Das Efeuhaus - Sophia Cronberg - E-Book

Das Efeuhaus E-Book

Sophia Cronberg

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Beschreibung

Zwei Schicksale, ein dunkles Geheimnis und ein mystisches Schloss.

Auf dem Weg in die Berge gerät die junge Schauspielerin Helena in einen heftigen Schneesturm und kommt mit ihrem Auto von der Straße ab. Sie findet Zuflucht in einem alten, verlassenen Jagdschloss. In der Nacht wird Helena von unheimlichen Träumen geplagt. Beim Durchstöbern des Hauses stößt sie auf das Tagebuch der Marietta von Ahrensberg. Die Geschichte der jungen Frau fasziniert Helena. Warum starb die Baronin 1922 so jung - am selben Tag wie ihr kleiner Sohn? Zusammen mit dem attraktiven Nachfahren der Familie, Moritz von Ahrensberg, kommt Helena einem erschreckenden Geheimnis auf die Spur ...

Spannung pur! Julia Kröhn schreibt als Sophia Cronberg und entführt ihre Leserinnen und Leser in eine Welt voller großer Gefühle und dunkler Geheimnisse.

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Seitenzahl: 609

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Zitat

Prolog

ERSTER TEIL

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

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ZWEITER TEIL

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DRITTER TEIL

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Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Auf dem Weg in die Berge gerät die junge Schauspielerin Helena in einen heftigen Schneesturm und kommt mit ihrem Auto von der Straße ab. Sie findet Zuflucht in einem alten, verlassenen Jagdschloss. In der Nacht wird Helena von unheimlichen Träumen geplagt. Beim Durchstöbern des Hauses stößt sie auf das Tagebuch der Marietta von Ahrensberg. Die Geschichte der jungen Frau fasziniert Helena. Warum starb die Baronin 1922 so jung – am selben Tag wie ihr kleiner Sohn? Zusammen mit dem attraktiven Nachfahren der Familie, Moritz von Ahrensberg, kommt Helena einem erschreckenden Geheimnis auf die Spur ...

Sophia Cronberg

Das Efeuhaus

Nenne dich nicht arm,

weil deine Träume nicht in Erfüllung gegangen sind;

wirklich arm ist nur,

der nie geträumt hat.

MARIE VON EBNER-ESCHENBACH

Prolog

1922

Das Laub raschelte unter ihren Füßen. Dort, wo sich die Strahlen der Oktobersonne durchs dichte Blätterdach zwängten, glich der Waldboden einem bronzenen Meer. Doch seine Schönheit war trügerisch, denn im Schatten der Eichen und Buchen war das Laub bleich, das Moos schwarz und die Sträucher kahl.

Die Blätter zerfielen, wenn sie darauf trat, die Fichtennadeln bohrten sich in die dünnen Sohlen ihrer Lederschuhe. Sie achtete nicht darauf, sondern lief weiter, lief so schnell, wie sie noch nie gelaufen war. Mit jedem Schritt wuchs die Erschöpfung – und die Verzweiflung. Sie ahnte, dass sie nicht rechtzeitig würde fliehen können, und fühlte sich ohnmächtig wie in einem jener Träume, die sie manchmal heimsuchten. Träume, in denen sie hilflos im dunklen Meer versank, obwohl sie doch schwimmen konnte, von einem Berggipfel in die Tiefe stürzte, obwohl eine rettende Hand sich nach ihr ausstreckte, oder sie einem fahrenden Zug nachlief und ihn verpasste, obwohl er nicht an Tempo zulegte.

Sie rannte, bis ihre Brust schmerzte und ein Steinchen im Schuh die Ferse wundgescheuert hatte, aber sie entkam dem Grauen nicht. Vögel stoben aus dem Buschwerk, als jäh ein Schuss ertönte und die Stille des Waldes zerriss.

Sie erstarrte, blieb keuchend stehen, sank schließlich kraftlos auf ihre Knie. Der Laut hallte wieder und wieder in ihr nach; sie konnte ihn mit jeder Faser ihres Körpers spüren, gleich so, als wäre sie selbst getroffen worden.

Doch zu ihrem Erstaunen blutete sie nicht. Nur Schweiß perlte von der Stirn und lief ihr in die Augen, heiß und salzig – ein Beweis, dass sie noch lebte, obwohl sie den Schuss gehört hatte und obwohl sie wusste, auf wen die Pistole gerichtet gewesen war. Ja, ihr Herz schlug noch und ihr Atem ging keuchend – nur ihre Seele war tot wie das Herbstlaub, das der scharfe Wind der letzten Tage von den Bäumen gerissen hatte. Irgendwann nach dem langen, schweigsamen Winter würde der Frühling den Wald wieder zum Leben erwecken und frische Triebe sprießen lassen, aber die Blätter, die nun den Boden bedeckten, würden niemals wieder grün werden. Die Spinnweben, die morgens unter einer Schicht Raureif funkelten – letztes Zeugnis vom Altweibersommer –, würden für immer zerrissen sein. Die saftigen roten und schwarzen Beeren, die an den Sträuchern hingen, würden verfaulen und niemals einen Gaumen erfreuen. Und sie – sie würde niemals wieder lachen, unbeschwert, frei und von Herzen.

Sie stand auf und lief weiter, langsamer nun, gebeugter und nur eine kurze Strecke. Dann erreichte sie einen kleinen Bach, dessen Plätschern in ihren Ohren wie Hohn klang. Im heißen Sommer hatte sie manchmal das klare Wasser getrunken und war mit den Füßen hineingestiegen, um sich abzukühlen. Das tat sie auch jetzt, nachdem sie ihre dünnen Lederschuhe abgestreift hatte, doch das Wasser erfrischte sie nicht, sondern schnitt eiskalt in ihre Glieder.

Sie störte sich nicht daran. Die tobenden Schmerzen waren ein willkommenes Zeichen, dass sie die Kälte noch fühlen konnte. Anstatt sich ans andere Ufer zu retten, trat sie von einem Fuß auf den anderen im Bach herum und wühlte den Schlamm auf. Aus dem strahlenden Türkis, das an Sonnentagen silbrige Wellen krönten, wurde eine schmutzige Brühe.

»Was machst du denn hier?«

Sie zuckte zusammen, als die Stimme sie traf, und wagte kaum, den Blick zu heben. Sie sah nur die Spitze eines Wanderstocks, die sich in die feuchte Erde gegraben hatte, und klobige Stiefel, die von Morast und einigen Blutspritzern befleckt waren. Offenbar kam er von der Jagd.

»Dir muss doch schrecklich kalt sein ...«

Sie wühlte weiter im Schlamm. Das Wasser war mittlerweile so trüb, dass sie ihre krebsroten Füße nicht mehr sehen konnte. Die Schmerzen wichen einem Gefühl von Taubheit. Oh, wenn diese nicht nur ihren Körper, sondern auch den Geist erfassen würde! Wenn sie sämtliche Gedanken lähmen könnte, auf dass in ihrem Kopf nur eine große, gnädige Leere klaffte!

Als sie nicht reagierte, rief er sie beim Namen. Er klang fremd in ihren Ohren.

»Ich brauchte ein wenig frische Luft«, stammelte sie hilflos.

Wie anders sollte sie ihm erklären, was sie hier machte? Wie ihm ins Gesicht schauen, nach allem, was geschehen war? Wie sein Urteil ertragen, wenn er erfuhr, was sie getan hatte?

»Hast du auch diesen Schuss gehört?«, fragte er. »Er schien vom Haus zu kommen.«

Nun konnte sie nicht anders, als ihren Blick zu heben und seinem standzuhalten.

Seine Miene war verwirrt, aber noch nicht erschüttert, besorgt, aber noch arglos. Sie hingegen hatte ihre Unschuld unwiederbringlich verloren. Und wann immer sie künftig Laub rascheln und Bäche plätschern hören, Waldgeruch einatmen und von der Herbstsonne gestreichelt werden würde, müsste sie daran denken.

ERSTER TEIL

1

Als sie mit den Schneeketten kämpfte, musste Helena unwillkürlich an Martin denken. Seit Wochen hatte sie seinen Namen nicht mehr ausgesprochen und jedem in ihrer Umgebung verboten, es zu tun. Aber nun stellte sie sich vor, wie er sich in dieser Lage verhalten hätte.

Wahrscheinlich wäre er im Auto sitzen geblieben und hätte sich eine gefühlte halbe Stunde lang in die Bedienungsanleitung vertieft, bis ihr der Geduldsfaden gerissen und sie zur Tat geschritten wäre. Nachdem er eine Weile zugesehen hätte, wie sie sich vergebens abrackerte, wäre er mit jenem gönnerhaften Lächeln, mit dem er unverschämt gut aussah, das sie aber damals immer zur Weißglut brachte, endlich aus dem Auto gestiegen und hätte ganz lässig das Problem behoben.

»Wozu, glaubst du, gibt es Bedienungsanleitungen?«, hätte er gefragt.

