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Eines Tages macht der New Yorker Psychiater Dr. James Cobb die unerwartete Bekanntschaft des Multimillionärs Joshua Fleischer. Fleischer leidet an einer unheilbaren Krankheit und bittet Cobb eindringlich, für einige Tage zu ihm nach Maine zu kommen. Als Cobb dort eintrifft, erfährt er, dass der vom Tod gezeichnete Mann eine schwere Last mit sich trägt: Er hat Angst, in den Mord an einer jungen Frau verwickelt zu sein, mit der er vor vielen Jahren einen Abend in einem Pariser Hotelzimmer verbracht hat. Seine Erinnerungen sind aber bruchstückhaft, und deshalb soll Cobb ihm helfen, endlich die Wahrheit ans Licht zu bringen. Noch kann Cobb allerdings nicht ahnen, dass damit die verdrängten Dämonen seiner eigenen Vergangenheit zum Leben wiedererwachen …
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Seitenzahl: 353
Veröffentlichungsjahr: 2019
Buch
Der berühmte Psychiater Dr. James Cobb wird nach einem Vortrag in New York von Joshua Fleischer angesprochen, einem allein lebenden Multimillionär. Fleischer leidet an einer unheilbaren Krankheit und hat einen letzten Wunsch, den ihm nur Cobb erfüllen könne. Cobb sagt Fleischer in dem Glauben zu, es handle sich um eine therapeutische Sterbebegleitung. Als Cobb Fleischer zu Hause besucht, erfährt er jedoch, dass Fleischer eine schwere Last mit sich trägt: eine bruchstückhafte Erinnerung an eine Nacht in Paris in den siebziger Jahren, in der etwas Schreckliches passierte. Cobb soll ihm dabei helfen, die Wahrheit ans Licht zu bringen – doch dabei wird der Psychiater mit seinen eigenen Dämonen konfrontiert …
Autor
Eugene Chirovici stammt aus einer rumänisch-ungarisch-deutschen Familie aus Transsilvanien und wohnt heute mit seiner Frau in Brüssel. In Rumänien hat er sehr erfolgreiche Romane veröffentlicht. Sein erster Roman in englischer Sprache, »Das Buch der Spiegel«, das unter dem Namen E. O. Chirovici erschienen ist, hat für eine internationale Sensation gesorgt und wurde in über 40 Länder verkauft.
Eugene Chirovici
Das Echo der Wahrheit
Roman
Deutsch von Silvia Morawetz und Werner Schmitz
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Bad Blood«
bei Serpent’s Tail, an imprint of Profile Books Ltd., London.
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1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2018 by RightsFactory SRL
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: © semper smile, München
Umschlagfoto: ©Peter Greenway/arcangel
Redaktion: Susanne Aeckerle
BH · Herstellung: Han
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-19505-2V001
www.goldmann-verlag.de
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Nie real und immer wahr.
Antonin Artaud
Es gibt keine Gegenwart und keine Zukunft – nur die Vergangenheit, die sich ständig wiederholt: Jetzt.
Eugene O’Neill: Ein Mond für die Beladenen
Prolog
Paris, Frankreich, Oktober 1976
Terminal eins des Pariser Flughafens Charles de Gaulle glich einem Kraken: Zahllose vom Hauptgebäude abzweigende Tentakel aus Korridoren und Tunneln führten von der Eingangshalle zu den anderen Einrichtungen. Ein futuristisches, überfülltes, lärmendes Chaos, und endlich in der ungeheuren Eingangshalle angelangt, empfand der junge Mann den schier unüberwindlichen Drang, auf der Stelle umzukehren und sich aus dem Staub zu machen.
Das Ticket hatte er am Abend zuvor bei einer Agentur unweit der Rue de Rome gekauft. Da sein Flug erst in vier Stunden ging, würde er hier, wo die Luft mit jedem Atemzug dünner wurde, noch viel Zeit verbringen müssen.
Er nahm seine Tasche und ging in den ersten Stock, um sich irgendwo hinzusetzen. Seit Juni galten verschärfte Sicherheitsbestimmungen, nachdem eine Maschine der Air France mit 248 Passagieren an Bord von Terroristen gekapert und nach Uganda entführt worden war. Überall patrouillierten Polizisten, ausstaffiert wie in einem postapokalyptischen Kinofilm. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, unterdrückte er den Impuls, sie anzustarren.
Er fand einen freien Tisch in einem Coffeeshop am Ende der Halle, bestellte einen doppelten Espresso und schob seine Reisetasche unter den Stuhl. Hinter den Fenstern verdüsterten schwere Regenwolken den Himmel, am Boden standen aufgereihte Flugzeuge, zwischen denen sich Flughafenpersonal und Busse voller Passagiere bewegten. Aus einem kleinen Transistorradio irgendwo in der Nähe sang Roberta Flack leise »Killing me softly« – Ironie des Schicksals.
Was vor zwei Tagen geschehen war, wollte er möglichst erst nach seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten wieder an sich heranlassen. Er musste jeden Gedanken daran aus seinem Kopf entfernen, so wie man aus Furcht vor Entdeckung einen potenziell gefährlichen Gegenstand aus seinem Gepäck herausnehmen würde. Womöglich hatten ihre Eltern bereits Alarm geschlagen, und die Behörden waren bereits wachsam. In diesem Fall wäre er einer der Hauptverdächtigen, und die Polizei würde alles daransetzen, ihn am Verlassen des Landes zu hindern. Er musste weg, sich in Sicherheit bringen, sehen, dass er nach Hause kam – wie warm ihm bei diesen Worten wurde: nach Hause –, und abwarten, ob sein Plan aufgehen würde.
Aber nicht nur der juristische Aspekt machte ihm Sorgen. Die Vorstellung, sie nie wiederzusehen, war herzzerreißend. Jedes Mal, wenn er daran dachte, traf es ihn wie ein Schlag in den Magen. Unwiderrufliches hatte ihm schon immer Angst gemacht, Handlungen, die sich nie wiedergutmachen ließen, ganz gleich, ob er selbst oder jemand anderer die Verantwortung dafür trug.
Mit sechs bekam er einen Goldfisch geschenkt, in einem Glas, das wie ein Football geformt war. Gut einen Monat später hatte er ein paar Tage lang vergessen, ihn zu füttern oder das Wasser zu wechseln oder beides, und der Fisch war gestorben. Eines Morgens entdeckte er ihn, reglos treibend wie ein funkelndes Juwel. Seine Mutter meinte, Goldfische dieser Art seien vielleicht zu empfindlich, wahrscheinlich hätte er sowieso nicht mehr lange gelebt, aber er glaubte ihr nicht. Er wusste, es war seine Schuld, auch wenn niemand ihn deswegen ausgeschimpft hatte. Und egal wie leid es ihm tat, es ließ sich nichts mehr daran ändern.
