Das Elser-Eck - Will Gmehling - E-Book

Das Elser-Eck E-Book

Will Gmehling

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Beschreibung

Hier sind sie wieder, die Bukowskis: Alf, ein richtiger Boxer inzwischen und immer noch verknallt in Johanna. Katinka, seine nervige, aber geniale Schwester, immerzu beschäftigt mit der Modewelt. Und der verträumte Robbie, den man keinesfalls unterschätzen sollte. Es läuft bei den Bukowski-Geschwistern, nur ihre Eltern sind immer öfter erschöpft. Der Vater vom Taxifahren, die Mutter vom Brötchenverkaufen. Doch dann gibt es eine filmreife Überraschung: Onkel Carl hat Geld geerbt und die Familie seines Bruders soll auch was davon haben. Schnell ist ein gemeinsames Projekt ausgeheckt: Das Elser-Eck! Mit einem Kiosk mitten in ihrem Viertel laufen die Bukowskis zu Höchstform auf. Ihre Herzlichkeit reicht locker über die Grenzen der Familie hinaus und Das Elser-Eck wird zum Mittelpunkt einer bunten Gemeinschaft. Alf, Katinka und Robbie gewinnen neue Freunde und Freiheiten und alle drei gehen weiter den aufregenden Weg, den sie für sich selbst gewählt haben. "Das Elser-Eck" knüpft an Will Gmehlings "Freibad" und "Nächste Runde" an, seine Kinderromane sind jedoch unabhängig voneinander lesbar.

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Seitenzahl: 178

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Will Gmehling

DAS ELSER-ECK

Die Bukowskis machen weiter

Peter Hammer Verlag

1 Wir saßen im Wartezimmer, Mama, Katinka, Robbie und ich. Es war ein Donnerstagnachmittag im April. Der Frühling war da, es wurde wärmer.

Bald konnte man wieder im T-Shirt rumlaufen.

Bald machten die Freibäder auf.

Wir gingen oft alle drei zusammen zum Zahnarzt, entweder mit Papa oder mit Mama. Unsere Zähne waren in Ordnung, weil wir sie immer putzten, auch wenn wir keine Lust hatten oder zu müde waren.

„Wenn es um die Zähne geht, bin ich richtig streng“, sagte Papa oft. „Da lass ich nichts durchgehen. Das kontrollier ich.“

Im Wartezimmer saßen eine Menge Leute, manche lasen, andere spielten mit ihrem Handy. Ich hatte meins nicht dabei, weil Mama mir das verboten hatte. Ich sollte lernen, auch mal ohne auszukommen.

Katinka blätterte in einer Modezeitschrift.

„Als Model musst du immer blitzsaubere Zähne haben“, verkündete sie laut. „Oh là là! Ich liebe Wartezimmer!“

Die Leute guckten sie an.

„Zahnarzt heißt auf Französisch Dontiest. Das klingt so anders und schick!“

„Was soll daran schick sein?“, sagte ich.

Sie guckte mich an, auf die Katinka-Art: extrem hochnäsig. „Das kann einer, der andauernd was auf die Birne kriegt, natürlich nicht verstehen.“

Im Boxstudio verprügelten wir uns manchmal, das stimmte. Wir hauten und traten aufeinander ein. Wir waren Kickboxer. Das hieß aber noch lange nicht, dass irgendwas kaputt war bei mir im Kopf. Im Gegenteil. Seitdem ich boxte, war ich besser geworden in der Schule. Weil ich mich länger konzentrieren konnte.

Robbie war egal, was wir redeten. Er saß direkt am Fenster und schaute auf die Straße. Da passierte nicht viel, Robbie aber saß da wie eine Katze und beobachtete jede kleinste Bewegung.

Dann wurde ich aufgerufen.

Doktor Mundt kontrollierte mein Gebiss. Jeden einzelnen Zahn. Er war zufrieden.

„Sieht prima aus! Immer hübsch weiterputzen, dann hast du nie Ärger mit mir.“

„Geht klar“, sagte ich.

„Und nie den Zahnschutz vergessen beim Kampf.“ Er wusste, dass ich boxte.