»Die versteht doch kein Mensch!«

»Na, wie gut, dass du mich hast, Schatz«, hätte er gemurmelt, sie an sich gezogen und über ihren Kopf gestreichelt. Ehe sie schnippisch antworten und seine Hand hätte wegstoßen können, hätte er versöhnlicher hinzugefügt: »Aber macht doch nichts! Du bist nun mal die Künstlerin – für die praktischen Dinge hast du ja mich. Wo hättest du Stadtpflanze auch lernen sollen, wie man Schneeketten anlegt?«

Das hatte sie in der Tat noch nie gemacht, und während Helena diese Dinger in Händen hielt – auf einer einsamen Forststraße irgendwo in den tief verschneiten Bergen –, packte sie wieder eine unglaubliche Wut auf Martin, obwohl er zumindest dafür nun wirklich nichts konnte. Der Schnee schmolz auf ihrem Kopf und sickerte durch alle Öffnungen ihres zwar schicken, aber viel zu dünnen Wintermantels.

»Verdammt! Verdammt! Verdammt!«

Sie fluchte erst auf Martin, dann auf Luisa, schließlich auf sich selbst, weil sie sich keine Landkarte gekauft, sondern sich auf die Straßenschilder und Luisas Wegbeschreibung verlassen hatte. Luisa war ihre beste Freundin, die sie zum Skiwochenende in den österreichischen Bergen eingeladen hatte.

»Du musst unbedingt mal rauskommen«, hatte sie erklärt, »und von München aus sind es nur zwei Stunden.«

Helena war mittlerweile viel unterwegs und steckte irgendwo in der Einöde fest. Ein Schild hatte sie auf die Forststraße gelockt, die mitten durch einen dichten Wald führte. Eine halbe Stunde lang war sie an keinem Haus mehr vorbeigekommen – und schließlich war die Straße immer schmaler und steiler geworden. Die erste Wegstrecke hatte man heute Morgen noch geräumt, aber mittlerweile stand der Schnee so hoch, dass ihre Reifen mehrmals quietschend durchgedreht hatten, und die Angst, im Straßengraben zu landen, hatte ihre Bedenken besiegt, die neu gekauften Schneeketten anzulegen.

Helena las die Bedienungsanleitung nun schon zum x-ten Mal und hatte immer noch keine Ahnung, wie sie am besten vorgehen sollte. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, das Licht wurde immer diffuser. Zuerst hatten die grauen Wolken nur schmale Schneisen am mattblauen Himmel gezogen, nun verschmolz der farblose Himmel mit den schmutzig anmutenden Schneemassen. Sie warf die Bedienungsanleitung genervt auf den Rücksitz und entschied, sich auf ihren gesunden Menschenverstand zu verlassen. So schwer konnte das alles nicht sein – Schritt eins: Ketten entwirren, Schritt zwei: Sie vor die Reifen legen, Schritt drei: darauf fahren, Schritt vier: Ketten schließen. Davon, dass sie sich den Finger einklemmte, sobald sie die Ketten hochhob, wollte sie sich nicht entmutigen lassen. Sie unterdrückte einen weiteren Fluch und dachte wieder an Martin. Die Erinnerung daran, wie er stets spöttisch die Augenbrauen hochzog, sobald sie wieder einmal den Kampf gegen die Technik verlor, gab ihr Kraft.

Nein, sie würde ihm nicht den Gefallen tun, zu scheitern. Sie würde die Schneeketten anlegen und den Weg zur Hütte zurücklegen, wo sie jenes kuschelige Kaminfeuer erwartete, von dem Luisa so geschwärmt hatte. Sie würde die Bekanntschaft neuer, interessanter Leute machen, die nichts von ihren Rückschlägen an allen Fronten wussten, würde lachen, »Die Siedler von Catan« spielen, Glühwein trinken und gestärkt und voller Pläne wieder nach Hause zurückkehren.

Soweit der Plan.

Sie hoffte so lange, ihn doch noch umsetzen zu können, bis sie die Ketten vor die Reifen gelegt hatte und wieder ins Auto gestiegen war. Sobald sie Gas gab, drehten die Reifen erneut durch. Sie stieg erst aufstöhnend auf die Bremse, dann wieder auf das Gaspedal. Prompt machte das Auto einen Ruck, und sie spürte, wie es über einen Widerstand rollte – wahrscheinlich die Schneeketten. Zu weit, sie war viel zu weit gefahren!

Hektisch stieg sie auf die Bremse, doch anstatt stehen zu bleiben, rollte das Auto noch ein Stückchen weiter nach hinten. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Straße unter der Schneedecke völlig vereist war. Schweiß brach ihr aus, ein lauter Schrei entfuhr ihren Lippen. Sie klammerte sich ans Lenkrad, kurbelte heftig nach links, um zu verhindern, dass das Auto von der Straße abkam, aber sie hatte keine Chance. Schon geriet es in eine gefährliche Schieflage, und voller Entsetzen stellte Helena fest, dass sie vergessen hatte, den Gurt anzulegen. Sie umklammerte das Lenkrad noch fester, schloss die Augen und spürte, wie das Auto mit einem lauten Quietschen langsam zur Seite kippte. Dann senkte sich eine schreckliche Stille über sie.

Jeder weitere Fluch blieb Helena in der Kehle stecken. Ihr Ärger war längst der nackten Angst gewichen. Eine Weile wagte sie nicht, das Lenkrad loszulassen und auszusteigen – womöglich würde das Auto zu schwanken beginnen, wenn sie ihr Gewicht verlagerte. Doch schließlich blieb ihr gar nichts anderes übrig, als aus dem Fahrzeug zu klettern und das ganze Ausmaß ihres Unglücks in Augenschein zu nehmen.

»Na großartig!«

Sie war mit dem rechten Vorder- und Hinterreifen von der Forststraße abgekommen, und ohne fremde Hilfe würde es ihr nie gelingen, das Auto wieder auf die Fahrbahn zu befördern. Das Licht schien noch fahler durch die Baumkronen, Schneefall setzte ein. Helenas Hände waren steif gefroren, und als sie nach ihrem Handy kramte, wäre es ihr fast entglitten. Wie befürchtet hatte sie keinen Empfang.

»Der Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar«, erklärte eine fremde Frauenstimme, nachdem sie Luisas Nummer gewählt hatte.

Helena hätte am liebsten geheult.

Ihre Füße wurden nass, als sie verzweifelt ums Auto stapfte. Sie trug nur ihre dünnen Raulederstiefel, die bestenfalls für den Besuch des Münchner Weihnachtsmarktes taugten, aber für einen Spaziergang im Tiefschnee völlig ungeeignet waren.

Das hatte sie Luisa vor der Abfahrt auch entgegengehalten: »Ich habe überhaupt keine vernünftige Ausrüstung für die Berge!«

»Ach was«, hatte Luisa den Einwand entkräftet. »Du kannst dir alles von mir borgen – inklusive Snowboard.«

Wenigstens einen Schal hatte sie dabei. Helena holte ihn aus dem Kofferraum und wickelte sich in ihn ein, fror aber immer noch erbärmlich. Suchend blickte sie sich um. Rechts bildeten Tannenbäume ein undurchdringliches Dickicht, links säumten hohe Laubbäume, von deren kahlen Ästen Schnee rieselte, den Weg. Weit und breit waren keine menschlichen Spuren zu sehen – nur winzige, runde Abdrücke von Rehen. Nicht einmal ein Futterstand für die Tiere, der vom hiesigen Förster immer mal wieder nachgefüllt werden musste, ließ sich in der Ferne erahnen. Wurzeln ragten dunkel aus dem Schnee, ansonsten lag der Boden unter der dicken, weißen Decke begraben.

Die Wahrscheinlichkeit, dass heute noch jemand auf dieser Straße vorbeikommen würde, war denkbar gering. Was wiederum bedeutete, dass sie entweder im Auto übernachten oder dieses hier zurücklassen und die nächstgelegene Siedlung suchen musste. Sie sollte sich besser bald entscheiden, denn sie hatte keine Taschenlampe dabei und konnte bereits jetzt kaum noch etwas sehen. Ratlos rieb sich Helena ihre eiskalten Hände. Wenn sie wenigstens eine warme Decke eingepackt hätte! Doch Luisa hatte ihr versichert, dass es davon genügend auf der Hütte gäbe – ebenso wie Handtücher und Bettwäsche. Deswegen hatte sie nur ihre Toilettensachen, frische Unterwäsche, einen Pulli, Socken und ein zweites Paar Jeans in ihren kleinen Koffer gepackt. Sie kramte den Pulli hervor, zog ihn über ihre Bluse, dann schlüpfte sie wieder in ihren Mantel. Sie verzichtete aber auf das zusätzliche Paar Socken – die Stiefel würden sonst zu eng werden. Mit einem lauten Knall schloss sie den Kofferraum, blickte sich ein letztes Mal zweifelnd um und ging dann los. Wenn sie die Anhöhe erreicht hatte, die die Forststraße hochführte, hatte sie von dort aus vielleicht freien Blick ins Umland.

Die Strecke war nicht weit, höchstens einen halben Kilometer, aber der Schnee lag so hoch, dass sie immer wieder darin versank. Früher war sie auf ihren durchtrainierten Körper stolz gewesen, aber in den letzten Monaten hatte sie sich am Abend lieber auf dem Sofa verkrochen und ihre Wunden geleckt, anstatt sich im Fitnessstudio oder beim Joggen abzurackern. Jetzt büßte sie dafür: Bald spürte sie ein schmerzhaftes Ziehen in Oberschenkeln und Waden, und ihre Stirn wurde feucht – von geschmolzenen Schneeflocken, aber auch von Schweiß. Nicht nur ihre Erschöpfung wuchs, auch ihr Überdruss.

