Das Einstein-Papier - Lennart Ramberg - E-Book
SONDERANGEBOT

Das Einstein-Papier E-Book

Lennart Ramberg

0,0
5,99 €
2,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wer würde für den Nobelpreis töten? Der schwedische Wissenschaftsthriller: „Das Einstein-Papier“ von Lennart P. Ramberg jetzt als eBook bei dotbooks. Er sollte mit dem Nobelpreis ausgezeichnet werden – nun wird der renommierte Forscher Dr. Takeo Ohashi während einer Konferenz tot aufgefunden. Das schwedische Nobel-Komitee will sichergehen, dass ihnen kein Skandal ins Haus steht, und beauftragen die junge Wissenschaftlerin Anneli, die Hintergründe des Todesfalles herauszufinden. Was ihre Auftraggeber nicht wissen: Anneli war die Freundin von Takeo. Und sie glaubt weder an Zufälle noch an Selbstmord. Ohne zu zögern stürzt Anneli sich in die Ermittlungen, die sie selbst schnell in große Gefahr bringen … „Man wird immer wieder an Dan Brown erinnert. … Und Anneli Vinka ist die neue Lisbeth Salander: intelligenter als die Meisten; mutig bis hin zur Tollpatschigkeit und sozial unbegabt.“, urteilt die schwedische Tageszeitung Borås Tidning Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Das Einstein-Papier“ von Lennart P. Ramberg. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 642

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch:

Er sollte mit dem Nobelpreis ausgezeichnet werden – nun wird der renommierte Forscher Dr. Takeo Ohashi während einer Konferenz tot aufgefunden. Das schwedische Nobel-Komitee will sichergehen, dass ihnen kein Skandal ins Haus steht, und beauftragt die junge Wissenschaftlerin Anneli, die Hintergründe des Todesfalles herauszufinden. Was ihre Auftraggeber nicht wissen: Anneli war die Freundin von Takeo. Und sie glaubt weder an Zufälle noch an Selbstmord. Ohne zu zögern, stürzt Anneli sich in die Ermittlungen, die sie selbst schnell in große Gefahr bringen …

»Man wird immer wieder an Dan Brown erinnert. … und Anneli Vinka ist die neue Lisbeth Salander: intelligenter als die meisten; mutig bis hin zur Tollpatschigkeit und sozial unbegabt«, urteilt die schwedische Tageszeitung ›Borås Tidning‹.

Über den Autor:

Lennart Ramberg wurde 1960 in der schwedischen Provinz Värmland geboren. Mit 27 Jahren promovierte er im Fach Industriephysik und gründete 1997 ein Technikunternehmen, das er später für eine spektakuläre Summe in die USA verkaufte. Von diesem Gewinn erwarb Ramberg Anteile an einer schottischen Whiskybrennerei und – als erste Privatperson in Europa – ein CO2-Emissionsrecht. Heute lebt er mit seiner Familie in Stockholm. Sein Ökothriller »Schmetterlinge im Eis« wurde von der Kritik gefeiert.

***

Deutsche Erstveröffentlichung August 2016

Copyright © der Originalausgabe 2014 L. P. Ramberg

Die schwedische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Einsteins arvingar« bei Kabusa Böcker, Sweden.

Copyright © der deutschen Erstveröffentlichung 2016 by dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Atelier Maria Seidl, atelier-seidel.de

Titelbildabbildung: istockphoto/Thomas Northcut

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-769-7

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Das Einstein-Papier« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Lennart Ramberg

Das Einstein-Papier

Thriller

Aus dem Schwedischen von Kerstin Schöps

dotbooks.

Der Sturz

Die Arme waren wie schwerelos. Er streckte sie aus, um mit den Händen im Dunkeln zu tasten, aber sie fanden keinen Halt. Seine Finger griffen ins Leere, immer verzweifelter, bis sie schließlich leblos an den Händen hingen, auch sie schwerelos. Er hatte jedes Gefühl für Schwerkraft verloren. Sein dickes Haar stand von seinem Kopf ab, wie die Tentakeln einer schwarzen Qualle, die Tasche über seiner Schulter schien sich aufgelöst zu haben, seine Kleidung war ein Teil der Luft. Immer wieder trat er mit gestrecktem Fuß in die Dunkelheit, die nach feuchtem, modrigem Zement roch, aber seine Zehenspitzen trafen keinen Gegenstand, er spürte gar nichts mehr. Wie er seinen Kopf auch drehte und wendete, er schien auf einem Daunenkissen zu ruhen.

Die Welt um ihn herum bewegte sich, nicht er. Dieser Gedanke war ihm gekommen, als sein Fuß über die Kante geglitten war. Es war sein gutes Recht ihn zu denken, Einsteins Relativitätstheorie brachte den Beweis dafür. Aber die Illusion des Stillstands wurde durch das Flattern seiner Hemdsärmel zerstört. Der Zweifel packte ihn. Die Gravitation hatte ihn schon längst im Griff. Wieder wollten seine Hände nach etwas greifen. Der Gedanke, dass eine mathematische Umrechnung diese Kraft, die ihn unerbittlich nach unten riss, aufheben könnte, hallte höhnisch in ihm wider. Was nützte es ihm, dass die Theorie als unfehlbar galt? Was nützte es ihm, dass er sie bis ins kleinste Detail beherrschte?

Ein Riss in dem uralten Mauerwerk ließ einen Sonnenstrahl hindurch. Er traf seine weit aufgerissenen Augen wie ein Blitz und löste in ihm einen Schrei aus, als würde er damit jemanden außerhalb der Mauern erreichen können, jemanden, der seine Worte weitergeben würde. Er schrie ihren Namen und dass er sie liebte. Die gewölbten Wände warfen den Namen zurück, verzerrten ihn zu drei hallenden Vokalen und reduzierten seine Botschaft zu einem hohlen Schrei. Aber er hörte nicht auf. Er wollte seine Untreue erklären. Er wollte um Verzeihung bitten. Ihr sagen, dass er sie berühren, bei ihr bleiben, sie lieben wolle. Aber dazu würde es nicht mehr kommen.

Denn er fiel, wie ein Säugling mit ausgestreckten Armen.

Er war mit seiner rechten Hand gegen die Mauer gestoßen, als seine Füße den Halt verloren hatten und er in die Tiefe gestürzt war. Das Innere des Turmes hatte dieselbe Neigung wie sein äußeres Mauerwerk, vier Grad. Unter anderen Umständen hätte er errechnen können, wann ein fallendes Objekt nach einem Sturz gegen die Mauer prallen würde. Als dann aber die Haut von seinen Knöcheln geschabt wurde, war er nicht darauf vorbereitet.

Er riss die Hand an sich. Seine Hüfte schlug gegen die raue Steinoberfläche. Sein Körper wurde hin und her geschleudert und begann, sich um die Achsen zu drehen. Das schwache Licht aus der Luke und die schwarze Dunkelheit der Tiefe flossen ineinander. Da tauchte ein Bild vor seinen Augen auf. Er wollte es nicht sehen, aber es verschwand nicht wieder. Er sah das Auditorium vor sich. Voll besetzt, aber die Zuhörer wirkten gelangweilt. Einige erhoben sich und verließen ihre Plätze. Andere seufzten. Er konnte einzelne Gesichter erkennen. Professorin Ohashi sah besorgt aus, was angemessen war. Sie war seine Schwester. Professor Arai, der Chef des Labors, kratzte sich zerstreut. Professor Norell starrte ins Leere, angespannt wie immer. Mehr und mehr Menschen erhoben sich und verließen den Saal. Sie hatten vergeblich gewartet. Sie würden seinen Vortrag niemals zu hören bekommen. Sie würden niemals erfahren, was er ihnen hatte erklären wollen.

Ein weiteres Mal prallt er gegen das Mauerwerk. Aber dieses Mal beschleunigt das nur die Rotation um die eigene Achse, wie bei einem dieser Zwergsterne, um die es in seiner Dissertation gegangen war. Die Arme werden von den Fliehkräften nach außen gedrückt, schlagen unkontrolliert gegen die raue Steinoberfläche und brechen. Die Kräfte pressen auch die Tränen aus den Augenwinkeln. Kein klarer Gedanke lässt sich jetzt mehr fassen. Einzelne Erinnerungsfragmente überfluten ihn, chaotisch, unbeherrscht wie ein Tsunami, der über einen Wellenbrecher fegt. Anneli – sie sieht von einem Blatt voller Wellengleichungen zu ihm auf, ihre Zähne glänzen. Die Papiere in Jerusalem, sie riechen nach Staub. Sein Vater – er zuckt entschuldigend seine mageren Schultern. Eine Matrix voller mathematischer Symbole bedeckt das gesamte Whiteboard. Die Feuchtigkeit in den verschachtelten Tunneln, die Tropfen von der Decke. Seine Schwester – und ihr unergründlicher Blick, wenn sie lächelt. Anneli – sie zieht sich ein Laken übers Gesicht und kichert.

Als Takeo Ohashi auf dem Boden des Glockenturms aufschlägt, reißt dieser Strom der Erinnerungen abrupt ab. Sein Körper trifft nach dem freien Fall aus einundfünfzig Metern Höhe den Marmorboden und zerschellt. Das Geräusch hallt von den nackten Mauern des Turmes wider, wird gedämpft und verstummt. Eine seiner Theorien hatte gezeigt, dass ein Aufprall oder Zusammenstoß zweier Körper nur äußerst schwache Gravitationswellen erzeugt.

Niemand bemerkte diese Wellen. Niemand hörte den Aufprall.