„Nee, hab ich immer drin.“

„Da geht’s ziemlich zur Sache, oder?“

„Stimmt“, sagte ich. War ja auch so.

Nach mir war Katinka dran, dann Robbie. Er ging zusammen mit Mama rein. Er musste immer erst lange überredet werden, bevor er seinen Mund aufmachte, und kniff dann seine Augen fest zusammen, bis zum Ende der Behandlung.

Danach kam Mama an die Reihe.

Wir mussten lange auf sie warten und langweilten uns. Endlich kam sie zurück, mit finsterem Blick. Wir merkten sofort, dass etwas nicht stimmte.

„Ich bekomme eine Brücke“, sagte sie, als wir unten auf den Bus warteten. „Das passt gerade ganz schlecht.“

„Eine Brücke?“, wunderte sich Robbie.

„Das nennt man so, wenn ein paar Zähne kaputt sind“, erklärte Katinka die Sache. „Dann bekommt man neue. Die sind dann aber falsch. Das haben ganz viele alte Leute. Ich hab ein erstklassiges Gebiss, sagt Herr Mundt. Wie ein Filmstar!“

Mama hatte Tränen in den Augen. Das mochte ich überhaupt nicht. Andauernd fing sie an zu heulen wegen irgendwas.

„Das wird teuer“, sagte sie leise.

„Wie teuer?“, fragte ich. Teuer war bei uns immer ein schlimmes Wort. Wie Hautausschlag oder Magen-Darm.

„Ach, ist egal“, sagte sie schnell. „Das muss euch nicht kümmern. Hauptsache, bei euch ist alles okay.“

„Ich geb dir was ab von meinem Geld“, sagte Robbie. „Ich hab schon über 4 Euro gespart. Alles Flaschenpfand!“ Er sammelte immer noch leere Flaschen und brachte sie zu Penny.

„Ach, Robbie“, sagte Mama und schluckte. „Das musst du doch nicht.“

„Nee, echt nicht, Schätzchen“, sagte Katinka. „Behalt das mal lieber für dich selber!“

Sie hatte immer das letzte Wort.

2 Das war ein paar Tage bevor Onkel Carl wie so oft bei uns reinschneite und plötzlich die große Sensation verkündete, mitten beim Abendessen.

Zuerst mal war es ja eher eine Sensation für ihn. Danach aber auch für Mama und Papa. Und dadurch auch für Robbie, Katinka und mich.

Aber noch war alles wie sonst. Alltag. Wir waren in der Schule gewesen. Es hatte geregnet.

Dann der Zahnarztbesuch (für uns Kinder gute Nachrichten, für Mama eine schlechte).

Dann die Busfahrt nach Hause. Ich stritt mit Katinka über Johanna, ich weiß nicht mehr, worum es da überhaupt ging. Wir stritten uns oft für nichts und wieder nichts. Dann machte Katinka einen Witz, und wir vertrugen uns wieder.

Zu Hause legte sich Mama gleich aufs Sofa, wegen ihrer Rückenschmerzen. Seit Monaten hatte sie Rückenschmerzen. Sie machte sogar Yoga deswegen.

„Rückenschmerzen und jetzt noch eine teure Brücke“, sagte Katinka. „Da kann man froh sein, wenn man jung ist und in Schuss!“ Sie kniete sich auf den Boden, machte einen perfekten Kopfstand und grinste uns breit an, wie die Katze aus Alice im Wunderland. Damit alle ihre Zähne sehen konnten.

„Ich geh trainieren“, sagte ich. Trainieren war immer gut. Wegen der Kondition natürlich. Aber auch, weil ich sie dann erst mal alle los war, alle anderen Bukowskis. In unserer Wohnung war es eng, nirgends konnte man allein sein.

„Hast du deine Hausaufgaben gemacht?“, wollte Mama wissen.

„Wir hatten heute keine auf“, sagte ich. Obwohl. So ganz stimmte das nicht. Aber die Englischvokabeln konnte ich ja am nächsten Morgen im Bus lernen.

Ich fuhr also los, durch den Frühlingsabend, über die Brücke und dann kurz durchs Industriegebiet. Da war mein Boxstudio, das Butterfly Gym.

