Das Eis - Laline Paull - E-Book

Das Eis E-Book

Laline Paull

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Beschreibung

Die schmelzenden Gletscher der Arktis geben eine Leiche frei. Der leblose Körper gehört Umweltaktivist Thomas Harding, der drei Jahre zuvor spurlos im Eis verschwand. Von der gemeinsamen Expedition kehrte damals nur ein Mann zurück: Hardings bester Freund. Ein elektrisierender Abenteuerroman über Freundschaft, Verrat und unseren Umgang mit der Natur. Die Eisdecke in der Arktis schmilzt unaufhörlich. Raffgierige Unternehmen wittern ihre Chance und wetteifern um einen Platz im ewigen Eis. Als ein Kreuzfahrtschiff im arktischen Wasser eine Leiche entdeckt, ist schnell klar, um wen es sich handelt: Tom Harding, Polarforscher und einer der besten Kenner der Arktis, der drei Jahre zuvor nach einem Unfall im Eis verschwand. Der Letzte, der ihn lebend gesehen hat, ist sein bester Freund und Geschäftspartner Sean Cawson. Die Männer planten gemeinsam die Eröffnung einer exklusiven arktischen Lodge, die sich gleichzeitig dem Schutz des Nordmeers verpflichtete. Als die Untersuchungen zu Hardings Tod beginnen, wächst der Druck auf Cawson. Waren ihre Vorstellungen von Naturschutz und Profitgier letztlich doch zu verschieden?

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Seitenzahl: 613

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Laline Paul

Das Eis

Aus dem Englischenvon Dorothee Merkel

Tropen

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Ice«

© 2017 by Harper Collins, New York

Für die deutsche Ausgabe

© 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Zero Media GmbH, München

nach dem Originalcover von Jo Walker © HarperCollins Publishers Ltd 2017

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50352-4

E-Book: ISBN 978-3-608-11046-3

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Für meine Brüder Geoffund Gordon in Liebe

Unter den Hunden lässt sich wohl eine fast ebenso vielfältige Ansammlung von Charakteren finden wie unter den Menschen. Manchen Hunden ist es herzlich egal, was sie essen, andere verschlingen ihre eigenen Mütter, wie ich es schon oft mit angesehen habe, und wieder andere sterben lieber Hungers, als dass sie die Leichname der Kameraden aus ihrem Gespann auch nur anrühren würden. Genauso weigern sich manche, Fleisch zu fressen, das noch warm ist. Andererseits kann es durchaus geschehen, dass sie, wenn es erkaltet ist, vergessen, worum es sich dabei handelt, und es gierig verschlingen.

Abenteuer in der Arktis:Mein Leben im eisigen Norden

Peter Freuchen

1

Sie waren reich. Sie konnten es kaum erwarten. Und sie gierten nach einem Bären. Nun waren schon neun Tage ihrer zweiwöchigen Reise auf der Vanir verstrichen, dem luxuriösesten Kreuzfahrtschiff, das in der Arktis unterwegs war, und ihre anfängliche Begeisterung hatte sich erst in geduldiges Abwarten und dann in Enttäuschung verkehrt. Mittlerweile konnten sie sich des Gefühls nicht mehr erwehren, eine Niederlage erlitten zu haben. Weil es sich bei ihnen um erfahrene, kultivierte Reisende handelte, wussten sie, dass auch alles Geld der Welt keine Garantie dafür war, dass man Eisbären zu Gesicht bekam. Dennoch glaubten sie fest an das Naturgesetz, welches besagt, dass Reichtum zur Erfüllung jeglicher Ansprüche berechtigt. Und das schloss die Begegnung mit einem ursus maritimus unbedingt mit ein.

»Im Reich des Eiskönigs« stand in der Broschüre. Darin waren wettbewerbsprämierte Fotos von glitzerndem Eis und von Eisbären mit ihrem Nachwuchs oder den von ihnen erlegten Tieren zu sehen – Bilder, die andere Passagiere noch vor Kurzem auf ebendieser Route aufgenommen hatten. Aber im Augenblick war der Himmel weder strahlend blau noch unendlich weit, sondern einfach nur bewölkt. Statt in den Genuss einer klirrenden, belebenden Kälte von minus drei oder gar minus zehn Grad zu geraten (sie konnten es alle kaum erwarten, ihre neue Thermokleidung zu tragen), mussten sie ein widerwärtiges, böig schwüles Wetter erdulden. Ein Wetter, das die Arktis genauso unangenehm nasskalt werden ließ wie einen englischen Sommer und für das es partout keine geeignete Kleidung gab. Auch das endlose Tageslicht war bedrückend. Es wurde dadurch nahezu unmöglich, zur rechten Zeit an die Einnahme seiner Medikamente zu denken. Uhren wurden bedeutungslos.

Unter den Passagieren befanden sich auch mehrere Rechtsanwälte. Sie forderten den Reiseleiter auf, sich an der Bar zu ihnen zu gesellen, mit ihnen gemeinsam die Broschüre anzusehen und sich ihre förmliche Beschwerde anzuhören. Die Reise war nicht adäquat dargestellt worden. Man hatte ihnen etwas Falsches verkauft. Sie hatten nun wahrlich die Schnauze voll von diesen Strandausflügen, bei denen man halbverfallene Hütten und irgendwelche von Walfängern hinterlassene Müllhaufen bewundern sollte. Auch von den Vögeln hatten sie genug. Damit würden sie sich nicht länger abspeisen lassen. Schließlich hatten sie alle für etwas ganz anderes bezahlt, nämlich die Sichtung eines oder mehrerer im Eise heimischer Säugetiere. Genau darum und um nichts anderes war es sowohl im Text als auch in der Bebilderung der Broschüre gegangen, und besagte Broschüre hatte als Verkaufsbeleg mit einer rechtlichen Verpflichtung zur Genauigkeit zu gelten. Eisberge gab es auch keine. Nur ein paar schmutzige Gletscher. Man erwäge, so sagten die Anwälte, eine Sammelklage einzureichen, um eine Entschädigung zu fordern.

Die Passagiere zogen sich in den Salon zurück und spielten den Film ab, den sie sich mit geradezu neidzerfressener Besessenheit schon zahllose Male angesehen hatten.

Bei heruntergelassenen Jalousien, die das tyrannische Tageslicht verbannten, starrten sie gierig die Eisbären auf der Leinwand an: ein Exemplar, das auf einer purpurrot gefärbten Eisfläche stand und von dem rotleuchtenden Kadaver eines Seehunds das Fleisch in Fetzen herunterriss, und dann noch die Mutter, die mit ihrem Jungen zwischen den Eisschollen hindurchschwamm. Aber am besten war das wahrhaft riesige Männchen, das sich auf die Hinterbeine erhoben hatte und mit seiner blutrot gefärbten Schnauze direkt in die Kamera starrte. Das war es, was sie sehen wollten.

Der Reiseleiter rannte zur Brücke, um sich mit dem Kapitän und dem Eislotsen zu beraten. Zur Einstellung des Letzteren waren sie gesetzlich nach wie vor verpflichtet, auch wenn es in den Sommermonaten schon seit zwei Jahren kein Meereseis mehr gab. Gemeinsam starrten sie hinaus auf die graue Fläche der Barentssee, die von kleinen hastigen Wellen durchzogen wurde. Sie alle wussten – auch wenn sie es aus Angst, ihren Job zu verlieren, niemals laut ausgesprochen hätten –, dass die Tiere so gut wie ausgestorben waren und dass das Filmmaterial im Salon schon mehrere Jahre alt war. Es gab eine Lösung. Sie war zwar verboten, doch jedes Reiseunternehmen kannte sie als letzten Ausweg. Man musste eine Drohne in die Luft schicken und mit ihrer Hilfe einen Bären ausfindig machen.

Etwa drei Kilometer an der Küste entlang, im Innern eines tiefen, m-förmigen Fjords, stand eine große, silbrig schimmernde Holzhütte, die mit den schwarzen Kieseln des angrenzenden Strandes verschmolz. An ihre Rückwand und an beide Seiten schloss sich ein moderner Anbau an, der aus dem Gestein des sich dahinter auftürmenden Berges errichtet worden war. Bei näherem Hinsehen konnte man auch einige Fenster erkennen, in denen sich Meer, Himmel und Felsgestein spiegelten. Doch es gab niemanden, der es gewagt hätte, in so aufdringlicher, unwillkommener Weise näher hinzusehen, denn dies war Midgard Lodge am Midgardfjord. Hier galten – aufgrund einer direkten Intervention seitens der Osloer Regierung beim Büro des Sysselmanns von Spitzbergen – ganz besondere Regeln.

Was diejenigen, die darüber Bescheid wussten, an den Sonderregeln am meisten empörte, war, dass sich eine von ihnen über alle Naturschutzverordnungen hinwegsetzte und Midgard Lodge gelegentliche Hubschrauberflüge zwischen dem Flughafen von Longyearbyen und dem winzigen Strand vor dem Haus gestattete, der gerade groß genug war, dass ein zwölfsitziger Dauphin darauf landen konnte.

Eine weitere Sonderregel hinderte alle Kreuzfahrtschiffe daran, über einen gewissen Punkt im Wijdefjord-Bereich hinauszufahren, wodurch die spektakulären Gesteinsformationen des Midgardfjords und sein eigenartig aufgespaltener Midgardbreen-Gletscher, der auf einer Seite blau und auf der anderen weiß war, dem Tourismus unzugänglich blieben.

