Das Ende - Steve Alten - E-Book

Das Ende E-Book

Steve Alten

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Beschreibung

Das Ende aller Tage ist gekommen...

666 Jahre nachdem die Pest Europa heimsuchte und die Hälfte der Weltbevölkerung dahinraffte, ist der Schwarze Tod zurückgekehrt. Mitten in Manhattan setzt eine religiöse Fanatikerin die Seuche in Form einer Biowaffe erneut frei. Die Stadt wird hermetisch abgeriegelt und versinkt im Chaos. Nur eine Handvoll Überlebender vermag die Zeichen des Untergangs richtig zu deuten, unter ihnen der Kriegsveteran Patrick Sheperd, der seine Familie inmitten des Chaos verzweifelt sucht. Wird ihnen die Flucht gelingen?

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Seitenzahl: 751

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DAS BUCH

Vor 666 Jahren suchte der Schwarze Tod Europa heim. Jetzt ist die Pest, die einst die Hälfte der Weltbevölkerung dahinraffte, zurück. Als gentechnisch veränderte Biowaffe wird sie von einer religiösen Fanatikerin im Herzen Manhattans freigesetzt. Es scheint unmöglich, die Seuche aufzuhalten, und so wird die Millionenstadt hermetisch abgeriegelt und unter Quarantäne gestellt. Der traumatisierte Kriegsveteran Patrick Shepherd, der im Irak seinen Arm verloren hat, befindet sich gerade in einem Krankenhaus in Manhattan, als das Chaos ausbricht. Auf der Suche nach seiner Familie begibt er sich auf eine Odyssee durch die von Gewalt und Tod heimgesuchte Metropole. Während seiner Reise kann er nicht nur neue Verbündete gewinnen, sondern muss sich auch seinen persönlichen Dämonen stellen.

DER AUTOR

Steve Alten wurde in Philadelphia geboren. Der Sportmediziner und Hobby-Paläontologe wurde mit seinem Debütroman Meg – Die Angst aus der Tiefe praktisch über Nacht zum Bestsellerautor. Steve Alten lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Boca Raton, Florida.

Besuchen Sie auch seine Website unter www.stevealten.com

LIEFERBARE TITEL

2012 – Schatten der Verdammnis2012 – Die Rückkehr2012 – Die Prophezeiung

Inhaltsverzeichnis

DAS BUCHDER AUTORLIEFERBARE TITELVORBEMERKUNG DES AUTORSInschriftPROLOGTEIL 1 - DUNKELHEIT
JULIAUGUSTSEPTEMBEROKTOBERNOVEMBERDEZEMBER
TEIL 2 - DAS ENDE DER TAGE
BIOLOGISCHE KRIEGSFÜHRUNG, PHASE I - INSEMINATIONBIOLOGISCHE KRIEGSFÜHRUNG, PHASE II - EPIZOOTISCHE VERSEUCHUNGBIOLOGISCHE KRIEGSFÜHRUNG, PHASE III - AUSBREITUNG VON MENSCH ZU MENSCH
20. DEZEMBER
BIOLOGISCHE KRIEGSFUHRUNG, PHASE IV - GESELLSCHAFTLICHE LÄHMUNG
20. DEZEMBER
BIOLOGISCHE KRIEGSFÜHRUNG, PHASE V - GESELLSCHAFTLICHER ZUSAMMENBRUCH
20. DEZEMBER
BIOLOGISCHE KRIEGSFÜHRUNG, PHASE VI - S.I.T. (SÄTTIGUNG - ISOLATION - TOD)
20. DEZEMBER
TEIL 3 - DER HÖLLENBERG
ERSTER HÖLLENKREIS - DER LIMBUS
20. DEZEMBER
ZWEITER HÖLLENKREIS - DIE WOLLÜSTIGEN
20. DEZEMBER
DRITTER HÖLLENKREIS - DIE UNERSÄTTLICHEN
20. DEZEMBER
VIERTER HÖLLENKREIS - GEIZIGE UND VERSCHWENDER
2 0 . DEZEMBER
FÜNFTER HÖLLENKREIS - DIE JÄHZORNIGEN
21. DEZEMBER
TEIL 4 - DIE HÖLLENGRUBE
SECHSTER HÖLLENKREIS - DIE KETZER
21. DEZEMBER
SIEBTER HÖLLENKREIS - DIE GEWALTTÄTIGEN
21. DEZEMBER
ACHTER HÖLLENKREIS - BETRÜGER UND FÄLSCHER
21. DEZEMBER
NEUNTER HÖLLENKREIS VERRÄTER
21. DEZEMBER
TEIL 5 - VERWANDLUNG
DAS ENDE DES TAGES
21. DEZEMBER
EPILOG
6. AUGUST
ABSCHLIESSENDE GEDANKENDANKSAGUNGSONGTEXTNACHWEISECopyright

Meinen Lehrern, in Liebe:Eliyahu Jian, Yaacov Bourla&Chaim Solomon

VORBEMERKUNG DES AUTORS

Am 5. Mai 2009, etwa gegen 20:15 Uhr an einem Dienstagabend, hing ich auf der Couch herum, wo ich mich von einem ganzen Tag Schreibarbeit an Das Ende erholte und für eine mitternächtliche Textredaktion ausruhte. Mein sechsjähriger Sohn schlief in meinem Bett; meine fünfzehnjährige Tochter erhielt im Haus eines Nachbarn Nachhilfeunterricht.

Ich hatte seit zwei langen Jahren an dem Roman gearbeitet, den Sie nun in Händen halten, und dabei umfangreiche Recherchen angestellt, in deren Verlauf ich mir schließlich einen neu entdeckten Sinn für Spiritualität zu eigen machte. Angesichts des Umstands, dass ich aller Voraussicht nach in zwei Wochen mit dem Schreiben fertig würde, verspürte ich eine freudige Erregung; ich befand mich in der Zielgeraden eines Buches, von dessen Botschaft ich aufrichtig überzeugt war, dass sie das Leben meiner Leser verändern könnte.

Was ich unmöglich wissen konnte, war, dass binnen weniger Minuten die Realität hereinbrechen und mich genau jener Geschichte gefährlich nahebringen würde, die ich gerade schrieb.

Weniger als zehn Kilometer entfernt hatte meine Ehefrau und Seelengefährtin soeben einen an einer Geschäftsstraße in der Nähe unserer Wohnung gelegenen Naturkostladen betreten. Während sie mit einer Verkäuferin sprach, betraten zwei bewaffnete Männer, die Kapuzen und Skimasken trugen, den Laden. Einer der Männer zielte mit seiner Waffe auf den Kopf meiner Frau.