Als er gerade einen Schluck Kaffee trank, fragte ihn ein verschwitzter Mann, ob er sich zu ihm an den Tisch setzen dürfe. Er zuckte zusammen und verschüttete beinahe sein Getränk, nickte aber zum Zeichen, dass der andere Stuhl frei sei. Der Mann bestellte einen Cappuccino und zwei Croissants, über die er sich hermachte, sobald die Kellnerin sie gebracht hatte.
»Ich bin das erste Mal auf diesem Flughafen«, gestand der Mann. Er wischte die Krümel vom Tisch und machte eine ausladende Handbewegung. »Ich finde, die haben das gut hingekriegt, oder?«
Er sprach Französisch mit einem eigenartigen Akzent, rollte das R und verschluckte Konsonanten. Der junge Mann brummte Zustimmung. Er tupfte sich mit einer Serviette die Lippen ab und erkannte plötzlich, dass diese Lippenabtupferei sich in den letzten Tagen zu einer Manie entwickelt hatte, als versuchte er Flecken zu beseitigen, die jemand dort hinterlassen hatte …
»Blut«, sagte der Mann.
»Was?«, platzte er heraus und starrte ihn an.
»Ich glaube, Sie haben einen kleinen Blutfleck auf Ihrer Jacke«, erklärte der Mann. »Ich erkenne das. Ich bin Arzt.«
Der junge Mann versuchte den Fleck zu finden, auf den der andere ihn hingewiesen hatte, aber das ging nicht – er war irgendwo an seiner Schulter, und er hätte die Jacke ausziehen müssen, um ihn sehen zu können.
»Vielleicht habe ich mich beim Rasieren geschnitten«, log er. Plötzlich hatte er einen ganz trockenen Hals, und Schweiß lief ihm den Rücken hinunter.
»Merkwürdig. Ich sehe nichts von einer Schnittwunde in Ihrem Gesicht. Sind Sie Engländer?«
»Nein, Amerikaner. Ich muss los. Großartig, Sie kennengelernt zu haben. Machen Sie’s gut.«
Der andere sah ihn verblüfft an und murmelte etwas, aber da war er schon aufgestanden und im Gewühl der Leute verschwunden, die sich vor den Schaufenstern drängten.
Am anderen Ende der Halle waren Toiletten, er ging hinein, betrat eine Kabine und verriegelte die Tür. Vom penetranten Geruch der Klosteine wurde ihm so schlecht, dass er den Espresso nur mit Mühe bei sich behalten konnte. Er nahm seinen Pass aus der Tasche, schlug ihn auf, betrachtete das Foto und versuchte sich sein Gesicht vorzustellen. »Alles in Ordnung«, sagte er sich, »alles ist gut. Nur noch ein, zwei Stunden durchhalten, dann bin ich hier weg. Kein Mensch wird je dahinterkommen.«
Er verließ die Kabine, begutachtete sein Spiegelbild und wusch sich die Hände. Dann sah er den Blutfleck, den der Mann am Tisch bemerkt hatte – groß wie ein kleine Münze. Er zog die Jacke aus, tauchte ein Papierhandtuch in Seifenwasser und begann zu reiben. Langsam nahm das Papier eine schmutzig rosa Farbe an.
Zwei Stunden später ging er zum Schalter, gab seine Reisetasche auf, stieg in die vierte Ebene und marschierte entschlossen zur Passkontrolle. Während er in der Schlange wartete, nahm er ein Papiertuch aus der Tasche und betupfte sich die Lippen. Seine Lippen brannten immer noch, als er dem Zollbeamten seinen Pass durch den Schlitz in der Glasscheibe zuschob.
EINS
New York, New York, vor elf Monaten
»Guten Abend, meine Damen und Herren. Mein Name ist James Cobb, und wie manche von Ihnen wahrscheinlich wissen, forsche ich seit einigen Jahren über veränderte Bewusstseinszustände – insbesondere die Hypnose. Unser heutiges Zusammensein verdanken wir der großzügigen Einladung der J. L. Bridgewater Stiftung, der ich an dieser Stelle noch einmal danken möchte.
Ich habe nicht vor, über mein aktuelles Buch zu sprechen, in dem es um eben dieses Thema geht und das Ihnen hoffentlich eine anregende Lektüre sein wird; vielmehr möchte ich heute davon berichten, auf welchen Wegen ich zu meinen Schlüssen gelangt bin.
Sind Kriminalpolizisten, Gerichtsmediziner oder Staatsanwälte im Publikum? Ich sehe ein paar erhobene Hände. Sicherlich würde jeder von Ihnen tage- und nächtelange Ermittlungen, Hunderte von Arbeitsschritten, endlose Vernehmungen und langwierige Laborarbeiten nur zu gern durch eine einzige Hypnosesitzung ersetzen wollen, in welcher man dem in Trance versetzten Verdächtigen nur die eine Frage zu stellen braucht: Haben Sie es getan?
Aber genau das geht eben nicht. Wir haben keine Garantie, dass Menschen unter Hypnose die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagen, weil wir nicht wissen, ob unter Hypnose zwei wesentliche Aspekte des Kommunikationsprozesses wirklich vollständig ausgeschaltet sind: Verstellung und Fantasie.
Aus denselben Gründen wird der Lügendetektor – der von Ermittlern anfangs als Wunderwerk der Technik begrüßt wurde – vor Gericht nur in manchen Fällen und lediglich als Indizienbeweis akzeptiert, während er in anderen Fällen gar nicht zugelassen wird.
In den achtziger Jahren erregten Psychiater Aufsehen, die von Fällen sogenannten rituellen Missbrauchs durch Anhänger des Satanskults an Kindern berichteten, Missbrauchsfälle, die angeblich im Verlauf von Hypnosesitzungen ans Licht kamen, die man mit mutmaßlichen, inzwischen erwachsenen Opfern veranstaltet hatte. Heute wissen wir, dass damals auf der Grundlage von Einbildungen, die lediglich Folge der Manipulation der Beteiligten durch vorgeblich objektive Psychiater waren, viele Leben zerstört wurden. Die Versuchspersonen schilderten im Trancezustand nicht ihre echten Erinnerungen, sondern Dinge, die den Hypnotiseur zufriedenstellen sollten.
Meine Forschung hingegen bestätigt Folgendes: Unter Hypnose ist die Willenskraft eines Menschen dramatisch eingeschränkt, von freiem Willen kann keine Rede sein. Nur deswegen kann ein Mensch im Trancezustand auf Geheiß des Hypnotiseurs Dinge tun, die er normalerweise nicht tun würde.
Lassen Sie mich das an einem einfachen Beispiel erläutern. Beantworten Sie zwei Fragen, eine nach der anderen und möglichst spontan. Okay, sind Sie bereit? Stellen Sie sich vor, Sie sind zu einem internationalen Galadiner in einem feinen Restaurant eingeladen. Um Sie herum herrscht ein Sprachengewirr wie in … genau, wie in Babel. Wer hat Kain erschlagen?