Was dem auf Spitzbergen doch eigentlich so autonom herrschenden Sysselmann jedoch die größte Sorge bereitete, war der Umstand, dass diese Vorschriften zwar von ganz oben abgesegnet, aber nur verbal überbracht worden waren, und zwar durch die stellvertretende Verteidigungsministerin, die sich hartnäckig weigerte, das Ganze schriftlich zu bestätigen. Der amtierende Sysselmann hatte zuvor noch nie von ihr gehört. Sie hingegen schien ihrerseits viel zu viel über ihn zu wissen. Er stellte daher pflichtgemäß sicher, dass Frau Larssens Forderungen in allen Punkten eingehalten wurden, und Midgard Lodge blieb weiterhin vollkommen unbehelligt.

Abgesehen vom heutigen Tag. Heute nämlich gab der geschäftsführende Direktor Danny Long, der im Büro des Gebäudes Dienst hatte und auf den Fjord hinunterschaute, einem plötzlichen Impuls nach und warf noch einmal einen genauen Blick auf den Bildschirm des AIS-Radars. Er hatte eben erst die mittleren Frequenzen überprüft und die kleinen, farblich voneinander abgesetzten Pfeilspitzen betrachtet, die darauf zu sehen waren: rosa und violett für Fischereifahrzeuge und Segelschiffe, grün für Frachtschiffe und – Gott bewahre! – rot für Tanker, die der Küste zu nahe kamen. Er betrachtete den Bildschirm noch eingehender. Irgendetwas stimmte nicht.

Als er die grünen Pfeile anklickte, entdeckte er nichts, womit er nicht gerechnet hätte – es waren lauter asiatische Frachter, die auf der neuen Trans-Polar-Route unterwegs waren. Er klickte wahllos ein paar von ihnen an: die Hao Puren, unterwegs von Rotterdam nach Shanghai. Die Zheng He, die in entgegengesetzter Richtung von Dalian nach Algier fuhr. Auch bei den anderen, die er überprüfte, verhielt sich alles so, wie es sein sollte. Dann betrachtete er die vereinzelten blauen Pfeile, die für die Kreuzfahrtschiffe standen. Inzwischen war der vom Eis befreite, flüssig gewordene Nordpol nur ein weiterer Teil des Meeres, wie jeder andere auch. Es lohnte sich nicht mehr, ihn zu fotografieren. Die atemberaubende Küste von Spitzbergen hingegen konnte sich im Sommer der Fülle des Schiffsverkehrs kaum noch erwehren. Die Kapitäne versuchten, ihre Routen aufeinander abzustimmen, um Engpässe zu vermeiden, aber weil nur noch so selten Tiere gesichtet wurden, waren die Reiseveranstalter übereingekommen, auf Kanal 16 alle Informationen miteinander zu teilen – obwohl dies unter den Kreuzfahrtschiffen unweigerlich zu einer Art Wettrennen führte, wer wohl als Zweiter am Ort des Geschehens eintreffen würde. Die Küstenwache kontrollierte das Ganze, soweit ihr dies möglich war, und nahm dankbar jegliche Hilfe an, die Midgard Lodge beim Such- und Rettungsdienst leisten konnte. Doch auf diese Hilfe wurde nur im äußersten Notfall zurückgegriffen.

Da: Jetzt sah er es. Eine winzige blaue Markierung, die in die – wenn auch nur inoffiziell – gesperrte Zone von Midgard eingedrungen war. Er klickte darauf. Das Kreuzfahrtschiff Vanir. Er kannte das Schiff. Es nahm immer nur recht wenige Passagiere auf, denen eine im Verhältnis sehr zahlreiche Besatzung zur Verfügung stand, und hielt sich normalerweise an einen regelmäßigen Routenverlauf. Nur nicht heute. Sie waren wahrscheinlich hinter einem Bären her. Es war gerade ein gewaltiges Männchen durchgezogen. Long hatte den Bären gesehen, wie er auf der Hügelkuppe des Fjords gestanden und sich seine Silhouette vor dem Himmel abgezeichnet hatte.

Er würde den Regelverstoß des Schiffs später melden. Im Augenblick war es wichtiger, dafür zu sorgen, dass in der Umgebung des Hauses alles einen ordentlichen, sauberen und friedlichen Eindruck machte. Er drückte auf die Kurzwahltaste des Satellitentelefons, das sich immer in seiner unmittelbaren Nähe befand, wobei er die Position der Vanir unverwandt im Auge behielt. Eine Sekunde später blinkte das Telefon mit einer Antwort. Man hatte die Nachricht erhalten und würde sich bis auf Weiteres fernhalten. Er schaute wieder zurück auf den Bildschirm und sah zu, wie die kleine blinkende blaue Pfeilspitze langsam die Landzunge umrundete und näherkam.

Als der Bär noch jung gewesen und der Schnee noch in blütenreinen weißen Flocken herabgefallen war, hatte sein Fell cremefarben und manchmal sogar blassgelb geleuchtet. Jetzt aber hatte der Schnee einen grauen Farbton, wodurch der Bär sich sehr viel deutlicher gegen ihn absetzte. Die langen gelben Grannenhaare, die ihm an seinen gewaltigen Vorderbeinen gewachsen waren, ließen ihn noch mächtiger erscheinen und hüllten ihn, wenn die Sonne hindurchschien, in eine goldene Aura. Er folgte der intensiv duftenden Spur eines brünstigen Weibchens, das hier vorübergezogen war, hielt jedoch inne, um das Schiff zu betrachten, das heftig stampfend in die enge Mündung des Fjords hineinfuhr. Sein donnernder Motor hallte über das Wasser und sein Treibstoff verpestete die Luft. An Deck tummelten sich zahlreiche Menschen, die ihm ihre nackten, bloßen Gesichter mit den glänzenden schwarzen Insektenaugen zugewandt hatten. Ihre menschlichen Körperausdünstungen vermischten sich mit Essensduft und dem Geruch nach Metall und Treibstoff, der vom Schiff herüberwehte. Das Motorengeräusch erstarb, die Vibrationen ließen nach und hörten dann ganz auf. Schließlich verstummten auch die Stimmen.

Die dunklen Wände des Fjords schlossen sich um die arktische Stille. Da hob der Bär seinen weißen, ambossförmigen Kopf und blähte seine schwarzen Nüstern auf, um so viel Informationen wie möglich in sich aufzunehmen. Jede seiner Bewegungen zog ein endloses Klicken und Surren auf dem Schiff nach sich, das sich zu einer wahren Raserei erhob, als ein Windstoß dem Bären eine Geruchsspur zutrug und er sich daraufhin auf die Erde legte und in der Fährte des Weibchens wälzte.

Oben auf der Brücke stand der Reiseleiter neben dem Kapitän und sah zu den begeisterten Passagieren herab. Seine Anspannung löste sich. Der Bär war in jeglicher Hinsicht ein Prachtexemplar. Darüber hinaus hielt er sich auch noch auf der fotogenen blauen Seite des Midgardbreen-Gletschers auf, dort, wo sich die Eiszunge in einer Klippe über die Fläche des Wassers schwang. Auf der anderen Seite der schwarzfelsigen Kuppe bestand der Gletscher noch aus jüngerem weißen Eis und mündete in einer sanfteren Neigung in einen felsigen Strand. Überrascht bemerkte der Reiseleiter plötzlich die silbrig graue Holzhütte, die fast bis in den Berg hineingebaut worden war.

»Ist das nicht das Haus von diesem britischen Typen? Ich habe kürzlich gehört, dass es jemand gekauft hat – was geht denn da eigentlich vor sich?« Weder der norwegische Kapitän noch der Eislotse gaben ihm eine Antwort. Sie hatten bereits genug Grenzen überschritten, um einen Bären für ihre Passagiere zu finden. Auf Spitzbergen gab es viele rätselhafte Bauten. Kein Kommentar.

Die Passagiere der Vanir drängten sich aufgeregt wie Schulkinder an die Reling. Alle Gedanken an eine Sammelklage waren aus ihren Köpfen verschwunden. Stattdessen waren sie eifrig damit beschäftigt, die Objektive an ihren Kameras auszutauschen und Rufe des Staunens auszustoßen. Der Bär war genau die Art von Hauptdarsteller, die sie sich erträumt hatten: gigantisch und charismatisch. Sie schätzten seine Größe auf etwa dreieinhalb Meter und sein Gewicht auf fast eine Tonne, wenn nicht gar mehr. Mithilfe ihrer leistungsstarken Objektive konnten sie die Narben erkennen, die er von seinen Kämpfen davongetragen hatte, und mitverfolgen, wie er sich auf die Hinterbeine erhob, während das Licht, das durch den Saum seines Fells schimmerte, ihn mit einem goldenen Glanz umgab. Er starrte sie mit seinen wissenden schwarzen Augen an, und die Passagiere verspürten einen euphorischen Schauder der Furcht. Dieses Tier war fähig, sie zu töten.

Ohne jede Vorwarnung ließ sich der weißstrahlende Gott plötzlich auf alle viere niederfallen und verwandelte sich in ein verängstigtes Tier, das zum Rand des Gletschers hechtete. Bestürzt sahen die Passagiere zu, wie er wild taumelnd in den Schatten der Felsen kletterte und verschwand. Sie stöhnten enttäuscht auf und sahen sich überall suchend um, um zu ergründen, was ihm wohl eine solche Angst eingejagt hatte. Doch obwohl ihre Teleobjektive die Dunkelheit der unteren Berghänge durchdrangen und die hell leuchtende Maserung des Gesteins überflogen, konnten sie auch nicht die geringste Bewegung entdecken. Sie starrten auf die verschiedenen Farbschichten und bemühten sich vergeblich, der Erdgeschichte, die hier auf so prachtvolle Weise bloßgelegt war, ihre Bewunderung zu zollen. Stattdessen empfanden sie nur Zorn. Und bekamen zu spüren, wie winzig sie waren.