TEIL I – DIE AKADEMIE

Kapitel 1

Das Gebäude war keine Schönheit. Es hatte große, quadratische Fenster. Vier Stockwerke mit vier identischen Balkonen. Die Brüstungen waren grün gestrichen und bildeten einen starken Kontrast zu der schlichten grauen Fassade. Der Funktionalismus des Hauses bot nichts, um seinen Blick darauf verweilen zu lassen. Aber das war kein Manko, fragte man die neue Bewohnerin im obersten Stockwerk. Sie schätzte gerade die Anonymität des Hauses. Die Straßen waren schmal, und es verirrte sich kaum einer in diese Gegend, obwohl das Haus auf Djurgården mit Sicht auf Beckholmen stand.

»Und Sie werden in beiden Stockwerken wohnen? Allein?«, hatte der Eigentümer sie bei der Schlüsselübergabe vor etwa einem Monat gefragt.

»Fast«, hatte die Antwort der jungen Frau in Kapuzenpulli und zerrissenen Jeans gelautet.

An der Tür im dritten Stock stand »A. Vinka« auf einem handgeschriebenen Zettel. Für die darüber liegende Wohnung aber, deren Zimmer aus gardinenlosen Fenstern freie Sicht über die Stadt boten, fehlte ein Namensschild. Die Türklingel war mit Tape verklebt. Es war dort selten jemand zu Hause, aber jetzt stand die Tür zum Treppenhaus sperrangelweit offen. Anneli Vinka streifte sich am Eingang ihre Schuhe von den Füßen, um eine weitere schwere Fuhre in die Wohnung zu tragen, die letzte von sechs identischen, die sie bereits durchs Treppenhaus in den vierten Stock gewuchtet hatte. Sie schleppte ihre Last in das große Eckzimmer, ohne das geringste Anzeichen von Erschöpfung. Kein Hinweis darauf, dass die achtzehn Tatami-Matten schwerer gewesen waren, als sie gedacht hatte, und sie mehr Fuhren als erwartet hatte tragen müssen. Nur die geradezu unbedeutende Weitung ihrer Nasenflügel und der schnelle Atem verrieten die Anstrengung, während sich ihre Augenbrauen, zwei dunkle Bögen, ungerührt auf ihrer glatten Stirn nicht bewegten.

Anneli ließ ihre Ladung von der Schulter gleiten und betrachtete das Szenario auf dem Boden vor sich. Ihr Blick huschte schnell über die Bodenleisten und die Position der Möbel, um sich das komplexe Muster vorzustellen, nach dem sie die Matten platzieren wollte. Sie nickte zaghaft und lächelte, als sie vor sich sah, wie alles an seinen Platz fallen würde, wenn sie die Anordnung einmal um neunzig Grad drehen und spiegelverkehrt legen würde. Sie würde dann besser zu der Form der Bilder an den Wänden passen. Anneli löste den Pferdeschwanz, den sie getragen hatte, damit ihre langen, fast schwarzen Haare, die im Licht, das durch die Panoramafenster fiel, in einem kastanienroten Ton schimmerten, nicht störten.

Entlang der einen Wohnzimmerwand waren an die zwanzig Umzugskartons nebeneinander aufgereiht. Ihr Inhalt, bestehend aus einer Mischung aus Notizen, Kalkulationen, Berechnungen und Beweisen, war schwer. Neun volle schwarze Müllsäcke hatte sie aus dem Institut für Theoretische Physik an der Universität von Stockholm geschleppt. Und das nur etwa eine halbe Stunde, nachdem sie dem zuständigen Professor Ulf Mossander ins Gesicht geschleudert hatte, dass sie unmöglich ihren Würgereiz beherrschen könnte, wenn sie sein falsches Grinsen noch ein einziges Mal sehen müsste. Sie hatte noch ein paar Kraftausdrücke in einer ihm unbekannten Sprache hinterhergeschickt und sich später darüber geärgert, dass sie nicht deutlicher gewesen war. Als sie den letzten Karton beiseitegestellt hatte, musste sie an den Gesichtsausdruck des Professors denken und zog den zufriedenstellenden Schluss, dass ihre Botschaft wohl doch den Empfänger erreicht hatte.

Die Matten waren aus Igusa-Gras gefertigt. Dadurch waren sie nicht so steif wie die herkömmlichen Tatami-Matten aus Reisstroh und ließen sich rollen. Takeo Ohashi hatte an einem seiner ersten Abende am Institut erwähnt, dass diese dünnen Matten vorzuziehen seien, und sie hatte sich das gemerkt. Nach eingehender Recherche hatte sie eine Firma ermitteln können, die ebendiese, von ihm so hoch geschätzten Matten, noch herstellte.

Die Lieferung hatte sich allerdings hingezogen, obwohl Anneli die Matten aus Japan hatte einfliegen lassen. Ansonsten war alles, was sie bestellt hatte, zeitig geliefert worden. An der einen Wand leuchteten zwei Whiteboards. Die identischen Schreibtische standen sich gegenüber. Sie waren höhenverstellbar, so wie die Stühle, die sich zudem drehen ließen. Die Rechner auf den Tischen waren mit einem großen Server außerhalb von Paris verbunden, die Konten waren eingerichtet und funktionierten tadellos. Sie hatte sie vor einer Woche getestet. Das Ergebnis einer komplizierten Berechnung war auf dem Monitor erschienen, noch bevor sie sich vom Stuhl hatte erheben können. In der Mitte des Raumes thronte ein rundes Möbelstück aus rotem Plüsch, zu groß für einen Diwan und zu klein für ein Bett. Das war gewagt.

Die Vorbereitungen waren weitgehend abgeschlossen.

Der Möbelhändler hatte ihr Transport und Montage frei Haus angeboten und war offenbar von härteren Preisverhandlungen ausgegangen. Aber dazu kam es nicht. Trotz der höheren Mietkosten hatte sie ausreichende Reserven. Das Transportangebot nahm sie gerne an. Aber eine Montage kam nicht infrage. Die Vorbereitungen waren ihr vorbehalten, ihr ganz allein.

Vor vier Tagen hatte sie die Kunstwerke aufgehängt, die sie eigens für diese Wohnung hatte herstellen lassen. Nachdem Albert Einsteins Porträt in den Flur umgezogen war, stellten die Bilder die einzige Verzierung des Raumes dar. Die Motive waren einheitlich: physikalische Gleichungen, die mit einem Pinsel auf Reispapier geschrieben worden waren. Die drei Kalligrafien hingen jetzt an der Wandseite, die dank ihres weichen Lichtes am besten dafür geeignet war.

Zweimal war sie in die Wohnung gefahren, nur um sich die Bilder eine Weile anzusehen.

Die neuen Matten sollten auch den Boden nutzbar machen, sie musste nur noch ein paar Kissen besorgen. Denn Takeo und sie hatten ihre größten Erfolge der vergangenen sieben, acht Monate nicht in einer typischen Büroatmosphäre gefeiert. Ihren Durchbruch mit der Theorie über das Kollabieren rotierender, galaktischer Zentren hatten sie im Keller unter der Cafeteria gehabt, umgeben von Betonwänden. Die Aufzeichnungen, wie der Big Bang in der Inflationsphase Gravitationswellen erzeugte, hatten hingegen in einem schmalen, staubigen Gang zwischen zwei Bücherregalen im Bibliotheksarchiv Form angenommen. Anneli notierte sich im Geiste, mindestens ein halbes Dutzend Kissen unterschiedlicher Größe zu kaufen. Jede erdenkliche Erleichterung wollte sie bereitstellen, alles, was Takeo und sie benötigen könnten, um das, womit sie lediglich angefangen hatten, erfolgreich zu Ende zu führen.

Sie überlegte, ob sonst noch etwas fehlte, aber bis auf die Kissen hatte sie bereits alles besorgt. Es war auf den Tag genau zwei Monate her, dass sie die Tür ihres Arbeitszimmers an der Universität hinter sich zugeschlagen hatte, ratlos, wie sie einen geeigneten Mietvertrag auftreiben sollte, damit Takeo und sie nicht an ihrem alten Küchentisch arbeiten mussten. Die Bank aber, der sie bei ein paar lächerlich einfachen Problemen geholfen hatte, war großzügiger als erwartet gewesen und hatte es ihr erheblich erleichtert, das richtige Ambiente zu schaffen. Sie war auch nicht in Zeitnot geraten, im Gegenteil.

Seit dem Tag, es war der Montag nach Mittsommer gewesen, als Takeo erfahren hatte, dass sein Vater schwächer geworden war, waren zwei Monate und sechzehn Tage verstrichen. Er war überstürzt aufgebrochen. Am gleichen Abend hatte er seine kleine Wohnung im Wenner-Gren-Center und eine nicht besonders überraschte Anneli verlassen und war vom Flughafen in Arlanda abgeflogen. Seinen Eltern auf diese Art Respekt zu erweisen, gehörte wie selbstverständlich zu seinen Idealen und war eine unerschütterliche Komponente seines Ehrbegriffes. Für Anneli war es vollkommen natürlich, dass er von seinem sterbenden Vater Abschied nehmen wollte. Außerdem war sie davon überzeugt gewesen, ihn nach der Beerdigung wiederzusehen.

Aber dazu kam es nicht. Sie wusste noch nicht einmal, woran es lag.

Seine Mitteilungen waren äußerst kurz gewesen. Die Sprache war poetisch, mehr Rhythmus als Fakt. Anneli hatte das gefallen, vor allem am Anfang, und sie hatte ihm ähnlich vage geantwortet. Sie würde schon früh genug von allem erfahren, sagte sie sich, vom Vortrag, den er halten wollte, und von den anderen Dingen, die er bisher verschwiegen hatte. Nur eine einzige Nachricht war etwas länger gewesen als die anderen. Anneli fand sie beinahe zu lang. Darin verzettelte er sich in grundsätzlichen Ausführungen über Pflichten innerhalb der Familie und darüber, wie alten Idealen neue gegenübergestellt werden könnten. Sie antwortete mit ihrer kürzesten Nachricht: »Liebe dich!«

Ein paar Tage später hatte er sie gebeten, seine Wohnung aufzulösen. Sie hatte einen Schlüssel. Dass er in Zukunft nicht auf eine eigene Bleibe bestehen würde, fühlte sich gut an, obwohl ihr zwischendurch der Verdacht gekommen war, dass er lediglich vergessen hatte, den Mietvertrag zu verlängern. Viel besaß er nicht, hauptsächlich Kleidung, ein paar Bücher und zwei Poster mit alten japanischen Kriegermotiven. Die Sachen hatte sie in die untere Wohnung gebracht, wo sie mit ihm zusammenleben wollte. Sie lagen noch eingepackt neben den neuen Laken und Kopfkissenbezügen auf dem Bett.