Ihre Antwort lautet Abel, dabei wissen Sie sicherlich so gut wie ich, dass es in der Bibel andersherum ist. Kain tötet Abel und flieht nach jenseits von Eden, ins Land Nod. Warum haben Sie falsch geantwortet? Die Erklärung ist nicht ganz so einfach, wie man auf den ersten Blick vielleicht meinen möchte.
Gewiss, die Assoziation Babel-Abel liegt auf der Hand. Aber wie konnte ihre Wirkung stark genug sein, Sie von der Ihnen bekannten richtigen Antwort wegzulocken? Vergessen wir nicht, dass ich es war, der die Frage gestellt hat, hier oben auf dem Podium, ich, dem Sie ohne Weiteres eine gewisse Fachkompetenz zusprechen. In einer solchen Situation kommt es zu einer Übertragung der Verantwortung, einem Phänomen, das bei bewaffneten Konflikten besonders deutlich zutage tritt, wenn Menschenmassen bedingungslos ihrem Führer folgen, auch wenn dessen Befehle den Tod von Tausenden unter ihnen zur Folge haben können. Das Publikum erkennt demjenigen, der hier oben steht, unwillkürlich überragende Fähigkeiten zu und steigert somit die Bereitschaft der Zuhörer, sich beeinflussen zu lassen.
Oder stellen Sie sich vor, Sie sind im amazonischen Regenwald und werden von jemandem zu einer Schutzhütte geführt. Hier übertragen Sie die Verantwortung nahezu vollständig auf den Führer, da Sie sich in einer feindlichen und potenziell gefährlichen Umgebung befinden, Ihr Leben also unmittelbar bedroht ist.
Diese Beispiele sollen illustrieren, welche Vorgänge unter Hypnose ablaufen. Die Verantwortung, die der Proband auf den Psychiater überträgt, ist im Fall eines veränderten Bewusstseinszustands wesentlich größer als in sogenannten normalen Zuständen. Die geistigen Bezirke, durch die der Proband geführt wird, sind ihm absolut fremd; aber er vermutet, dass der Psychiater sich damit weit besser auskennt. Und ganz unter uns gesagt, oft genug ist es tatsächlich nicht mehr als das – eine Vermutung.
Als Nächstes stellt sich die Frage nach der Relativität dessen, was wir gemeinhin als Realität bezeichnen. Wir ›wissen‹, dass ein Subjekt, ein Objekt, eine Person real sind, weil wir mit unseren Sinnesorganen Informationen sammeln, die, nachdem unser Gehirn sie verarbeitet hat, zu diesem Schluss führen. Ja, der Saal, in dem Sie hier sitzen, existiert; die Person, die zu Ihnen spricht, und die Power-Point-Projektion existieren. Alle diese Dinge sind real, nicht wahr? Das wissen wir, weil wir sie sehen,hören und fühlen können. Daher wissen wir, dass das, was wir erleben, ›real‹ ist. Aber ein Mensch unter dem Einfluss einer starken Substanz wie zum Beispiel LSD sieht und fühlt eine vollkommen andere Realität, die auf ihn ebenso überzeugend wirkt wie dieser Vortragssaal jetzt hier auf uns. Schon eine winzige Veränderung in der komplexen Chemie unseres Gehirns macht uns glücklich oder depressiv, äußerst ruhig oder extrem gewalttätig, apathisch oder hektisch, fantasievoll oder stumpfsinnig, unbeschadet unserer Vorgeschichte und aller erworbenen Kenntnisse, auf denen unsere scheinbar soliden Überzeugungen, Meinungen und Verhaltensweisen beruhen.
Dies hat mich zu der Frage geführt: Welche Art von Realität beschreibt jemand eigentlich unter Hypnose – die Realität dieses einzigartigen und unwiederholbaren Augenblicks, die sogenannte ›objektive‹ Wirklichkeit? Die vom Hypnotiseur suggerierte ›subjektive‹ Wirklichkeit? Die von lebenslang gesammelten Überzeugungen und Vorstellungen geprägte Wirklichkeit, die wir transzendent nennen könnten und die nicht das Ergebnis der üblichen kognitiven Prozesse darstellt? Kommuniziert der Mensch, was er zu sehen glaubt, oder nur das, wovon er annimmt, dass sein geistiger Führer, der Therapeut, es von ihm hören möchte?
Kommen wir nun zum zweiten Teil der Veranstaltung, in dem ich Fragen aus dem Publikum beantworten werde. Ich habe mit den Organisatoren vereinbart, aus Zeitgründen nur fünf Fragen zuzulassen. Ich hoffe, diejenigen von Ihnen, die eine Frage stellen möchten, haben ihren Namen bereits in die am Eingang ausliegende Liste eingetragen. Zum Abschluss gibt es eine Signierstunde. Danke, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben. Es war mir eine Ehre, zu Ihnen sprechen zu dürfen.«
Nach dem Vortrag an diesem Abend hatte ich mich mit meinem Freund Randolph Jackson und meiner Agentin Brenda Reuben zum Essen treffen wollen. Aber Brenda war stark erkältet, und Randolph hatte überraschend erfahren, dass er am nächsten Morgen in Atlantic City sein sollte, und war jetzt schon auf dem Weg zum Flughafen. Ich riet Brenda, nach Hause zu gehen und sich ins Bett zu legen, und ging dann selbst nach draußen.
Ich hielt gerade nach einem Taxi Ausschau, als ein großer schlanker Mann mit militärischer Haltung an mich herantrat. Er mochte in den Sechzigern sein und trug ein Menjoubärtchen wie die Herzensbrecher in den dreißiger Jahren. Er trug einen dunklen Anzug mit dazu passendem Regenmantel und stellte sich als Joshua Fleischer vor.
Nach Signierstunden oder Vorträgen lasse ich mich nur ungern von meinen Zuhörern ansprechen. Nicht selten wird man solche Leute nur schwer wieder los. Manche schicken dann auch noch lange Briefe oder E-Mails mit dem Hinweis hinterher, ich werde ewig in der Hölle schmoren, da würde auch mein ganzes Geld nicht helfen.
Er sagte: »Ich möchte Sie gern zum Essen einladen, Dr. Cobb.«
Wir standen vor der Buchhandlung, der Saum seines offenen Mantels flatterte im Wind. Er hatte ein Exemplar meines Buchs fest unter den Arm geklemmt, als fürchte er, es zu verlieren.
»Danke, aber ich habe schon andere Pläne«, antwortete ich und wandte mich zum Gehen.
Er legte mir sanft eine Hand auf die Schulter.