Jemand rief: Da! Seht mal, die Schneewolke, die da oben aufsteigt! Aber die war doch sicher viel zu weit weg und lag auch nicht in der Richtung, in die sie den Bären hatten laufen sehen. Dennoch stellten alle hoffnungsfroh ihre Objektive scharf. Im nächsten Moment hielten sie staunend die Luft an, als Hunderte von unsichtbaren Kaminen unter der Oberfläche weitere glitzernde Wölkchen aus eisigem Rauch ausstießen. Die Luft ballte sich zusammen und das Meer seufzte. Die Vanir wurde von einer gewaltigen Druckwelle emporgehoben, die unter der Wasseroberfläche entlanglief.

Und dann begann es. Erst ein entferntes Dröhnen, dann eine Explosion tief im Innern des Gletschers. Ein paar endlose Sekunden geschah gar nichts. Schließlich zerriss ein gewaltiger Knall die Luft und die Zeit dehnte sich ins Unendliche, während sich die blaue Schnauze des Gletschers von der Eisdecke löste und bäuchlings abwärts glitt. Mit einem tiefen Stöhnen schob sie sich hinaus über das Wasser – und dann, mit einem mächtigen, donnernden Krachen, als prallten zahllose Autos mit hoher Geschwindigkeit aufeinander, explodierte die gesamte Gletscherfront. Eissplitter wurden in die Luft geschleudert und seismische Wellen durchzogen das Wasser, die den stahlverstärkten Rumpf der Vanir erzittern ließen.

Glitzernde Gespenster aus Eisstaub glitten über die Meeresoberfläche. Die Passagiere klammerten sich aneinander, während sich die Vanir hob und senkte, und die Eissplitter, die im Fallen noch so winzig gewirkt hatten, rollten als Eisberge in den Fjord hinaus – riesige Brocken, die so hoch waren wie das Schiff selbst.

Und während sie noch staunend zusahen, geschah etwas, auf das sie sich nicht den geringsten Reim machen konnten.

Vor dem Hintergrund des immer noch erbebenden Gletschers drückte eine unsichtbare Hand einen Meeresstreifen zusammen wie ein Stück Stoff, zog diesen hoch in die Luft und ließ ihn in einer Faust aus Wasserfällen wieder herabregnen. Und aus dem schillernden, blendenden Sturzbach tauchte ein gewaltiges Schloss aus Saphir auf, mit Gefechtstürmen und Minaretten, das glitzernden Schaum und Nebel um sich warf. Für eine nicht enden wollende, atemberaubende Sekunde löste es sich aus dem Wasser und verharrte schwebend in der Luft.

Die Passagiere der Vanir schrien wild durcheinander, während ihre Augen das sich ereignende Wunder kaum in sich aufzunehmen vermochten – manche sahen eine goldene Ader, die tief im gefrorenen Blau aufleuchtete, andere die feinen Details der Minarette, wieder andere entdeckten die Köpfe gotischer Wasserspeier im Eis – aber ihre Stimmen gingen in dem tosenden Geräusch unter, das entstand, als sich das Gebilde nach vorne neigte, herabstürzte und das Meer in einen riesigen Kessel verwandelte, in dessen Mitte es sich drehte, überschlug und schließlich vollständig auf den Kopf stellte.

Jetzt sahen sie nur noch eine dunkelblaue Eisscholle, die in etwa so groß war wie eine Schlittschuhbahn und deren Türmchen und Zinnen von nun an für immer unsichtbar bleiben würden. Das seltsame Eisgebirge glitt wie ein lebendiges, fühlendes Wesen auf die Vanir zu und drückte das Schiff zur Seite, als wollte es sich freie Bahn verschaffen. Im nächsten Moment folgte die gespenstische und doch so gewaltige Eisscholle den anderen Eisbergen zur Mündung des Midgardfjords und glitt auf das offene Meer hinaus.

Den Passagieren der Vanir hatte es die Sprache verschlagen. Nur eine Frau stieß ein krampfhaftes, fast sexuell anmutendes Geräusch aus. Oh, flüsterte sie immer und immer wieder, und während sie ununterbrochen weiterfilmte, schien die Kalbung des Gletschers im Innern der Frau ihren Fortgang zu nehmen. Ihr Objektiv folgte den neugeborenen Eisbergen, den sich wild drehenden Strudeln im Wasser und glitt dann zurück zur Gletscherwand. Sie filmte das Wasser, das sich am Fuß des Gletschers aufbäumte und gegen das Eis schlug, und sie filmte die Grotte, deren Eis sich in ein immer tiefer werdendes Blau färbte und in der das Meer wogte und brandete. In der Mitte der Grotte schien etwas im Kreis zu wirbeln und die Strömung zu durchbrechen. Etwas, das vor einer Sekunde noch nicht dort gewesen war.

Ohne ihr Auge vom Sucher zu nehmen, tastete sie mit der freien Hand nach ihrem Ehemann. Sie zog ihn zu sich heran und reichte ihm die immer noch filmende Kamera. Dann zeigte sie auf das rote Etwas, das dicht unter der Oberfläche hin- und herschaukelte.

»Mein Gott«, fragte sie leise, »ist das eine Leiche?«

Es gab einen Ort an der Küste, vor dem sie sich nicht wenig fürchteten – und das war der gewaltige Gletscher von Puisortok. Wenn sie im Frühsommer in ihren Umiaks unterwegs waren, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich nah am Ufer zu halten und die schmalen Wasseradern zu durchschiffen, die sich zwischen Packeis und Gletscher auftaten. Wörtlich übersetzt bedeutet dieser Name »das Ding, das hochkommt«, denn besagter Gletscher hatte die Angewohnheit, unter Wasser zu kalben. Dabei lösten sich riesige Eisbrocken, die gleich Walen aus den Tiefen des Wassers an die Oberfläche stiegen und sich in die Luft katapultierten. Wenn man sich hier verschätzte oder einfach nur Pech hatte, wurde man mit dem sofortigen Tod bestraft. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie einer der alten Jäger einmal sagte: »Redet nicht und esst nicht, solange ihr Puisortok nicht hinter euch gelassen habt.«

Nordlichter: Der offizielle Bericht zur britischen Arktis-Routen-Expedition 1930–1931 (1932)

Frederick Spencer Chapman

2

Das Kalben des Midgard-Gletschers war nur ein winziges Mosaiksteinchen in einem sehr viel größeren Muster. Während sich der männliche Leichnam, den der Gletscher ausgespuckt hatte, bereits in Tromsø befand und dort einer Autopsie unterzogen wurde, protokollierten Wissenschaftler im gesamten nördlichen Polarkreis zahlreiche Kalbungsprozesse von noch nie dagewesenen Ausmaßen. Dieses neuartige, scheinbar synchronisierte Verhalten des Eises setzte sich ganze siebzig Stunden lang auf einer sehr intensiven Stufe fort, in Grönland, im arktischen kanadischen Territorium Nunavut, in Alaska und in Russland, bis es schließlich genauso abrupt aufhörte, wie es begonnen hatte.

Siebenundzwanzig Breitengrade weiter südlich in London verebbte zur gleichen Zeit der Staubsturm aus der Sahara, der während der letzten drei Tage in Europa gewütet hatte. Er hinterließ in der gesamten Stadt eine dünne, körnige, rote Staubschicht und bescherte den ohnehin überfüllten Notaufnahmen der Krankenhäuser und den privaten Arztpraxen noch mehr Patienten mit Atemwegsbeschwerden, als sie ohnehin schon versorgen mussten. Einige geschäftstüchtige Londoner stellten sich an die U-Bahn-Haltestellen und verkauften weiße Gesichtsmasken aus Papier, und nur die ganz Leichtsinnigen gingen noch joggen.

Einer von ihnen war Sean Cawson. Er war fünfzig Jahre alt (sah jedoch jünger aus) und wusste nur zu genau, wie es ohne eine intensive sportliche Betätigung um seinen Gemütszustand bestellt wäre. Obwohl es für gewöhnlich nicht lange dauerte, bis sich seine Knie beschwerten, und sein Kopf während der ersten drei oder vier Kilometer unweigerlich rebellierte, fühlte er sich nach dem Laufen doch immer großartig. Und in den Genuss dieses Gefühls kam er nicht mehr oft. Martine schlief noch, als er das Apartment verließ, oder tat zumindest so. Das Gespräch von gestern Abend war lediglich ausgesetzt und keineswegs beendet. Über kurz oder lang würde er sich erneut mit dem Thema befassen müssen.

Als er an der Wohnungstür der Nachbarn vorbeilief, roch er den Kaffee, den sie sich gekocht hatten, und hörte das Geschrei ihres neugeborenen Kindes. Seine Tochter Rosie war fast schon erwachsen und empfand nur noch Hass für ihn. Am Anfang hatte Martine noch gesagt, sie habe kein Interesse an einer eigenen Familie, und er war erleichtert gewesen. Einmal gescheitert zu sein, reichte ihm. Jetzt aber hatte sie ihre Meinung geändert, und in gewisser Weise wurde er das Gefühl nicht los, hintergangen worden zu sein.