Jeden Tag stoßen guten Menschen schlimme Dinge zu. Familien widerfahren Tragödien. Wir suchen nach einem Sinn, zweifeln an Gott. Unser Glaube wird auf die Probe gestellt. Zwei Jahre zuvor, ich war siebenundvierzig Jahre alt, hatte man bei mir Parkinson diagnostiziert. Die Krankheit lag nicht in der Familie. Ich habe nie Gott die Schuld gegeben; ich dankte Ihm einfach, dass er mir nicht etwas viel Schlimmeres zugedacht hatte. Es gibt so viele Menschen auf dieser Welt, die leiden – wie könnte ich mich jemals selbst bemitleiden?

Während ich an jenem Abend auf der Couch saß und über das Schicksal meines Helden nachdachte, wurde meine Frau, an Armen und Beinen mit Klebeband gefesselt, als Geisel festgehalten, während zwei Männer eine böse Tat begingen, die das Leben meiner Frau in ihre Hände legte. Nachdem sie ihre Geldbörse, ihren Schmuck und den Inhalt des Ladensafes gestohlen hatten, zogen die Räuber ab. Die Polizei traf ein. Hysterisch schluchzend, rief meine Frau mich an. Zum Glück war niemand verletzt worden.

Es war eine schlimme Nacht, aber natürlich hätte es viel schlimmer ausgehen können.

In diesem Buch geht es um Gut und Böse, um die Entscheidungen, die wir treffen, und darum, warum wir hier sind. Dieses Buch schöpft Weisheit aus einem zweitausend Jahre alten Text, der das Alte Testament buchstäblich entschlüsselt und dabei ohne die Last des religiösen Dogmas wissenschaftliche Erklärungen über Sein und Spiritualität liefert. Meine Frau hatte mich ein Jahr zuvor in diese Studien einbezogen, woraufhin ich zu meiner eigenen spirituellen Reise aufbrach. Die Informationen, die ich aus Büchern und Vorträgen erfuhr, lieferten Antworten auf Fragen über Leben und Tod, die ebenso schlicht wie verblüffend waren, doch so eindeutig, dass ich instinktiv wusste, dass sie stimmten. Außerdem wurde mir klar, dass Das Ende weit mehr sein sollte als bloß ein Thriller. Und dennoch würden Sie, hätten die Ereignisse jenes schicksalhaften Dienstagabends eine andere Wendung genommen, jetzt vielleicht nicht dieses Buch lesen.

Ich würde gerne anders darüber denken. Ich wäre mir gerne dessen gewiss, dass mein Glaube unerschütterlich geblieben wäre, hätte man meine Frau ermordet, und dass ich dieses Buch eines Tages so beendet hätte, wie ich es geplant hatte. Andererseits hätte es ebenso gut sein können, dass ich zornig geworden wäre und das Manuskript in einem Wutanfall angezündet hätte, weil ich aus meinen Studien oder der Reise meines eigenen Helden durch die Hölle nichts gelernt hatte.

Zum Glück überstand meine Frau die Sache unbeschadet, und mir blieb die Prüfung tiefer Trauer erspart. Nach einer kurzen Unterbrechung wurde Das Ende fertiggestellt – nachdem meine eigene spirituelle Reise ein neues Ziel bekommen hatte.

Wie soll ich die Ereignisse des 5. Mai 2009 deuten? Hat Gott eingegriffen? Hat der Glaube meiner Frau dafür gesorgt, dass ihr nichts passierte? Hatten wir einfach nur Glück? Sollte der Vorfall eine Belohnung oder eine Strafe für irgendeine vergangene Tat sein? Ich habe gelernt, dass die Unübersichtlichkeit von Ursache und Wirkung beabsichtigt ist, um den freien Willen zu gewährleisten; andernfalls wären wir alle Tiere, die zum Vergnügen ihres Herrn und Meisters da sind.

Aber wer weiß – vielleicht wird der Mann, der meiner Seelengefährtin eine Waffe an den Kopf hielt, eines Tages diesen Roman zur Hand nehmen und das spirituelle Rüstzeug erwerben, das er braucht, um sein eigenes Leben von Grund auf zu verändern.

Das wäre schön.

So oder so bin ich dankbar dafür, dass Sie dieses Buch lesen. Ich hoffe von Herzen, dass es Licht und Verständnis in Ihr Leben bringt, so wie die Arbeit daran Licht und Verständnis in mein Leben gebracht hat.

STEVE ALTEN

»Aber die Erde war verderbt vor Gottes Augen und vollerFrevel. Da sah Gott auf die Erde, und siehe, sie war verderbt;denn alles Fleisch hatte seinen Weg verderbt auf Erden.Da sprach Gott zu Noah: Das Ende alles Fleisches ist beimir beschlossen, denn die Erde ist voller Frevel von ihnen;und siehe, ich will sie verderben mit der Erde.«

1. MOSE 6, 11 – 13 (Genesis)

»Und er: ›So ist das klägliche Gebarender armen Seelen, die ihr Leben langsich weder Ruhm noch Schmach verdienen konnten.Sie sind den faulen Engelscharen beigemischt,die gegen Gott sich nicht empörten,noch treu ihm waren, sondern nur für sich. (…)‹«

DANTE ALIGHIERI, Die Göttliche Komödie,»Hölle«, Dritter Gesang

»Die heißesten Orte der Hölle sind jenen vorbehalten, die inZeiten großen sittlichen Notstands neutral bleiben.«

JOHN F. KENNEDY

PROLOG

Mesopotamien

Sein linker Arm hatte wehgetan, seit er aufgewacht war. Anfangs war es ein dumpfer Schmerz gewesen, entstanden tief im Innern der Schulter, auf der er gewohnheitsmäßig jede Nacht schlief, während er mit dem rechten Arm zärtlich sein Weib zu halten pflegte. Aber als er seine Handflächen gegen die dicke Wand aus Zedernholz in den Eingeweiden einer schwankenden Dunkelheit presste, begann sein linker Bizeps zu pochen.

Der mürrische alte Mann ignorierte es; ohnehin ignorierte er die meisten Dinge. Es war leichter mit zunehmendem Alter. Nicht so in der Jugend. Sein Stolz hatte sich über die Unvernunft der Massen ereifert; je deutlicher er seine Meinung vertreten hatte, desto mehr war er geschlagen worden. Trotzdem gab es Schlimmeres als körperlichen Schmerz. Worte verletzen schwerer als jede Wunde.