Während ich mein Rad abschloss, dachte ich an Johanna. Ich hatte sie schon seit drei Tagen nicht mehr gesehen.

Wenn du die schwere Eisentür zum Boxstudio öffnest, schlägt dir sofort der besondere Geruch entgegen. So riecht es nur hier. Der Schweiß ehrlicher Arbeit am Boxsack, an der Pratze. Ich zog mich um und ging in die Halle.

„He, Alf, was geht?“, rief Carlo. Er stand bei Alex und Sibel, die im Ring Highkicks trainierten.

Carlo war immer hier, genau wie ich, auf ihn war Verlass. Seit ein paar Monaten waren wir Freunde, er war mein erster echter Freund überhaupt. Manchmal fuhren wir nach dem Training noch zu seinen Eltern in den Laden und aßen original italienische Pizza.

Ich war in Form heute. Ich machte mich warm, dehnte meine Muskeln, machte Sit-ups ohne Ende. Ich trainierte mit Stef an der Pratze. Das hier war mein Ort. Seit über einem halben Jahr kam ich hierher, bei Wind, Regen oder Schnee, oder bei allem zusammen. Das Butterfly war meine zweite Familie, all die Leute hier, die schweren, alten Männer, die kleinen Mädchen, egal. Wenn wir am Ende im Kreis standen und Hamid seine Ansprache hielt, gehörten wir alle zusammen, wer auch immer wir waren. Manche von uns kamen von sehr weit her, aus Russland oder Afghanistan zum Beispiel, manche von gleich um die Ecke, so wie ich. Einige von uns konnten kaum Deutsch, weil sie erst seit ein paar Wochen hier waren, einige studierten an der Uni, andere waren arbeitslos. Und Hamid war unser Chef.

„Manchmal ist hier nicht genug Energie“, rief er in den Kreis. „Ihr seid nicht wirklich bei der Sache. Jeder hat sein Leben draußen, klar. Und das ist manchmal ziemlich unangenehm, so ein Leben. Aber lasst es draußen, da, wo es hingehört. Hier ist Boxen. Hier könnt ihr alles hinter euch lassen!“

Ein paar von uns nickten, andere guckten völlig ausgepumpt auf den Boden.

„Und passt besser aufeinander auf! Merle hat vorhin minutenlang einfach so herumgestanden, weil sie nicht wusste, was sie machen soll. Keiner hat sich um sie gekümmert. Sie ist erst acht!“ Hamid guckte uns an, als hätten wir sonst was verbrochen. „Passt besser aufeinander auf, okay?“

„Ja!“, riefen wir und „Wird gemacht!“ und „Geht klar!“. Bis Hamid endlich zufrieden war und wir unter die Dusche konnten.

Die Duschen funktionierten nicht immer, manchmal kam nur ein dünner Strahl raus, und manchmal war das Wasser lauwarm. Aber das musst du in Kauf nehmen. Du trocknest dich hinterher ab und weißt: Du hast gut trainiert heute. Du bist müde, auf eine gute Art. Jetzt macht er wieder Sinn, dein Tag.

3 Auf dem Nachhauseweg hielt ich auf der Brücke an und sah in den Fluss. Das machte ich immer so, da konnte ich in Ruhe nachdenken. Obwohl. Ich dachte nicht wirklich nach. Ich guckte nur einfach aufs Wasser. Unten schwamm einiges vorbei: ein Touristenschiff, ein leerer Müllsack, ein langer Ast. Hinter mir donnerte ein Güterzug in Richtung Bahnhof. Es nieselte ein bisschen. Und meine Gedanken kamen und gingen.

Eine Viertelstunde später saß ich mit den anderen Bukowskis am Abendbrottisch.

„Manchmal hab ich dermaßen die Nase voll!“, sagte Papa gerade. „Andauernd dieses Taxi, die stickige Luft darin, die zickigen Kunden. Die endlosen Staus!“ Er guckte auf sein Käsebrot.

„Das kann ich gut verstehen, Papilein“, sagte Katinka. „Ich hab meine Schule nämlich auch so was von total satt. Besonders Frau Knöppke-Dieckmann. Weißt du, was die heute zu mir gesagt hat?“

Papa wusste es natürlich nicht, er hatte ja den ganzen Tag hinterm Steuer gesessen.