Er zog die schwere schwarze Tür hinter sich zu und blieb einen Moment auf der menschenleeren Straße stehen, während er die Musik aussuchte, die er heute beim Laufen hören wollte. Es war noch früh am Morgen, aber schon sehr schwül, und in dem schmutzig grauen Himmel war kein einziger Vogel zu sehen. Der Saharastaub hatte die weißen Säulen an den Portalen der Häuser ockerfarben schraffiert und den Platanen des gemeinschaftlichen Gartens einen herbstlichen Anstrich verliehen. Sean entschied sich für irgendeinen zufälligen Musikmix und lief zum Park. London sah seltsam aus. Verkehrt. Und fühlte sich auch so an.

Die Musik unterstrich diesen Eindruck noch – ein barscher, deklamatorischer Rap in afrikanisch eingefärbtem Französisch, der perfekt zur Atmosphäre der Stadt passte, die wie aus Raum und Zeit geworfen schien. Während seine Füße den brutal hämmernden Rhythmus übernahmen und er durch die Kensington Palace Gate in den Park lief, spürte er, wie sich seine Knie verkrampften. Doch er ignorierte den Schmerz. Darin war er Experte. Und wie zur Belohnung wurde ihm nun eines seiner Lieblingsschauspiele zuteil, ein Anblick, der in gewissen Teilen Londons zu den Privilegien der Frühaufsteher zählte: Im Park exerzierte eine Truppe von Armeepferden. In der Vergangenheit war er manchmal stehen geblieben, um ihnen dabei zuzuschauen, wie sie über die Sandpiste an der Park Lane trabten – ein gewaltiger Strom aus seidigen kastanienbraunen und fuchsroten Muskeln. Das wuchtige, rhythmische Vibrieren ihrer Hufe in der Erde war durch seine Füße hindurch in seinen Körper gestiegen und hatte ein schwer fassbares Gefühl in ihm ausgelöst – ein Gefühl, für das er keinen Namen gefunden hatte.

Plötzlich überkam ihn das Bedürfnis, neben den Pferden her zu rennen, auch wenn es ein verrückter Gedanke war und die Tiere ihn mit Leichtigkeit überflügeln würden. Er verlangte sich alles ab. Während er über das Gras lief, stieg ihm ihr Geruch in die Nase, in Gedanken war er ein Wolf, ein Raubtier, das den Pferden, die gerade auf der Sandpiste zum Galopp wendeten, den Weg abschnitt. Er würde so lange sprinten und sich verausgaben, bis sie ihn uneinholbar weit hinter sich ließen –

In diesem Augenblick summte das Handy, das er sich mit einem Band um den Arm geheftet hatte. Es gab nur zwei Menschen, deren Nummern er so programmiert hatte, dass sie seine Anrufsperre umgingen – seine Tochter Rosie und sein Mentor Joe Kingsmith, dessen Name nun auf dem Bildschirm aufleuchtete.

»Joe«, keuchte er. »Ich rufe dich zurück.« Die Reiter versammelten ihre Pferde und die Tiere stampften ungeduldig. Sie wussten, was als Nächstes geschehen würde.

»Nein, nicht, Sean, bleib dran! Es ist ein Notfall!«

Sean blieb abrupt stehen. Da war ein ganz eigener Klang in Kingsmiths Stimme.

»Ich bin noch dran.«

»Bist du gerade zu Hause?«

»Ich bin im Park, was ist passiert?«

»Sean, mein Junge, ich hätte dich ja zu Hause angerufen, aber heutzutage hat einfach niemand mehr ein Festnetztelefon. Mir wäre es lieber, wenn du jetzt nicht alleine wärst.«

Sean blieb vollkommen reglos stehen. »Sag’s mir einfach.«

Es folgte ein kurzes Schweigen. Aus den Geräuschen im Hintergrund schloss Sean, dass Kingsmith sich in einem Flugzeug befand. Er versuchte, seinen hektischen Atem zu verlangsamen. Der fürsorgliche Unterton in Joes Stimme jagte ihm Angst ein.

»Sean, es tut mir so unendlich leid. Ich habe gerade mit Danny in Midgard gesprochen. Toms Leichnam ist vor zwei Tagen aus dem Midgard-Gletscher geschwemmt worden –«

»Toms Leichnam?« Sean hatte die Worte sehr deutlich gehört, aber sein Gehirn weigerte sich, sie zu verstehen.

»Sie haben ihn heute Morgen identifiziert. Es besteht nicht der geringste Zweifel, dass er es ist. Es tut mir so schrecklich leid, Sean. Ich wollte dir die Nachricht unbedingt selbst überbringen.«

Der Park verschwand. Seans Welt schrumpfte in sich zusammen und es blieb nur noch Kingsmiths Stimme übrig. »Aus dem Gletscher?« Er kam sich dumm und begriffsstutzig vor.

»Scheiße. Ich hab doch gewusst, dass ich es dir nicht am Telefon hätte erzählen sollen. Hör zu, Sean, so viel weiß ich auch nicht. Der Gletscher hat gekalbt, es war wohl ein gewaltiger Einsturz, fast direkt vor Midgard Lodge – und dabei ist dann Toms Leiche zum Vorschein gekommen. Irgend so ein Kreuzfahrtschiff war gerade da unten und hat alles mit angesehen. Danny wurde von der Küstenwache direkt wieder fortgeschickt, als er hingefahren ist, um nachzusehen. Sie haben es zum Tatort erklärt und abgesperrt –«

»Zum Tatort?« Sean kehrte wieder in seinen Körper zurück. »Aber es gab doch gar kein Verbrechen, das weiß doch jeder!« Er brüllte, ohne etwas dagegen tun zu können.

»Sean, mein Junge, das versuche ich dir ja gerade zu sagen, würdest du mir bitte einen Moment zuhören? Sie haben es nur wegen des Protokolls so genannt, weil sie alles sorgfältig dokumentieren wollen. Natürlich gab es kein Verbrechen. Ich weiß, dass du schon lange nicht mehr dort oben gewesen bist, aber Midgard ist schließlich immer noch ein Unternehmen, und diese Geschichte könnte Auswirkungen auf unsere PR haben. Wir müssen höllisch aufpassen, dass wir jetzt keine Fehler machen.«

»Und sie sind ganz sicher, dass es Tom ist?«

»Hundertprozentig. Sie hatten schon vorher einen ziemlich starken Verdacht, aber dann haben sie anscheinend auch noch seine DNS mit einem Familienmitglied abgeglichen.«

»Niemand hat mir Bescheid gesagt. Niemand hat mich angerufen. Die wissen schon seit zwei Tagen Bescheid?«

»Ich nehme an, du hast dich in letzter Zeit nicht so oft dort oben gemeldet. Wir wussten ja, dass er tot war, aber … trotzdem, es ist noch immer ein großer Schock.«

Sean floh vor einer Gruppe von Menschen, die auf ihn zukam, und lief hinaus auf die große Rasenfläche in der Mitte des Parks. Die Pferde hatte er vollkommen vergessen. »Ja. Das wussten wir.« Er sank im trockenen Gras auf die Knie.

Die Finger an seiner rechten Hand begannen zu brennen, als litte er dort immer noch unter Erfrierungen. Er vergrub sie in seiner linken Achselhöhle und spürte gleichzeitig, wie sein Brustkorb zitterte.

»Danny hätte mich anrufen sollen.«

»Ich wollte unbedingt selbst mit dir sprechen. Und ich weiß es auch nur, weil ich ihn zufällig wegen einer anderen Sache angerufen habe.«

»Was für eine Sache?«

»Sean, ich verstehe ja völlig, warum du in letzter Zeit nicht mehr hingefahren bist. Aber du hast eine Menge Nachholbedarf, und jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Ich freue mich ja, dass du wieder Interesse hast, aber du hast da oben ein wirklich großartiges Team, das sich um alles kümmert, also mach dir keine Gedanken.«

»Ich sollte dabei helfen, ihn nach Hause zu bringen. Ich sollte dort sein.«

»Du kannst da gar nichts tun, es ist schon alles in die Wege geleitet. Du gehörst ja nicht zu den nächsten Verwandten. Aber ich denke, sie werden sich bald bei dir melden. Jetzt können sie endlich eine Beerdigung abhalten. Und eine gerichtliche Untersuchung zur Todesursache. Aber das ist vollkommen unabhängig voneinander.«

»Eine gerichtliche Untersuchung?« Wie hässlich diese Worte klangen. »Aber wir wissen doch, was passiert ist. Ich habe doch alles schon zu Protokoll gegeben. Wir sind es tausendmal durchgegangen.«

»Ich weiß, aber das macht man nun mal so, wenn ein Leichnam zurück nach Hause gebracht wird. Sowohl in den USA als auch in Großbritannien. Es ist nur eine Formalität. Ich werde kommen und dir zur Seite stehen, das verspreche ich dir … Sean, kannst du mich hören?«

»Ja.« Er starrte ins Leere. Über ihm pulsierte der graue Himmel.

»Schau, dass du nach Hause kommst. Geh heim zu Martine. Sie ist nicht auf den Kopf gefallen, sie wird wissen, was zu tun ist. Sean, sag doch was.«

»Weswegen hattest du Danny angerufen?«

Er konnte hören, wie Kingsmith ein Lachen in den Hörer schnaubte.