Klar, dachte sie, dass ausgerechnet mir das passieren muss.

Wie konnte sie nur erwarten, dass dieses mehr als bescheidene Jahr einen glücklichen Ausklang finden würde? Am besten, sie hätte sich bis Silvester in ihrem Zimmer vergraben.

Letztes Jahr vor Weihnachten war ihre Welt noch in Ordnung gewesen. Sie war mit Martin glücklich, die Ausbildung an der Abraxas-Musical-Akademie näherte sich dem Ende. Gleich nach der Abschlussprüfung im Frühling war die Hochzeit geplant, und nach einer traumhaften Hochzeitsreise würden unzählige interessante Engagements folgen.

An das Fiasko mit Martin, das sämtliche Ehepläne zunichtegemacht hatte, wollte sie jetzt gar nicht erst denken, und anstelle toller Engagements hatte sie sich von Casting zu Casting gequält, immer ernüchterter und gedemütigter. Schließlich hatte sie doch eine Rolle ergattert – nicht etwa für ein Musical, ja, nicht einmal für die Bühne. Einen knappen Monat lang stand sie stattdessen für eine Nachmittags-Telenovela vor der Kamera – in einer blassen Nebenrolle, deren Text sich darauf beschränkte, den Bösewicht der Serie bewundernd anzuschmachten. Der hielt wenig davon, was jeder Zuschauer mit Verstand schon bei der ersten Begegnung durchschaute, ihr doofes Rollen-Ich aber leider so gar nicht. Am Ende wurde sie von dessen Ex vergiftet, sodass sich Helenas letzter Auftritt in Folge 185 darauf beschränkte, als Leiche geschminkt auf dem Seziertisch zu liegen.

Auch wenn dieser Abgang den Vorteil bot, dass sie keinen schwachsinnigen Text mehr hatte lernen müssen – in dem Augenblick, als sie sich auf dem kalten Stahl ausschließlich darauf konzentrierte, den Atem möglichst flach zu halten, hatte sie gedacht, dass es nicht noch weiter bergab gehen konnte. Erst jetzt, da sie die einsame Forststraße entlangstapfte, wusste sie, dass der absolute Tiefpunkt damals noch nicht erreicht gewesen war. Dort war sie erst jetzt angelangt – diesmal in der Rolle »Stadtpflanze verirrt sich in den Bergen«.

Inmitten der Stille erschienen ihr die wenigen Geräusche um sie herum noch unheimlicher. Das Knacken der Äste, die unter der frostigen Last nachgaben, klang wie ein Seufzen, der kalte Wind, der den Schnee verwehte, wie ein Stöhnen. Ihre Schritte knarzten, ihr keuchender Atem und ihr laut pochendes Herz verstärkten das Gefühl vollkommener Verlassenheit.

Endlich hatte sie den höchsten Punkt der Straße erreicht. Zumindest ihre größte Angst, dass sich dahinter nur weiterer Wald erstrecken würde, erfüllte sich nicht. Der Blick auf den Himmel wurde nicht länger von Baumkronen verstellt, und sein Grau schien trotz anhaltenden Schneefalls etwas heller. Deutlich sichtbar schlängelte sich die Forststraße ins Tal und führte von dort wieder einen Berg hinauf. An ihrer breitesten Stelle zweigte eine Nebenstraße ab, die vor einem Gebäude endete.

Inmitten der Berge wirkte es wie ein Trugbild. Mit den zwei Erkern rechts und links – von grünlich schimmernden Holzschindeln bedeckt und spitz zulaufend wie ein Kirchturm – glich es mehr einem Miniaturschloss als einem normalen Wohnhaus. Nichts deutete darauf hin, dass Menschen dort lebten: Das große, wuchtige Tor war geschlossen, hinter den vielen Fenstern brannte kein Licht, und aus dem Kamin stieg kein Rauch. Doch wenn sie für die Nacht inmitten dieser Einöde ein Dach über den Kopf finden wollte, dann bot sich dort ihre einzige Chance.

Der Weg zum Schlösschen hatte vom Hügel aus nicht weit gewirkt, doch bis Helena endlich das Gebäude erreichte, war eine halbe Stunde vergangen. Der Schneefall hatte etwas nachgelassen, und zwischen der Wolkendecke ließen sich die letzten Strahlen der Abendsonne erahnen, eher von einem dunklen Violett als einem warmen Rostrot. Der Schweiß auf ihrer Stirn erkaltete, und Helenas Magen begann zu knurren. Im Handschuhfach ihres Autos hatte sie noch einen angebrochenen Riegel Snickers und – wenn sie sich recht erinnerte – eine Dose Cola aufbewahrt, und sie ärgerte sich, nichts davon mitgenommen zu haben. Doch sie bezähmte ihren Hunger – dank der vielen Diäten, die sie in ihrem Leben schon gemacht hatte, war sie immerhin an das flaue Gefühl im Magen gewohnt. Auch als sie während der Musicalausbildung mit ihren Kolleginnen stets heimlich um die Wette fastete, hatte sie dies nicht von körperlichen Höchstleistungen abgebracht.

Aus der Nähe betrachtet wirkte das Gebäude noch viel erhabener, und der Weg, der darauf zuführte, war stärker verschneit als die Forststraße. Nichts deutete darauf hin, dass hier kürzlich jemand entlanggegangen oder gefahren war.

»Hallo?«, rief Helena mehrmals in die Stille hinein.

Keine Antwort.

Langsam ging sie auf das Haus zu. Zugleich vermeinte sie eine unsichtbare Grenze, die in eine andere Welt führte, zu überschreiten. Die Zeit schien hier stehen geblieben zu sein, die Stille, die sich ebenso erstickend über alles legte wie der Schnee, war fast körperlich zu spüren. Kein Rascheln von Tieren war mehr zu hören, kein Ächzen von Wind und Bäumen. Erst auf den zweiten Blick erkannte Helena, dass hier niemand den Lauf der Welt angehalten und der Zahn der Zeit durchaus an diesem Gebäude genagt hatte. Selbst der viele Schnee konnte nicht verbergen, dass es nicht nur wunderschön war, sondern schrecklich verwahrlost: Tiefe Risse zogen sich durch die Wände, der Putz war an manchen Stellen abgebröckelt und wurde an anderen von einer modrig-grünen Schicht bedeckt – Efeu, der sich einst zaghaft hier hochgerankt und mittlerweile von einem Großteil des Hauses Besitz ergriffen hatte. An einer kaputten Dachrinne hingen schwere Eiszapfen und zogen sie noch weiter in die Tiefe. Die Mauer um die Fenster herum war seinerzeit grün gestrichen worden, doch die Farbe war verblichen, die Holzverkleidung des oberen Stockwerkes mit kunstvollen Schnitzereien versehen, die jedoch ebenso morsch geworden waren wie das Dach. Einige Schindeln, die es einst bedeckten, hatten sich gelöst und waren auf den Boden gefallen. An einer Stelle hatte der Dachstuhl gar unter dem Gewicht der Schneemassen nachgegeben. Abgebrochene Balken ragten in die Luft und wirkten trostlos.

Es gab nicht den geringsten Hinweis darauf, dass dieses einsame Gebäude bewohnt war. Wenn sie hier wirklich Unterschlupf finden wollte, musste sie einbrechen – was leichter gesagt war, als getan. Sämtliche Fenster hatten Gitter – schmiedeeiserne Kunstwerke in Form von kleinen Blättern, Ästen und Weinreben. Helena rüttelte an einem, doch wie erwartet gab es nicht nach. Verzagt blieb sie stehen. Die Kälte setzte ihr zu, die Schneeflocken fielen immer dichter und dicker, das Grau des Himmels ging langsam ins Schwarze über. Wenn sie doch zum Auto zurückkehren wollte, würde sie es – wenn überhaupt – in völliger Dunkelheit erreichen.

Bis jetzt hatte sie das ungewollte Abenteuer lediglich als weitere Zumutung empfunden, die ihr das Leben auftischte – nun ergriff sie die nackte Angst. Sie konnte doch unmöglich die Nacht im Freien verbringen!

Sie stapfte um das Haus herum, stieß auf ein Stück flaches Land, das von ein paar wenigen dürren Obstbäumen eingegrenzt war, und erblickte ein weiteres Gebäude, das viel winziger war als das erste. Mit seinem spitzen Dach, einem kleinen Turm und einem Kreuz darauf war es als Kapelle auszumachen. Die Holztür war mit einem schweren Schloss verriegelt. Mutlos betrachtete Helena die Rückfront des Hauses, die ebenso verwahrlost und doch viel größer war, als die Vorderansicht es hätte vermuten lassen. Alles in allem handelte es sich um einen riesigen Besitz – wohl einst von einer reichen Familie in dieser Einöde errichtet, um hier möglichst abgeschottet zu leben oder zumindest den Sommer zu verbringen und der Jagd zu frönen.

Sie wollte schon wieder unverrichteter Dinge zurück, als ihr ein erleichterter Ausruf entfuhr. Eines der Fenster an der Rückseite des Hauses hatte kein Gitter, sondern war nur mit einem Holzbalken verschlossen worden – und der war ähnlich verwittert wie der Dachstuhl.