„Also, sie hat zu mir gesagt, ich soll mich weniger um Nagellack kümmern und dafür mehr um Rechtschreibung. Stell dir das mal vor!“

„Da hat sie allerdings recht“, meinte Mama. „Du vergisst nämlich, dass du keine sechzehn bist, sondern erst neun.“

„Blablabla!“, sagte Katinka.

„Sei nicht so frech!“, rief Mama.

„Bin ich ja gar nicht!“, rief Katinka zurück. „Hab nur dreimal Bla gesagt.“

„Oh Mann“, stöhnte Papa. „Die Streitereien hier gehen mir ebenfalls auf die Nerven!“

„Ich hab die Nase meistens nicht voll“, sagte Robbie. „Aber ich muss ja auch nicht gruselige Leute durch die Gegend fahren. Ich bin ein Flaschenfinder!“

Junge, da hatte er seit langem mal wieder eine ganze Menge auf einmal gesagt. Drei lange Sätze! Sonst sagte er manchmal stundenlang kein Wort, auch nicht, wenn man ihn was fragte. Er zeigte lieber auf irgendwelche Sachen, auf einen Stein, eine Wolke oder den Mond.

„Sei froh, mein Kleiner!“, sagte Papa und machte sich ein Bier auf.

4 Am nächsten Tag saß ich bei Back-Factory und wartete auf Johanna. Ich war meistens schon zehn Minuten früher da, weil ich es nicht abwarten konnte, sie wiederzusehen. Leider kam sie andauernd zu spät.

Back-Factory war unsere Tradition. Wir versuchten immer, am selben Tisch zu sitzen wie beim ersten Mal, dem kleinen in der Ecke direkt am Fenster. Hier konnten wir gut miteinander allein sein und hatten trotzdem alles im Blick.

Ich beobachtete die Leute. Zum Beispiel den dicken Mann, der gerade reinkam und zum Kaffeeautomaten schlurfte. Oder die junge Frau am Tisch neben der Kasse: Sie hatte ein gelbes Kleid an und silberne Schuhe. Neben ihr saß eine Oma und starrte Löcher in die Luft.

Seit Monaten schon ging das so: Ich inspizierte meine Mitmenschen, wie Onkel Carl das nannte. Sie waren, wie sie waren, meine Mitmenschen, ich sah sie mir einfach nur an. Ohne mir viel dabei zu denken.

Da kam Johanna rein. Eine Viertelstunde zu spät.

„Hallo!“, sagte sie nur und setzte sich mir gegenüber. Ich hätte es besser gefunden, wenn wir uns umarmt und geküsst hätten. Aber so weit waren wir noch nicht.

„Wartest du schon lange?“, fragte sie.

„Geht so …“

Wir holten uns einen Kakao und eine Apfeltasche, das war ebenfalls Tradition.

Johanna nahm einen Schluck aus der Tasse und schob sie dann zu mir rüber.

Die meisten Leute, die aus derselben Tasse trinken, drehen sie so um, dass sie nicht von derselben Stelle trinken. Ich machte es genau andersrum: Ich achtete darauf, meinen Mund genau da zu haben, wo vorher Johannas Mund gewesen war. Immerhin waren wir ja zusammen. Schon seit etwa einem Vierteljahr.

Johanna hatte das natürlich genau mitbekommen. Sie lächelte mich an, biss von der Apfeltasche ab und hielt sie mir dann hin.

„Immer wieder lecker!“, sagte ich.

Sie nickte. „Immer wieder!“

Dann aber wurde ihr Blick traurig.

„Es ist so weit“, sagte sie leise. „Sie haben erst mal fertig.“

Ich wusste gleich, wen sie meinte.

„Mama zieht aus“, sagte sie. „Papa kann ja nicht. Er arbeitet da, wo er wohnt.“

Ihr Vater war der Chef vom Freibad. Wir nannten ihn immer nur Walross, ich meine, Robbie, Katinka und ich. Weil er so aussah.