»Bist du nicht sauer, dass er einfach so verschwunden ist?«

Während sie die Plastikfolie von der ersten Matte entfernte, dachte Anneli über die Frage nach, die ihr eine der wenigen eingeweihten Personen gestellt hatte. Sie hasste es, allein zu sein. Früher hatte sie damit keine Schwierigkeiten gehabt, aber das hatte sich geändert. Sie konnte sich nicht auf wichtige Sachen konzentrieren, nur auf banale Aufgaben wie langweilige Finanzfragen, deren Lösung allerdings unverschämt gut bezahlt wurde. Sie schlief auch nicht mehr so gut. Sie aß weniger. Es war, als würde es sie ständig irgendwo jucken. Aber die Antwort wäre vermutlich dennoch Nein. Sie war nicht sauer. Auch sie hatte einen Elternteil verloren. Auch sie hatte Zeit gebraucht.

Außerdem musste sie nur noch drei Tage warten. Sie konnte es kaum glauben: eine kurze Reise von Pisa nach Stockholm, direkt nach Ende der Konferenz. Sollte Alitalia streiken, könnte er immer noch über München kommen. Sie hatte ein Schild gebastelt, das sie am Flughafen hochhalten würde. Es war voller Gleichungen, das würde ihm bestimmt gefallen.

Das Messer mit dem Schaft aus Rentierhorn schnitt durch das breite, schwarze Paketband, als wäre es nicht aus Glasfasern, sondern aus Papier. Der Geruch von getrocknetem Gras breitete sich im Zimmer aus, als sie die erste Matte ausrollte.

Nein, sie war nicht sauer. Sie war alles andere als sauer.

Kapitel 2

Professor Mossander stellte den Karton auf den Konferenztisch und verteilte die Plastikschalen mit Salat. Wie fast immer sah er ernst aus. Seine Lippen waren geschlossen, fast aufeinandergepresst, sein Blick war prüfend. Falten prägten sein Gesicht, das sich in der oberen Hälfte durch eine Stirn auszeichnete, die einem Aristoteles würdig war, und in der unteren Hälfte durch einen akkurat geschnittenen Bart, der tägliche Pflege forderte und erhielt.

»Hühnchen«, las Mossander vor und zögerte, ob er seine Schale auf oder neben seinen Teller stellen sollte. »Mit sonnengetrockneten Tomaten«, fügte er hinzu, ohne darüber nachzudenken, wie schicksalsvoll dieser Kommentar klang. Er war mit seinen Gedanken bereits beim Anlass der Versammlung. Mossander setzte sich, korrigierte den Sitz seiner randlosen Brille und zog seine Jackenärmel ein Stück herunter, sodass die Manschettenknöpfe gerade noch zu sehen waren.

»Vielen Dank«, sagte Mossander in die Runde der drei weiteren Teilnehmer, nachdem diese sich ebenfalls gesetzt und die Deckel ihrer Salatschalen geöffnet hatten. »Vielen Dank, dass ihr so kurzfristig in die Akademie kommen konntet.«

Die drei nickten zustimmend. Einer der Kollegen hatte seinen Arbeitsplatz an der Stockholmer Universität, die sich fußläufig zum roten Backsteinbau der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften befand, ein anderer war aus Uppsala gekommen, und der Dritte war zufällig zu Besuch in der Hauptstadt gewesen, als Mossander ihn auf dem Handy erreicht hatte.

»Wir werden auch nicht mehr. Ich habe mit Gösta gesprochen und mit Verner unten in Lund. Soweit ich das sehe, sind wir aber beschlussfähig.« Mossander schob seinen Salat von sich.

»Die Lage ist ziemlich delikat.«

Die drei Professoren sahen ihn abwartend an.

»Oder sagen wir lieber, verdammt delikat«, korrigierte er sich und bereute seine Ausdrucksweise im selben Augenblick. Er entschuldigte das Fehlen eines Assistenten, um das Protokoll zu schreiben, und versprach, sich unter Berücksichtigung der gängigen Prüfungsroutine selbst darum zu kümmern. Dann wischte er sich das Dressing von den Fingern.

»Heute Vormittag gegen elf Uhr wurde Doktor Takeo Ohashi tot aufgefunden.« Mossander faltete seine Serviette zusammen. »Und zwar im Inneren des Schiefen Turms von Pisa. Alles deutet darauf hin, dass er von ganz oben hinabgestürzt ist.«

»Im Inneren?« Professor Sundén sah Mossander an, als würde dessen Aussage gegen ein Naturgesetz verstoßen.

Professorin Kvarfort hob Ehrfurcht gebietend die Hand und wischte diesen Einwand weg.

»Unfall? Selbstmord? Mord?«, fragte sie.

»Es heißt, es sei ein Unfall gewesen. In Pisa findet ja zurzeit eine große Konferenz statt. Alle aus dem Forschungsbereich der Gravitationswellen haben sich dort versammelt. Der Besuch im Turm gehörte zum Rahmenprogramm. Soweit ich das verstanden habe, waren die Wissenschaftler gestern am späten Abend dort.«

»Aber du zweifelst an der Unfalltheorie?«, hakte Kvarfort nach und klickte rhythmisch mit ihrem Stift.

»Nicht direkt. Aber ich bin mir auch nicht hundertprozentig sicher. Das wäre ich aber gerne. Und zwar richtig sicher, nach diesen ganzen Bemühungen.«

Professor Ulf Mossander, Vorsitzender des Nobelpreiskomitees für Physik an der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften sowie Vizepräsident der Akademie und stellvertretender Dekan an der Universität von Stockholm, bezog sich damit auf den ungewöhnlich hohen Arbeitseinsatz, der sich hinter der Liste der Kandidaten verbarg, die der Akademie vorlag. Jene Liste, die nach und nach gekürzt werden sollte, bis nur noch drei Namen übrig waren – der eine oder die zwei, drei Namen der nächsten Nobelpreisträger in Physik. Sofern die Mitglieder der Akademie diesem Vorschlag folgten – was sie bereits so häufig getan hatten, dass Mossander der Überzeugung war, dass eine Ablehnung eine ungeheure Schmach fürs Komitee und dessen Vorsitzenden wäre.

Er räusperte sich.

»Takeo Ohashi war bis vor Kurzem Gastprofessor an der Universität Stockholm …«

»Und zwar in deinem ehemaligen Institut, stimmts?« Kvarfort schob sich die Brille auf der Nase zurecht. Sie hatte die Frage eher wie eine Behauptung klingen lassen.

»Wir haben ihn willkommen geheißen, als er ankam, aber das war im Großen und Ganzen alles. Außerdem ist er vor Ablauf der Zeit wieder abgereist«, erwiderte Mossander, ein bisschen zu schnell. Er wollte unter keinen Umständen andeuten, persönlich involviert gewesen zu sein, das war viel zu heikel. Allerdings konnte er es auch nicht vollkommen leugnen. »Ich habe meinen Posten als Verantwortlicher für die operative Forschung ein Jahr vor Ohashis Eintreffen verlassen«, fügte er hinzu, dieses Mal etwas langsamer. »Er war auch kein einfacher Gesprächspartner. – Unter uns gesagt, sprach er nur mittelmäßiges Englisch, das zudem eine unheilvolle Allianz mit einer Vorliebe für Metaphern und Bildsprache einging.«

»Aber er war auch ein brillanter Kopf, zumindest auf manchen Gebieten, das durften wir schon erleben«, sagte Sundén, und die anderen nickten erneut zustimmend.

»Und du hast also Angst, dass er sich das Leben genommen haben könnte?«, bohrte Kvarfort weiter.

»In katholischen Ländern wird so manches vertuscht«, erwiderte Mossander.

»Der Grund für den Selbstmord könnte dann bei uns gesucht werden …« Kvarfort unterstrich ihre Worte, indem sie sich auf die Unterlippe biss.

»Aber er könnte doch ausgerutscht sein.«

Dass Hermansson die Arme fest über der Brust verschränkt hatte, während er sprach, übersetzte Mossander mit »auf gar keinen Fall eine weitere Untersuchung«. Er stand auf und stellte sich hinter seinen Stuhl.

