wurde.

»Bevor Sie kamen, wurde sie von Goebbels für ihre schauspielerische Leistung in seiner Rede in den höchsten Tönen gelobt. Er will sie beim Führer für eine Auszeichnung vorschlagen. Die Riefenstahl soll mit ihr für die Wochenschau drehen, und Sie kommen hier an und wollen sie . . . verhören?«

Reinhard kannte diesen Ton seines Vorgesetzten, der keinen Widerspruch duldete.

»Herr Direktor, sie hat . . . «

»Jetzt hören Sie mir gut zu. Was haben Sie gegen diese Frau in der Hand? Außer der peinlichen Einlage ihrer Untergebenen doch wohl gar nichts«,

dabei zeigte sein Zeigefinger wie eine Pistole auf die Brust von Reinhard, was kein gutes Zeichen war. Reinhard wusste, dass er ab diesem Zeitpunkt seinem Vorgesetzten nur noch zuhören konnte.

»Reinhard, Sie sind ein guter Mann, ich schätze ihren Instinkt, aber hier geht es um ganz große Politik, jenseits ihrer Gehaltsstufe. Ich bin ihr Vorgesetzter, ich habe auch einen. Reichsführer SS Himmler erwartet laufend Bericht über diese Angelegenheit.«

Heinrich Himmler unterstand nicht nur die SS, sondern auch die Gestapo sowie die gesamte deutsche Polizei. Im Gegensatz zu Reinhard wusste Mohr, dass es hier nicht nur um Diamanten, sondern einzig allein um die Torarolle ging. Vor einigen Tagen hatte Himmler ihn angerufen und unmissverständlich klargemacht, dass ein Führerbefehl vorliegt, die jüdische Identität mit Stumpf und Stiel auszurotten.

Ein Versagen kommt nicht infrage, das waren die Worte Himmlers gewesen. Hitler wusste von der ältesten Torarolle aus dem 14. Jahrhundert. Diesen Floh hatte ihm sein Chefideologe Alfred Rosenberg ins Ohr gesetzt, seitdem gab er keine Ruhe. Die Torarolle sollte so schnell wie nur möglich gefunden, verbrannt, dabei gefilmt und der Film Hitler gezeigt werden.

Wieder blickte Mohr in Marias Richtung.

»Ich bin im Kaiserreich geboren, in der Weimarer Republik aufgewachsen, unter dem Führer aufgestiegen. Welche Staatsform auch immer vorherrscht . . . «,

dabei blickte er zuerst nach oben zur Decke,

»es gibt immer ein oben«,

und dann auf den Fußboden

»und es gibt immer ein unten, immer!«

»Ich verstehe, Herr Direktor . . . «

»Wenn Sie, ohne etwas Konkretes in der Hand zu haben, die Kaufmann ansprechen und sie sich . . . «

wieder blickte er nach oben zur Decke,

» . . . da oben beschwert, was wird man wohl denken? Man wird annehmen, dass wir, indem wir eine verdiente Parteigenossin belästigen, von unserem Versagen abzulenken versuchen. Reinhard, finden Sie diese Kaufmannstochter so schnell wie nur möglich, sonst wird man andere mit dieser Aufgabe betrauen. Womit man dann uns betrauen wird, brauche ich ihnen ja nicht zu erklären.«

Die Krönung des Abends für Reinhard war, als Maria, sie hatte ihn schon längst gesehen, in seine Richtung blickte, ihr Glas hochhielt, als wollte sie ihm zuprosten, etwas sagte, was er nicht hören konnte. Daraufhin Goebbels und Göring ebenfalls in seine Richtung blickten, Goebbels etwas sagte, was er ebenfalls nicht hören konnte, und alle drei dann herzhaft lachten. Was Maria gesagt hatte und warum sie lachten, sollte Reinhard nie erfahren, er starb 1945 bei der Bombardierung Dresdens . . .

. . . »Ich war an vielen Kämpfen beteiligt, aber so viel Mut und Tapferkeit habe ich in meinem ganzen Leben nicht erlebt!«

Richards Worte rissen Maria aus ihren Erinnerungen, sie blickte wieder in das wunderschöne Gesicht von Sarah.

»Maria, was hast du diesen Mördern gesagt, dass sie lachten?«

»Ich sagte, meine Herren, dieser Herr in seinem Konfirmationsanzug ist von der Gestapo. Zwei seiner Beamten waren heute in meiner Wohnung. Ich habe mich als die Schwester von Marika Rökk ausgegeben, so als schauspielerische Übung, und sie haben es mir geglaubt. Daraufhin sagte Goebbels, dass die Rökk gar keine Schwester hätte, und wir lachten.«

Sarah wusste nicht, wie Marias Leben nach ihrer letzten Begegnung in Berlin verlaufen war, deswegen fragte sie,

»Maria, hast du meinetwegen Schwierigkeiten mit den Nazis bekommen?«