»Junge, Junge, du bist aber hartnäckig. Aber das mochte ich schon immer an dir. Okay, mea culpa, ich habe eine Klausurtagung gebucht, eine ganz kleine Sache, in letzter Minute. Als Gefallen für einen Kumpel von mir. Ich habe gesehen, dass es da eine Lücke im Zeitplan gab. Und er zahlt den absoluten Höchstpreis. Aber jetzt ist kaum der geeignete Augenblick –«

»Ich bin immer noch der Vorstandsvorsitzende dieser Firma. Es geschieht nichts ohne mein Einverständnis.«

»Und wenn du in einem Moment wie diesem noch solchen Wert darauf legst, dann bist du auch der perfekte Mann für den Job. Ich schreib’s mir hinter die Ohren. Sean? Die Verbindung wird immer schlechter, aber ich hoffe, du kannst mich noch hören: Du musst unbedingt mit deiner Kontaktperson in Oslo sprechen, darüber, dass sich jeglicher Verkehr von Midgard fernzuhalten hat. Das ist äußerst wichtig –«

Die Verbindung brach ab – das war eine für Kingsmith typische Methode, sich zu verabschieden. Sean verharrte mutterseelenallein auf dem staubig roten Rasen des Hyde Park und konnte kaum atmen. Dann lief er los.

Martine stand gerade unter der exklusiven Wellnessdusche, als er die Wohnung betrat – so schweißdurchtränkt, als wäre er in einen Wolkenbruch geraten. Er stellte sich neben sie in die herabströmende Sturzflut, ohne sich die Kleider auszuziehen, und schloss sie in seine Arme. Sie lächelte mit geschlossenen Augen. Dann schaute sie auf und sah seinen erschütterten Gesichtsausdruck.

»Oh mein Gott, was ist passiert?«

Sean schlug die Stirn gegen die wasserüberströmte Wand. »Sie haben Tom gefunden.«

»Hör auf damit! Komm her.« Sie umschlang ihn mit ihren Armen und hielt ihn unter dem herabflutenden heißen Wasser an sich gedrückt. Dann zog sie ihn aus, bis er vollkommen nackt war, schob seine Kleidungsstücke mit dem Fuß vom Abfluss und umarmte ihn so lange, bis er zu zittern aufhörte. Erst dann drehte sie das Wasser ab, führte ihn aus der Dusche und half ihm in einen Bademantel. Während sie sich ihren eigenen Bademantel anzog, ging er in die Küche. Sie folgte ihm und sah zu, wie er eine Flasche Wodka aus dem Gefrierschrank nahm und sich einen ordentlichen Schluck in ein Whiskeyglas goss.

»Lass das doch«, sagte sie. »Du kommst auch ohne dieses Zeugs mit der Situation zurecht. Du brauchst das doch gar nicht.«

Er kippte das Glas in einem Zug hinunter. Dann erzählte er ihr in groben Einzelheiten von Kingsmiths Anruf. Er berichtete ihr von den Fakten, die ihm bekannt waren, und auch von der geplanten gerichtlichen Untersuchung. Martine nickte bedächtig.

»Es tut mir so leid, mein Schatz. Aber Joe hat vollkommen recht: Jetzt können wir endlich mit allem abschließen. Und falls es eine gerichtliche Untersuchung gibt, werden wir auch damit fertig. Ich arbeite einen Plan aus, wie wir mit der Sache in der Öffentlichkeit umgehen, und als Erstes schreibe ich in deinem Namen eine Presseerklärung. Das verschafft uns ein bisschen Zeit.«

Sean hörte ihr zu, wie sie im Ankleidezimmer hin- und herlief, sich für die Arbeit fertig machte und laut nachdachte. Joe hatte recht, Martine war gewiss nicht auf ihren wohlgeformten Kopf gefallen. Sie überlegte gerade, welchen Journalisten man vertrauen konnte und was wohl die beste Methode wäre, um gewisse Einladungen abzusagen, damit sie es eine Weile vermieden, in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, als würden sie sich amüsieren …

Er wünschte, sie wäre in Tränen ausgebrochen. Er wünschte, Tom wäre ihr in diesem Moment wichtiger gewesen als die Schadensbegrenzung. Sie redete immer weiter, während er die Stangen mit seinen Kleidern anstarrte. Doch plötzlich stand sie direkt neben ihm.

»So ein Unsinn, was mache ich hier bloß?«, sagte sie. »Ich bleibe natürlich bei dir!«

»Nein«, sagte er und stand auf. »Geh du ruhig zur Arbeit. Ich komme schon klar.« Er zog eine besonders tiefe Schublade auf und holte seine arktische Kälteschutzausrüstung heraus. Die Kleidungsstücke wirkten ganz fremd, weil sie so lange nicht mehr benutzt worden waren. »Ich fliege nach Midgard.«

Martine fasste ihn am Arm. »Das ist doch vollkommen verrückt. Du stehst unter Schock. Schau dich doch mal an.«

Er tat wie geheißen. Der Spiegel zeigte ihm eine wunderschöne junge Frau, die halb angekleidet und mit nassen dunklen Haaren neben einem älteren Mann stand, der ihm mit einem grimmigen, gehetzten Blick entgegenstarrte. Sean wandte sich ab.

»Joe hat einfach eine Klausur gebucht. Ohne mir Bescheid zu geben.«

Martine runzelte die Stirn. »Tatsächlich? Das hätte er nicht tun dürfen.«

»Das ist nur deshalb passiert, weil ich so ewig nicht mehr dort oben war. Ich habe die ganze Last auf das Team abgeladen.«

»Nein, du hast einfach nur delegiert. Du kannst unmöglich jeden einzelnen deiner Clubs persönlich leiten. Du wählst die richtigen Leute aus, und dann vertraust du ihnen eben.«

Sean warf ein paar Kleider in eine Tasche und zog den Reißverschluss zu. »Ich lasse alle im Stich.«

Martine versuchte es noch einmal. Sie umarmte ihn von hinten und drückte sich an ihn.

»Das stimmt doch gar nicht! Vergiss letzte Nacht, vergiss das alles einfach. Komm wieder zurück ins Bett und überlass alles mir. Ich kümmere mich um dich.« Sie strich mit ihrer Hand über seine Brust und ließ sie dann auf seinem Schritt ruhen. »Sei einfach für eine Weile traurig, in meinen Armen. Ich geh heute nicht zur Arbeit.«

»Nein, geh ruhig. Ich komme schon klar.« Er küsste sie, um der Zurückweisung den Stachel zu nehmen. Während er ins Schlafzimmer ging und seinen Autoschlüssel holte, starrte sie seinem Spiegelbild nach. Dann folgte sie ihm.

»Du kannst doch jetzt nicht fahren, du hast gerade erst ein riesiges Glas Wodka getrunken. Und wenn du den Nachmittagsflug gebucht hast, dann hast du doch noch ewig Zeit – wo fährst du denn jetzt hin?«

Sean sah in den kastenförmigen Garten hinaus.

»Es ist nicht gut, so etwas übers Telefon zu erfahren.«

»Oh.« Sie trat einen Schritt zurück. »Ich verstehe.«

»Martine, bitte. Du weißt doch, wie sensibel sie ist.«

»Um ehrlich zu sein, nein. Ich glaube nicht, dass sie das ist. Nicht im Geringsten.«

»Sie hat Tom auch geliebt.«

»Also gut. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass sie bereit war, mit allen Mitteln zu kämpfen. Sie hat alles versucht, um zu verhindern, dass du sie verlässt. Ich glaube, sie ist manipulativ und furchtbar wütend, und außerdem glaube ich, dass sie deine eigene Tochter gegen dich und vor allem auch gegen mich aufgebracht hat. Und es ist vollkommen idiotisch, noch so sentimental an einer Ehe zu hängen, die schon lange kaputt war, bevor ich überhaupt auf den Plan trat.« Sie seufzte. »Es tut mir leid. Das klang vielleicht etwas zu scharf. Ich will dir einfach nur noch mehr Leid ersparen, vor allem jetzt.«

»Du hast recht.«

»Ja, das habe ich. Aber wenn du nicht möchtest, dass ich heute bei dir bleibe oder mit dir nach Midgard fahre, wenn du einfach nur allein sein willst mit all diesen schlimmen Gefühlen –«

»Ja! Ich bin ein totales Wrack. Ich habe dir doch gesagt, dass du mit mir ein sehr schlechtes Geschäft machst –«

»Ich mache nie schlechte Geschäfte.« Martine trat einen Schritt zurück und sah ihm in die Augen. »Aber wenn dir nach Abschottung zumute ist, dann sollst du sie haben. Und wenn du dich unbedingt selbst durch die Mangel drehen willst, dann kann ich nichts dagegen tun.« Sie küsste ihn auf den Mund. »Es ist mir keineswegs egal, dass du so traurig bist, aber da du dir von mir nicht helfen lassen willst, gehe ich jetzt zur Arbeit. Sag Bescheid, wenn du wieder da bist. Ich werde hier sein.«

Er lauschte ihren federnden Schritten, hörte, wie sie die Eingangshalle durchquerte und wie dann die Wohnungstür ins Schloss fiel. Sofort ging er zurück in Richtung Gefrierschrank. Doch dann blieb er stehen. Martine hatte natürlich recht. Er sollte in dieser Verfassung nicht fahren.