„Wieso erst mal?“, fragte ich.

„Damit der Stress aufhört. Das andauernde Streiten. Sie wollen gucken, ob sich dann was klärt.“

„Und du?“

„Ich bleib bei Papa. Weil Mama bei ihrer Schwester wohnen will. Da ist kein Zimmer für mich.“

In meiner Klasse gab es mehrere Kinder, deren Eltern sich getrennt hatten. Mama und Papa stritten sich auch, meistens aber nur für kurz. Danach nahmen sie sich in die Arme und vertrugen sich wieder. Zum Glück.

„Kann der denn kochen und so?“, fragte ich.

„Na ja …“

„Ich komm dich ganz oft besuchen!“

„Okay.“

„Ich koch dir Spaghetti!“

„Spaghetti? Mit was?“

„Mit Sauce. Carlos Eltern kennen tolle Saucen. Original italienisch!“

„Okay …“

„Hauptsache, wir sind …“

„Was?“

Zusammen, wollte ich sagen. Aber ich traute mich nicht.

Sie guckte mich an, mit einem halben Lächeln, nein, einem Viertellächeln. Oder noch weniger. Da musste man schon genau hingucken.

„Stimmt“, sagte sie. Und trank einen Schluck Kakao.

Die junge Frau in Gelb verputzte mittlerweile ihre zweite Zimtschnecke. Dabei telefonierte sie wie wild und freute sich.

Die Oma packte ihre Sachen zusammen. Das dauerte und dauerte. Wenn sie fast fertig war, fing sie wieder von vorne an.

Der dicke Mann las Zeitung und leckte sich die Lippen. Erst die Oberlippe, dann die Unterlippe. Das machte er immer wieder, hin und her.

Wenn du erst mal anfängst mit dem Inspizieren, kannst du nicht mehr aufhören damit. Überall sind irgendwelche Leute und machen irgendwas. Manche reden mit sich selber. Manche haben Sorgenfalten. Einige sind gut in Schuss und sehen aus, als kämen sie zurecht mit der Welt. Andere sind einfach nur gestresst.

Wir aßen auf und gingen los. Es regnete ein bisschen. Johanna holte ihren Regenschirm raus, einen durchsichtigen mit einer Katze drauf. Ich nahm ihn und hielt ihn über uns beide.

5 Dann kam der Abend mit der Sensation, es war ein Dienstag, und es war gutes Wetter. Das weiß ich deshalb, weil wir am Nachmittag die Wohnzimmerfenster aufgemacht hatten und all unsere Bettdecken und Kissen aufs Fensterbrett legten, damit sie auslüften konnten. Nach diesem langen Winter.

Wir saßen gerade beim Abendbrot, als Onkel Carl hereinschneite. Das liebte er.

Onkel Carl. Unser einziger Onkel.

Er hatte so lange in Amerika gewohnt, dass wir ganz vergessen hatten, dass es ihn überhaupt gab. Dann war er zurückgekommen und wohnte seitdem in unserer Stadt, zusammen mit Linda. Die war viel jünger als er und hatte ihn geheiratet. Die beiden tanzten gerne im Regen. Sie fuhren ans Meer. Sie gingen andauernd ins Kino.

Wir fanden Onkel Carl sehr gut, so wie er war. Mit seinem dicken Bauch, der Kartoffelnase und der guten Laune.

Jetzt schneite er also herein. Vorsichtshalber überprüfte ich die Käse-Schinken-Gürkchen-Situation. Wenn Onkel Carl kam, musste man schnell sein, um noch was abzubekommen.

Diesmal allerdings stürzte er sich nicht wie sonst sofort aufs Essen. Diesmal kam er ins Wohnzimmer und nickte uns zu, freundlich und ein bisschen weggetreten. Dann schüttelte er ungläubig den Kopf, mit leuchtenden Augen.

„Carl“, sagte Papa, „was ist los?“

„Setz dich neben mich, Onkelchen“, sagte Katinka. „Dann kannst du meinen neuen Nagellack bewundern.“

Onkel Carl nickte ihr zu und setzte sich. Er guckte auf Katinkas Nagellack. Dann auf die Gürkchen und das andere Zeug.