»Ob es ein Unfall oder ein Selbstmord war, spielt für uns im Komitee nicht notwendigerweise eine Rolle. Gewissermaßen führt Ohashis Tod lediglich dazu, dass wir einen weiteren Namen auf unserer Liste streichen können. Aller Wahrscheinlichkeit nach hätten wir ihn nächste Woche ohnehin gestrichen. Aber sollten wir uns den Vorfall nicht trotzdem genauer ansehen? Warum hat er so viel getrunken, dass es zu dem Unfall kommen konnte? Oder hat er sich hinuntergestürzt? Hatte er Spielschulden bei der Yakuza? War er vielleicht todkrank? Oder heroinabhängig? In diesem Fall hätte das für uns keine weitere Bedeutung. Was aber, wenn er auch nur das Mindeste mit Frau Q gemeinsam hatte? Ihr erinnert euch doch noch, wen wir so genannt haben?«

Zwei der drei Kollegen nickten. Das würden sie niemals vergessen, hatten sie doch wegen eines Selbstmordes ein ganzes Forschungsgebiet unter Quarantäne stellen müssen. Die Angelegenheit war erst fünfzehn Monate her, darum war die Erinnerung an die Berichte und den Aufruhr noch so klar wie frisch destilliertes Wasser. Die ertragreichen Theorien eines gefeierten Professors, Ratgeber der beiden ehemaligen Präsidenten der Akademie, waren offenbar von seiner Ehefrau entwickelt worden. Die beiden hatten sich im Labor kennengelernt, sie hatte Kinder bekommen und war Hausfrau geworden, hatte aber die Forschungen ihres Mannes interessiert verfolgt. Zu Hause hatten sie seine Forschungsarbeit ständig diskutiert. Die Ehre aber hatte er für sich alleine beansprucht, mit der Rechtfertigung, dass er sie am dringendsten brauchte. Diese Vereinbarung hatte sich bewährt, bis er die Scheidung einreichen wollte. Die Unterlagen, die seine Frau hinterließ – vier Ordner mit schwarzem Seidenband –, waren umfangreich und ausführlich. Hätte er eine Auszeichnung erhalten, wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis dieses Material seinen Weg in die Medien gefunden und einen riesigen Skandal ausgelöst hätte.

»Etwas in dieser Größenordnung wäre uns doch schon viel früher aufgefallen«, warf Hermansson ein.

»Ja, aber warum liegt er dann da?«, erwiderte Sundén.

»Die Frage ist berechtigt«, sagte Mossander. »Was kann der Grund dafür sein, dass ein extrem intelligenter Forscher am Tag vor seinem ziemlich außergewöhnlichen Vortrag zu Tode kommt? Dass er zu dem Zeitpunkt tot aufgefunden wird, an dem er laut Programm den Schleier über einer vergessenen Entdeckung lüften wollte? Zu diesen Fragen müssen wir doch Stellung nehmen, oder etwa nicht?«

»Ulf hat natürlich recht«, stimmte Kvarfort zu. Das Ziel, um jeden Preis einen Skandal zu verhindern, war allem anderen übergeordnet. Es stellte quasi das Fundament ihrer Arbeit für einen Preis dar, bei dem es trotz der sehr hohen Preissumme in erster Linie um ein Prestige ging, das alles andere überschattete. »Wir müssen etwas tun.«

»Wir müssen umgehend einen Mann runterschicken«, sagte Mossander.

»Einen Mann?«, wiederholte Kvarfort.

»Ich meine, eine Person. Jemanden, der für uns Ermittlungen anstellen kann. Jemanden, der vor Ort diskret recherchieren kann, solange die Konferenz noch in Pisa tagt.«

»An wen hattest du da gedacht?« Kvarfort sah ihn skeptisch an. Mossander wählte seine Worte mit Sorgfalt.

»An jemanden, dem ich hundertprozentig vertraue. Eine vortreffliche Person. Und in der Tat auch sehr vielversprechend.«

Alle Augenpaare ruhten auf ihm, niemand wagte auch nur zu kauen.

»Ich denke an Olsén.«

»Du meinst also, dass er auf diesem Terrain zu Hause ist, die Teilnehmer kennt und die richtigen Fragen stellen kann…?«

Sundén wedelte mit den Armen wie ein unzufriedener Kunde auf einem Bazar.

Mossander tat, als hätte er Schwierigkeiten, ein Stück Ei auf seiner Gabel zu balancieren. Olsén war nicht der ideale Mann, aber einen besseren gab es nicht. Er hatte Stunden damit verbracht, eine Liste möglicher Kandidaten zu erstellen.

»Ist er wirklich die richtige Person, um sich in die Gefühle anderer Menschen hineinzuversetzen?« Kvarfort hatte wieder das Wort ergriffen. Sie kannte Olsén ein wenig. Leider, schoss es Mossander durch den Kopf.

»Sag mal, Ulf, hast du nicht das Vorwort für Olséns Buch geschrieben?«, fragte Hermansson. »Sein neues über die kosmologische Anwendbarkeit dieser Berechnungsmethoden, du weißt schon…?«

Mossander nickte und betonte, dass es, nebenbei bemerkt, eine ausgezeichnete Arbeit sei.

»Hat er nicht auch mal hier im Haus gearbeitet? Und war zuständig für die Stipendiaten?«

»Das ist sechseinhalb Jahre her!«

Hermansson stöhnte. Mossander traute seinen Ohren nicht, ein Mitglied der Akademie, das unverhohlen stöhnte. Das Ei rutschte von der Gabel und zerfiel.

»Wenn jemand, der so offensichtlich mit uns in Verbindung steht, da so einfach auftaucht, dann sollte er…« Hermansson beendete seinen Satz nicht, sondern schüttelte nur stumm den Kopf.

»Jemand, der die Akademie auf der Stirn stehen hat, kommt nicht infrage, dem stimme ich zu«, sagte Kvarfort. »Soweit ich das verstanden habe, ist die Lage ohnehin schon etwas angespannt. Der Betreffende sollte sich natürlich auf dem Gebiet auskennen, aber am besten kein Schwergewicht sein, das wäre zu heikel. Außerdem muss es jemand sein, auf den wir uns verlassen können, den wir schon lange kennen. Und noch dazu eine empathische Seele, die andere berührt.«

Das Problem war nicht, dass sie widersprach, fand Mossander, sondern dass sie recht hatte.

»Eine solche Person zu finden, sollte doch möglich sein. Allerdings hat sich das Forschungsgebiet hier in Stockholm ja auch etwas verkleinert. Seit ich andere Aufgaben übernommen habe, meine ich.«

»Die Zeit ist knapp. Sollen wir uns wirklich um diese Sache kümmern?«, fragte Hermansson.

»Ja!«, antwortete Kvarfort entschlossen. »Und am besten wäre eine Person geeignet, die Ohashi kannte, meint ihr nicht?«

»Die meisten aus dieser Gruppe sind im Ausland. Auf guten Posten. Es sind leider nicht mehr so viele übrig. Aber wir hätten da noch Peitänen. Sie ist am Mathematischen Institut, das passt doch, Ohashi und sie müssten sich eigentlich kennengelernt haben. Und Gunnar Andersson könnten wir aus Hamburg dazubitten, er kennt sich ziemlich gut aus. Und …«

Er dachte angestrengt nach. Die Namen kamen so vereinzelt wie Wassertropfen durch gepressten Stein. Jeder einzelne wurde heftig diskutiert. Einige Wortwechsel dauerten länger, mehrere Minuten sogar, als es um einen Koreaner ging, den Sundén vor einigen Jahren kennengelernt hatte und von dem er vermutete, dass Ohashi und er sich in Japan begegnet waren. Andere Debatten waren wesentlich kürzer, einige wurden mit einem Grummeln von Kvarfort beendet. Die Suche nahm viel Zeit in Anspruch. Über eine Stunde hatten sie schon zusammengesessen. Es lief nicht zufriedenstellend, Mossander spürte es am ganzen Körper. Sein Komitee war eben kein Haufen von Stümpern. Das hatte Vor- und Nachteile. Und sie hatten recht. Olsén war ein schrecklicher Langweiler.

Mossander beschlich das Gefühl, sich verrannt zu haben. Zum ersten Mal, seit er den Posten des Vorsitzenden übernommen hatte, war er ratlos, in welche Richtung er die Diskussion lenken sollte. In dem Schweigen, das entstand, stellte Kvarfort noch eine Frage:

»Wie wäre es denn mit Anneli Vinka?«

Kapitel 3

»Wie gut kannte diese Vinka denn den Verstorbenen?«, fragte Sundén.

Dazu konnte Mossander nicht viel sagen, aber dieses Eingeständnis erinnerte ihn sofort daran, wie ausgestorben sein Büro am Institut für theoretische Physik in den vergangenen zwei Jahren gewesen war. Er hatte die Gruppe sträflich vernachlässigt und sich ganz seiner eigenen Karriere gewidmet.

»Gut genug, aber das ist auch nicht das Problem«, sagte er schließlich.

»Jetzt komm schon, Ulf!« Kvarfort zeigte mit ihrem Stift auf ihn. Er sah aus wie ein Giftpfeil. »Wir brauchen Vinka, um unsere heiße Spur weiterverfolgen zu können. So einfach ist das. Wir wollen die Spur doch wohl nicht aufgeben, oder?«

Was sie mit der heißen Spur meinte, waren die spektakulären Fortschritte bei der Entdeckung der Gravitationswellen, schwachen Schwingungen im Weltall, dank derer sich ein neues Fenster ins Universum geöffnet hatte. Nur wenige waren der Ansicht, dass dieser Erfolg für einen solchen Preis noch nicht reif war, obgleich weit weniger überhaupt begriffen, worum es genau ging.

Dass diese sonderbaren Wellen existieren müssen, schlussfolgerte Albert Einstein, als er sich mit den Konsequenzen seiner allgemeinen Relativitätstheorie beschäftigte. Neunzehn Jahre später allerdings änderte er seine Meinung darüber, was die äußerst komplizierte Mathematik beweisen könnte. Er entschied, dass es die Gravitationswellen nicht geben könne, und degradierte sie zu den Einhörnern der theoretischen Physik: Fabelwesen, von denen alle schon einmal gehört hatten, von deren Existenz aber die wenigsten überzeugt waren, da noch niemand sie je zu Gesicht bekommen hatte. Sechsundfünfzig Jahre später, 1993, führten die Gravitationswellen dann doch noch zu einem Nobelpreis. Er ging an zwei Forscher, die einen seine Rotationsgeschwindigkeit ändernden Himmelskörper entdeckt hatten und nachweisen konnten, dass nur die Gravitationswellen dieses Phänomen erklären konnten. Als sich das Komitee an diesem Tag versammelte, waren bereits drei Jahre vergangen, seit man die Gravitationswellen gemessen hatte, und zwar nicht im Weltraum, sondern auf der Erde, eingefangen von großen Antennen. Wissenschaftlich betrachtet war es ein monumentaler Erfolg, der durch die mediale Aufbereitung noch an Größe gewann. Die ersten Wellen wurden nämlich in Geräusche umgewandelt, ein kurzer gepfiffener Gruß zweier kollidierender Himmelskörper. Ein Pfeifen, das sich im Fernsehen, im Radio und im Internet über die Erde verbreitete und sogar als Klingelzeichen zu hören war.