Die Stimme hatte ihm ein Zeichen gegeben in seiner Not. Sie hatte ihm eine Seelengefährtin versprochen. Kinder. Ein Bund wurde geschlossen. Der Ausgestoßene war nicht mehr einsam.

Umgeben von Dunkelheit und Bösem, war der rechtschaffene Mann dem nahrhaften Licht treu geblieben. Als der Makel der Verderbtheit sich ausbreitete, brachte er seine Familie in die Wildnis. Aber die Stimme wurde des Frevels und der sexuellen Sittenverstöße überdrüssig. Und als die Stimme ihm von seiner Aufgabe erzählte, verpflichtete er sich selbst und seine Söhne ohne Frage.

Er konnte die Stimme niemals ignorieren.

Aber als aus den Jahren Jahrzehnte wurden und die Verachtung der Männer von Ansehen sich gegen seinen Haushalt verschwor, schwand die Gewissheit des Mannes, nicht weil er der Stimme nicht vertraute, sondern weil er allmählich die Verunreinigten verachtete, deren vom Ego gesteuerte Sünden den Lauf seines eigenen Lebens so deutlich verändert hatten und das Ende der Tage prognostizierten.

Zeit und Aufgabe raubten seine Jugend. Seine Söhne mühten sich gemeinsam mit ihm ab, heirateten und gründeten ihre eigenen Familien. Er schuftete weiter, verzichtete auf Bequemlichkeit zugunsten von Aufopferung. In der Mitte seiner Jahre war er aufs Äußerste erschöpft. Als das Alter sich in seinen Knochen einnistete, schwand die Erinnerung an seinen Bund, und seine Geduld mit der Stimme verfinsterte sich allmählich zu Duldung und gelegentlich zu Groll. Was er nie begriff, war, dass er auf die Probe gestellt wurde, dass sein fehlendes Mitgefühl für die Gottlosen seine eigene Seele befleckt hatte und damit das Schicksal seiner Feinde für immer besiegelte – und sein eigenes.

Es begann in der Trübheit eines wolkenverhangenen Wintermorgens. Eisiger Regen. Unablässig. Nach zwei Tagen traten die Flüsse über die Ufer. Nach vierzehn Tagen versank das Tal.

Die Sintflut machte Diener aus den Reichen und Rettungsanker aus ihrem Gold. Die unvermittelt Obdachlosen flüchteten auf höheres Gelände. Sie begehrten Zutritt zu seinem Schiff, aber der alte Mann sagte Nein. Als die Tage vergingen, boten sie an, ihren unrechtmäßig erworbenen Reichtum zu teilen. Als das Meer bis zum Horizont anstieg, baten sie flehentlich.

Der alte Mann weigerte sich noch immer. Nach einem Leben der Demütigung und des Leidens war es zu spät für irgendeine Versöhnung.

Sie bedrohten seine Zuflucht mit Feuer, womit sie ihr eigenes Schicksal besiegelten. Die Bergflanke brach auf. Das flüssige Erdreich brachte die Wassermassen zum Kochen. In der Dunkelheit seines Schiffes lauschte er auf die gequälten Schreie der Verdammten … Seine Befriedigung wurde überwältigt von Schuldbewusstsein. Unter der Last seiner Bürde erkor er sich selbst zum eigentlichen Opfer aus; auf diese Weise befreite er sich innerlich von jeder Verantwortlichkeit im Zusammenhang mit dem Chaos und ignorierte dadurch seine eigene Untätigkeit und jede grundlegende Veränderung, die er vielleicht hätte verkraften müssen.

Zeit verging. Die Erde wurde getauft. Er verbrachte seine Tage im Gebet. Versorgte das Vieh. Seine Seele blieb ruhelos und befleckt.

Die Kerze flackerte, als sie sich näherte, wobei ihr Licht teilweise von dem durch die Luft wirbelnden Staub verhüllt wurde. Das Gesicht seiner Seelengefährtin erschien, und ihr Tonfall war scheltend. »Und warum versteckt sich mein Gemahl in den Ställen?«

Er bemühte sich, das brennende Gefühl zu ignorieren, das von seinem linken Unterarm bis in seine Finger ausstrahlte. »Senke deine Stimme – er könnte dich hören.«

»Wer könnte mich hören? Der Gesegnete?«

»Der Todesengel. Komm näher … Pass auf die Flamme auf! Drücke dein Ohr an das Zedernholz, dann sage mir, ob er nahe ist.«

Ängstlich, aber neugierig kniete sie sich neben die Wand und horchte.

Das Mitteldeck befand sich auf Wasserhöhe, der Kahn rollte sanft unter ihnen, und sie konnte hören, wie die See gegen den knarrenden Rumpf schlug. Sie wartete einen langen Moment, während die Hitze im Innern des stickigen Geheges sie ins Schwitzen brachte.

Und dann spürte sie es – die Anwesenheit von etwas Kaltem, das ihr in die gebrechlichen Knochen drang und die Wärme verdrängte. Die Tiere spürten es auch. Die Pferde wurden unruhig. Das Vieh drängte sich in einem angrenzenden Pferch zusammen.

Dann – noch furchteinflößender – ein schwaches kratzendes Geräusch, als die Metallsense des überirdischen Wesens das Holz prüfte.

Entnervt sprang die alte Frau auf die Füße, wobei sie die Kerze fallen ließ. Flamme traf Heu, die Feuersbrunst stieg aus den Funken auf wie ein höllischer Dämon.

Sich seines Gewands entledigend, versuchte der alte Mann, das Untier zu ersticken, bewirkte durch seine müden Versuche aber lediglich, dass es sich vervielfachte.

Sein Weib, das die Fassung wiedergewann, eilte zu einem Trog, tauchte einen Tontopf in das Wasser und ersäufte den Brand. Dampf stieg aus der Asche auf und verteilte sich im ganzen Laderaum. Holzrauch lastete schwer in der Luft.

Die ältliche Frau umarmte in der Dunkelheit ihren nackten Gemahl, und ihrer beider Puls schlug im Gleichtakt. »Warum stellt der Tod uns nach?«

»Der Blutdruck sinkt, sechzig zu vierzig. Beeil dich mit dieser Brachialarterie. Ich muss Dobutrex verabreichen, ehe wir ihn noch verlieren.«

Der alte Mann brabbelte, verwirrt von den fremden Stimmen, die sich plötzlich seinen Kopf teilten.