Es war ein Leichtes, an dem morschen Holz zu ziehen und es vom Fenster zu entfernen. Als ihr ein Splitter in den Daumen drang, achtete sie gar nicht auf den Schmerz. Nun galt es nur noch, die Glasscheibe aufzubrechen. Helena sah sich eine Weile um, formte dann einen kleinen, festen Schneeball und zielte aus einigen Schritten Entfernung auf das Fenster. Glas klirrte. Nachdem sie weitere Schneebälle geworfen hatte, war das Loch groß genug, um vorsichtig durchzugreifen und das Fenster von innen zu öffnen.

»Na also!«, rief sie triumphierend.

Durch das Fenster zu klettern war allerdings eine echte Herausforderung. Nachdem sie ihren Oberkörper hineingewuchtet hatte, hatte sie kurz Angst, stecken zu bleiben, zog sich jedoch, ans Fensterbrett geklammert, weiter und landete schließlich – mit einer Rolle nach vorwärts – in der Küche.

Beim Anblick der vielen Spinnweben, die in sämtlichen Ecken hingen, legte sich eine erstickende Schicht über ihre Lungen. Noch nie hatte sie eine derart alte, verwahrloste Küche gesehen. Der Herd war so niedrig, dass jeder halbwegs groß gewachsene Mensch beim Kochen schlimme Rückenschmerzen riskiert hätte, und schwarz von Ruß. Unter einer großen, runden Platte ließ sich nicht etwa ein Backrohr öffnen, sondern nur ein mit Holz beheizbarer Ofen. Helena brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass die Platte auf diese Weise und nicht etwa mit Strom erhitzt wurde. Ein weiterer Ofen war unter einem kreisrunden, steinernen Gebilde angebracht, das offenbar zum Brotbacken diente und ebenfalls vor Ruß und Dreck starrte. Das Waschbecken, das fast so groß wie eine halbe Badewanne war, sah aus wie eine Altwiener Bassena. Der völlig verrostete Wasserhahn wurde von einem ebenfalls völlig verrosteten Miniaturhündchen gekrönt. Der Boden war mit einem Flickenteppich bedeckt, dessen Fransen von Mäusen abgenagt worden waren und durch dessen rissig gewordenen Stoff an manchen Stellen Eichendielen hindurchschienen.

»Hallo!«, rief sie laut.

Sie rechnete nicht mit einer Antwort und zuckte zusammen, als das Echo ihrer eigenen Stimme von den Wänden widerhallte. Hier war wohl schon seit Ewigkeiten nicht mehr gekocht worden und auch nicht mehr gesprochen oder gelacht. Dieses Haus schien nicht einfach nur heruntergekommen zu sein, es war wie ... tot.

Mit einem mulmigen Gefühl verließ Helena die Küche und kam an einem Bad vorbei. Die Toilette sah mit dem Spülkasten aus ockerfarbenem Plastik halbwegs neu aus, doch die schwarze Klobrille strotzte vor Urin- und Kalkflecken. Die Badewanne war rund, stand auf Löwenbeinen und hatte keine Brause, sondern nur einen Hahn, der an einen weiteren Ofen angeschlossen war. Um warmes Wasser zu bekommen, musste man offenbar mit Holz heizen. Eine riesige Spinne hockte neben dem verrosteten Ausfluss – Helena hatte keine Ahnung, ob sie längst vertrocknet, im Winterschlaf versunken oder lebendig war, und wollte es auch gar nicht herausfinden. Ansonsten war das einst weiße Email zu einem stumpfen Grau voller schwarzer Löcher verkommen. Sie spürte einen Druck auf der Blase, konnte sich aber nicht überwinden, ihren Wintermantel zu öffnen und sich auf die verdreckte Klobrille zu setzen.

Die Kälte in diesen Räumen war irgendwie ... modrig. Bei jedem Schritt, den sie nun den Gang entlangschritt, ächzte und knarzte der Boden. Die Teppiche waren hier aus einem dunklen Rot, jedoch von Mäuseköteln bedeckt und von Motten zerfressen. Die braune Holzvertäfelung an den Wänden wies jede Menge winzige Löcher auf – Andenken von Holzwürmern, die hier in Massen gewütet haben mussten.

Von der großzügigen Diele vor der verschlossenen Eingangstür führte eine geschwungene Treppe nach oben. Helena überlegte noch, ob sie es wagen konnte, eine dieser Stufen zu betreten, als sie plötzlich das Gefühl bekam, dass Augen auf ihr ruhten. Eine Gänsehaut überzog ihre Arme, ein kalter Schauer lief über ihren Nacken den Rücken hinunter. Doch als sie herumfuhr, erblickte sie unter dem Treppenaufgang nur ein überlebensgroßes Gemälde. Es zeigte eine Frau mit wunderschön ebenmäßigem Gesicht, braunem, hochgestecktem Haar, auf dem ein Federhütchen saß, und einem roten, bodenlangen Kleid. Ihre Augen waren weit aufgerissen, bernsteinbraun und wirkten unendlich traurig. Einst musste das Rot des Kleides perfekt mit dem Teppich harmoniert haben, doch im fahlen Licht wirkte beides gräulich.

Helena löste ihren Blick vom Bild. Das Licht wurde so diffus, dass sie fast über eine Falte, die der Teppich warf, fiel – sie musste unbedingt eine Kerze finden!

Gegenüber des Eingangs befand sich eine weitere Tür aus dickem, dunklem Holz. Helena öffnete sie und gelangte in den Hauptraum des Gebäudes – ein großes Wohnzimmer, an dessen Wänden Unmengen von Hirschgeweihen hingen. Ein ausgestopfter Auerhahn schien sie ebenso höhnisch anzublicken wie der Kopf einer riesigen Wildsau. Auch hier war der Teppichboden voller Löcher, und die Seidentapeten hingen in Fetzen von den Wänden, die ihrerseits von Schimmel zerfressen wurden. Neben den vielen Jagdtrophäen zog ein großer, aus Bruchstein angefertigter Kamin ihre Aufmerksamkeit auf sich. Ein Schürhaken stand daneben, außerdem ein Stoß Holzscheite. Wer hatte hier wohl zum letzten Mal Feuer gemacht? Dienstboten, die die Frau im roten Kleid umsorgt hatten? Der Mode nach musste sie um den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gelebt haben, also vor rund hundert Jahren – womöglich sogar noch früher.

Doch am wichtigsten war jetzt erst einmal, Licht zu bekommen. Helena durchforstete mehrere Schubladen der wuchtigen Eichenkommoden, stieß jedoch nur auf noch mehr Spinnweben und Staub. In einem Waffenschrank waren ein paar alte, völlig verrostete Jagdgewehre verstaut worden, außerdem ein Degen, der zwar kostbar aussah, aber für ihre Zwecke nutzlos war.

Sie entschied, im Flur weiterzusuchen, öffnete mit viel Mühe und unter lautem Quietschen die Laden einer weiteren Kommode aus Nussholz und fand darin tatsächlich ein Päckchen Streichhölzer und einige Kerzen. Leider waren nur noch zwei Streichhölzer vorhanden. Als sie das erste entzündete, hielt sie unwillkürlich den Atem an. Der Docht der Kerzen war noch weiß, und es dauerte eine Ewigkeit, bis er endlich Feuer fing. Doch schließlich war es geschafft, und Helena konnte das zweite Streichhölzchen sparen. Sie tropfte etwas Wachs auf einen kleinen Teller, machte die Kerze darauf fest und kehrte in den Wohnraum zurück.

Als die Kerze ihr warmes, gelbliches Licht verbreitete und Schatten auf den Wänden tanzten, fühlte sie sich etwas wohler. Leben schien in das Haus einzukehren, das vor lauter Kälte und Stille wie eine Gruft gewirkt hatte.

Wenn sie jetzt auch noch den Kamin anmachte, würde selbst der riesige Wohnraum heimelig wirken. Holzscheite waren genügend da, doch um ein Feuer zu entfachen, brauchte sie Papier. Und was noch wichtiger war: Sie musste sich erst vergewissern, ob der Rauchabzug noch funktionierte. Helena beugte sich vor, hielt die Kerze hoch, erblickte aber nur rußgeschwärzte Ziegel. Kurzerhand zog sie den Kopf ein und kletterte in den Kamin. Die Luft war trocken und kratzte in der Kehle, und als sie die Kerze erneut hochhalten wollte, stieß sie gegen die Wände. Prompt regneten Staub, Asche und Verputz auf sie herab. Ein paar Bröckchen fielen ihr in die Augen, und während sie noch tränenblind darüberrieb, überwältigte sie der Hustenreiz. Panisch streckte sie die Kerze so weit wie möglich von sich, um sie nicht unfreiwillig auszublasen.

Immer noch halb blind wollte sie zurückklettern, stolperte jedoch über ein Holzscheit und hielt sich gerade noch rechtzeitig an dem Mäuerchen fest, das den Kamin umgab. Sie fand das Gleichgewicht rasch wieder, doch als sie die Hände davon löste, fühlte sie, dass einer der Ziegelsteine so locker saß, dass man ihn mühelos herausziehen konnte.

Sie lugte in das Loch, das sich dahinter auftat. Zu ihrem Erstaunen hatte der Ziegelstein nicht die nackte Wand verdeckt, sondern eine Vertiefung in der Mauer, deren Wände mit Holz ausgekleidet waren – ganz so, als hätte hier jemand ein geheimes Fach eingerichtet. Sie wollte dem nicht länger Beachtung schenken, doch als sie die Kerze abstellte und den Ziegelstein zurückschob, stieß sie auf einen Widerstand. Helena streckte die Hand in das Loch, spürte etwas Hartes – und zog im nächsten Augenblick ein kleines Buch aus dem Versteck.