Die Aufgabe des Komitees, würdige Anwärter auf den Nobelpreis zu ermitteln, war keine leichte. Sich schon früh auf ein herausstechendes Forschungsgebiet zu konzentrieren, war ein möglicher Anhaltspunkt, der den Mitgliedern das Prüfen anderer Bereiche ersparte. So hätte das Verfahren laufen können, wenn sich nicht Mossanders wissenschaftliche Herkunft genau in diesem Bereich befunden hätte und er kein gebranntes Kind gewesen wäre.

»Eine Astrid-Lindgren-Debatte lässt sich bewältigen, aber keine Harry-Martinson-Debatte.« So hatte sich Kvarfort vor zwei Jahren ausgedrückt, als Mossander gerade seinen Posten angetreten hatte. Die Botschaft war angekommen. Es gab immer jemanden, der übersehen wurde. Jeden Herbst aufs Neue wurde darüber debattiert, dass dieser oder jener den Preis verdient hätte. Das war so sicher wie das Laub, das von den Bäumen fiel. Dass aber jemand den Preis erhielt, der dem Komitee nahestand, war verheerend. Mossander war eine Lehre erteilt worden, als er kurz nach seiner Ernennung seinen eigenen Forschungsbereich in die nähere Auswahl gebracht und von den sensationellen Erfolgen erzählt hatte. Er war in seine Schranken verwiesen worden und erinnerte sich auch heute noch an den exakten Wortlaut der Ermahnung. Darum musste diesmal jeder Stein umgedreht werden, am besten mehrmals, das hatte er sich geschworen. Wenn das nicht möglich war, musste das Forschungsthema zurück in die Reihe der Aspiranten, um dort zu reifen, im schlimmsten Falle, bis es verrottete.

Allerdings deutete mittlerweile vieles darauf hin, dass die Gravitationswellen eines der preisverdächtigsten Themen waren. Die Alternative – die Errungenschaften im Bereich des Magnetismus, der für alle außer den Spezialisten und den völlig Unwissenden den Geist des 19. Jahrhunderts verkörperte – hatte ordentlich zulegen können, war aber nach wie vor unterlegen. Mit sanfter Hand hatte Mossander darum versucht, das Komitee und dessen eigens engagierte Truppen aus Referenten und Analytikern auf die Gravitationswellen zu stoßen, um ihnen diese als prüfungswürdiges Feld näherzubringen. Das Prüfungsverfahren war trotz seines großen Umfangs gut verlaufen. Sie hatten große Mengen an Informationen zusammengetragen. Sie wussten, wie viele Worte jeder der zwölf führenden Forscher seit den Siebzigerjahren veröffentlicht hatte. Sie wussten auch, wie häufig diese Worte von anderen zitiert worden waren. Sie wussten, wie diese Referenzen gemäß der Rangordnung, die sich daraus ergab, wie oft ein Zitierender wiederum selbst zitiert wurde, zu bewerten waren. Sie wussten, wie lange die Kandidaten studiert hatten, sie kannten selbst die Namen der Enkelkinder, wenn es welche gab.

Was sie nicht wussten, war, warum einer von ihnen – Takeo Ohashi – tot am Fuße des Schiefen Turms von Pisa lag.

Das war nicht akzeptabel, das fand auch Mossander. Dem musste auf den Grund gegangen werden. Aber nicht von Vinka. Sie war nicht geeignet. Sie war labil. Sie würgte Worte hervor, die man einfach nicht von sich gab, zumindest nicht ihm gegenüber. Die Art ihres Abgangs hatte sie gänzlich disqualifiziert.

»Na, wir finden bestimmt einen geeigneteren Kandidaten«, sagte er, während sein Blick aus dem Fenster schweifte, als ob der Kandidat dort zu finden wäre.

»Aber wir sind doch schon alle durchgegangen!«

Hermansson schon wieder. Aber er hatte ja recht. Mossander wusste, dass er dem Komitee unmöglich erzählen konnte, wie Vinka und er auseinandergegangen waren. Auch die Behauptung, dass Vinka in den letzten Jahren nur mäßige, um nicht zu sagen, schwache Leistungen abgeliefert hatte, war falsch. Mangelnde Produktivität würde nur negativ auf ihn zurückfallen, da er sowohl ihr Tutor als auch später ihr direkter Vorgesetzter gewesen war. Und ihre Sturheit und Kompromisslosigkeit würden mindestens zwei Mitglieder aus der Runde als ein Ausleben »akademischer Freiheit« bezeichnen.

Er war gezwungen, seinen Trumpf auszuspielen.

Aber war er das wirklich? Er zögerte. Er hatte einst geschworen, niemals ein Wort darüber zu verlieren, und innerhalb des Komitees hatten Geheimnisse geradezu einen Heiligenstatus. Aber in diesem Fall, dachte er und räusperte sich, war die Situation eine andere.

»Vinka ist gesundheitlich nicht auf der Höhe«, sagte er.

Sundén fragte in seiner typisch schleppenden Art und Weise nach ihrem Zustand.

»Wir rufen sie an und erkundigen uns!«, schlug Kvarfort vor.

Verdammt, dachte Mossander. Kvarfort und Vinka scheinen sich auf einer dieser neuen Netzwerkveranstaltungen begegnet zu sein. Er hatte die Ankündigungen dafür am Schwarzen Brett gesehen.

»Es ist viel schlimmer«, sagte er. »Sie ist richtig krank. Im Kopf.«

»Krank im Kopf? Was sind das für harte Worte?« Kvarfort sprach mit scharfer Zunge und schickte noch eine Tirade über die Steinzeitmentalität hinterher.

Ich muss ihnen noch mehr Happen geben, überlegte Mossander. Sie müssen was zum Fressen bekommen. Darum begann er, seine Geschichte zu erzählen, und hatte bald mehr gesagt, als er vorgehabt hatte, wesentlich mehr. Er wollte unbedingt die Tür wieder schließen, die sich da einen Spaltbreit geöffnet hatte. Aber der Plan ging nicht auf.

»Vinkas Lebensgefährte hat sie also betrogen, und sie hat ihn verprügelt?«, wiederholte Sundén.

»So in der Art. Das ist, was ich gehört habe. Aber er hat sie nicht angezeigt.«

»Nee, klar. Meinst du, wir finden in unserem Protokoll das Treffen, bei dem wir angefangen haben, unsere Entscheidungen auf Gerüchten fußen zu lassen?« Kvarfort hatte ihren Stift auf seinen Kehlkopf gerichtet. »Bei dem Treffen war ich nämlich nicht dabei!«

»Aber sie hat – und das weiß ich ganz genau – nicht nur Kontakt zur Psychiatrie gehabt, sondern ist damals auch zwangseingewiesen worden.«

Kvarfort reagierte sofort auf die Verwendung des Wortes »auch«.

»Zufällig weiß ich über diese Sache ganz gut Bescheid. Dass Anneli Vinka psychologische Hilfe in Anspruch genommen hat, nachdem ihre Mutter mit dem Scooter auf das zu dünne Eis gefahren und ertrunken ist, daran wird sich ja wohl niemand festbeißen können. Sie war noch ein Kind!«

Sundén warf ein, dass etwas Ähnliches in seiner Familie passiert sei und es alle nachhaltig belastet habe. Sogar Hermansson grummelte, dass man das Leben trotzdem meistern könne, und vielleicht hätte der Typ ja eine Abreibung verdient. Außerdem müssten sie doch eine tatkräftige Person nach Pisa schicken, die schnell etwas herausbekommen konnte. Mossander spürte, wie ihm die Situation entglitt. Das war ein vollkommen neues Gefühl.

»Ulf, jetzt mal ganz ehrlich, hast du wirklich den Eindruck gehabt, dass Vinka im letzten Jahr besonders depressiv gewirkt hat?«

Was sollte er Kvarfort darauf antworten? Vinka hatte in der Tat äußerst zufrieden und froh gewirkt. Woran er sich allerdings weit besser erinnerte, war ihr Abgang. Aber darüber konnte er nicht sprechen. Er würde lügen, wenn er behauptete, dass sie passiv und apathisch gewirkt habe.

»Nein.«

Er registrierte kaum, wer schließlich sagte, dann sei das ja beschlossene Sache. Manchmal war es klüger, sich zurückzuziehen, um andere Schlachten zu gewinnen.

»Ihr habt recht«, sagte er und versuchte, seiner Stimme Kraft zu verleihen. »Vinka kann eine ausgezeichnete Berichterstatterin sein, falls sie zur Verfügung steht. Ich werde sie anrufen.«

Vielleicht würde sich die Kontaktaufnahme als ein weitaus schwierigeres Unterfangen herausstellen als angenommen. Am besten war es wohl, er würde jeden seiner Versuche aufzeichnen, auch jene, die nach zweimaligem oder sogar nur einmaligem Klingelzeichen abgebrochen wurden.

»Wie gehen wir vor?«, fragte Sundén. »Uns läuft die Zeit davon.«

»Müssen wir uns ein zweites Mal treffen? Ist es realistisch, dass wir die Ermittlungen als einen regulären Arbeitsauftrag des Komitees ausführen können? Unser Ermittler müsste schon heute Abend los.« Hermansson sah aus, als wäre er in Gedanken schon auf dem Weg nach draußen.