Sein Eheweib packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn zurück in den Augenblick. »Warum stellt der Tod uns nach?«

Er schob ihre Hand von seiner pochenden linken Schulter, der Schmerz nahm an Heftigkeit zu. »Die Negativität des Menschen hat den Engel der Finsternis auf den Plan gerufen … Er sucht die Erde hemmungslos heim. Fürchte dich nicht, denn solange wir den Blicken entzogen bleiben, kann er uns nichts anhaben.«

»Dein Arm – stimmt etwas nicht?«

»Sind Sie sicher, dass das eine selbst gebastelte Bombe war? Sehen Sie sich die Haut an, die unter den Resten seines Ellenbogens hängt; das Fleisch hat sich aufgelöst.«

Der alte Mann wich von seinem Weib zurück und stöhnte, sein linker Arm strahlte plötzlich vor sengender Hitze.

»Die Arterie ist geschlossen, fangt mit dem Dobutrex an. Okay, wo ist die verdammte Knochensäge?«

»Ich glaube, Rosen hat sie benutzt, um sein Bruststück zu tranchieren.«

»Was ist denn?«

Er schreit auf vor Schmerz, das Blut schießt ihm aus seinem wettergegerbten Gesicht. »Das Fleisch – es tropft vom Knochen!«

»Wie ist sein Blutdruck?«

»Neunzig zu sechzig.«

»Hast du dir den Arm in dem Feuer verbrannt?«

»Nein. Er fing an wehzutun, bevor die Hähne aufstanden, um gegen den Tag zu wettern.«

»Sag mir, was ich tun soll. Wie kann ich dir helfen?«

»Hol mir ein Schneidewerkzeug.«

»Du machst mir Angst. Lass mich unseren Sohn suchen …«

»Keine Zeit … Ahh!«

»Geben wir ihm noch eine Einheit Blut, bevor wir den Arm abnehmen. Schwester, seien Sie so gut und halten Sie dieses Röntgenbild hoch. Ich will gleich hier amputieren, direkt unterhalb der Insertion an der Bizepssehne.«

Der mürrische alte Mann brach zusammen. Sein Weib kniete sich in der schwankenden Dunkelheit neben ihn, die kratzenden Geräusche wurden lauter. »Sprich mit mir! Bitte, mein Lieber … Wach auf!«

»Doktor, er ist wach.«

Als der Soldat die Augen öffnete, sah er helle Lichter und maskierte, in Operationskittel gehüllte Fremde. Der Schmerz war kaum auszuhalten, sein linker Arm übel zugerichtetes Fleisch; die Qualen wetteiferten mit den pochenden Schmerzen in seinem lädierten Schädel.

Das Betäubungsmittel umspülte kühl seine Nervenenden. Die Panik erstickte, er schloss die Augen und sank in Schlaf.

Vom anderen Ende des Bagdader Operationssaals starrte der Sensenmann den verschmutzten amerikanischen Soldaten an wie ein alter Freund – und wartete.

TEIL 1

DUNKELHEIT

»Das Böse existiert nicht (…). Oder wenigstens nicht aussich selbst. Das Böse ist schlicht die Abwesenheit Gottes, ist (…)ein Begriff, den der Mensch erfunden hat, um diese AbwesenheitGottes zu beschreiben. Gott hat nicht das Böse geschaffen.Es verhält sich damit nicht wie mit dem Glauben oder der Liebe,die existieren wie die Wärme oder das Licht. Das Böse istdas Ergebnis dessen, dass der Mensch Gott nicht in seinemHerzen gegenwärtig hat. So wie er es kalt empfindet, wennWärme fehlt, oder dunkel, wenn kein Licht da ist.«

ALBERT EINSTEIN

JULI

Fort Detrick, Frederick, Maryland7:12 Uhr

Irgendwo in der Sackgasse wird die Trübheit des Morgens durch die Hydraulik eines Müllwagens entweiht. Ein Hund antwortet auf den Lärm von einer rundum verglasten Veranda aus. Ein Schulbus, der Camper zur örtlichen Jugendherberge befördert, passiert mit rülpsendem Auspuff die Ringstraße.

In dem Haus ohne Kinder am Ende des Blocks schnarcht die Frau mit den kandisapfelroten Haaren leise in ein Daunenkissen. Ihr Unterbewusstsein lehnt es ab, sich von dem erwachenden Viertel stören zu lassen. Ihre Blase kribbelt, trotzdem schläft sie noch eine Weile.

Mary Klipot klammert sich an den Traum, wie ein Nichtschwimmer sich in stürmischer See an ein gekentertes Boot klammert.

In ihrem Traum ist die Leere verschwunden. In ihrem Traum ist ihr Vater kein namenloser Kerl, und ihre drogensüchtige Mutter bereut, dass sie ihr Kind ausgesetzt hat. In ihrem Traum gibt es ein Zuhause und ein warmes Bett. Kekse mit Schokoladensplittern und Gutenachtküsse, die nicht nach Tabak schmecken. Die Luft ist süß wie Flieder, und die Wände sind von einem heiteren Weiß. Es gibt private Toiletten und Duschen und Lehrerinnen, die keine Nonnen sind. Es gibt keinen schallisolierten Raum an Mittwoch- und Samstagvormittagen, keine Lederriemen und Weihwasserspritzer und ganz bestimmt keinen Pater Santaromita.

In ihrem Traum ist Mary nicht außergewöhnlich.

Die außergewöhnliche Mary. Die Waise mit dem hohen IQ. Intelligent, aber gefährlich. Satan ist die winzige Stimme in deinem Kopf, die sagt: Zünde die Katze an, es wird Spaß machen. Spring vom Fenstersims, du kannst überleben. Gott ist abwesend in diesen Momenten. Der Arzt mit dem kalten Stethoskop gibt dem Ganzen einen Namen – Schläfenlappenepilepsie – und bietet ihr ein Medikament an.

Pater Santaromita weiß es besser. Die wöchentlichen Exorzismen dauern bis zu ihrem achten Geburtstag.

Sie nimmt die Medikamente. Der im Zaum gehaltene IQ macht sich bezahlt. Auszeichnungen der Konfessionsschule. Ein Hochschul-Stipendium. Abschlüsse in Mikrobiologie von der Emory und der Johns Hopkins. Die Zukunft sieht golden aus.