Wollte man etwas lernen, dann war es das Einfachste, einen Angakoq, einen Zauberer zu befragen. Ich habe im Laufe meiner langen Gespräche mit Igjugarjuk viel Interessantes erfahren. Seine Theorien waren indessen so einfach und geradlinig, dass sie erstaunlich modern anmuteten. Seine gesamte Lebensanschauung ließe sich in den folgenden, von ihm selbst stammenden Worten zusammenfassen:

»Jegliche wahre Weisheit findet man nur weit von den Behausungen der Menschen entfernt, draußen in der gewaltigen Einsamkeit, und sie lässt sich auch nur durch das Leiden erringen. Entbehrung und Leiden sind die einzigen Dinge, die den Geist des Menschen für das öffnen können, was allen anderen verborgen bleibt.«

Im Schlitten durch unerforschtes Eskimoland:Die fünfte Thule-Expedition

Knud Rasmussen

3

Es hatte mal eine Zeit gegeben, da war Sean der Rhythmus der Ampelschaltungen auf dieser Strecke so vertraut gewesen, dass er niemals bei Rot halten musste. Jetzt aber war ihm der Weg ebenso fremd wie sein früheres Zuhause, und er verschätzte sich jedes Mal. Um sich von jeglichen Gedanken an Tom abzulenken, konzentrierte er sich darauf, möglichst unauffällig Auto zu fahren und nicht so, als hätte er innerhalb der letzten Stunde eine ordentliche Portion Wodka heruntergekippt. Der morgendliche Berufsverkehr bewegte sich jedoch in einem derartigen Schneckentempo vorwärts, dass er sich in seinem Auto plötzlich ganz komisch vorkam.

Er fuhr einen wunderschönen Aston Martin Vanquish in einem eigens für ihn abgemischten Farbton namens Raketen-Bronze. Tatsächlich hatte ein Teil des Reizes, den das Auto vor drei Jahren auf ihn ausgeübt hatte – über einen so langen Zeitraum hatte er bisher noch nie einen Wagen behalten – in den Blicken gelegen, die ihm die anderen Fahrer zuwarfen, wenn er an ihnen vorbeirauschte. Doch in so langsamem Tempo an jemandem vorbeizufahren, war ihm unangenehm. Vielleicht sollte er sich stattdessen einen Tesla anschaffen, um allen zu beweisen, was für ein braver, rechtschaffener, umweltbewusster Bürger er war. Dass er mehr war als ein angeberisches Arschloch.

Vielleicht war die Ampel ja auch kaputt. Der weiße Kleinbus, der neben ihm hielt, fuhr immer wieder an und bremste dann ab, wie ein ungeduldiges Tier. Sean schaute zu den Insassen des Fahrzeugs hinüber. Am Fenster klebten zwei in grüne Schuluniformen gekleidete Jungen, die wie Hundewelpen übereinander krabbelten. Sie winkten ihm zu und zeigten voller Bewunderung auf sein Auto. Gleichzeitig zogen und zerrten sie an ihrem Vater, der am Steuer saß – ein etwas bedrohlich wirkender junger Mann mit kahlrasiertem Schädel, der starr geradeaus blickte.

Erst rot, dann gelb – der weiße Kleinbus schoss genau in dem Moment los, als die Ampel grün wurde. Sean konnte sehen, wie die Jungen jubelten und ihren Vater anspornten, noch schneller zu fahren.

Er schloss zu ihnen auf und ließ sich dann immer wieder zurückfallen. Dabei schnitt er angestrengte Grimassen, als mühte er sich vergeblich, den Bus zu überholen. Die Jungen kreischten vor Begeisterung, hüpften auf der Rückbank auf und ab und feuerten ihren Vater an. Als er die Abbiegespur für seine Ausfahrt sah, tat Sean so, als würde er aufgeben, und die Jungen rissen triumphierend ihre Fäuste hoch, als er den weißen Minibus an sich vorbeisausen ließ. Der so bedrohlich aussehende junge Vater schenkte ihm ein flüchtiges Grinsen, und Sean wurde von einer Welle der Freude durchströmt. Doch kaum hatte er den Blinker gesetzt, das Lenkrad eingeschlagen und war auf die Straßen seines früheren Lebens abgebogen, verschwand das Gefühl wieder, so schnell, als hätte man einen Faden gekappt.

Die letzten Kilometer legte er in sehr langsamem Tempo zurück. Überrascht stellte er fest, dass es hier vor Kurzem heftig geregnet haben musste. Von dem roten Staub, der ganz London überzogen hatte, war nicht die geringste Spur zu sehen, und die Felder leuchteten in einem satten Grün. In der Auffahrt zum Haus klafften zahlreiche üble Schlaglöcher, und er merkte, wie gereizt er wurde. Es war schließlich nicht so, als könnte Gail es sich nicht leisten, den Weg planieren zu lassen. Es versetzte ihm immer noch einen Stich, wenn er an die Abfindung dachte. Er wäre ja großzügig gewesen, wenn Gail ihn nur gelassen hätte. Stattdessen musste sie unbedingt ihre Wut an Martine auslassen, zumindest auf finanzieller Ebene. Er hätte nie geglaubt, dass sie so kleinlich sein konnte. Aber er sollte diesen Gedanken jetzt lieber beiseiteschieben. Er war hier, um ihr einen furchtbaren Schicksalsschlag beizubringen.

Gail, ich habe schlimme Nachrichten. Gail –

Etwas schrammte am Unterboden seines Fahrzeugs entlang. Er fluchte und fuhr noch langsamer. Auf dem Rückweg würde er die andere Route nehmen. Die Planierung der Auffahrt ging ihn nichts mehr an, und es würde heute das letzte Mal sein, dass er herkam. Es war also nicht wichtig. Trotzdem ließ er seinen Blick nicht ohne Bestürzung über die Obstgärten schweifen. Die Früchte waren zu spät und die Blätter zu schwer. Zu viel Regen, zu wenig Sonne.

Statt des alten blauen Saab stand ein neuer silberner BMW mit Allradantrieb in der Garage. Erst jetzt fiel ihm ein, dass ja durchaus die Möglichkeit bestand, dass Gail gar nicht zu Hause war oder Besuch hatte. Er fuhr ans Haus heran und parkte direkt vor der Garage, sodass er die Einfahrt blockierte. Ein solches Verhalten hatte sie früher immer dazu veranlasst, aus dem Fenster zu schauen. Und richtig, da war sie auch schon. Sie trat ans Küchenfenster und winkte ihm zu seinem großen Erstaunen zu. Er ging den Pfad zum Haus hinauf und hoffte inständig, dass sie jetzt nicht etwa auf falsche Gedanken gekommen war. Keine Blumen, keine Flasche Wein, kein guter Zeitpunkt für einen Besuch. Das Einzige, was er mitbrachte, war eine traurige Botschaft und großes Leid. Gail, ich habe schlimme Nachrichten …

Sie öffnete die Tür, noch bevor er klopfte. Sie war ein Jahr jünger als Sean, aber der einstige jugendliche Schmelz war zersprungen und hatte sich als filigranes Netz aus Falten um ihre Augen gelegt. Die Konturen ihrer Gesichtszüge begannen sich aufzulösen, und ihre Kleidung saß so locker, dass ihr jeglicher Sexappeal fehlte. Immerhin legte sie nach wie vor Parfüm auf.

»Sean, es tut mir so furchtbar leid«, sagte sie. »Wie geht es dir?«

»Du weißt Bescheid?« Er starrte seine Exfrau an. »Wie denn? Ich habe es doch selbst gerade erst erfahren.«

»Ruth hat mich angerufen.« Sie trat einen Schritt zurück, um ihn ins Haus zu lassen. »In aller Herrgottsfrühe.«

»Sie haben ihr als Erstes Bescheid gesagt.« Ganz unvermittelt brach der Geruch des Hauses über ihn herein. Die alten Böden und Treppen aus Eichenholz, die maßlose, alles überdeckende Bienenwachspolitur. Ihm fiel eine Schale mit orangenen Rosen ins Auge, die auf dem Tisch stand. »Du hast die Whisky Macs beschnitten.« Früher hatten sie die Rosen, die am Wegesrand standen, immer so lange wie möglich blühen lassen, damit die Besucher ihren Duft genießen konnten.

»Sie wären in dem ganzen Regen sowieso kaputtgegangen. Jemand hat Ruth von Spitzbergen aus angerufen. Tom hatte sie anscheinend als nächste Angehörige angegeben. Aber das weißt du ja bereits.«

Als Sean eine der Rosen berührte, ließ sie sämtliche Blütenblätter fallen. »Ich kann mich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern, die damals passiert sind.«

»Ich schon … Und sie haben sich ja noch getroffen, nicht wahr. Dieses eine letzte Mal.«

»Ja, aber es war mir nicht klar, dass sie offiziell … seine nächste Angehörige war.«

Sean gefiel der Gedanke nicht, dass Ruth Mott ihre Version jenes letzten Abends herumerzählte. Aber das war der einzige Weg, auf dem Gail davon erfahren haben konnte, denn damals befanden sie sich bereits im Endstadium ihres Scheidungsprozesses. Das Urteil hatte kurz bevorgestanden und sie hatten nur noch über ihre Anwälte miteinander kommuniziert. Er schaute die Treppe hinauf. Es war noch eine andere Person im Haus, das konnte er spüren.

»Wem gehört das silberne Auto da draußen?«

»Man nennt die Farbe ›mineralweiß‹. Und es ist mein Auto.«

»Du hast immer behauptet, du würdest den Saab bis in alle Ewigkeit behalten.«

»Es war Zeit, das alte Ding loszuwerden. Dieses neue Auto hier ist anscheinend mit einem Satelliten verbunden. Wenn ich möchte, kann man vom Weltall aus verfolgen, wo ich mich gerade befinde. Genauer gesagt kann man das auch, wenn ich es nicht möchte, es sei denn, ich würde mich endlich mal für ein paar Stunden hinsetzen und herausfinden, wie man diese Funktion ausschaltet. Es hat dieses eingebaute …«

»Ich bin froh, dass du dir ein gutes Auto angeschafft hast.«

Sie hatte fast alle Bilder umgehängt. Auf dem Tisch stand eine neue Lampe. Tom war tot, deshalb war er gekommen. Damit Gail seinem eigenen Schmerz eine Stimme verleihen konnte. Doch irgendwie schien sein Plan nicht aufzugehen.