Das Büchlein war schmal und höchstens an die hundert Seiten dick. Sein roter Ledereinband hatte früher wahrscheinlich geglänzt, war nun aber matt und verstaubt. An manchen Stellen trat braunes Futter hervor. Die Seiten klebten aneinander, als Helena versuchte, sie zu öffnen. Sie wirkten rau, gelblich und so dick, als wäre das Papier von Wasser aufgeweicht worden. Schließlich gelang es ihr doch, einige Seiten umzublättern, die mit einer eleganten, spitzen Schrift beschrieben waren – offenbar mit schwarzer Tinte, wie die zahlreichen Flecken bewiesen, manche noch dunkel, andere verblichen. Die Ränder von einigen Seiten wirkten wie abgerissen. Vielleicht hatte nur der Zahn der Zeit daran genagt, vielleicht aber auch Mäuse. Helena hielt die Kerze ganz dicht an das Buch heran und las die Inschrift auf der ersten Seite.

Marietta von Ahrensberg

Der Name kam ihr vage bekannt vor. Ob das die Familie war, der dieses Jagdschloss gehört hatte?

Sie blätterte weiter und sah, dass die einzelnen Texte jeweils mit einem Datum versehen waren. Vielleicht war es eine Art Tagebuch. Helena entzifferte mühsam die ersten Absätze.

2. Mai 1922

Heute war F. H. zum ersten Mal hier. Er hat mir dieses Büchlein gegeben und gesagt, ich solle hineinschreiben, was mir auf der Seele lastet. Es gäbe nichts, dessen ich mich schämen müsste, kein Gedanke sei zu nichtig, keine Gemütsregung zu lächerlich, kein geheimer Wunsch zu schändlich.

Ich hielt das Buch in den Händen und betrachtete ihn. Ich habe mir Männer, die seinen Beruf ausüben, immer anders vorgestellt. Sein Blick ist träge und leer wie der einer wiederkäuenden Kuh, gar nicht forschend und begierig, als wolle er mir auf den Grund meiner Seele schauen.

Nicht, dass ich ihn würde schauen lassen. Und nicht, dass es einen solchen Grund unter all dem Morast gäbe, den jemals einer betreten könnte, ohne auszurutschen und darin zu ertrinken.

Ich bin zutiefst unglücklich, doch selbst wenn F. H. dies ahnt, zeigt er es weder, noch interessiert es ihn. Er verhält sich merkwürdig kalt und wirkt weder gekränkt noch überdrüssig, als ich den Kopf schüttele, nachdem er gesagt hat: »Im Übrigen können Sie auch mir alles anvertrauen.«

Vor seinen ausdruckslosen Augen erscheint mein Schweigen nicht verzweifelt, sondern bockig. Verführerisch ist es, den Mund aufzumachen, den Worten freien Lauf zu lassen – um mich zu erleichtern und ihn zu schockieren.

Aber da er sich beim Ausüben seines Berufs einzig von der Räson leiten lässt, gedenke ich, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen und ihm selbiges so schwer wie möglich zu machen.

Nein, ich sage nichts. Er darf die Wahrheit nicht wissen.

Niemand darf das.

Ich hätte F. H. gerne fortgeschickt, aber ich musste an Heinrich denken. Ich könnte schwören, dass er die ganze Zeit vor der Tür gestanden und gelauscht hat – und falls nicht, so hat er F. H. spätestens dann abgefangen, als er das Haus verließ.

Schließlich hat F. H. doch etwas gesagt.

»Ich habe eine Bitte«, setzte er an.

Ich presste die Lippen aufeinander, ein Zeichen, dass ich seinem Wunsch, gleich welcher Natur er ist, nicht nachkommen würde. Als er ihn nach weiterem Schweigen endlich aussprach, war ich allerdings hauptsächlich verblüfft.

»Schreiben Sie künftig alles auf, was Sie in der Nacht geträumt haben.«

Die Schrift wurde immer blasser, sodass es zu mühsam wurde, sie zu entziffern. Helena ließ das Tagebuch sinken. Sie gestattete sich kurz einen Gedanken daran, wer die Frau gewesen war, die diese Zeilen niedergeschrieben hatte – offenbar keine sehr glückliche –, und lenkte ihre Konzentration dann wieder auf ihr eigenes Geschick. Dank des Tagebuchs hätte sie nun das nötige Papier gehabt, um Feuer zu machen, aber einerseits scheute sie sich, die beschriebenen Seiten einfach herauszureißen, andererseits war sie nicht sicher, ob der Rauchabzug funktionierte. Falls der Kamin verstopft war und sich der Rauch im Zimmer staute, könnte sie schlimmstenfalls daran ersticken. Besser, sie verzichtete auf einen Versuch. Es war zwar kalt, aber nicht eisig, und wenn sie irgendetwas fand, um sich zuzudecken, würde sie die Nacht auf dem grünen, durchgesessenen Sofa gegenüber dem Kamin verbringen können. Sonderlich frieren würde sie nicht – lediglich hungern. Sehnsüchtig dachte sie an das angebrochene Snickers in ihrem Handschuhfach.

Vielleicht ließ sich in der Küche noch etwas Essbares finden, auch wenn ihre Hoffnung darauf nicht sonderlich groß war. Sie ging leise und behutsam den Gang zurück, als würden unnötige Hast und Lärm den Märchenschlaf dieses herrschaftlichen Anwesens stören und unliebsame Geister wecken. In der Küche entdeckte sie gegenüber dem altem Herd einen Wandschrank. Das Holz war wurmstichig wie das übrige Mobiliar, aber die Glasscheiben waren mit wunderschönen Verzierungen ausgestattet. Ein Antiquitätenliebhaber würde dafür vielleicht ein Vermögen hinblättern.

Wider Erwarten war der Schrank nicht leer: In einem Fach lag ein Stapel alter Zeitungen – auch wenn sie sich dagegen entschieden hatte, Feuer zu machen, konnte sie später ihre nassen Stiefel damit ausstopfen –, und im Fach darunter standen mehrere Einmachgläser: Eines war mit Marmelade gefüllt, ein anderes mit Wildpreiselbeeren, ein drittes mit eingekochten Birnen.

Die Schrift der Schilder, die auf den einzelnen Gläsern klebte, war längst verblichen. Wahrscheinlich stammten sie aus dem vorigen Jahrhundert, denn Helena konnte sich schwer vorstellen, dass jemand erst kürzlich unter diesen primitiven Umständen gekocht hatte.

Wie lange hielten sich eingemachte Lebensmittel?

Als Erstes öffnete sie die Marmelade, was trotz steif gefrorener Finger klappte. Doch wie befürchtet war der Inhalt des Glases von einer dicken, grauen Schimmelschicht bedeckt. Bei den Preiselbeeren musste sie sich noch mehr anstrengen, doch auch das wurde nur mit verdorbenem Inhalt belohnt. Den Deckel von dem Birnenglas konnte sie schließlich nur mithilfe eines klammen, löchrigen Geschirrtuchs, das neben dem Waschbecken hing, aufmachen. Sie war erstaunt, dass das, was darunter zum Vorschein kam, erstaunlich süß roch und ganz normal aussah. Sie zögerte, an dem Saft zu nippen, in dem die Birnen schwammen, und als sie stattdessen versuchen wollte, ein Obststück herauszufischen, merkte sie, dass ihre Hände schwarz von Ruß waren.

Helena trat an das Waschbecken und drehte erfolglos an dem rostigen Hahn über dem Becken, dann folgten einige gurgelnde Geräusche, ehe bräunliches Wasser nach allen Seiten spritzte.

»Verdammt!«, schrie sie und sprang zurück. Zu spät, sie hatte eine ordentliche Ladung des rostigen Wassers abbekommen. Dieses versiegte gleich wieder, doch die gurgelnden Geräusche hielten an. Es klang, als würde das Haus langsam zum Leben erwachen und über sie lachen.

Unwillkürlich begann Helena mit sich selbst zu reden, um sich zu beruhigen. »Dann muss es eben so gehen«, sagte sie und kommentierte in den nächsten Minuten alles, was sie tat: Sie beugte sich aus dem Küchenfenster, sammelte etwas Schnee und ließ diesen in der Spüle schmelzen, um sich die Hände zu waschen.

»Not macht eben erfinderisch«, sagte sie und musste unwillkürlich grinsen, weil sie so stolz klang. Kurz fühlte sich alles wie ein großes Abenteuer an, von dem sie noch Jahre später berichten und sich rühmen würde, allen Widrigkeiten getrotzt zu haben. Doch der knurrende Magen erinnerte sie viel zu bald daran, dass Abenteuer erst im Rückblick schön spannend und aufregend erscheinen und nicht, solange man frierend und hungernd mittendrin steckt.

Nachdem sie ihre Hände notdürftig gereinigt hatte, fischte sie zwei der Birnen aus dem Glas, hielt sie sich vor die Nase und roch prüfend daran. Sie schienen noch nicht gegärt zu haben. Schließlich besiegte die Gier jegliche Vorsicht. Sie biss ein Stückchen ab, aß zunächst die erste, dann die zweite und trank ein wenig von dem Saft, in dem sie gelegen hatten. Das Glas war danach immer noch zu zwei Dritteln voll, aber nachdem der ärgste Hunger gestillt war, wagte sie aus Angst vor schlimmen Magenkrämpfen nicht, mehr davon zu essen.