„Ich hab heute keine einzige Flasche gefunden“, sagte Robbie. „Und keine einzige Dose!“

Onkel Carl sah ihn nur freundlich an, wie von sehr weit weg.

„Greif doch zu“, sagte Mama.

„Bon appeti“, sagte Katinka. Sie lernte jeden Tag französische Vokabeln, weil sie das schick fand und ein berühmtes Model in Paris werden wollte.

„Der gute alte Henry“, sagte Onkel Carl leise. „So was aber auch!“

Wir kapierten kein Wort. Und genau deshalb war es so spannend. Es sollte aber noch spannender werden.

„Welcher Henry?“, fragte Papa.

„Er wohnte in dem kleinen Haus nebenan“, sagte Onkel Carl wie zu sich selber. „Ganz allein. Er hatte niemanden. War aber okay für ihn. Er frühstückte immer in seinem schäbigen Hinterhof. Danach paffte er eine Zigarre und las Zeitung.“

„In Los Angeles, meinst du?“, fragte Mama.

Onkel Carl nickte. „Ich setzte mich manchmal zu ihm, um ein bisschen zu reden. Ich war oft einsam und brauchte Gesellschaft. Mit Henry konnte man sehr gut reden. Er konnte zuhören und sagte dann, was er dachte.“

„Und?“, fragte Papa.

„Dann wurde er krank. Er war schon um die achtzig. Hatte es mit dem Herzen, der gute Kerl. Und weil ich ihn mochte, hab ich mich um ihn gekümmert, auch als es immer schlimmer wurde. Er wollte ums Verrecken nicht ins Altersheim. Er wollte zu Hause sterben. Ich also immer bei ihm, manchmal auch in der Nacht. Hab ihn gepflegt, bis zum Schluss. Er hatte ja sonst niemanden.“

„Wie lieb von dir!“, sagte Mama.

„Och“, machte Onkel Carl. „War doch nix Besonderes.“

„Hast du ihn auch gewindelt?“, fragte Katinka. Johanna hatte ihr erzählt, dass ihre Oma dreimal am Tag frische Windeln brauchte.

„Yes“, sagte Onkel Carl. „Das auch.“

Wir spürten, da kam noch was.

„Ist ja schon ein bisschen her, dass er gestorben ist“, sagte er. „Kurz danach bin ich nach Deutschland, zu euch. Ich hab aber oft an ihn gedacht. Wir sind gute Freunde geworden, Henry und ich … Und da kommt gestern plötzlich dieser Brief, mit dieser Nachricht …“

„Was für eine Nachricht?“, fragte ich.

„Tja“, sagte Onkel Carl, „der alte Henry hat richtig viel Geld gehabt. Aber das wusste niemand. Das sah man ihm ja auch nicht an, so bescheiden, wie er lebte. Immer die alten Hosen und Hemden, das schrottige Auto …“

„Ich wär auch gerne reich“, rief Katinka. „Bei mir würde man das aber sehen!“

„Wenn ich reich wäre“, sagte Robbie, „würde ich trotzdem weiter Flaschen sammeln.“

Onkel Carl guckte aus dem Fenster, ins Dunkel, als wäre da was. Er schluckte. Dann hatte er plötzlich Tränen in den Augen. Bei Mama nervte mich das immer. Bei ihm wunderte es mich.

„Er hat mir alles vermacht“, sagte er leise.

Mama ließ ihr Brot fallen.

Papas Mund stand sperrangelweit auf, wie man so sagt.

„Was heißt denn ‚vermacht’?“, fragte Robbie.

„Das ist, wenn jemand tot ist und du dann dem sein Geld bekommst“, erklärte Katinka die Sache. „Das hab ich mal in einem Film gesehen, also, da ist eine alte Frau, die vermacht ihrem Pudel ihr ganzes Geld, und dann …“

„Ist doch jetzt egal“, sagte Mama schnell. Wenn Katinka anfing, Filme zu erzählen, wurde es höllekompliziert.

„Was macht denn der Pudel mit dem Geld?“, wollte Robbie wissen.