Natürlich gibt es »andere« Herausforderungen. Partys und gemischte Schulen. Bier und Drogen. Die introvertierte Rothaarige mit den harten haselnussbraunen Augen mag nuttig süß aussehen, aber sie macht nicht die Beine breit. Die außergewöhnliche Mary wird als Jungfrau Maria stigmatisiert. Die Keuschheit stempelt sie als Ausgestoßene ab. Komm schon, Mary. Nur die Guten sterben jung. Mary stirbt hundert Tode. Sie arbeitet in zwei Jobs, damit sie sich ihre eigene Wohnung leisten kann.

Absonderung ist einfacher.

Glatte Einsen öffnen Türen, die Arbeit im Labor bietet Rettung. Mary hat Talent. Das Verteidigungsministerium arrangiert ein Gespräch. Fort Detrick braucht sie. Gute Bezahlung und staatliche Vergünstigungen. Die Forschungsarbeit ist anspruchsvoll. Nach ein paar Jahren wird sie einem Sicherheitslabor der Stufe 4 zugewiesen, wo sie mit einigen der gefährlichsten biologischen Substanzen auf dem Planeten arbeiten kann.

Die kleine Stimme ist einverstanden. Mary nimmt die Stelle an. Der Beruf wird ein Leben bestimmen, das kaum gelebt wird.

Mit der Zeit ändern sich die Träume.

Der Fund war in Montpellier zutage gefördert worden. Das für die Ausgrabung verantwortliche archäologische Team musste einen Mikrobiologen hinzuziehen, der Erfahrung in der Arbeit mit exotischen Wirkstoffen hatte.

Montpellier liegt zehn Kilometer vom Mittelmeer entfernt. Es ist eine von Geschichte und Tradition durchdrungene Stadt, die einst von einem Albtraum heimgesucht worden war, unter dem der gesamte eurasische Kontinent zu leiden hatte.

Die archäologische Ausgrabung war ein Massengrab – eine Gemeinschaftsgrube, die auf das Jahr 1348 zurückging. Sechseinhalb Jahrhunderte hatten Organe und Fleisch entfernt und ein Durcheinander von Knochen zurückgelassen. Dreitausend Männer, Frauen und Kinder. Die Leichen waren hastig entsorgt worden von den Angehörigen, deren entsetzliche Angst größer war als ihre Trauer.

Die Pest: der Schwarze Tod.

Das Große Sterben.

Dreihundert Menschen pro Tag waren in London umgekommen. Sechshundert in Venedig. Die Pest hatte Montpellier verwüstet und neunzig Prozent der Stadtbewohner hinweggerafft. In nur wenigen Jahren hatte der Schwarze Tod die Bevölkerung des Kontinents von achtzig Millionen auf dreißig Millionen dezimiert – und das alles in einer Epoche, deren Fortbewegungsmittel sich auf Pferde und die eigenen Beine beschränkten.

Wie hatte die Seuche so effektiv töten können? Wie hatte sie sich so schnell ausgebreitet?

Die Grabung wurde von Didier Raoult geleitet, einem Medizinprofessor an der Universität des Mittelmeers in Marseille. Raoult fand heraus, dass das Zahnmark, das im Innern der Überreste von Zähnen der Pestopfer gefunden worden war, DNS-Spuren enthielt, anhand derer man das Rätsel endlich lösen konnte.

Mary machte sich an die Arbeit. Der Übeltäter hieß Yersinia pestis – Beulenpest. Eine Seuche direkt aus der Hölle. Extreme Schmerzen. Hohes Fieber, Schüttelfrost und Beulen. Die schließlich anschwollen – zu schwarzen, golfballgroßen Vorwölbungen, die am Hals und in der Leistengegend der Opfer auftraten. Zu gegebener Zeit versagten die inneren Organe, die oftmals ausbluteten.

Ein Kinderlied aus dem 14. Jahrhundert lieferte anschauliche Hinweise darauf, wie rasch der Schwarze Tod sich ausgebreitet hatte: Ring around the rosie, a pocket full of posies, at-shoo, at-shoo, we all fall down. Ein Nieser, und die Seuche infizierte einen Haushalt, schließlich das ganze Dorf, und löschte ihre ahnungslosen Opfer binnen Tagen aus.

Beeindruckt von ihrer Arbeit, überreichte Didier Raoult Mary ein Abschiedsgeschenk – ein Exemplar eines kürzlich entdeckten unveröffentlichten Berichts, verfasst während der Großen Pest vom Leibarzt des Papstes, Guy de Chauliac. Aus dem französischen Original übersetzt, schilderte das Tagebuch ausführlich, wie das Große Sterben während der Jahre 1346 bis einschließlich 1348 die menschliche Spezies beinahe vollständig ausgerottet hätte.

Mit Chauliacs Tagebuch und Proben des 666 Jahre alten Killers kehrte Mary nach Fort Detrick zurück. Das Verteidigungsministerium war fasziniert. Die Behörde behauptete, man wolle Schutzmaßnahmen für amerikanische Soldaten im Falle eines biologischen Angriffs erforschen. Die einunddreißigjährige Mary Louise Klipot wurde befördert und zur Leiterin des neuen Projekts ernannt, das Scythe – die Sense – getauft wurde.

Noch vor Ablauf eines Jahres übernahm die CIA die Finanzierung, und Scythe verschwand aus den Büchern.

Mary wird wach, bevor der Wecker klingelt. Ihr Bauch gluckert. Ihr Blutdruck sinkt. Sie schafft es gerade noch rechtzeitig auf die Toilette.

Mary ist seit einer Woche krank. Andrew hat ihr versichert, es sei bloß eine Grippe. Andrew Bradosky war ihr Labortechniker. Neununddreißig Jahre alt. Von jungenhaftem Charme und gut aussehend. Sie hatte ihn aus einem Pool von Mitarbeitern ausgewählt, nicht weil er besonders qualifiziert war, sondern weil sie ihn einschätzen konnte. Selbst seine Versuche, eine soziale Beziehung außerhalb des Labors aufzubauen, zielten auf eine Beförderung ab. Die Reise nach Cancún im letzten April war eine willkommene Zerstreuung gewesen, wenn auch erst, nachdem er ihre Enthaltsamkeitsregeln anerkannt hatte. Mary sparte sich für die Ehe auf. Andrew hatte kein Interesse an der Ehe, aber eine Augenweide war er schon.

Mary zieht sich rasch an. Die Arztkittel vereinfachten die Wahl ihrer Garderobe. In Räumlichkeiten der Biosicherheitsstufe 4 und in dem Schutzanzug, den sie stundenlang trug, war locker sitzende Kleidung die bessere Wahl.