Mittlerweile war es draußen stockdunkel geworden. Der Schein der Kerze reichte kaum weiter als bis zu ihrer Hand. Vorsichtig tappte Helena zur Toilette, um sich nun doch zu erleichtern.

Langsam löste sich ihre Anspannung. Obwohl es erst sieben Uhr abends war, wollte sie nichts anderes, als so bald wie möglich einzuschlafen und die Nacht hinter sich zu bringen. Erst musste sie natürlich etwas suchen, mit dem sie sich zudecken konnte – ihr dünner Mantel würde nicht ausreichen, um die Kälte aus ihren Gliedern zu vertreiben. In dem Schrank, in dem sie die Kerze und die Streichhölzer entdeckt hatte, fand sie kunstvoll bestickte Bettwäsche. Noch waren die Leintücher steif vor Kälte, aber wenn sie sich erst mal in zwei, drei von ihnen eingewickelt hatte, würden sie sich rasch an ihre Körpertemperatur anpassen.

Als sie zurück in Richtung Wohnzimmer ging, fiel ihr Blick erneut auf das Gemälde, das die Frau im roten Kleid zeigte. Obwohl der Lichtschein der Kerze kaum das Gesicht erreichte, hatte Helena den Eindruck, der Blick würde auf ihr ruhen. Er wirkte nicht mehr traurig, eher mahnend, und als sie sich abwandte und das Wohnzimmer betrat, hatte sie das Gefühl, er würde ihr folgen.

Was für ein Unsinn, sagte sie sich. Wahrscheinlich war das Gemälde von einem Künstler gemalt worden, der sein Handwerk verstand und den Eindruck erwecken konnte, dass die von ihm Dargestellte ihre Betrachter von sämtlichen Richtungen anblickte. Sie konnte sich vage erinnern, schon mal gehört zu haben, dass es einen entsprechenden Trick gab.

Sie hüllte sich in die steifen Leintücher, legte sich auf das durchgesessene Sofa und wartete, bis ihr Körper aufhörte, zu zittern. Obwohl sämtliche Glieder schwer waren und sie die Augen kaum mehr offen halten konnte, fühlte sie sich hellwach. Sie musste an Martin denken, an alle Katastrophen der letzten Monate, an Luisa, die sich sicher Sorgen machte und vergebens probierte, sie auf dem Handy zu erreichen.

Helena wälzte sich hin und her und probierte sich abzulenken, indem sie sich vorstellte, wie das Jagdschloss früher ausgesehen haben mochte, als seine Bewohner es noch mit Leben erfüllt und seine Pracht dank sorgsamer Pflege erhalten hatten. Mit dem Gedanken, wie die Frau im roten Kleid hoheitsvoll die Treppe heruntergeschritten war und der Dienerschaft Befehle erteilt hatte, schlief sie endlich ein.

Goldenes Licht floss in die Finsternis, ein dünner Streifen zunächst, dem Schweif eines leuchtenden Sterns gleichend. Helena streckte ihre Hände aus, um sie ins Licht zu halten, und aus dem Streifen wurde eine goldene Wolke, die sie einhüllte. Sie konnte nichts sehen, weil das Licht sie blendete, doch als sie erneut die Hände hob, war der Bann gebrochen. Das Licht rieselte auf sie herab wie Tausende von Sandkörnchen, die – kaum, dass sie zu Boden fielen – nicht länger golden schimmerten, sondern zu schwarzen Erdklumpen verrotteten. Auf diesem Boden erstanden Bäume, immer mehr und immer dichter – ein Herbstwald aus Ahornbäumen, Buchen und Eichen, durch deren Blätter der Wind fuhr. Es klang nicht wie ein Rauschen, eher wie ein Klirren, als wären die Blätter aus Glas, in denen sich das Blau des Himmels, das Braun des Bodens und das Rot und Gold des Laubs spiegelten.

Helena drehte sich im tausendfach gebrochenen Licht, erfreute sich am hellen Klirren des Glases – eine Melodie, wie sie kein Mensch erschaffen kann –, doch als sie den Schatten unter den Bäumen suchte, sah sie, dass die Ränder der Glasblätter gefährlich scharf waren. Blut tropfte von ihnen, ebenso von den Ästen; der Boden war nicht länger schwarz und saftig, sondern rot. Sie watete knietief in einer zähen roten Masse.

Helena erschrak, lief von Blut und Bäumen davon, direkt in jemanden hinein – es war ein Junge, sechs, vielleicht sieben Jahre alt.

Sein Haar war rotblond, sein Gesicht von Sommersprossen übersät, sein Grinsen breit.

»Wer bist du?«, fragte sie.

»Kennst du mein Geheimnis?«, fragte er zurück.

Sie schüttelte den Kopf. »Wo sind wir?«

»Ich zeige es dir.«

Der Junge lief davon, nein, sprang leichtfüßig wie eine Gazelle, immer schneller, immer höher, bis es aussah, als würde er fliegen. Und tatsächlich, seine Füße hinterließen ebenso wenig Spuren im erdigen Boden wie die ihren. Sie geriet nicht außer Atem, als sie ihm einen Berg hinauffolgte, fühlte sich vielmehr schweben, schwerelos und im Kreise drehend, und dann lag es plötzlich vor ihr – das Jagdschloss.

»Ich glaube, ich bin schon einmal hier gewesen.«

Jetzt sah alles anders aus. Üppiger Efeu rankte sich die Wände hoch, das Dach war mit glänzenden Schindeln bedeckt, die Wände frisch verputzt, die Fenster mit leuchtend grünen Rahmen versehen.

»Hier bin ich zu Hause. Kennst du mein Geheimnis wirklich nicht?«, fragte der Knabe.

Wieder schüttelte sie den Kopf. Eine Windbrise erfasste sie, spielte mit ihrem Haar, warm und golden wie vorhin das Licht. Der Kleine ergriff ihre Hand und führte sie ins Schloss, nicht etwa durch die Tür, sondern einfach durch die Wand hindurch. Die Eichendielen, auf die sie traten, knarrten nicht, denn sie schwebten weiterhin – schwebten den Flur entlang, die Treppe hinauf, durch lichtdurchflutete Räume, in denen Staubflocken tanzten. Es roch nach Wald und nach Pferden.

Der Junge hatte sich abgewandt und blickte zum Fenster hinaus. Das Licht des nahenden Abends war nicht mehr golden, sondern dunkelrot und hüllte ihn ein. »Ich möchte, dass du mein Geheimnis errätst.«

Er beugte sich aus dem Fenster, stieg auf den Rahmen und balancierte darauf, ohne Furcht, in die Tiefe zu fallen. Auch Helena ängstigte sich nicht, wusste sie doch, er würde die Hände ausbreiten und einfach fliegen, wenn er stolperte. Jemand anders schien sich mehr zu sorgen.

»Mein Sohn?«, ertönte eine bekümmerte Stimme. »Wo bist du?«

»Ist das deine Mutter?«, fragte Helena.

Der Junge lächelte spitzbübisch, und sie erwiderte sein Lächeln, wollte es zumindest – aber dann erstarrte sie. Das Licht, das von draußen hereinfloss, verdüsterte sich jäh, der Staub tanzte nicht mehr golden, sondern wirkte grau wie Asche. Die Sommersprossen des Jungen färbten sich immer dunkler – dunkel wie Blut, ja, es waren gar keine Sommersprossen mehr, es waren Blutstropfen, die von seinem Gesicht perlten. Der Junge schwitzte Blut.

»Wo bist du?«, schrie die Frau wieder.

Seine Stimme war nicht mehr klar und hell, sondern kehlig und rau, als er redete. »Jetzt kennst du mein Geheimnis, nicht wahr?«

Das Blut versiegte, sein Gesicht wurde von der Asche bedeckt. Als Helena nach ihm griff, berührte sie keine warme Haut, unter der das Herz pulsierte, sondern eine steinerne Statue. Entsetzt riss sie ihre Hand zurück und wollte davonlaufen, aber ihre Füße waren wie gelähmt.

Sprich es nicht aus, dachte sie noch, sprich es nicht aus – dann ist es nicht wahr.

Doch der Junge sagte gnadenlos: »Mein Geheimnis ist, dass ich tot bin.«

In Panik schlug Helena die Augen auf, doch der Traum verlor nichts von seiner Macht. Sie fühlte sich selbst wie zu Stein erstarrt, unfähig, sich zu regen und den modrigen Geruch abzuschütteln, der auf ihr lastete. Sie atmete keuchend, glaubte, nicht genug Luft zu bekommen. Es war, als hätte sie die Asche aus dem Traum geschluckt.

Ich ersticke, dachte sie voller Panik, ich ersticke ...

Doch dann fiel ihr ein, dass sie am vorigen Abend kein Feuer im Kamin gemacht hatte und ihr weder Rauch noch Asche zusetzen konnten. Sie blickte sich um, atmete etwas ruhiger, und ihre Augen gewöhnten sich ans trübe Licht. Doch auch wenn sie wieder ganz bei sich war – das Grauen blieb an ihr haften.

Mein Geheimnis ist, dass ich tot bin ...