„Erzähl ich später“, sagte Katinka. „Gibst du mir was ab, Onkelchen?“

„Katinka!“, rief Mama böse. Ich merkte, sie fand es nicht gut, dass Onkel Carl das vor uns Kindern erzählt hatte. „Es ist schon spät“, sagte sie. „Habt ihr eure Hausaufgaben fertig?“

„Ich könnte nämlich wirklich ein bisschen Geld gebrauchen“, sagte Katinka.

„Bist du jetzt reich?“, fragte ich Onkel Carl.

„Ach, das spielt doch jetzt keine Rolle“, murmelte er. „Ich hab das auch nur erzählt, weil ich so aufgeregt bin. Da weiß ich manchmal nicht, was ich sage.“

„Macht doch nix“, sagte Papa. „Iss jetzt mal was, Carl. Das beruhigt.“

Onkel Carl machte sich sein Lieblings-Sandwich, mit allem drauf, was er fand.

Mama kontrollierte an diesem besonderen Abend doch tatsächlich unsere Hausaufgaben, nach dieser extrem interessanten Sensation! Wir brachten es hinter uns und verzogen uns dann schnell in unser Zimmer.

Es gab einiges zu bereden.

6 „Bestimmt ist Onkel Carl jetzt Millionär“, sagte Katinka und warf sich auf ihr Bett. „Oh là là! Da muss ich gleich mal nachsehen, was reich auf Französisch heißt …“

„Was heißt denn erdabgewandte Seite des Mondes?“, fragte Robbie. „Kannst du das auch mal nachsehen?“

Ich guckte ihn an.

„Das hab ich gelesen“, sagte er.

„Riesch!“, rief Katinka. „Onkel Carl ist riesch!“

„Er muss bestimmt nie mehr arbeiten“, sagte ich. „Nie mehr Post austragen.“

Sie kniete sich auf den Boden und machte Kopfstand. Aber auch jetzt plapperte sie weiter. „Der gibt uns garantiert was ab! Ich bin so aufgeregt!“

Ich war mir da nicht so sicher. Es war mir aber auch nicht besonders wichtig. Ein paar Euro mehr Taschengeld waren schon okay, sonst brauchte ich nicht viel. Ich hatte ja das Butterfly. Und Johanna.

Katinka fing sofort an, eine Liste zu machen mit all den Sachen, die sie sich unbedingt und sofort kaufen würde, wenn Onkel Carl ihr was abgab von seiner Million. Ein paar neue Kleider. Nagellack. Schuhe. Eine rosa Handtasche. Schmuck.

Robbie las in seinem Mondbuch.

Ich guckte Box-Videos.

Dann putzten wir uns die Zähne, Papa stand neben uns und kontrollierte, was das Zeug hielt.

Mama kam und las uns was vor. Alles war wie immer.

Trotzdem konnte ich nicht einschlafen, das ging mir oft so. Ich hörte Robbie leise schniefen. Katinka murmelte im Traum.

Onkel Carl war immer noch da. Ich war hellwach und schlich mich in den Flur, weil ich wissen wollte, was sie redeten.

„War das wirklich nötig?“, beschwerte sich Mama. „Das geht doch die Kinder nichts an.“

„Hast ja recht, Marlene“, sagte Onkel Carl. „Ist mir auch furchtbar peinlich …“

„Ein Bier, Carl?“, fragte Papa.

„Ja, gern.“

„Mann, so was aber auch! Ich freu mich für dich, Bruderherz! Was hast du jetzt vor?“

„Weiß noch nicht genau … Erst mal alles so weitermachen wie bisher. Läuft ja sehr gut, besonders mit Linda. Und dann mal sehen … Vielleicht ein neues Auto.“

„So ist es richtig“, sagte Mama. „Nur nichts überstürzen! Es gibt eine Menge Leute, die plötzlich reich geworden sind, und zwei Jahre später waren sie pleite.“

„Eins will ich aber unbedingt“, sagte Onkel Carl. „Das ist dermaßen viel Kohle, so viel braucht kein normaler Mensch. Ihr sollt auch was haben davon.“

„Quatsch!“, sagte Papa sofort.

„Kommt nicht in Frage!“, sagte Mama. „Das gehört dir.