Ihr verstimmter Magen vertrug nichts anderes als Toast und Marmelade. Sie würde heute Vormittag den Betriebsarzt aufsuchen. Nicht dass sie hingehen wollte. Aber sie war krank, und die übliche Vorgehensweise bei der Arbeit mit exotischen Wirkstoffen verlangte Routinekontrollen. Als sie zur Arbeit fuhr, versicherte sie sich selbst, dass es bloß eine Grippe sei. Andrew könnte recht haben. Selbst eine kaputte Uhr geht zweimal am Tag richtig.

Sie hasste Warten.Warum wurden Patienten immer in sterile Untersuchungszimmer mit papierüberzogenen Polstertischen und alten Golf-Digest-Ausgaben verbannt? Und diese Untersuchungskittel … Hatte sie jemals einen getragen, der tatsächlich passte? Musste sie daran erinnert werden, dass sie abnehmen musste? Sie gelobte, nach Feierabend ins Fitnessstudio zu gehen, verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Sie hatte viel zu viel zu tun, und Andrew war bei seinen Arbeiten wie immer im Rückstand. Sie überlegte, einen neuen Techniker hinzuzuziehen, sorgte sich aber darum, wie Andrew das aufnehmen würde.

Die Tür ging auf, und Roy Katzin trat ein. Die Miene des Arztes war zu fröhlich, um eine schlechte Nachricht zu verbergen. »Also. Wir haben mit den raffiniertesten Apparaten, die man mit Steuergeldern kaufen kann, alle nur möglichen Tests durchgeführt, und wir meinen, die Ursache für Ihre Symptome konkretisiert zu haben.«

»Ich weiß schon, es ist die Grippe. Dr. Gagnon hatte sie vor ein paar Wochen und …«

»Mary, es ist keine Grippe. Sie sind schwanger.«

»Alle Schwäche entspringt der Wut.«

ELIYAHU JIAN

AUGUST

Manhattan, New York

Die Uhr im Armaturenbrett war in der kurzen Zeit, die die dunkle Brünette am Steuer des Dodge Minivan gebraucht hatte, um sich auf dem Major Deegan Expressway Richtung Süden einen Weg durch das Minenfeld des fließenden Verkehrs zu bahnen, irgendwie von 7:56 auf 8:03 Uhr vorgesprungen.

Nunmehr offiziell verspätet, gelang es ihr, sich auf die rechte Spur zu zwängen, hinter das Kohlenmonoxid speiende Hinterteil eines Greyhound-Busses. Die Götter der Rushhour verspotteten sie, indem ein Fahrzeug nach dem anderen sie links überholte. Sie besann sich auf das Einzige, was sie noch tun konnte, und schlug mit beiden Händen aufs Lenkrad; der lange Hupton sollte die vor ihr grasende stählerne Kuh aus der Fassung bringen.

Stattdessen verwandelte sich die Warteschleifenmusik in ihrem Freisprechhandy in eine Zenartige männliche Stimme mit einem rhythmisch-sanften Hindu-Akzent, die sie mit »Guten Morgen. Danke, dass Sie drangeblieben sind. Darf ich fragen, mit wem ich spreche?« begrüßte.

»Leigh Nelson.«

»Danke, Mrs. Nelson. Dürfte ich aus Sicherheitsgründen den Mädchennamen Ihrer Mutter erfahren?«

»Deem.«

8:06 Uhr

»Danke für diese Information. Und wie kann ich Ihnen heute helfen?«

»Wie Sie mir helfen können? Ihre verdammte Bank hat die letzte Einzahlung meines verdammten Ehemanns gesperrt, wodurch acht von meinen verdammten Schecks geplatzt sind, für die Sie mir dann 35 Dollar pro Scheck in Rechnung gestellt haben, sodass mein Konto gewaltig überzogen wurde, und ich flippe gleich aus!«

»Tut mir leid, dass das passiert ist.«

»Nein, tut es Ihnen nicht.«

8:11 Uhr

»Ich sehe, dass der Scheck Ihres Mannes am 4. eingereicht wurde.«

Sie schiebt sich langsam nach rechts auf den Seitenstreifen und kann jetzt an dem rußfleckigen Greyhound-Bus vorbeisehen. Die Ausfahrt FDR South ist nur noch gut hundert Meter entfernt, und das Einzige, was ihr eingekeiltes Fahrzeug von der erlösenden Freiheit trennt, ist der Pannenstreifen. Sie sinnt über die Gelegenheit nach wie Cool Hand Luke in Der Unbeugsame, der in einer Sträflingskolonne arbeitet.

Ich schüttle ihn ja, Boss.

Sie beschleunigt durch die Lücke, nur um von einem schwarzen Lexus geschnitten zu werden, dessen Fahrer die gleiche Idee hatte. Bremsen! Hupe! Mittelfinger!

»Der Scheck wird am Dienstag freigegeben.«

»Dienstag ist zu spät. Seit wann wird eine Einzahlung von General Motors eine Woche gesperrt?«

»Tut mir leid wegen der Unannehmlichkeiten. Leider ist das eine neue Bankrichtlinie bei allen Schecks aus einem anderen Bundesstaat.«

»Hören Sie zu. Mein Mann hat gerade seinen Job verloren, und die nächsten vier Wochen wird er kein Arbeitslosengeld bekommen. Erstatten Sie wenigstens die Gebühren für die geplatzten Schecks zurück.«

»Noch einmal, tut mir leid, aber ich kann die Bankrichtlinie nicht ändern.«

Was ihm fehlt, ist für mich ganz eindeutig. Dieser Mensch ist ohne jedes Vertrauen.

»Mir tut’s auch leid. Tut mir leid, dass die Regierung euch mit 800 Milliarden Dollar von unseren Steuergeldern aus der Patsche geholfen hat!«

»Möchten Sie mit meinem Vorgesetzten sprechen?«

»Klar! In welchem verdammten Teil von Indien lebt er denn?«

9:17 Uhr

Der Dodge Minivan kroch auf der East 25th Street am Baustellenverkehr vorbei. Bog auf den Mitarbeiterparkplatz des Veterans Administration Hospital, des Krankenhauses der Veteranenverwaltung, ein. Stellte sich so schräg in eine Parklücke, dass der Besitzer des Wagens zur Rechten sich mit Sicherheit ärgern würde.