»Ich nehme an, nach solchen Veranstaltungen werden Sie immer von allen möglichen Spinnern bestürmt, aber ich versichere Ihnen, so einer bin ich nicht. Ich habe allen Grund zu der Annahme, dass das, was ich Ihnen zu sagen habe, Sie sehr interessieren wird. Ich bin mit Ihrer Arbeit vertraut, und ich weiß, wovon ich rede. Ich habe Ihr Buch gleich nach Erscheinen vor einem Monat gelesen und wusste sofort, Sie sind der Mann, den ich suche.«
Ich dankte ihm noch einmal, schlug seine Einladung aber dennoch aus. Er beharrte nicht darauf, blieb jedoch neben mir stehen, bis endlich ein Taxi anzuhalten geruhte.
»Ich schreibe Ihnen eine Mail«, kündigte er an. »Bitte achten Sie darauf, dass sie nicht im Spam-Ordner landet. Es ist wirklich wichtig.«
Während ich einstieg, hörte ich ihn husten. Ein tiefes, krampfhaftes Keuchen, wie ich es nur von Leuten kannte, die an einer schweren Krankheit litten.
Ich dachte nicht mehr an die Begegnung, bis zwei Tage später, an einem Donnerstag, tatsächlich eine Mail von ihm eintraf. Sie lautete wie folgt:
»Lieber James (wenn Sie gestatten),
vielleicht hätte ich einen besseren Weg einschlagen sollen, mich Ihnen zu nähern, aber ich hielt es für das Beste, Ihnen von Angesicht zu Angesicht entgegenzutreten. Ich bin weder aufdringlich noch verrückt. Ich bin kein Schwärmer für Okkultes, Paranormales oder Parallelwelten.
Zunächst einmal sollte ich Ihnen wohl ein wenig von mir erzählen.
Meinen Namen kennen Sie bereits. Wenn Sie es an jenem Abend mitbekommen haben, werden Sie sich erinnern, dass ich Joshua Fleischer heiße. In New York City geboren, schloss ich 1976 mein Anglistikstudium in Princeton ab; Anfang der Achtziger machte ich ein Vermögen an der Börse. 1999, nach einem tragischen Unfall, hatte ich das Großstadtleben satt, zog nach Maine und erwarb ein Haus in der Nähe eines schönen Naturschutzgebiets. Geheiratet habe ich nie. Ich habe weder Kinder noch andere nahe Angehörige, meine Eltern starben, als ich achtzehn war. In upstate New York habe ich ein paar entfernte Verwandte mütterlicherseits, aber es dürfte gut dreißig Jahre her sein, dass wir das letzte Mal miteinander telefoniert haben.
Ich hoffe, Sie halten mich jetzt nicht für einen Einzelgänger und Misanthropen, einen Troglodyten, der sich hinter seinem Geld und dem Einfluss versteckt, den es mit sich bringt. Ich versichere Ihnen, ich führe ein äußerst aktives gesellschaftliches Leben. Geheiratet habe ich nur deswegen nie, weil ich Angst hatte, früher oder später den furchtbaren Schmerz zu erleben, die geliebte Frau zu Grabe tragen und dann allein weiterleben zu müssen oder, noch schlimmer, umgekehrt ihr dieses Leid anzutun. Vielleicht mache ich es mir unnötig kompliziert, oder ich habe einfach nie die Richtige kennengelernt, eine Frau, die mich glauben lässt, dass wir uns nach dem Tod wiedersehen. Es hat ein paar Frauen in meinem Leben gegeben, und einige von ihnen haben mir sehr viel bedeutet. Aber niemals so viel, dass ich von ›Liebe‹ sprechen würde, von einer vielleicht abgesehen, aber das ist sehr lange her. Wenn Sie meinen Vorschlag annehmen, werde ich Ihnen zu gegebener Zeit von ihr erzählen.
Aber weiter … Ich bin im Vorstand von über einem Dutzend Stiftungen und Wohltätigkeitsorganisationen. Eine Zeitlang habe ich an einer Schule für benachteiligte Kinder in Bangor Englisch unterrichtet. Zudem habe ich in Mineral County, wo ich lebe, ehrenamtlich an einem Haushaltshilfeprogramm für Bedürftige mitgewirkt. Ich hatte niemals Zeit, mich zu langweilen oder mir allzu viele Fragen zu stellen.
Vor zwei Jahren wurde bei mir eine aggressive Form von Leukämie diagnostiziert. Man sagte mir, es könnte genetisch bedingt sein – mein Großvater väterlicherseits ist an derselben Krankheit gestorben. Ich klage nicht und wälze mich nicht in Selbstmitleid. Ich habe alles getan, was die Ärzte mir empfohlen haben, und alle ihre Rechnungen bezahlt, aber vor drei Monaten teilten sie mir mit, ich hätte den Kampf verloren, sie könnten nicht mehr viel für mich tun. Immerhin hat die Medizin ihre Arbeit getan und mir zu einem zusätzlichen Jahr verholfen.
Ich habe keine Angst vor dem, was mich erwartet, und es spielt auch keine Rolle, ob es morgen oder in zehn Jahren eintritt, solange mein Tod niemandem Leid zufügt.
Eins aber bleibt mir noch zu tun. Dabei geht es um Leben und Tod, auch wenn diese Redewendung angesichts meiner Lage absurd klingen mag. Jedenfalls bin ich überzeugt, dass Sie, James, mir dabei helfen können.
Worum es geht, kann ich Ihnen nur unter vier Augen sagen, und das ist der Grund, warum ich neulich hoffte, mit Ihnen sprechen zu können. Doch ich wollte nicht aufdringlich sein und mir womöglich die Chance verderben, dass Sie auf meinen Vorschlag eingehen könnten. Ich denke aber auch, mein Fall müsste Ihrem wissenschaftlichen Interesse an veränderten Bewusstseinszuständen entgegenkommen.
Wenn Sie einverstanden sind, lade ich Sie für ein paar Tage hier zu mir nach Maine ein. Mein Anwalt heißt Richard Orrin, die Kontaktdaten finden Sie weiter unten. Er wird Sie über die praktischen Einzelheiten informieren.
Jeder Tag ist kostbar, James. Meine einzige Hoffnung ist, dass Sie rasch zu einer Entscheidung kommen und dass diese Ihre Entscheidung positiv sein wird.
Hochachtungsvoll und mit besten Wünschen
Ihr
Josh«
Darunter standen noch Telefonnummer und Adresse seines Anwalts.
Ich dachte den ganzen Abend über Fleischers Schreiben nach.
Der Brief war flüssig und verständlich geschrieben. Eine Onlinerecherche bestätigte, was er von sich erzählt hatte. Fleischer war in dem County, wo er wohnte, ein echter Förderer der Künste, und die örtlichen Zeitungen waren voll des Lobs über seine Aktivitäten. Er verhalf mittellosen Schülern zum Studium und misshandelten Frauen zu einem neuen Leben, er engagierte sich für die Resozialisierung von ehemaligen Sträflingen und für die bestmögliche Betreuung und Erziehung behinderter Kinder. Er war eine geradezu legendäre Gestalt, Heiliger und Guru in einem. Die »furchtbare Krankheit«, die jetzt an seinen Kräften zehrte, wurde von den Lokalreportern diskret und voller Mitgefühl angesprochen.