»Formalien sind nur selten unwichtig«, dozierte Kvarfort. »Und schon gar nicht bei uns.«

»Was haltet ihr von Folgendem?«, fragte Mossander und hob seine Hände in die Luft, die Handflächen waren seinen drei Kollegen zugewandt. »Wir nutzen jene Klausel, die noch nie zur Anwendung kam, seit ich hier bin. Wir lassen die Angelegenheit unter der Rubrik ›außerordentlicher Ermittlungsauftrag‹ firmieren. Seid ihr einverstanden? Das ist unter besonderen Umständen ein legitimes Vorgehen. Kein Papierkram, kein Protokoll. Dann erspare ich mir auch, eines zu schreiben.« Mossander grinste, was aber niemand bemerkte. »Klingt das akzeptabel? Ich rufe sie an. Wir schicken Vinka auf einen außerordentlichen Ermittlungsauftrag. Einverstanden? Eigentlich müsst ihr gar nicht antworten. Ich deute euer Schweigen als Zustimmung. Danke!«

Es klang hohl, als Mossanders Füller auf die Tischplatte fiel. Das Komitee der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften für den Nobelpreis in Physik erhob sich.

Kapitel 4

Anneli legte die Matten an ihren Platz im großen Puzzle. Der Duft von gewobenen Halmen war so intensiv wie auf einem Heuboden. Der Geruch würde sich in den nächsten drei Tagen legen, sodass sie dann nur noch einen diskreten Hauch von etwas Neuem aussandten. Den Duft des Neuanfangs.

Sie drückte eine Mattenecke mit dem Knie herunter und fragte sich, ob Takeos Schweigen sie verunsicherte. Als sie ihre Mutter verloren hatte, war sie verstummt, hatte sich monatelang geweigert zu sprechen. Andererseits war Takeo sechsunddreißig, sie war damals zwölf gewesen. Sein Vater hatte jahrelang gegen den Darmkrebs gekämpft, ihre Mutter war stark und zäh wie Wurzelwerk gewesen. Sein Vater hatte gehustet, gespuckt und Widerstand geleistet, ihre Mutter hatte sich Steine in den Overall gesteckt und war aufs Eis gefahren. Ohne ein Wort des Abschieds hatte sie ihre Kinder im Stich gelassen. Nein, Annelis Schweigen unterschied sich deutlich von seinem. Sie hatte sich als Kind wie eine Schauspielerin in einem Stummfilm gefühlt, der weder Anfang noch Ende hatte. Im Vergleich dazu war Takeo in den vergangenen zwei Monaten immer für sie ansprechbar gewesen. Und bald schon, in nur drei Tagen, würde er wieder in Stockholm sein.

Anneli holte sich eine neue Tube Leim und hatte gerade mit dem Spatel etwas Leim verstrichen, als es klingelte. Sie drückte das Gespräch weg, ohne das Handy aus der Hosentasche zu holen. Aber es klingelte erneut. Sie sah aufs Display. Die Nummer kam ihr bekannt vor.

»Hallo?«

»Ich weiß nicht, ob ich da richtig bin. Hier spricht Professor Ulf Mossander, ich wollte mit Anneli Vinka sprechen?«

Sieh an, dem Prodekan behagte es, sich höchstpersönlich zu melden.

»Die ist am Apparat.«

»Wie geht es Ihnen?«

»Gut. Im Moment sogar außerordentlich gut, danke!«

»Ja, gut. Ich wollte fragen, ob wir einen Termin vereinbaren könnten.«

Sie war perplex, erstaunt. Und blieb stumm.

»Was machen Sie gerade? Könnten Sie eventuell vorbeikommen?«

Er klang aufgewühlt.

»Ich beschäftigte mich mit Fragen der Inneneinrichtung«, antwortete sie zögernd.

»Ach so, ja. Also keine Finanzberechnungen?«

»Im Moment nicht.«

»Gut, sehr gut. Könnten wir uns jetzt gleich sehen?«

»Das glaube ich nicht.«

»Sind Sie wütend?«

Sie schwieg.

»Frau Vinka, ich habe doch nur gesagt, dass Sie wegen einer Quotenregelung besonders wertvoll für uns waren, eine Regelung, die nicht nur wir, sondern auch…«

»Wäre ich ein Mann und käme aus Mittelschweden, wäre eine Verlängerung meines Vertrages vollkommen ausgeschlossen. Die Ergebnisse seien wertlos. Das haben Sie selbst gesagt.«

»Mir tut es sehr leid, dass Sie es so aufgefasst haben. Sie hätten sehr gerne in unserem Institut bleiben können. Sehr gerne. Aber jetzt benötigen wir Ihre Hilfe.«

»Wir?«

»Expliziter kann ich jetzt am Telefon nicht werden: Die Akademie benötigt Hilfe, und zwar sofort und nur von Ihnen!«

»Aha.«

»Ich weiß, dass Sie mehr Details erfahren wollen. Das ist mehr als verständlich, aber Sie wissen auch, dass ich mich an bestimmte Regeln halten muss. Aber zwei Dinge kann ich Ihnen gegenüber erwähnen. Es geht um den Nobelpreis in Physik, und es geht um Takeo Ohashi.«

Takeo. Nobelpreis. Das Lächeln breitete sich wie eine Eruption auf ihrem Gesicht aus, die Mundwinkel dehnten sich, und sonnengebräunte Haut wurde von Hunderten von Muskeln in Bewegung gesetzt.

»Ich habe das Gefühl, dass ich bereits zu viel gesagt habe. Können wir uns sehen? Hier in der Akademie?«

»Ich glaube, das lässt sich einrichten.«

Anneli versprach, sich sofort auf den Weg zu machen, und beendete das Gespräch.

Kapitel 5

Die Vespa rollte über die letzte Bremsschwelle beim Vergnügungspark Gröna Lund und nahm dann wieder Fahrt auf. Anneli fragte sich, ob schon vorher ein Japaner aus Takeos Generation diesen Preis erhalten hatte. Ihr fielen nur Achtzigjährige ein. Der Nobelpreis für Physik ging nur selten an einen so jungen Forscher. Allerdings wusste sie genau, dass die Entscheidung noch keineswegs gefallen war. Natürlich gab es Konkurrenz. Kunihiro Arai war sicher ein heißer Anwärter. Als Chef des Labors in Yamatsu hatte er lange Zeit im Zentrum der Aufmerksamkeit gestanden, auch wenn er inzwischen mehr Chef als Forscher war. Pontecorvo hatte dieselbe Position im Gravitationswellendetektor Virgo. Er war kein dummer Kerl, wusste Anneli, obwohl seine Artikel selten spektakulär waren. Auch die Amerikaner hatten ein paar starke Namen anzubieten, wie den Russen vom Caltech und Subarajaman vom MIT. Auch Kristoffer Norell räumte sie eine Chance ein. Schließlich war er bei der ursprünglichen Entdeckung dabei gewesen und hatte Eigenes dazu beigetragen. Allerdings stand er meistens im Schatten von Arai. Unter den reinen Theoretikern gab es Lee in Cambridge, der seine sonderbaren goldenen Eier ausbrütete. Und dann gab es natürlich noch Takeos Schwester: Midori Ohashi. Ihr fielen noch weitere Namen ein. Die Konkurrenz war hart.

Und sie selbst könnte das Zünglein an der Waage sein. Was nur konnte Mossander von ihr wollen? Hatte er endlich begriffen, dass Takeo so viel mehr zu bieten hatte?

Es amüsierte sie, dass Mossander offenbar nicht darüber nachgedacht hatte, wie objektiv sie in dieser Angelegenheit sein würde. Weder Gefühle noch Engagement bei anderen zu registrieren, wäre typisch Mossander, dachte Anneli, das hat er auch nicht getan, bevor er seine neuen Titel verliehen bekommen hatte.Wie oft hat er sich im Institut blicken lassen, während Takeo dort arbeitete?

Sie erinnerte sich an drei Besuche, wobei sie den Verdacht gehabt hatte, dass er nur sicherstellen wollte, dass sich während seiner Freistellung niemand seinen Ledersessel unter den Nagel gerissen hatte. Mossander hätte niemals bemerkt, dass Takeo und sie mehr waren als nur Kollegen, die in strebsamer, platonischer Zusammenarbeit miteinander verbunden waren und die Hände sittsam über dem Schreibtisch behielten. Sie musste bei dem Gedanken lachen und lachte immer noch, als sie an einer Autoschlange am Norrtull vorbeisauste, und auch noch, als sie mit einer scharfen Bremsung vor der breiten Steintreppe der Akademie hielt.

Mossander hatte entschieden, Vinka am obersten Treppenabsatz der Granittreppe zu begrüßen. Während er ihr die schwere Eichentür aufhielt, versuchte er, ihre Stimmung zu deuten. Sie tauschten ein paar artige Floskeln aus, und als er weder Aversion noch Sarkasmus von ihrer Seite spürte, bemühte er sich um einen weniger ernsten und angespannten Gesichtsausdruck. Er dankte für ihr schnelles Kommen und ihr Interesse an einem ehemaligen Kollegen, der doch nur relativ kurze Zeit am Institut verbracht hatte. Ihre Reaktion überrumpelte ihn. Sein Gast grinste übers ganze Gesicht und fing an zu kichern – das passte überhaupt nicht zu der Anneli Vinka, die vor wenigen Wochen wutschnaubend sein Institut verlassen hatte.

Er führte sie durch den Flur, in dem die Ölgemälde der Gelehrten mehrerer Generationen hingen, und Mossander registrierte, dass sie auch sein Bild betrachtete. In seinem Büro würden sie ungestört sprechen können. Er pflegte zu sagen, dass man bei Gesprächen im Gebäude der Akademie so viel Vorsicht walten lassen müsse wie in der U-Bahn. Aber hinter seiner doppelt schallisolierten Bürotür wäre die Situation eine andere.