Sie schüttelte den Kopf. In ihrem Mund schmeckte es gallig, die Zunge schien geschwollen, und der Kopf war schwer. Selten hatte sie sich so nach einer Tasse starken, heißen Kaffees gesehnt wie in diesem Augenblick, und die Einsicht, hier keinen zu bekommen, verstärkte den Druck auf den Schläfen. Eine Weile blieb sie mit geschlossenen Augen liegen, doch ehe sie erneut einnickte und Gefahr lief, wieder zu träumen, richtete sie sich auf und schlug die vielen Leintücher zurück. Helenas Blick wanderte zum Fenster. Der Himmel war immer noch grau, die Landschaft immer noch weiß.

Sie stand auf, zog sich ihren Mantel an und fuhr sich durchs Haar. Nach dem gestrigen Marsch und der unbequemen Nacht schmerzten ihr sämtliche Glieder. Sie schluckte, aber der gallige Geschmack blieb. Am besten, sie trank noch etwas von dem Birnensaft, schließlich hatte sie ihn gut vertragen.

Draußen im Gang war es kälter als im Wohnzimmer, und als sie ausatmete, stieg eine graue Wolke aus ihrem Mund. Unwillkürlich fiel ihr Blick auf das Gemälde jener Frau im roten Kleid, das den Flur beherrschte. Erst heute fiel ihr auf, dass nicht nur dieses Kleid rot war, sondern auch das Herbstlaub im Hintergrund.

Wie der blutende Wald in ihrem Traum ...

Und jene Stimme, die den kleinen Jungen gerufen hatte – gehörte sie etwa dieser Frau?

Trotz des übermächtigen Dursts trat sie an das Gemälde heran und musterte es aufmerksam. Eine ovale Messingplatte mit einer Inschrift stach ihr ins Auge, die verriet, wer diese Frau war.

Maria Henrietta von Ahrensberg

War sie identisch mit jener Marietta, deren Tagebuch sie gestern gefunden hatte?

Schwindel stieg in ihr hoch. Anstatt sich auf die Treppe zu setzen oder endlich in die Küche zu gehen, blieb Helena wie angewurzelt vor dem Bild stehen. Die Augen der Frau waren nicht mehr mahnend auf sie gerichtet, sondern schienen in weite Ferne zu blicken, suchend und zugleich trostlos.

»Wer bist du nur?«, fragte Helena laut in das Schweigen dieses kalten, grauen Morgens. »Wer bist du?«

2

Wien 1907

»Verdammt, kannst du nicht aufpassen, du Trampel?«

Veruschka heulte auf, ergriff eine der spitzen Nadeln und stach in Mariettas Richtung. Diese wich in letzter Sekunde aus und musste sich auf die Zunge beißen, um sich eine wütende Entgegnung zu verkneifen. Nicht sie war achtlos gewesen, sondern Veruschka selbst. Anstatt bei der Kleiderprobe ruhig zu halten, tänzelte sie ständig herum, als wollte sie aller Welt beweisen, wie unzumutbar es für eine ehrgeizige Ballerina war, auch nur für wenige Minuten stillzustehen.

»Nun mach schon! Wie lange soll ich denn noch warten?«

Vorsichtig näherte sich Marietta wieder der russischen Tänzerin. Anstatt sie wütend anzufunkeln, wie es ihre erste Regung war, hielt sie ihre Augen gesenkt und konzentrierte sich auf den Saum des kurzen Kleides.

»Gott, ich verstehe nicht, wie man solche wie dich hier Kostüme nähen lässt.«

Veruschka sprach wie immer mit starkem Akzent und rollendem »R«. Wenn man sie nur hörte und nicht sah, hätte man sie für die behäbige Wirtin einer zweitklassigen Spelunke am Prater halten können. Ihre Stimme stellte einen nahezu schmerzhaften Kontrast zu ihrem filigranen Körper dar. Wobei dieser Körper in den letzten Wochen nicht mehr ganz so filigran wirkte. Marietta war nicht entgangen, dass die Tänzerin um die Hüften etwas zugelegt hatte – vielleicht war das der Grund für ihre schlechte Laune.

Flink und geschickt wie immer steckte Marietta den Saum ab. Veruschka nahm keine Rücksicht darauf, sondern tänzelte weiter, sodass Marietta ihr auf Knien hinterherrutschen musste. Trotzdem gelang es ihr in Windeseile, das Kleid zu kürzen, ohne dass der Saum schief geriet.

»Ich bin fertig«, erklärte sie stolz.

»Na endlich!«, stöhnte Veruschka.

Sie reckte das Kinn und rauschte grußlos davon.

Marietta erhob sich und streckte mit einem Stöhnen den Rücken durch. Ihre Knie fühlten sich taub an. Seit dem frühen Morgen schuftete sie in der stickigen Garderobe des kaiserlich-königlichen Hoftheaters, deren Enge ihr ebenso zusetzte wie das schlechte Licht. Ununterbrochen hatte sie an neuen Kostümen genäht, an Seidenhandschuhen und an Augenmasken, hatte alte ausgebessert, Federn und Perlen an Kopfschmuck angebracht und Seidenbänder an Schuhen. Jetzt war sie zum ersten Mal alleine mit Lene – eine Schneiderin wie sie, jedoch viel älter und ungleich mehr von Rückenschmerzen geplagt. Zumindest behauptete sie das, während Marietta sie insgeheim verdächtigte, dass es nur ein Vorwand war, um nicht auf Knien herumzurutschen und Säume abzustecken. Solche undankbaren Aufgaben überließ sie lieber ihr.

Immerhin ließ sich mit Lene wunderbar über die Tänzerinnen lästern.

»Ihre Zeit ist vorbei«, sagte Lene mitleidslos. »Vielleicht schafft sie es noch diese und die nächste Saison, aber dann wird sie wohl nach Russland zurückkehren, um dort kleine Elevinnen zu drangsalieren.«

»Vielleicht bleibt sie auch hier in Wien und gibt in der hiesigen Ballettschule Unterricht«, meinte Marietta. »Die künftigen Schülerinnen tun mir jetzt schon leid.«

»Wenigstens müssen wir dann nicht mehr für sie nähen.« Lene seufzte. »Ach mein Gott, wie mir die Augen wehtun!«

Ausnahmsweise war es heute also nicht der Rücken, der sie plagte.

Lene lächelte Marietta schüchtern an, und die ahnte sofort, was drohte.

»Hier«, sagte Lene prompt mit klagendem Unterton. »Kannst du das für mich fertig machen?«

Marietta unterdrückte ein Seufzen. Während sie Veruschkas Kleid angepasst hatte, hatte Lene seit den Morgenstunden am Kostüm für den »arabischen Tanz« gearbeitet – und war immer noch nicht fertig.

»Ach bitte!«, drängte sie. »Ich bin schrecklich müde!«

Das war Marietta auch, aber anders als Lene unterdrückte sie ihr Gähnen.

»Diese grauen Herbsttage«, klagte Lene, »machen das Leben unerträglich.«

Als ob sie nicht an jeder Jahreszeit gelitten hätte – im Winter setzte ihr die Kälte zu, im Sommer die Hitze, und im Frühling bedauerte sie es stets, dass sie hier drinnen festsaßen, anstatt im Prater an den duftenden Fliederbüschen zu riechen.

»Also, du tust mir doch diesen Gefallen?« Sie reichte Marietta das Kostüm. »Bis morgen muss es unbedingt fertig sein – am Abend ist die Generalprobe. Und in drei Tagen dann die Premiere.«

»Und heute?«, fragte Marietta. »Findet keine Aufführung statt?«

»Gottlob nicht.«

Während der Aufführungen musste stets eine von ihnen anwesend sein, um im Fall des Falles Knöpfe wieder anzunähen und aufgerissene Nähte zu flicken. Marietta zeigte ihre Freude ebenso wenig wie ihren Überdruss, der sie beim Anblick des halb fertigen Kostüms befiel. Oft lag es ihr auf der Zunge, Lene für ihre Faulheit zurechtzuweisen, aber stets rief sie sich beizeiten ins Gedächtnis, dass sie ihr die Arbeit hier zu verdanken hatte.

Lene war eine gute Freundin ihres Vaters gewesen. Über lange Jahre hatte sie seine Kostüme genäht – wohl mit mehr Fleiß und Erfindungsreichtum, als sie jetzt aufbrachte. In gewisser Weise konnte Marietta das sogar verstehen, war es doch sicher leichter, bei dem stets freundlichen, gutmütigen Leopold Krüger Maß zu nehmen als bei den launenhaften Tänzerinnen.

Nachdem Lene sie alleine gelassen hatte, machte sich Marietta an die Arbeit. Vor zwei Jahren hatte sie weder sonderliche Geschicklichkeit noch Geschwindigkeit bewiesen. Sie hatte viele Nähte auftrennen müssen, weil sie zu ungleichmäßig geraten waren, und hatte sich mehr als einmal am Tag die Finger blutig gestochen. Doch mittlerweile verstand sie ihr Handwerk. Kaum eine Stunde später betrachtete sie prüfend das fertige Kleid und war mit dem Ergebnis zufrieden. Sie verließ die winzige Garderobe und brachte es in den Raum, wo die Requisiten und Kostüme aufbewahrt wurden. Als sie mit ihrer Hand über die anderen Kleidungsstücke strich, die für die Aufführung der Nussknackersuite angefertigt worden waren – das von Klärchen, die kunstvollen Uniformen des Spielsoldatenheers oder der Mantel des Mäusekönigs –, begann sie unwillkürlich, die Melodie vom Tanz der Zuckerfee zu summen.