Demnach schien alles wahr zu sein, was er mir geschrieben hatte. Und ein Mann, der sein Leben der Sorge für andere widmete, hatte seinerseits eine helfende Hand verdient.
Mit dem Erscheinen meines Buchs war die finanzielle Unterstützung durch die J. L. Bridgewater Stiftung ausgelaufen, und ich fand, eine Pause würde mir guttun.
In den letzten Monaten hatte ich eine Beziehung mit einer Kollegin gehabt, Mina Waters; wir hatten uns jedoch vor zwei Monaten getrennt. Wir waren beide alt genug, uns keine Illusionen zu machen, und es war klar, dass etwas zwischen uns nicht stimmte. Manchmal fehlte sie mir noch, aber offenbar nicht so sehr, dass ich unsere Abmachung gebrochen und sie angerufen hätte.
Zeit hatte ich also reichlich, selbst wenn die wenigen Tage, die Joshua Fleischer veranschlagt hatte, sich zu einem längeren Aufenthalt entwickeln sollten. Ich war mir fast sicher, dass mein Besuch auf Therapiesitzungen hinauslaufen würde, eine Art Vorbereitung auf den Tod eines Mannes, der seinem eigenen Bekunden nach nicht an Gott oder ein Leben nach dem Tod glaubte und daher in der Religion keinen Trost finden konnte. Umso höher schätzte ich seine philanthropische Haltung. Wohltätigkeit, die allein aus dem Glauben kommt, habe ich immer mit Misstrauen betrachtet: Sie entsprach der Philanthropie derer, die Schecks für Stiftungen ebenso pflichtschuldig unterschreiben wie ihre Steuererklärung oder die Geld für die Armen spenden, aber nicht aus Nächstenliebe, sondern als Opfer an eine Gottheit, die sie fürchten.
ZWEI
Orrins Kanzlei war in der East 31st Street, in einem alten Brownstonehaus, in dem, soweit ich das beurteilen konnte, eine Reihe gutgehender Unternehmen ihren Sitz hatte.
Ein Mitarbeiter empfing mich in der Eingangshalle und brachte mich in die dritte Etage, die vollständig von Orrin, Murdoch & Co. eingenommen wurde. Als die Uhr im Wartezimmer zehn schlug, wurde ich in ein Büro mit Edelholzboden und ledergepolsterten Wänden geführt. Orrin stand auf und gab mir die Hand. Er war in den Fünfzigern, von stattlicher Größe und hatte kein einziges Haar auf dem Kopf. An der Wand hinter seinem riesigen Schreibtisch hingen gerahmte Diplome, in einer Glasvitrine waren etliche Golftrophäen ausgestellt.
Alles sah genau so aus, wie man es erwarten würde, und versetzte meinen Erwartungen einen Dämpfer. Hatte ich doch aus Joshua Fleischers Mail auf Rätsel und Geheimnisse geschlossen, die es zu lösen galt.
Orrin wies den Mitarbeiter an, uns eine halbe Stunde lang ungestört zu lassen, und ließ mich somit indirekt wissen, wie lange unser Gespräch dauern sollte. Er fragte, ob ich etwas trinken wolle, ich lehnte ab, und wir nahmen auf zwei Sesseln an einem Couchtisch Platz.
»Meiner Kenntnis nach haben Sie Mr. Fleischers Angebot angenommen«, begann er, wobei er mich sorgfältig musterte.
»Nun, im Prinzip ja«, sagte ich, »aber da ich noch nicht weiß, worum es sich handelt, erhoffe ich von Ihnen Aufklärung, bevor ich mich endgültig entscheide.«
Seine Mundwinkel bewegten sich kaum merklich nach unten.
»Leider, Dr. Cobb, kann ich Ihnen keinerlei weitere Einzelheiten über das hinaus mitteilen, was Sie bereits mit Mr. Fleischer besprochen haben. Ich habe Mr. Fleischer lediglich juristisch abzusichern, das heißt, dafür zu sorgen, dass keinerlei Informationen über ihn oder Dritte, mit denen Sie in der Zeit, die Sie bei ihm verbringen, in Kontakt kommen könnten, in irgendeiner Form publik gemacht werden. Einfach gesagt, es geht um eine Vertraulichkeitsvereinbarung. Ich soll das für ihn erledigen, weil ich meinen Sitz in New York habe und er das erledigt wissen wollte, bevor Sie nach Maine aufbrechen. Ich kenne Mr. Fleischer seit über zehn Jahren.«
»In meinem Beruf gibt es strenge ethische Richtlinien, wie Sie sicher wissen«, sagte ich. »Ohne Zustimmung des Klienten ist es mir nicht erlaubt, Dinge, die ich im Verlauf einer Therapie erfahre, zu veröffentlichen oder anderweitig Gebrauch davon zu machen, es sei denn auf richterliche Anordnung.«
»Das ist mir natürlich bekannt, aber wir wissen ja nicht einmal, ob es um eine Therapie gehen wird.«
Er schlug eine elegante Ledermappe auf und entnahm ihr einen Vertrag, dessen einzelne Blätter von einer Büroklammer zusammengehalten wurden.
»Wir arbeiten umweltschonend und stellen alle unsere Verträge elektronisch aus«, sagte er. »Sie erhalten Ihr Exemplar noch heute per E-Mail. In diesem ersten Vertrag geht es um die ›ärztlichen Leistungen‹, die Sie für Mr. Fleischer erbringen werden. Ich fürchte, das klingt wenig präzise, aber so hat er es formuliert.«
Er reichte mir die Blätter, und ich las sie sorgfältig durch. Demnach sollte ich innerhalb einer bestimmten Zeit – sechs Tage – ›ärztliche Dienstleistungen‹ nicht genauer definierter Art erbringen. Mr. Joshua Fleischer seinerseits verpflichtete sich, mir einen Vorschuss im höheren fünfstelligen Bereich zu zahlen. Der Betrag überstieg das, was ich normalerweise berechnete, um einiges, und das sagte ich seinem Anwalt auch.
Er zuckte die Schultern. »Die Höhe des Honorars ist Mr. Fleischers Sache, ich habe das nicht zu kommentieren. Wenn Sie glauben, Ihre Dienste sind das Geld wert, um so besser für Sie. Und das hier ist die Vertraulichkeitsvereinbarung.«
Er reichte mir den zweiten Vertrag, und der war wesentlich komplizierter als der erste. Demnach durfte nichts, nicht einmal das kleinste Detail dessen, was ich während der im ersten Vertrag genannten zu erbringenden ärztlichen Dienstleistungen möglicherweise zu hören bekam, jemals an die Öffentlichkeit kommen.