»Du und Ruth, ihr habt euch also versöhnt.«

»Ich – ich war ihr gegenüber unfair.«

»Sie hätte sich nicht einmischen sollen.«

»Ich hätte ihr zuhören sollen.«

Das Zittern in ihrer Stimme alarmierte ihn, und er floh in die Küche. Seine Muskeln handelten aus Erinnerung, ganz ohne sein Zutun: den Mantel fallen lassen, die Tasche hinstellen. Er starrte auf die Bank. Sowohl der Zeitungsstapel als auch die große getigerte Katze, die dort immer geschlafen hatte, waren verschwunden.

»Wo ist Harold?« Er sah sich um und machte das Geräusch, mit dem sie ihn immer gerufen hatten.

»Er ist auch gestorben. Letztes Jahr. Möchtest du einen Tee? Kaffee?« Gail füllte den Kessel mit Wasser und kehrte ihm dabei den Rücken zu.

»Das hast du mir gar nicht erzählt.« Er konnte nicht anders, er musste sich umsehen. Jeder einzelne Gegenstand, den er wiedererkannte, schien ihn anzuklagen. »Ist dieses Haus jetzt nicht zu groß für dich?«

Gail drehte sich um. »Sean, warum bist du hergekommen? Du hättest anrufen können.«

»Das hat Martine auch gesagt.«

»Ah. Wie rücksichtsvoll von ihr.«

»Diese Sache mit Tom scheint dich gar nicht so furchtbar mitzunehmen. Bist du nicht traurig? Du hättest mich anrufen können –« Er verstummte. Es war nur zu offensichtlich, dass die Sache sie sehr wohl mitnahm.

»Natürlich bin ich traurig. Aber ich rufe dich grundsätzlich nicht mehr an, egal weswegen, es sei denn, es geht um Rosie. Ich hatte gedacht, das wüsstest du.« Sie weinte nicht. »Also wird es eine Beerdigung geben. Was denn auch sonst. Und, hat man dich jetzt endlich zum Ritter geschlagen?«

»Noch nicht, aber bald.« Er war verwirrt. Das war nicht Gail. Gail war doch eigentlich immer so zartfühlend und sensibel.

»Für deine großartigen Verdienste um die britische Wirtschaft. Und dann ist es auch noch ein ordentlicher Denkzettel für meinen Vater.«

»Das steht zu hoffen.« Er konnte die Geister vergangener Partys und Essenseinladungen spüren, wie sie durch die Luft flimmerten, sah vor seinem inneren Auge die vertrauten Teller, von denen er so oft gegessen hatte, die Schränke, in denen sie aufbewahrt wurden, die Sträuße mit getrockneten Kräutern, die von der Decke hingen. »Die Auffahrt«, sagte er brüsk. »Die ist ja in einem wirklich üblen Zustand. Soll ich mal jemanden anrufen? Du kommst doch nie dazu. Und es wird nur noch schlimmer werden. Es macht mir nichts aus.« Er hatte nicht vorgehabt, das zu sagen, es war ihm einfach so rausgerutscht.

»Ich weiß ja, dass du der Herrscher des Universums bist und all das –«

»Das sind die Banker. Ich war nie Banker –«

»– aber falls es dir nicht aufgefallen sein sollte: Es hat einen Monat lang ohne Unterlass geregnet.«

»In London hat es keinen einzigen Tropfen Regen gegeben.«

»Es ist mir vollkommen egal, was es in London gibt oder nicht gibt! Man kann eine überflutete Auffahrt nicht planieren. Man muss warten, bis das Wasser abgelaufen ist. Aber vielen Dank für den Hinweis.«

»Also geht es dir gut, ja? Du hast gerade keine – klinische Depression?«

»Es tut mir ja leid, dir das sagen zu müssen, aber mir geht es ganz wunderbar.« Sie wischte sich die Augen und kehrte ihm dabei den Rücken zu.

»Ist Sean etwa hier?« Seine Tochter Rosie rauschte zur Küchentür herein. Sie trug ein langes T-Shirt mit dem Aufdruck OCCUPY, hatte ihre honigbraunen Haare mit Dreadlocks ruiniert und ihre Ohren mit zahllosen Löchern durchbohrt. Zu seiner Bestürzung musste er feststellen, dass sie sich zudem noch eine weitere Stammestätowierung auf den Arm hatte stechen lassen.

»Rosie«, stöhnte er auf. »Was hast du bloß angestellt?«

»Was ich angestellt habe? Ich bin ohne dich erwachsen geworden, meinst du vielleicht das? Warum weint Mama? Warum bist du überhaupt hier, Sean?« Rosie legte einen Arm um ihre Mutter und starrte ihn wütend an.

»Es geht mir gut«, sagte Gail. »Ganz ehrlich. Wir haben uns nur unterhalten.«

»Ich kann es nicht leiden, wenn du mich ›Sean‹ nennst«, sagte er. »Ich bin immer noch dein Vater.« Die Art, wie sie ihn ansah, brach ihm das Herz.

»Von wegen. Aus diesem Job hast du dich selbst gefeuert. Ein Vater ist jemand, auf den man sich verlassen kann, der einem sein Wort gibt und es auch hält, der einen nicht betrügt und in einem fort anlügt, obwohl er versprochen hat, es nicht mehr zu tun. Mama weint jeden Tag. Wusstest du das?«

»Ach, um Himmels willen. Ich habe nicht –«

»Mein Gott! Warum müssen alle Menschen die ganze Zeit lügen?«

»Eines Tages, Rosie«, sagte er, »wirst du vielleicht begreifen, dass nicht alle Dinge immer schwarz und –«

»– weiß sind«, beendete sie denn Satz für ihn. »Ich weiß. Sie sind grau, Rosie, grau – und genau da, in diesem grauen Bereich, kleine Rosie, da verdienen Leute wie ich ihr Geld und erzählen ihre Lügen und versauen anderen Menschen das Leben. Im grauen Bereich. Ich verstehe schon, Sean.«

»Sie weiß noch nicht Bescheid«, sagte Gail leise.

»Worüber weiß ich nicht Bescheid? Bekommst du jetzt etwa ein kleines Bébé mit dieser Frau? Na, also ich will damit nicht das Geringste zu tun haben.«

»Nein, deshalb bin ich nicht hier. Und ich hatte auch keine Ahnung, dass du hier sein würdest. Ich dachte, das Semester läuft noch. Nein, ich bin hergekommen, um deiner Mutter zu sagen, dass Toms Leiche gefunden wurde. Und das wollte ich persönlich tun, Rosie, nicht am Telefon, und auch nicht, um mich von dir hier beschimpfen zu lassen, sondern um es ihr schonend beizubringen. Aber sie wusste schon Bescheid.«

Rosie starrte ihre Mutter fassungslos an.

»Ruth hat mich heute früh angerufen.« Gail legte den Arm um ihre Tochter. »Ich erzähle dir später alles in Ruhe.« Sie sah Sean über Rosies Schulter hinweg an. »Danke, dass du gekommen bist. Ich weiß das zu schätzen.«

Er starrte seine weinende Tochter an und diese fremde Frau, mit der er einmal verheiratet gewesen und die nun seine Ex-Frau war. Er wurde aus seinem eigenen Haus entlassen. Seinem Ex-Haus. Aber dies war immer noch sein Kind.

»Rosie«, sagte er sanft. »Wenn du mal das Bedürfnis haben solltest, mich zu sehen –«

»Und warum sollte ich das?« Sie sah ihn nicht an.

»Weil du meine Tochter bist und weil ich dich liebe.«

»Darauf kannst du lange warten.« Sie duckte sich unter dem Arm ihrer Mutter durch und rannte nach oben, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen.

Der Aston Martin blinkte ihm einen elektronischen Gruß zu. Sean fuhr vorsichtig die zerfurchte, vom Wasser durchtränkte Auffahrt entlang und bog dann auf die kleine einspurige Straße ab. Die Benommenheit, die vorher noch auf ihm gelegen hatte, war definitiv verschwunden. Das eben erfolgte Zusammentreffen hatte seine Seele wundgerieben und ihn mit einem Gefühl des Scheiterns zurückgelassen.

Ein kurzes, scharfes Hupen riss ihn aus seinen Gedanken und holte ihn wieder auf die schmale Straße zurück. Ein alter roter ramponierter Land Rover, der einen Anhänger hinter sich herzog, wäre fast in ihn hineingefahren. Im Innern des Fahrzeugs saßen ein Mann und eine Frau, die aufeinander abgestimmte Jacken trugen – James und Emma Goring. Okay, damit würde er jetzt auch noch fertig werden. Er war eben erst an einer Ausweichstelle vorbeigekommen. Also winkte er ihnen zu, legte den Rückwärtsgang ein, riss sich zusammen und machte sich darauf gefasst, sie freundlich zu begrüßen. Noch ein Bruchstück des zersplitterten Knochengerüsts, zu dem seine Vergangenheit geworden war. Er würde den beiden erzählen, was passiert war.