»Frau Vinka, wie Sie wissen, betreiben wir Nachforschungen, um zu einer Entscheidung zu gelangen«, sagte Mossander und deutete auf einen Ledersessel im englischen Landhausstil.

»Verstehe«, erwiderte Anneli.

»Wir beschäftigen dafür eine ganze Reihe von Leuten, die das unter ziemlich einträglichen Bedingungen tun.« Er holte aus und hielt einen Vortrag über die verschiedenen Gehaltsebenen und steuerlichen Vorteile.

»Verstehe«, wiederholte Anneli.

»Nun verhält es sich so, dass ein bestimmtes Forschungsgebiet, aus dem wir den Nobelpreisträger in Physik rekrutieren könnten, für uns im Komitee von großem Interesse ist. Die Gravitationswellen.«

Das sei für sie beide doch eine große Ehre, hätten sie doch beide auf diesem Gebiet geforscht. Während Mossander das sagte, lief er im Zimmer auf und ab und versuchte, ihren Gesichtsausdruck zu interpretieren. Aber natürlich, fügte er hinzu, bedeute das keineswegs, dass der Preis auch tatsächlich diesem Forschungsgebiet zugeteilt werden würde.

»Wir fahren da mehrgleisig, Frau Vinka. Mehrgleisig.«

Sie nickte mit einem Eifer, den er so von ihr nicht kannte. Sechs Jahre hatte es gedauert, sie zum Abschluss ihrer Doktorarbeit zu lotsen, zwei Jahre länger, als eigentlich notwendig gewesen wäre, was ihrer sonderbaren Arbeitsweise und ihrer Weigerung, auf ihn zu hören, geschuldet war. So aufmerksam wie jetzt hatte er sie in jener Zeit nie erlebt.

»Aktuell geht es um eine Angelegenheit in Pisa. Verdammt eigenartige Geschichte. Vielleicht erinnern Sie sich, aus Ihrer Zeit auf diesem Gebiet, dass dort alljährlich eine Konferenz stattfindet, ziemliches Spezialistentum … Okay, ich sehe, Sie kennen die Veranstaltung. Wir müssten dort einen ›ermittelnden Referenten‹ hinschicken.«

»Ist die Konferenz nicht schon bald vorbei?«

Woher kam die Falte? Sah er da erste Zweifel? Er spürte, dass er ihr Vertrauen gewinnen musste. Darum setzte er sich ihr gegenüber in einen Sessel, lehnte sich vor und sagte:

»Anderthalb Tage noch. Es gibt heute noch drei Flüge, zwei via Deutschland und einen Direktflug nach Florenz, das ist nur siebzig Kilometer von Pisa entfernt.«

»Das haben Sie schon recherchiert?«

»Ja, unter anderem. Aber wir müssen noch mehr herausbekommen. Wir müssen einen Ermittler dorthin schicken, dem es gelingt, sich ein umfassendes Bild der Lage zu verschaffen. Oder sagen wir eher, vom Hintergrund der jetzigen Lage.«

Sie fragte, wie das aussehen solle.

»Ungezwungen, ungezwungener als sonst, Frau Vinka. Wir brauchen jemanden vor Ort, der den Gerüchten nachgeht. Jemanden, der mit vielen gewichtigen Namen aus der Branche sprechen kann, jemand, der durch seine frühere Tätigkeit kein Unbekannter ist. Jemand, der Informationen aufstöbert. Wir brauchen Sie, so einfach ist das.«

»Sie brauchen einen Spion.«

»Halt, halt, das ist keine Spionage, nichts dergleichen.« Er riss die Augen auf und strengte sich an, möglichst bestürzt auszusehen. »Wie Sie bestimmt verstehen, haben wir einen großen Informationsbedarf, Frau Vinka. Einen sehr großen.« Er lehnte sich zurück und erläuterte ihr die Verschwiegenheitsklausel und deren Bedeutsamkeit, welche Milliardensummen und andere Dinge auf dem Spiel stünden, die er ihr allerdings nicht so direkt unter die Nase reiben wollte. Nach und nach schien sie ihre ursprünglich positive Haltung wiederzugewinnen. Sie nickte häufiger, fast ungeduldig, und ließ ihn keine Sekunde aus den Augen.

»Wir stellen Ihnen natürlich auch eine Tarnung zur Verfügung. Wir haben hervorragende Kontakte zu diversen Redaktionen und könnten Ihnen einen Auftrag verschaffen, einen Artikel über irgendetwas Passendes zu schreiben. Das wird praktisch nie durchschaut. Geben Sie mir einfach Bescheid.«

Anneli entgegnete, dass sie ebenfalls über Kontakte verfüge, sollte sie in die Verlegenheit kommen.

»Gut, sehr gut. Ja, es ist immer ein bisschen schwierig, wenn so kurzfristig recherchiert werden muss. Denn es geht hier um schnelles Handeln, Anneli. Ich darf doch Anneli sagen?«

»Am Telefon erwähnten Sie Takeo Ohashi.«

»Ja, das habe ich, entgegen der Regel. Ich hatte das Gefühl, konkreter werden zu müssen.«

Ihre Körpersprache forderte ihn auf weiterzusprechen, und er sah keine Veranlassung, es nicht zu tun. Sie schien trotz der Sache mit dem »Spion« an dem Auftrag interessiert zu sein. Außerdem lief ihnen die Zeit davon. Zur Sicherheit ging er noch ein letztes Mal alle Optionen durch, aber ihm wollte kein anderer Kandidat für diese Aufgabe einfallen.

»Eigentlich ist der Anlass äußerst betrüblich. Ich weiß nicht, wie häufig Ohashi und Sie sich begegnet sind, Sie saßen ja am anderen Ende des Ganges, und er war auch nicht besonders gesprächig. Auf jeden Fall sollte er in Pisa einen Vortrag mit dem Titel ›Einsteins Erben‹ halten.«

»Ja…«

»Aber dazu kam es nicht. Er wurde tot aufgefunden, am Fuße des Schiefen Turms. Und wir müssen herausbekommen, wie es dazu kommen konnte.«

Er fand, dass es überdurchschnittlich lange dauerte, bis sie antwortete. Normalerweise konnte man es ihr ansehen, wenn sie konzentriert nachdachte. Aber danach sah es nicht aus.

»Was haben Sie gesagt?«

Sie sprach undeutlich, und ihr norrländischer Dialekt schlug hörbarer durch als sonst.

»Ohashi ist vom Turm gestürzt, im Inneren des Turmes. Einundfünfzig Meter tief. Bei einer Falldauer von etwa vier Sekunden macht das circa vierzig Meter pro Sekunde. Er starb beim Aufprall.«

Annelis Gesicht bekam einen sonderbar neutralen Ausdruck, als hätte sie zu lange vor dem Fernseher gesessen.

»Alle sagen, es sei ein Unfall gewesen, und so wird es wahrscheinlich auch gewesen sein«, fuhr Mossander fort. »Aber wir wollen auf Nummer sicher gehen.«

Erst jetzt hatte er den Eindruck, dass Anneli verstand, was er sagte.

»Ich bedauere Ohashis Tod zutiefst, Anneli. Ich bin genauso erschüttert wie Sie. Alles, was wir bisher über Ohashi in Erfahrung bringen konnten, war, dass er ein erstklassiger Forscher war. Aber wir müssen mehr herausbekommen. Ist er freiwillig gesprungen? Gab es Gründe für seine Entscheidung, die mit seiner Arbeit zu tun hatten? Und wenn ja, welche?«

Was war los mit ihr? Mossander konnte sich den plötzlichen Stimmungswandel seiner potenziellen Ermittlerin nicht erklären. Ihren Gesichtsausdruck hatte er so noch nie gesehen.

»Unser Informationsstand ist zu schwach, damit können wir nichts anfangen. Was meinen Sie, Anneli?«

»Ich… ich muss erst darüber nachdenken.«

»Die Zeit drängt, Anneli.«

»Ja«, flüsterte sie.

»Aber Sie melden sich umgehend?«

»Ja.«

Sie verließ sein Büro, merkwürdig gebeugt und ohne einen Gruß. Er folgte ihr den Gang hinunter, bis er die Eingangstür ins Schloss fallen hörte. Gleichermaßen erleichtert und verwirrt blieb er stehen, schüttelte den Kopf und kehrte in sein Büro zurück.

Anneli konnte sich später nicht mehr erinnern, wie sie nach Hause gekommen war, auch nicht, was sie dort getan hatte, so ganz allein. Die Zeit war verstrichen und doch stehen geblieben. Mitten in der Nacht, es musste schon sehr spät gewesen sein, hatte sie Mossanders Nummer gewählt und den Auftrag angenommen.

TEIL II – PISA

Kapitel 6

Die Stufen der mit einem gusseisernen, verschnörkelten Geländer versehenen Treppe knarzten unter Annelis Stiefeln. Sonst war nur das schwache Summen der Ventilationsanlage zu hören und ein Rauschen, wenn jemand die Toilettenspülung betätigte. Es war weit nach Mitternacht. Ihr Flug aus Frankfurt hatte Verspätung gehabt. Die Bürgersteige von Pisa waren menschenleer, als das Taxi sie durch die Straßen der Stadt zum Hotel Navigli fuhr, in dem die meisten Konferenzteilnehmer untergebracht waren.

»Er war in Zimmer Nr. 223, direkt unter Ihrem«, hatte der Nachtportier Anneli erzählt, nachdem er sie eingehend und mit wehmütiger Miene betrachtet hatte.

Der Flur lag im Dunkeln, aber die schmutzig weißen Kerzenattrappen in den Wandleuchten aus Messing sprangen von allein an. Der Teppich war graubraun, in der Mitte schon abgewetzt. An den Wänden hingen hier und da Reproduktionen von Gemälden aus der Renaissance. Aus einigen der Zimmer, an denen sie vorbeischlich, hörte sie Schnarchen.