In einer besonderen Klausel war jedoch festgelegt, dass ich Einzelheiten, die mir wissenschaftlich von Bedeutung schienen, in künftigen Arbeiten verwenden dürfe, vorausgesetzt, dass ich die Namen der Beteiligten ändere und ihre wahre Identität niemals enthüllen werde.
Das alles schien mir durchaus vernünftig und mit meinem Berufsethos vereinbar, weshalb ich kein Bedenken trug, darin einzuwilligen.
»Da wird sich Mr. Fleischer freuen«, sagte Orrin, während er die Verträge in die Mappe zurücklegte. »Jetzt noch ein paar Kleinigkeiten: Ich brauche das Konto, auf das Ihr Honorar überwiesen werden soll – ich kümmere mich darum – und die Mail-Adresse, an die Sie die Verträge zur elektronischen Unterzeichnung geschickt haben wollen.«
Ich gab ihm meine Karte und nannte ihm die Bankverbindung. Damit hielt ich unser Gespräch für beendet, aber da Orrin nicht aufstand, blieb ich sitzen. Er strich mit den Fingern über die Mappe mit den Verträgen, starrte ins Leere und schien konzentriert über etwas nachzudenken. Am rechten Handgelenk trug er ein Kupferarmband, wie man es gegen rheumatische Schmerzen verwendet.
»Wie ich bereits erwähnte, habe ich Mr. Fleischer vor zehn Jahren kennengelernt«, sagte er schließlich, »und in dieser ganzen Zeit hat er mich immer wieder mit seiner enormen Güte in Erstaunen versetzt. Es gab Leute, die ihn ausgenutzt haben, Leute, denen er geholfen hat und die ihn dann enttäuscht haben. Dennoch hat er offenbar niemals auch nur eine Sekunde lang bereut, was er getan hat und wie er sich sein Leben eingerichtet hat. Und jetzt bin ich froh, ihm diesen Dienst erweisen zu können, der in Anbetracht seines Gesundheitszustands wahrscheinlich der letzte sein wird.«
Ich enthielt mich eines Kommentars und ließ ihn fortfahren.
»Ich weiß, Sie sind eine Koryphäe auf Ihrem Gebiet und stehen bei Ihren Kollegen in hohem Ansehen, aber ich möchte nicht verhehlen, dass ich ein wenig recherchiert habe, nachdem Mr. Fleischer mich vor zwei Wochen von seinen Absichten informiert hatte.«
Das Gefühl, dass einem jemand nachspioniert, ist nicht sehr angenehm, aber ich hatte nichts zu verbergen und sagte ihm das auch. Er nickte und meinte: »Mir ist jedoch etwas aufgefallen, das mich stutzig machte, und dies umso mehr, als es von der Presse mit äußerster Diskretion behandelt wurde, um es mal positiv auszudrücken.«
Ich wusste, worauf er anspielte, schwieg aber.
»Vor drei Jahren, im Frühling, um genau zu sein, hat eine Ihrer Patientinnen, Miss Julie Mitchell, in ihrer Wohnung in Brooklyn Selbstmord begangen.«
»Das war am Abend des 23. April«, sagte ich. »Die Patientin war fünf Jahre zuvor als manisch-depressiv diagnostiziert worden und hatte bereits drei Selbstmordversuche hinter sich, als sie zu mir in Therapie kam. Einen dieser Versuche hatte sie nur um Haaresbreite überlebt.«
»Die Eltern dieser Frau haben Sie jedoch wegen ärztlicher Behandlungsfehler angezeigt«, hielt er mir vor.
»Für die Eltern war es ein sehr harter Schlag. Sie hatten jahrelang in einem Albtraum gelebt und fielen jetzt einem skrupellosen Anwalt zum Opfer – verzeihen Sie den Ausdruck. Der Staatsanwalt stellte das Verfahren ein. So etwas ist furchtbar, aber es passiert nun mal. Als Therapeut muss man in manchen Fällen mit der Möglichkeit eines solchen Ausgangs rechnen. Ich habe jahrelange klinische Erfahrung, Mr. Orrin. Ich habe nicht einfach nach dem Studium eine Praxis an der Upper East Side eröffnet, um dann mit der Pfeife im Mund reiche junge Witwen zu behandeln. Ich stamme aus einer Kleinstadt in Kansas, aus einer Arbeiterfamilie. Worauf wollen Sie hinaus?«
»Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten«, versicherte er. »Aber ein Fragezeichen bleibt eben, und …«
»Das Leben aller Menschen ist voller Fragezeichen«, sagte ich. »Eben weil wir Menschen sind und keine Roboter.«
»Wie auch immer, ich sehe, ich habe Sie doch in Verlegenheit gebracht.«
»Überschätzen Sie sich nicht. Davon kann keine Rede sein. Für mich sieht es so aus, als haben Sie Mr. Fleischer von diesem einen tragischen Ereignis berichtet, um ihn von seinen Plänen hinsichtlich dieses Vertrags abzubringen.«
Ein Anflug von Ärger blitzte in seinen Augen auf.
»Ich habe die Pflicht, meinen Klienten über denjenigen aufzuklären, mit dem er einen Vertrag abzuschließen gedenkt«, sagte er. »Und ich bin mir nicht sicher, ob der Ausdruck ›Ereignis‹ hier wirklich angemessen ist, schließlich hat dabei eine junge Frau ihr Leben verloren. Außerdem waren die Dinge nach den mir vorliegenden Informationen etwas komplizierter als Sie sie darstellen. Was mich betrifft, steht nicht einmal fest, ob Miss Mitchell Selbstmord begangen hat, Dr. Cobb. Der Staatsanwalt hat in der Sache ermittelt, und Sie wurden im Rahmen einer Expertenanhörung befragt. Und zweimal von der Polizei.«
»Das entsprach der unter diesen Umständen üblichen Vorgehensweise. Miss Mitchell war einige Monate zuvor bei ihren Eltern ausgezogen, lebte also allein, und es gab keine Zeugen. Im Unterschied zu ihren früheren Versuchen hatte sie diesmal keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Dennoch kam man letztlich zu dem Schluss, dass sie eine Überdosis Schlaftabletten genommen hatte und an dem daraus resultierenden Herzstillstand gestorben war. Der Vorwurf ärztlicher Behandlungsfehler wurde nach der Expertenanhörung fallen gelassen, und die Polizei empfahl den Vertretern der Anklage, das Verfahren einzustellen, und das haben sie getan. Sonst noch etwas?«
»Ich habe gelesen, dass die Konzentration der Substanz in ihrem Blut dem Doppelten der tödlichen Dosis entsprach, aber nichts davon in ihrem Magen gefunden wurde, was darauf hindeutet, dass ihr das Mittel injiziert worden sein dürfte.«
»Die zweite Obduktion hat das aufgeklärt: Bei der ersten war man schlicht und einfach nicht sorgfältig genug gewesen.«
»Sie reden wie ein gefühlloser Zyniker«, sagte er und umklammerte die Mappe auf dem Tisch, als fürchte er, ich könnte sie ihm entreißen.