James und Emma – an die Namen ihrer Kinder konnte er sich nicht erinnern – waren fast ein Jahrzehnt lang ihre Nachbarn gewesen. Sie hatten sich gegenseitig zum Abendessen eingeladen, hatten sich Drinks im Acorn spendiert, waren mit ihnen zum Feuerwerkgucken und auf Silvesterpartys gegangen – all die alltäglichen Dinge des Lebens, die sich langsam aber sicher zu einer Freundschaft summieren. Aber sie schienen ihn nicht wiederzuerkennen. James hatte tatsächlich schon beiläufig die Hand zum Dank gehoben und war im Begriff weiterzufahren, als Sean laut seinen Namen rief.

James stutzte und hielt den Wagen an. »Sean!«, rief er dann. Emma ließ das Handy sinken, auf das sie gerade gestarrt hatte, und erkannte ihn in dieser Sekunde ebenfalls wieder. Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.

Bei laufenden Motoren tauschten sie sich enthusiastisch über das Wetter aus und über den Zustand der Zufahrtswege, und dann erzählte Sean ihnen von dem Staubsturm in London. Die beiden hatten den Sturm im Fernsehen gesehen, hier aber nur sehr wenig davon mitbekommen. Und, konnten sie sich nicht glücklich schätzen, hier in ihrem kleinen Mikroklima zu leben? Es folgte ein peinliches Schweigen.

Sean merkte, dass sie weiterfahren wollten. Er spürte, wie Zorn in ihm aufstieg und setzte die Unterhaltung hartnäckig fort, egal worüber. Über all die neuen Weinberge, über die Farm, über was auch immer. Währenddessen ließ er die Tatsache auf sich wirken, dass sie am liebsten gar nicht angehalten hätten. Dass sie so getan hatten, als würden sie ihn nicht wiedererkennen. Menschen ließen sich eben scheiden, gingen neue Wege. Er warf einen demonstrativen Blick auf ihren Anhänger, auf dessen Ladefläche zwei riesige, mit einer Plane abgedeckte Lautsprecher standen.

»Aber natürlich!«, rief er. »Eure Sonnwend-Party! Na, dann drücke ich euch die Daumen, dass auch die Sonne scheint!«

»Oh«, sagte James rasch. »Wird nur eine ganz kleine Feier, dieses Jahr.«

»Ziemlich große Boxen für eine kleine Party.«

»Nein, nein, eigentlich nicht.«

Sie sahen sich an und das Lächeln schwand aus ihren Gesichtern. Sie würden ihn nicht einladen.

»Ich bin hergekommen, um Gail zu erzählen, dass ein lieber Freund von uns gestorben ist.« Sean musste von seinem viel tiefer liegenden Auto zu ihnen aufschauen. »Wir sind immer noch Freunde, Gail und ich.«

»Ja, das ist die beste Art, mit so etwas umzugehen«, sagte James. »Mein herzliches Beileid.«

»Ja, von mir auch«, sagte Emma. »Es tut mir sehr leid. Mach’s gut, Sean.«

James legte den Gang ein und fuhr mit dem Land Rover und dem schwer beladenen Anhänger gefährlich nah an dem Aston Martin vorbei. Sein Blick war konzentriert auf die Straße gerichtet. Im nächsten Moment waren die beiden verschwunden.

Sean starrte ihnen durch den Rückspiegel nach. Sein Herz klopfte, als hätte er gerade einen Ringkampf absolviert. Er hatte sie für Freunde gehalten. Er hatte ihnen seinen besten Wein serviert und ihre langweilige Gesellschaft erduldet, in der Hoffnung, dass sie ihm schon irgendwann ihr wahres Ich offenbaren würden. Er hatte gedacht, es wäre nur jene typisch englische Zurückhaltung gewesen –

Nein. Sie waren niemals seine Freunde gewesen. Sie waren ihm gegenüber immer kalt geblieben. Gail war ihnen sympathisch gewesen. Und nur Gail. Er wusste, dass sie immer der Ansicht gewesen waren, Gail habe unter ihrem Stand geheiratet. Toms Verlust brannte ihm in der Seele: Tom, der immer ein echter Freund und Gentleman gewesen war, der immer allen die gleiche Liebenswürdigkeit und den gleichen Respekt entgegengebracht hatte, ganz gleich, ob er mit einem Obdachlosen oder einem Milliardär sprach. Sean hörte Kingsmiths Stimme in seinem Kopf, mit einem Spruch aus früheren Tagen, den er immer zu ihm gesagt hatte, wenn er einen geschäftlichen Verlust erlitten hatte. Zieh deine Lehren daraus und blick nach vorn. Er sah auf die Uhr und gab dann »Heathrow« ins Navigationssystem ein.

Es gibt eine Kraft, die wir Sila nennen und die sich in einfachen Worten nicht erklären lässt. Ein großer, gewaltiger Geist, der das Universum, das Wetter und das gesamte irdische Leben erhält – ein Geist, der so mächtig ist, dass er zu den Menschen nicht in gewöhnlichen Worten redet, sondern durch Sturm und Schnee und Regen und das wütende Aufbäumen des Meeres; durch alle jene Kräfte also, vor denen der Mensch sich fürchtet.

In guten Zeiten bedarf es keiner Nachricht, die Sila den Menschen überbringen müsste. Dann zieht er sich zurück, bleibt abseits der Welt, in seinem eigenen unendlichen Nichts. Dort verharrt er, solange die Menschen das Leben nicht missbrauchen und ihrer täglichen Nahrung mit Ehrfurcht begegnen.

Niemand hat Sila jemals gesehen. Der Ort, an dem er sich aufhält, bleibt ein Geheimnis, denn er ist zur gleichen Zeit mitten unter uns und unsagbar weit fort.

Im Schlitten durch unerforschtes Eskimoland:Die fünfte Thule-Expedition

Knud Rasmussen

4

Sean saß auf 1F, eng an die Plastikwand des Flugzeugs gedrückt, während ihm der Geruch des Duty-Free-Aftershaves seines Nachbarn in die Nase stieg. Er musste an Toms düstere Prophezeiung denken, dass Spitzbergen zum Ibiza des Nordens werden würde. Die Mitternachtssonne, das exotische Umfeld und das gestiegene Bewusstsein der Öffentlichkeit dafür, wie fragil diese Region war – all dies kam zusammen, um der Arktis den größten Touristenandrang zu bescheren, den sie jemals erlebt hatte. Heutzutage gab es in Longyearbyen sogar eine eigene Klubszene – ein wahres Mekka für Junggesellen- und Junggesellinnen-Abschiede und Kinder reicher Eltern, denen das Skifahren zu langweilig geworden war.

Sean sah zu, wie sich die Stewardess mit ihrem Wagen näherte. Das Klirren der Eiswürfel erinnerte ihn daran, dass er dringend einen Drink brauchte. Er musste diesen Schock einfach als Chance umdeuten – als Chance, endlich mit der Geschichte abzuschließen. Nun konnte man das Ganze im wahrsten Sinne des Wortes begraben, man konnte einen Stein, einen großen schweren Grabstein auf Toms aus dem Eis geborgenen Leichnam legen und darunter auch die Hoffnung begraben, dass er jemals zurückkehren würde.

»Sir, möchten Sie vielleicht einen Drink oder einen Snack?«, wiederholte die Stewardess mit ihrem Economy-Class-Lächeln. Auf seinen Wunsch hin reichte sie ihm zwei kleine Wodka-Fläschchen, eine Dose Tonic und einen Plastikbecher mit einem einzigen Eiswürfel. Dann ging sie rasch weiter, bevor er noch mehr verlangen konnte. Er ließ das Tonic unberührt stehen, goss den Inhalt der beiden Wodka-Fläschchen in den Becher und kippte ihn hinunter. Ganz gleich, was Kingsmith und Martine sagten, im Innersten seines Herzens wusste er, dass die Sache für ihn alles andere als abgeschlossen war. Er hatte lernen müssen, mit dem Gedanken zu leben, dass Tom in jener unberührten, makellosen Weite verloren gegangen war – genau so hatten auch zahlreiche andere arktische Helden ihr Ende gefunden. Doch sein Wiederauftauchen hatte so nicht im Drehbuch gestanden. Man konnte meinen, der Gletscher selbst habe Tom verstoßen.

Aber es gab auch noch einen weiteren Schatten, der sich über sein Gemüt legte, und den hatte Gail ausgelöst, mit ihrer Anspielung auf seinen immer noch nicht erfolgten Ritterschlag. Vier Mal hatte man das neue Jahr und auch seinen Geburtstag mit zahlreichen Ehrungen gefeiert, aber immer wieder fand man neue Gründe dafür, dass er auf seinen Ritterstand warten musste: Es gebe einen gewissen Rückstau, die Mühlen mahlten langsam, aber all das sei kein Grund zur Sorge –

Er ahnte, warum die Sache noch nicht zustande gekommen war: Man hatte so seine Zweifel wegen des Unfalls. Also gut, sollte doch die gerichtliche Untersuchung dieses eitrige Geschwür aus Verdächtigungen aufstechen. Er würde ihnen alles sagen, was sie wissen wollten, und während er auf diesem Weg seinen Namen öffentlich reinwusch, würde er der Welt auch in Erinnerung rufen, dass jede Expedition im Wesentlichen aus Risiken und Gefahren bestand und dass bis zum heutigen Tage auch die kräftigsten und am besten vorbereiteten Polarabenteurer manchmal den Tod fanden. Es war schließlich kein Verbrechen, überlebt zu haben. Und ebenso wenig war es ein Verbrechen, mit Midgard Lodge, wo der allseits beliebte Tom Harding ums Leben gekommen war, gutes Geld zu verdienen.