Die Brünette drehte den Innenspiegel zu sich. Zog hastig Mascara durch die Wimpern ihrer graublauen Augen. Tupfte Make-up auf ihre Stupsnase. Schmierte sich eine frische Lage neutralen Lippenstift auf ihre dicken Lippen. Blickte schnell auf die Uhr, schnappte sich dann ihre lederne Aktentasche vom Kindersitz und hastete aus dem Minivan zum Eingang der Notaufnahme. Sie hoffte inständig, nicht dem Verwaltungsleiter des Krankenhauses über den Weg zu laufen.

Die Doppeltüren glitten auf, und die Klinik empfing sie mit gekühlter Luft, die mit dem Geruch der Kranken verpestet war. Im Wartebereich gab es nur Stehplätze. Husten und Krücken und weinende Kinder, abgelenkt von der Today Show, die auf Flachbildschirmen lief, die mit Stahlkabeln an den Betonziegeln der Wand befestigt waren.

Sie schaute weg, Aufnahmeschalter und Unmut hinter sich lassend.

Auf halbem Weg den Hauptflur hinunter blieb sie stehen, um ihren weißen Laborkittel überzustreifen, was die Aufmerksamkeit eines groß gewachsenen Inders Anfang vierzig erregte. Er rang nach Luft. »Bitte … Wie komme ich zur Intensivstation?«

Sein gequälter Gesichtsausdruck zügelte ihr Verlangen, Dampf abzulassen, zumal sie seiner äußeren Erscheinung ablesen konnte, dass dies nicht der Bankangestellte war, mit dem sie vorhin gesprochen hatte. Anzughemd mit Schwitzflecken. Fliege. Rechtes Hosenbein mit einem Gummiband fixiert. Ein Professor, der einen kranken Kollegen besucht. Ist wahrscheinlich auf seinem Fahrrad vom Campus hergeradelt. »Folgen Sie dem Flur linker Hand. Dann nehmen Sie den Aufzug in den siebten Stock.«

»Danke.«

»Dr. Nelson!«

Die Stimme von Jonathan Clark schreckte sie auf.

»Wieder zu spät? Lassen Sie mich raten … Verkehrsstau in New Jersey? Nein, Moment, heute ist Montag. Montags sind Schwierigkeiten bei der Kindererziehung angesagt.«

»Ich habe keine Schwierigkeiten bei der Kindererziehung, Sir. Ich habe zwei reizende Kinder, das jüngere ist autistisch. Heute Morgen beschloss die Kleine, die Katze mit Hafermehl zu schminken. Doug hat ein Vorstellungsgespräch, mein Babysitter rief krank aus Wildwood an und …«

»Dr. Nelson, Sie kennen meine Philosophie, was Ausreden betrifft. Es hat noch nie einen erfolgreichen Menschen gegeben, der eine brauchte, und …?«

Ihr Blutdruck stieg. »Es hat noch nie einen Versager gegeben, der um eine verlegen war.«

»Ich ziehe Ihnen einen halben Tageslohn ab. Machen Sie sich jetzt an die Arbeit, und vergessen Sie nicht, wir haben um sechs eine Mitarbeiterbesprechung.«

Reiß dich zusammen, Luke. »Ja, Boss.«

Leigh Nelson flüchtete den Flur hinunter in ihr Büro. Warf ihre Tasche oben auf einen Aktenschrank und ließ sich auf den knarrenden Holzstuhl fallen, der ständig auf seinem seitlich versetzten Fuß schwankte; ihr Blutdruck spottete jeder Beschreibung.

Die Montage im VA waren mentale Bärenfallen. An Montagen sehnte sie sich jedes Mal zurück nach ihrer Zeit als Wildfang damals auf der Schweinefarm ihres Großvaters in Parkersburg, West Virginia.

Es war ein schwieriger Sommer gewesen. Das New York Harbor Health Care System der Veteranenverwaltung bestand aus drei Klinikkomplexen – einem in Brooklyn, einem in Queens und ihrem eigenen hier in Manhattans East Side. In dem Versuch, einen geradezu lächerlichen Betrag einzusparen, war der Kongress zu der Überzeugung gelangt, dass man sich nur zwei prothetische Behandlungszentren leisten könne. Und das trotz zweier Kriege und einer Truppenaufstockung. Eine Million Dollar pro kämpfendem Soldat, aber nur Pennys für die Behandlung seiner Wunden. War Washington verrückt geworden? Lebten diese Leute in der realen Welt?

In ihrer Welt bestimmt nicht.

Längere Arbeitszeiten, dieselbe Bezahlung. Bleib bei der Stange, Nelson. Steck’s weg und wiederhol den Standardspruch: Sei froh, dass du noch einen Job hast.

Leigh Nelson hasste Montage.

Zwanzig Minuten, ein Dutzend E-Mails und einen halb gegessenen Donut später war sie bereit, die Krankenakten durchzusehen, die sich auf ihrem Schreibtisch stapelten. Sie hatte kaum die zweite Akte durch, als Geoff Payne ihr Büro betrat.

»Morgen, Schmollmund. Hab gehört, du bist im letzten Zug nach Clarksville erwischt worden.«

»Ich hab zu tun, Geoff. Komm zur Sache.«

Der Leiter der Aufnahme reichte ihr eine Personalakte. »Ein Neuzugang aus Deutschland. Patrick Shepherd, Sergeant, United States Marines, Alter vierunddreißig. Noch ein IED-Amputierter, nur dass dieser arme Schwachkopf die Bombe auch noch in die Hand nahm, als sie losging. Vollständige Abnahme des linken Arms direkt unterhalb der Bizepsinsertion. Dazu kommen Prellungen und eine Schwellung an der Gehirnbasis, ein kollabierter linker Lungenflügel, drei gebrochene Rippen und ein ausgerenktes Schlüsselbein. Er leidet noch immer unter Schwindelanfällen, Kopfschmerzen und schweren Gedächtnislücken. «

»Posttraumatischer Stress?«

»Schlimmer geht’s nicht. Seine psychosoziale Diagnose ist in der Akte. Auf Antidepressiva spricht er nicht an, und psychologische Betreuung hat er abgelehnt. Seine Ärzte in Deutschland hatten ihn rund um die Uhr unter Selbstmord-Beobachtung.«

Leigh schlug die Akte auf. Sie warf einen Blick auf die Bewertung der posttraumatischen Belastungsstörung und las dann laut die militärische Vorgeschichte des Patienten. »Vier Einsätze: Al-Qaim, Haditha, Falludscha und Ramadi plus eine Zeit in Abu Ghuraib. Herrgott, der hat eine Tour durch die Hölle hinter sich. Wurde ihm eine Prothese angepasst?«