Im Takt der Klänge verließ sie den Raum, durchschritt die mittlerweile leeren Gänge, die ihr einst wie ein Labyrinth erschienen waren, und erreichte den großen Ballettsaal. Eine Weile blieb sie ehrfürchtig im Türrahmen stehen, ehe sie eintrat, das Licht anmachte und an die vielen Stunden dachte, die sie hier als Kind verbracht hatte. Nach dem Tod ihres Vaters hatte es sich verboten angefühlt, hierherzukommen, aber die Sehnsucht hatte die Skrupel besiegt.

Sie legte ihre Kleidung bis auf ein dünnes Unterhemd ab, drehte ihr Haar zu einem Knoten, den sie mit ein paar Nadeln feststeckte, und trat zur Stange. Weiter summend begann sie, ihren noch steifen Körper aufzuwärmen. Nachdem sie sämtliche Muskeln gedehnt und gestreckt hatte, führte sie präzise Bewegung um Bewegung von Armen, Beinen und Kopf aus. Dann trat sie in die Mitte des Saales, nahm erst die Figur der Arabesque ein und begann schließlich zu tanzen: Auf einige Fouettés en tournant und Piqués folgten ein paar Pirouetten, erst kleinere, dann größere, die schließlich in Kapriolen übergingen. Obwohl keine kunstvolle Choreografie ihre Elemente verband, hörte sie nicht auf, den Tanz der Zuckerfee zu summen – bis plötzlich ein Misston diese Melodie störte.

Marietta erstarrte, fuhr herum und sah einen Mann an der Stange stehen, der sich nunmehr schon zum zweiten Mal räusperte.

Er kam ihr bekannt vor, aber sie wusste nicht, wann und wo sie ihn schon einmal gesehen hatte. Das rötlich-braune Haar war licht und schien förmlich an seinem Kopf zu kleben; der Backenbart war ebenfalls dünn, aber dennoch rechts und links sorgfältig mit Pomade zu Spitzen gedreht worden. Die Haut war so fahl, als wäre er seit Ewigkeiten nicht mehr in die Sonne getreten.

Marietta senkte schuldbewusst ihren Blick und erwartete eine Standpauke, weil sie den Ballettsaal unerlaubt betreten hatte. Doch der Mann sagte nichts, sodass sie schließlich verlegen zu ihrem langen Kleid griff und es hastig überzog. Als sie fertig war, stand er immer noch regungslos da und musterte sie eindringlich.

Sie überlegte, ob sie einfach an ihm vorbei zur Tür laufen sollte, aber in diesem Moment ergriff er das Wort: »Wie alt bist du?«, wollte er wissen.

Sie hatte viele Fragen erwartet – wie sie es nur wagen konnte, diesen Raum zu betreten, wie sie überhaupt ins Theater gelangt war und warum sie den Tanz der Zuckerfee beherrschte –, aber nicht diese.

»Bald sechzehn«, erwiderte sie leise.

Er nickte nachdenklich. Langsam trat er auf sie zu, blieb jedoch sofort stehen, als sie zurückwich.

»Als ich dich das letzte Mal tanzen gesehen habe, warst du knapp neun.«

Sie begann zu ahnen, woher sie ihn kannte. »Sie sind ein Freund meines Vaters?«, fragte sie.

Er beantwortete die Frage nicht. »Offenbar hast du das Tanzen seitdem nicht aufgegeben. Seit wann ist er tot?«

Marietta schluckte schwer. »Er starb vor drei Jahren.«

Der Mann nickte nachdenklich. »Eine Tragödie«, murmelte er. »Er war ein wunderbarer Sänger.«

Sie unterdrückte ein Seufzen. Sie sprach so gut wie nie über ihren Verlust, und die Trauer über seinen Tod hatte sich selten in Form von Tränen ihre Bahn gebrochen. Aber manchmal war ihr, als könnte sie noch das Echo seiner Stimme hören. Er hatte oft zu Hause gesungen und sie dazu getanzt.

Auch der Fremde schien in seine Erinnerungen versunken zu sein. Obwohl Marietta sich nicht länger vor einer Standpauke fürchtete, drängte alles in ihr, zu fliehen. Sie hätte es leichter ertragen, von ihm angebrüllt zu werden, als in seiner Miene den Kummer zu sehen, der ihr selbst die Kehle zuschnürte.

Hastig wandte sie sich ab und lief leichtfüßig zum Ausgang.

»Stehen bleiben!«, ertönte plötzlich sein Ruf, streng und knapp, als würde er einem Hund Befehle erteilen.

Sie erstarrte. Wieder ging er auf sie zu, und diesmal wich sie nicht zurück.

»Ich habe lange Zeit in Paris gearbeitet, jetzt bin ich wieder nach Wien zurückgekehrt.« Welchen Beruf er ausübte und welches Amt er hier am Hoftheater einnahm, sagte er nicht. Nach einem längeren Schweigen stellte er lediglich fest: »Du hast Talent.«

Das hatte ihr Vater auch immer gesagt – und er war nicht der Einzige gewesen. Zu seinen Lebzeiten hatten alle seine Freunde und Kollegen, die bei ihnen ein- und ausgingen, die hübsche und geschmeidige Tochter des Opernsängers bewundert und gerühmt. Doch als er so unverhofft gestorben war, war aus dem geselligen Haus ein einsames geworden und die wankelmütige Künstlerwelt blind für das begabte Mädchen. Man vergaß sogar, wie sie hieß. Kaum einer rief sie noch bei ihrem Namen – wenn man sie überhaupt ansprach, war sie nur »die Näherin«.

»Aber man merkt natürlich, dass du seit Langem keinen vernünftigen Unterricht bekommen hast«, fuhr der Fremde fort.

»Ich habe versucht, bei den anderen Tänzerinnen möglichst viel abzuschauen ...«

»Guter Wille allein genügt aber nicht.«

Die Empörung, die sie schon vorhin erwartet hatte, weil er sie hier ertappt hatte, klang erst jetzt durch seine Stimme hindurch – wenn sie auch weniger der Tatsache galt, dass sie hier getanzt hatte, als vielmehr, dass sie es nicht mit jener Perfektion getan hatte, zu der sie doch eigentlich fähig sein sollte.

»Wie oft tanzt du?«

»Hier im Ballettsaal nur abends, wenn keine Vorstellung ist. Zu Hause habe ich kaum Platz dazu.« Das geräumige Haus, in dem sie zu Lebzeiten ihres Vaters gewohnt hatten, hatten sie längst aufgeben müssen.

»Das ist viel zu selten«, belehrte der Mann sie streng. »Um eine große Ballerina zu werden, musst du viele Stunden üben. Jeden Tag, auch sonntags. Bist du dazu bereit?«

Marietta starrte ihn verwundert an. »Nach dem Tod meines Vaters ...«, setzte sie an.

»Ich kann es mir denken. Es war niemand da, der sich um deine Ausbildung gekümmert hätte. Aber gesetzt, du hättest einen Förderer. Wie viel Ausdauer und Willensstärke würdest du hineinlegen? Es reicht nicht, wenn du nur zum Vergnügen tanzt. Du musst dafür sterben wollen.«

Mariettas Mund wurde trocken. Ohne Zweifel, sie wollte dafür sterben. Nach dem Tod ihres Vaters war der Kummer, nicht länger regelmäßig tanzen zu können, fast so groß gewesen wie ihre Trauer um ihn. Doch das würde sie nicht zugeben.

»Ich habe andere Pflichten ...«, erklärte sie und senkte wieder ihren Blick.

»Kleider zu nähen?«

Offenbar wusste er, dass sie hier arbeitete, jedoch nicht, warum sie es tat und welche Verantwortung sie trug.

»Ich muss nun gehen.«

Er nickte wieder langsam. »Ich bin der Leiter der Ballettschule des Hoftheaters.«

Er ließ offen, was er damit meinte, womöglich, dass sie dort, wo nur die Besten der Besten ausgebildet wurden, Unterricht erhalten könnte.

Die Aussicht war so verheißungsvoll, dass sie unmöglich Nein gesagt hätte, wenn er sie direkt gefragt hätte, ob er sie in einem der Internate unterbringen sollte, wo die Tänzerinnen – hermetisch von den Verführungen der Welt abgeschirmt – die beste Ausbildung erhielten. Doch er starrte sie weiterhin nur nachdenklich an.

»Ich ... ich kann nicht. Ich muss doch ...« Sie brach ab. Gewiss interessierte es ihn nicht, was ihr Leben jenseits des Tanzens bestimmte.

»Wenn du hart arbeitest, kannst du ein besseres Leben haben.«

»Ich kann nicht«, wiederholte sie. »Es tut mir leid.«

Obwohl sie so geschickt war, stolperte sie fast über die eigenen Füße, als sie hinauslief.

Marietta schlich die Treppe der Mietskaserne hoch. Sie versuchte, möglichst lautlos zu gehen, aber dennoch ertönte bei jedem Schritt ein Knarzen. Zum Glück wurde es von anderen Geräuschen übertönt – irgendwo schrie ein Kind, prügelte ein Mann auf eine keifende Frau ein und heulte ein wirrer, bettlägriger Alter –, sodass niemand aus der Wohnung trat.