Sie blieb vor Zimmer Nr. 223 stehen. Die Ziffern hingen schief. Die Tür trug Spuren von Fußtritten. Im Spalt konnte man den Türriegel sehen. Kein Laut drang aus dem Zimmer. Der Gast war fort und würde auch niemals zurückkommen.

Anneli nahm ihre Tasche und ging langsam zu ihrem Zimmer.

Am nächsten Morgen war sie schon früh auf den Beinen und überquerte den Arno. Der Morgennebel hing noch über den kleinen Verwirbelungen auf der Wasseroberfläche. Der Palazzo dei Congressi lag am Ufer des Flusses, nur zwei Häuserblöcke und eine Brücke vom Hotel entfernt. Die Teilnehmer strömten in den halbmondförmigen Eingangsbereich und weiter ins große Auditorium. Einige von ihnen blieben stehen und unterhielten sich miteinander, aber niemand nahm Notiz von Anneli, die bei einem grünen Schild mit einem Pfeil und dem Logo der Veranstalter abbog. Die Veranstalter hatten ihren Tisch hinter der Cafeteria aufgebaut. Er war über zehn Meter breit und wirkte jetzt verlassen und viel zu groß, nachdem der erste Ansturm sich anmeldender Kongressteilnehmer abgeebbt war. An dem kleineren Tisch in unmittelbarer Nähe, an dem Sightseeing-Tickets verkauft wurden und Flugtickets umgebucht werden konnten, standen ein paar Anzugträger in der Schlange. Vor dem Tisch der Veranstalter wartete niemand. Dennoch saß dort ein Mann, der mit hochgekrempelten Ärmeln auf einer Tastatur herumhämmerte.

»Sie wollen sich jetzt noch anmelden?« Der Mann nahm die nicht angezündete Zigarette aus dem Mundwinkel und musterte sie skeptisch.

»Ja.«

»Das ist natürlich überhaupt kein Problem. Mein Name ist Fabio Chisari.« Er schüttelte Anneli kräftig die Hand. »Sie müssen nur dieses Formular ausfüllen, dann fertige ich ein Namensschild für Sie an.«

Sie brauchte nur die Hälfte zu bezahlen und steckte sich ihr Namensschild an. Aus einem großen, durchsichtigen Sack zog Fabio Chisari eine mit dem Konferenzlogo bedruckte Umhängetasche.

»Sie sollten eigentlich alle identisch sein, aber bei einigen ist die Schnalle kaputt. Importware, vermute ich mal. Aber diese hier sieht doch super aus.«

Mit einem entschuldigenden Gesichtsausdruck legte er ihr einen Stapel Broschüren dazu, in denen zukünftige Konferenzen angekündigt, Messinstrumente beworben oder Rundfahrten in der Umgebung angeboten wurden. Dann reihte er drei geheftete Unterlagen vor ihr auf, das Programm, die Teilnehmerliste, die leider an Aktualität verloren hatte, da einige der Teilnehmer schon abgereist waren, und einen kleinen Band, in dem alle Vorträge zusammengefasst waren.

Sie fand Takeos Beitrag am Ende der ersten Hälfte in einer Sonderrubrik. Er war Dyson-Preisträger und sollte nach Erhalt seiner Auszeichnung einen themenungebundenen Vortrag halten. Der Titel lautete – wie Mossander bereits gesagt hatte – »Einsteins Erben«. Der Untertitel verriet, dass der Vortrag von einem vergessenen Erfolg in der Gravitationsforschung handeln sollte und von dem Forscher, der dahintersteckte. Im Gegensatz zu den anderen Vorträgen, die sie beim Durchblättern gesehen hatte, gab es hier keine Zusammenfassung.

»Hier scheint ein Text zu fehlen«, sagte sie.

»Sind Sie auf Seite 193?«

Sie nickte.

»Alle erkundigen sich nach seinem Vortrag, aber wir haben leider nie eine Zusammenfassung von ihm bekommen. Ich hatte mich dahintergeklemmt und habe ihn genervt, und er hatte mir den Text auch mehrfach versprochen. Es war schon etwas ganz Besonderes, dass er sich das Thema selbst aussuchen durfte. Dann kam es, wie es kam.«

»Ja«, sagte Anneli.

»Wir haben eine Schweigeminute abgehalten. Dann hat der Chef vom Labor, Professor Arai, ein paar Worte gesagt und über Ohashis wissenschaftliche Arbeit gesprochen. Es war alles ein bisschen wirr, aber was kann man in einer solchen Situation erwarten, das Unglück geschah ja so plötzlich.«

Sie wartete einen Augenblick, bis sie seine volle Aufmerksamkeit hatte.

»Heißt es nicht, dass dieser Ohashi sich das Leben genommen hat?«

Chisari schüttelte verwundert den Kopf und schien sich zu fragen, wer sie war.

»Nein. Die Polizei hat das ausgeschlossen.«

»Ich verstehe.«

Chisari berichtete, dass sich nicht so viele auf dem Turm befunden hatten, als das Unglück geschah, dass alle verhört worden waren und alle sich gegenseitig ein Alibi gegeben hatten.

»Und alle Leute in Uniform, die immerzu nachgefragt haben, sagten am Ende dasselbe: Es war ein Unfall. Aber was weiß denn ich? Ich rede zu viel.«

»Ach was, nein.«

»Sie müssen entschuldigen, aber ich sitze hier schon seit zwei Tagen und versuche, Entschuldigungen zu verfassen. Ich will aber lieber dort drinnen sein und zuhören, statt hier zu sitzen. Ich bin auch Forscher.«

»Der Erste, der Gravitationswellen von binären Quasaren aufgezeigt hat«, entgegnete Anneli. Dass ein so weit entferntes Objekt überhaupt messbare Wellen erzeugte, wurde allerdings stark bezweifelt.

»Oh, Sie wissen davon. Wie schön.« Er sah aufrichtig stolz aus. »Ich werde hiermit auch bald fertig sein, ich habe jetzt schon dreimal denselben Brief geschrieben.« Er grinste.

»An wen denn?«

»An den Bischof. Einer der Uniformierten hat mich wissen lassen, dass er vor Wut kocht.«

Er nahm seine Zigarette und hielt sie wie einen winzigen Speer, während er ihr erläuterte, dass die Kirche zum ersten Mal seit über tausend Jahren den Grund um die Kathedrale für eine weltliche Veranstaltung verliehen hatte, zudem noch für ein Fest, ein Bankett nämlich. Es hatte mehrere Jahre gedauert, um sowohl den alten Bischof, der noch als Emeritus tätig war, als auch den neuen Bischof, der seinen Kopf durchsetzen wollte, von dieser Veranstaltung zu überzeugen. Es sei erst gelungen, als Chisari herausgefunden hatte, dass die Konferenzteilnehmer sich mit denselben Fragestellungen wie einst Galilei beschäftigten.

»Die Kirche hat heute noch ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn so schlecht behandelt hat. Der große Sohn der Stadt und so weiter. Aber das hilft mir jetzt auch nicht.«

Chisari betrachtete den Brief vor sich mit missmutigem Gesichtsausdruck.

»Aber sie verstehen doch wohl, dass es ein Unfall war, oder?«, fragte Anneli.

»Vielleicht. Aber es war trotzdem irgendwie unsere Verantwortung.«

»Und wenn es kein Unfall gewesen ist?«

»Noch schlimmer! Selbstmord auf heiligem Grund, im Inneren eines Kirchengebäudes. So würde das der Bischof sehen, und das wäre in der Tat eine Katastrophe.«

»Stimmt.«

»Dass ein Mann mal austreten muss, ist die eine Sache, aber das ist doch kein Verbrechen gegen den Glauben.«

»Wie bitte?«

»Genau das zu entschuldigen, fällt mir so schwer. Dass Ohashi sich von der Gruppe absentiert hat, wenn ich das so sagen darf. Und zwar in einem Gebäude dieser Kategorie.«

Anneli schüttelte den Kopf, als hätten ihre Ohren ihre Arbeit aufgegeben.

»Er hat im Dunkeln natürlich nicht gut sehen können und hat nicht erkannt, dass dieses Loch so groß war.«

»Moment mal. Wollen Sie damit sagen, dass Ohashi oben im Turm urinieren wollte?«

Chisari blies seine Wangen auf und ließ die Luft langsam wieder entweichen.

»Das soll er dort oben getan haben?«, fuhr Anneli fort.

Die Asche fiel von Chisaris Zigarette, während dieser nach Worten suchte.

»Er hat nur einen geeigneten Ort gesucht, er hat es nicht getan. Das haben sie so gesagt.«

»Er musste also pinkeln? Und ist danebengetreten?«

»Nicht offiziell. Nicht in der schriftlichen Bekanntmachung.«

»Aber ich glaube, ich verstehe, was Sie damit sagen wollen.«

»Nein, ich will damit gar nichts sagen, Dottoressa Vinka. Ich will nur eine Entschuldigung schreiben, weil ich gebeten wurde, eine Entschuldigung zu schreiben. Und Sie bitte ich um Entschuldigung, weil ich zu viel quatsche.«

»Ganz im Gegenteil, Sie haben mir sehr geholfen, Dottore Chisari«, antwortete Anneli.

Kapitel 7

Der Spalt zwischen den schweren Türen, die in den Hörsaal führten, war mit samtartigem Stoff abgedichtet. Erst als sie die Klinke herunterdrückte, hörte Anneli, dass der erste Vortragende bereits angefangen hatte. Der Mann auf dem Podium hatte dem Publikum den Rücken zugewandt und zeigte etwas auf einem großen Monitor, der voller Diagramme war. Der rote Punkt des Laserpointers zuckte zwischen den Kurven hin und her.