Ich stand auf, er tat rasch desgleichen.
»Ich warte also auf die Verträge«, sagte ich. »Aber Sie können sie als so gut wie unterzeichnet betrachten.«
Ich verzichtete darauf, mich hinausbegleiten zu lassen. Er brummte mir etwas nach, das ich jedoch nicht mitbekam.
Zwei Stunden später traf die E-Mail mit den Verträgen ein. Ich unterzeichnete und schickte sie zurück. Am Abend rief Fleischer an und bedankte sich für meine Einwilligung in die Vertragsbedingungen.
»Ich hatte den Eindruck, dass Ihr Anwalt mir das ausreden wollte«, sagte ich. Er antwortete seufzend: »Ja, Dr. Cobb, anscheinend sind wohlhabende Menschen am Ende nur noch von Jasagern oder Idioten oder beidem umgeben. Wie das kommt, weiß ich nicht, aber so erlebe ich es immer wieder. Richard hat sich in den vergangenen Jahren bemüht, mehr zu sein als nur mein Anwalt, eher mein Vertrauter oder Ratgeber oder wie Sie das nennen wollen. Und jetzt ärgert es ihn, dass ich ihn im Unklaren darüber gelassen habe, was ich von Ihnen will. Von dieser Geschichte wusste ich nichts. Darf ich James zu Ihnen sagen?«
»Ja, bitte.«
»Danke, nennen Sie mich Josh. Also dann, James, wie wollen Sie anreisen, mit Auto oder Flugzeug?«
»Mit dem Auto. Wenn ich früh morgens losfahre, könnte ich unterwegs irgendwo zu Mittag essen und gegen Abend bei Ihnen eintreffen.«
»Nehmen Sie die I-91 und die I-84, auf keinen Fall die Route 1 an der Küste entlang. Zu viel Verkehr, und zu sehen gibt es sowieso nicht viel. Essen können Sie in Portland, nicht weit vom Highway gibt es ein Restaurant, Susan’s Fish & Chips. Probieren Sie den Hummer. Wann wollen Sie los?«
»Morgen. Das heißt, Mittwochabend komme ich an.«
»Haben Sie irgendwelche besonderen Wünsche für Ihren Aufenthalt, zum Beispiel was das Essen betrifft?«
»Sie brauchen sich keine Umstände zu machen«, versicherte ich ihm. »Danke. Aber ich sollte Sie darauf hinweisen, dass die im Vertrag festgesetzte Summe viel zu hoch ist, Josh.«
»Darüber hat sich noch nie jemand beklagt«, lachte er. »Die Einzelheiten besprechen wir, wenn Sie hier sind. Ich halte den Betrag für angemessen. Wenn er Ihnen zu hoch ist, spenden Sie doch einfach einen Teil.«
»Wie geht es Ihnen jetzt?«
»Ich nehme nur noch leichte Schmerzmittel, sonst nichts. Die Schmerzen halten sich zum Glück in Grenzen, weshalb ich nur selten etwas nehme und vollkommen klar im Kopf bin. Die letzte Zytostatikabehandlung hatte ich vor einem Monat. Übrigens habe ich mit den Ärzten vereinbart, dass es meine letzte gewesen sein soll. Auf jeden Fall bin ich zuversichtlich, dass meine Kräfte für das, was ich vorhabe, reichen werden. Ihre Bereitschaft, für mich zu arbeiten, hat mir neuen Auftrieb gegeben.«
»Ich helfe gern.«
»Wir sehen uns am Mittwoch. Gute Fahrt, James. Und danke, dass Sie kommen wollen.«
Bevor ich zu Bett ging, dachte ich an Julie.
Sie war achtundzwanzig, als ich sie kennenlernte, und wahrscheinlich die schönste Frau, die ich jemals gesehen hatte. Wir begannen ihre Therapie im Februar, und im nächsten Juni nahm sie sich das Leben.
Bei ihren drei früheren Selbstmordversuchen hatte sie zweimal Schlaftabletten geschluckt und sich einmal die Pulsadern aufgeschnitten. Allgemein wird angenommen, dass Selbstmörder ihre Vorgehensweise selten ändern. Bei Versuchen handelt es sich entweder um Probeläufe für den großen Schlaf oder um Hilfeschreie; soll heißen, die zur Selbsttötung entschlossene Person ist einsam und unglücklich und möchte auf sich aufmerksam machen, bevor es zu spät ist.
Aber Julie war kein typischer Fall. Bis ganz zum Schluss war ich skeptisch, was die bei ihr diagnostizierte bipolare Störung betraf. An manchen Tagen wirkte sie so ausgeglichen wie nur irgendwer, stellte ohne weiteres verbalen Kontakt her und hatte sogar Freude daran, mir von sich zu erzählen. Sie war keine Einzelgängerin, hatte Anthropologie an der Columbia studiert und später in Cornell promoviert. Dann hatte sie als Werbetexterin für eine große Agentur gearbeitet, wo sie viel Geld verdiente und sehr beliebt war. Sie war selten missgestimmt, und selbst wenn sie einmal traurig war, konnte sie mir das erklären und eine rationale Begründung dafür geben.
Ihre richtigen Eltern hatte sie nie kennengelernt. Erst an ihrem achtzehnten Geburtstag erfuhr sie von ihren Adoptiveltern, die sie bis dahin für ihre biologischen Eltern gehalten hatte, dass sie im Alter von einem Jahr adoptiert worden war. Darüber hinaus verweigerten die beiden jede weitere Information, angeblich weil das Waisenhaus, aus dem sie Julie geholt hatten, ihnen auch nichts Näheres habe sagen dürfen. Doch sie nannten ihr nicht mal den Namen der Einrichtung.
Im zweiten Studienjahr hatte sie genug Geld gespart, einen guten Privatdetektiv anzuheuern, aber auch der fand nichts heraus, sondern tischte ihr nur alle möglichen Lügen auf, um den Geldfluss am Laufen zu halten. Sie hatte nicht die geringste Spur, keinen Namen, keine Adresse, nichts. Wenn ihre Eltern nicht zu Hause waren – die Wohnung lag irgendwo in Brooklyn Heights –, suchte sie dort nach Hinweisen, aber das Wunder blieb aus – sie fand nichts, was sie in die richtige Richtung hätten weisen können. Sie bekam sogar die Kombination des Safes heraus, den ihr Vater unter seinem Schreibtisch hatte, aber auch dort fand sie nichts außer Immobilienverträgen, Aktien und Schmuck.
Das war, erzählte sie mir, der Anlass für ihren zweiten Selbstmordversuch. Ihre Mutter litt an Schlaflosigkeit, und der Arzt hatte ihr starke Schlaftabletten verschrieben, die sie arglos im Medizinschrank des Badezimmers aufbewahrte. Julie schüttete die Tabletten in einen Becher, goss Milch dazu und trank das Gemisch. Dann ging sie in ihr Zimmer und kroch ins Bett. Ihre Eltern schlugen erst am nächsten Morgen Alarm, als sie feststellten, dass sie nicht aufgestanden war. Als sie nach ihr sehen wollten, war sie nicht ansprechbar und hatte weißen Schaum um den Mund.
Sie musste zur Therapie – »ein Albtraum«, sagte sie –, und die Diagnose war viel zu heftig für das, was womöglich nur eine vorübergehende postadoleszente Krise gewesen war. Dazu kam das Mitleid aller, die sie kannten, ein Mitleid, das sie erstickte »wie eine Zwangsjacke«, wie sie es ausdrückte. Sie spürte die neugierigen Blicke, die sich in ihren Rücken bohrten, die leicht beunruhigte Höflichkeit ihrer Kollegen und die nervösen Hätscheleien ihrer zunehmend verzweifelten Eltern.
»Warum haben Sie das getan, was glauben Sie?«, fragte ich sie. »Ich meine, warum haben Sie die Schlaftabletten genommen? Immerhin achtundzwanzig Stück, mehr als genug, Sie ins Jenseits zu befördern, falls Sie irgendwelche Probleme mit Herz oder Lunge hätten. Das war nicht einfach ein Hilfeschrei. Sie haben russisches Roulette gespielt, Julie.«
»Sollen Sie nicht genau das herausfinden?«, fragte sie mit ihrem typischen Lächeln, das meine Praxis jedes Mal zum Leuchten brachte. »Bin ich deswegen nicht hier?«
»Sie haben recht. Aber ich möchte wissen, was Sie denken.«
»Ich möchte ist keine Antwort«, sagte sie. »Sie werden mir erklären müssen, warum Sie das wissen möchten. Sie sind mein Therapeut, nicht mein Vorgesetzter.«
Und während ich da auf meiner Couch im Wohnzimmer lag, als einzige Lichtquelle der stummgeschaltete Fernseher, begann ich zu ahnen, dass der Ort, zu dem ich am nächsten Tag fahren würde, etwas Dunkles und Böses barg, wie ein feuchter Keller voller altem Gerümpel und schauriger Geheimnisse.
DREI
Frühmorgens brach ich auf und war schon eine halbe Stunde später auf der I-91 Richtung Maine. Das Wetter war gut und der Verkehr nicht so schlimm wie erwartet. Ich wechselte auf die I-84 und dann auf die I-90. Am frühen Nachmittag, bereits kurz vor Portland, zogen Wolken auf, und bald goss es wie aus Eimern. Die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos schwammen wie gelbe Kugeln in einem Bach.
Hunger hatte ich nicht, also verzichtete ich auf das Essen und fuhr auf der I-95 weiter nach Freeport. An einer Tankstelle machte ich Halt, tankte, trank einen Kaffee und erkundigte mich bei einigen Einheimischen nach Wolfe’s Creek, der Gegend, wo Fleischer seinen Wohnsitz hatte.
Eine unbefestigte Straße schlängelte sich vom Highway weg durch einen Kiefernwald bis zu einem großen schmiedeeisernen Tor. Ich öffnete das Fenster und drückte die Ruftaste an der Gegensprechanlage; zwei Überwachungskameras starrten mich an. Nach wenigen Sekunden schwang das Tor langsam auf, und ich fuhr auf einen weiträumigen Hof, den ein gepflasterter Weg in zwei Hälften teilte. Zur Linken befand sich ein Tennisplatz, das Netz eingerollt; zur Rechten eine Gartenlaube und ein leerer Swimmingpool.
Die zweigeschossige Villa war im Kolonialstil gebaut, die Fassade halb mit Efeu überwachsen. Josh und ein etwa gleichaltriger Mann saßen auf der Veranda. Ich stieg aus, ging die Stufen hinauf, und wir schüttelten uns die Hand.
»Walter wird Ihr Gepäck auf Ihr Zimmer bringen«, sagte Josh. Ich sah auf den ersten Blick, dass seine Krankheit, jetzt nicht mehr behandelt, ihm bereits schwer zusetzte. »Freut mich sehr, Sie hier zu sehen, James. Danke, dass Sie gekommen sind.«
Wir gingen ins Haus, während Walter sich ans Steuer meines Wagens setzte.
Durch einen Flur, der als einzige Dekoration einen riesigen ausgestopften Bisonkopf aufwies, gelangten wir in ein auf zwei Ebenen angelegtes Wohnzimmer. Über den massiven Eichenboden waren diverse handgewebte Teppiche mit indianischen Motiven verteilt. Auf der unteren Ebene standen Sofas, Sessel und Couchtische. Die obere Ebene ging in eine Küche über, mit einem Arbeitstisch in der Mitte und einer großen Glastür zum Garten. Hier und da waren Kunstwerke aufgestellt, hauptsächlich indianische Artefakte, aber nichts davon wirkte angeberhaft oder übertrieben. Josh bedeutete mir, auf einem Sofa Platz zu nehmen, er selbst ließ sich in einem Sessel daneben nieder.
Ein Butler erschien und fragte mich, was ich trinken wolle. Ich entschied mich für einen Gin Tonic, mein Gastgeber bat um einen Manhattan.
»Wie war die Fahrt?«, fragte er. »Ich hoffe, das Restaurant, das ich Ihnen empfohlen habe, hat Ihnen gefallen?«
»Der Verkehr war nicht so schlimm, wie ich dachte, aber ich bin langsam gefahren und habe deshalb keine Pause zum Essen eingelegt.«
»Umso besser – ich habe ein ausgezeichnetes Abendessen vorbereiten lassen. Ich habe selten Appetit, aber wenn doch, so wie heute, komme ich mir vor wie eine Schwangere. Heute früh empfand ich ein heftiges Verlangen nach Lammbraten mit Rosmarin, und ich bin mir sicher, dass Mandy uns eine erstklassige Mahlzeit zubereitet hat.«
»Wie viele Personen wohnen hier?«, fragte ich, als unsere Drinks gebracht wurden.
»Zurzeit fünf«, antwortete er und prostete mir mit einer leichten Neigung seines langstieligen Glases zu, »so viel Personal, wie ich brauche. Früher waren es vier, aber vor zwei Wochen bin ich dem Rat meines Arztes gefolgt und habe eine Vollzeit-Pflegerin eingestellt, nur für alle Fälle. Die anderen sind alle schon recht lange hier beschäftigt. Ich wähle meine Angestellten sorgfältig aus und bezahle sie gut, und so bleiben sie bei mir, was mir entgegenkommt. Ich mag keine Konflikte und stelle keine übertriebenen Ansprüche.«
Sein Tonfall, seine Gesten, sein Blick strahlten eine natürliche Würde aus, wie man sie gewöhnlich mit altem Geldadel, Eliteuniversitäten und einem von Alltagsproblemen ungestörten Leben in Verbindung bringt.