»Noch nicht. Lesen Sie seine persönliche Vorgeschichte, Sie werden sie besonders interessant finden.«

Sie überflog den Paragrafen. »Echt? Er hat Profi-Baseball gespielt?«

»Hat für die Red Sox geworfen.«

»Na gut, dann lassen Sie sich Zeit mit der Bestellung der Prothese.«

Geoff lächelte. »Wir haben noch mal Glück gehabt. Dieser Bursche hätte die Yankees glatt gekillt. Im ersten Jahr an der Spitze ist er ’ne Anfängersensation, acht Monate später ist er im Irak.«

»War er so gut?«

»Er war der kommende Star. Ich erinnere mich, in Sports Illustrated was über ihn gelesen zu haben. Boston wählte ihn ’98 als Erstrunden-Nachwuchsspieler, hat ihn aber nie übernommen. Drei Jahre später beherrscht er die Single-A-Liga. Die Sox verloren einen ihrer Stammspieler, und plötzlich ist der Bursche Werfer in der Profiliga. «

»Er machte den Sprung von der Single A zu den Profis in einer Saison? Donnerwetter.«

»Der Frischling hatte Eiswasser in den Adern. Die Fans gaben ihm den Spitznamen ›Würger von Boston‹. Im ersten Spiel an der Spitze lässt er als Werfer nur zwei Hits der Yanks zu, was ihn zum Kulthelden bei den Red-Sox-Fans machte. Im zweiten Spiel geht er über neun Innings und gibt einen einzelnen Run ab, bevor die Sox das Spiel im Zehnten verloren. Seine Neuauflage mit den Yankees war für Mitte September vorgemerkt, nur dass dann 9/11 dazwischenkam. Als die Saison wieder anfing, war er weg.«

»Wie meinst du das, er war weg?«

»Er haute einfach ab. Verließ die Sox und trat ins Marine Corps ein. Verrückter Schwachkopf.«

»Im Lebenslauf steht, er ist verheiratet und hat eine Tochter. Wo ist seine Familie jetzt?«

»Sie hat ihn verlassen. Er will nicht darüber reden, aber ein paar von den anderen Veteranen erinnern sich, Gerüchte gehört zu haben. Sie sagen, seine Frau hätte die Kleine genommen und sei abgehauen, als er sich meldete. Wahrscheinlich war sie stinksauer. Wer könnte es ihr verdenken? Statt mit einem zukünftigen Multimillionär und berühmten Sportler verheiratet zu sein, muss sie ihre kleine Tochter alleine großziehen und mit der Besoldungsgruppe eines gemeinen Soldaten auskommen. Traurig, echt, aber wir erleben es die ganze Zeit. Affären und Kampfeinsätze waren einer guten Ehe noch nie zuträglich. «

»Moment mal – er hat seine Familie seit Kriegsanfang nicht mehr gesehen?«

»Noch mal, er will nicht darüber reden. Vielleicht ist es am besten so. Nach allem, was dieser Bursche durchgemacht hat, würde ich nicht neben ihm schlafen wollen, wenn er anfängt, vom Krieg zu träumen. Weißt du noch, was Stansbury mit seiner Alten gemacht hat?«

»Gott, erinnere mich nicht daran. Wo ist der Sergeant jetzt?«

»Wird gerade mit seiner ärztlichen Untersuchung fertig. Willst du ihn kennenlernen?«

»Überweise ihn auf Station 27 – ich werd ihn später ausfindig machen.«

IntensivstationSiebter Stock

Das Zimmer roch. Nach Bettpfannen und Ammoniak. Krankheit und Tod. Eine Zwischenstation zum Grab.

Pankaj Patel stand am Fußende des Bettes und starrte in das Gesicht des älteren Mannes. Krebs und Chemotherapie hatten sich verbündet, um das physische Dasein seines Mentors jeglicher Lebenskraft zu berauben. Sein Gesicht war blass und ausgemergelt. Die Haut hing ihm von den Knochen. Die Augenhöhlen waren dunkelbraun und eingesunken.

»Jerrod, es tut mir so leid. Ich war in Indien bei meiner Familie. Ich bin hergekommen, sobald ich es erfuhr.«

Jerrod Mahurin öffnete die Augen, der Anblick seines Protegés riss ihn aus der Bewusstlosigkeit. »Nein … Nicht dorthin! Stell dich neben mich, Pankaj … Schnell.«

Patel ging zur linken Seite des Bettes. »Was gibt’s? Haben Sie etwas gesehen?«

Der ältere Mann schloss die Augen und mobilisierte seine letzten Kraftreserven. »Der Todesengel wartet am Fußende des Bettes auf meine Seele. Du warst zu nahe dran. Sehr gefährlich.«

Entnervt wandte Patel sich um und blickte zurück auf den leeren Platz. »Sie haben ihn gesehen? Den Todesengel? «

»Keine Zeit.« Jerrod streckte die linke Hand nach seinem Protegé aus. Das blasse Fleisch war babyweich und gezeichnet von einem Minenfeld verräterischer Blutergüsse von einem Dutzend Infusionen. »Du warst ein außergewöhnlicher Schüler, mein Sohn, aber dieses Stückchen Körperlichkeit, das wir Leben nennen, ist bei Weitem noch nicht alles. Alles, was du siehst, ist nur eine Illusion, unsere Reise ist eine Prüfung, und wir versagen jämmerlich. Das Ungleichgewicht lässt die Waage sich neigen, sodass das Böse dem Guten, die Dunkelheit dem Licht vorgezogen wird. Politik, Gier, der kriegerische Kapitalismus. Und doch sind all die Dinge, denen wir uns entgegengestemmt haben, lediglich Symptome. Was treibt einen Mann an, unmoralisch zu handeln? Eine Frau zu vergewaltigen? Oder ein Kind? Wie kann ein menschliches Wesen vollkommen gewissenlos einen Mord begehen oder den Tod von Zehntausenden oder sogar Millionen unschuldiger Menschen befehlen? Um die wahren Antworten zu finden, muss man sich auf die eigentliche Ursache, die Wurzel der Krankheit, konzentrieren.«

Der ältere Mann schloss die Augen und hielt inne, um einen Klumpen Schleim herunterzuschlucken. »Es ist eine direkte Ursache-Wirkung-Beziehung im Spiel, eine Beziehung zwischen der negativen Kraft und dem Ausmaß an Gewalttätigkeit und Gier, die abermals zugenommen haben, um die Menschheit zu quälen. Der Mensch wird nach wie vor durch die unmittelbare Befriedigung seines Egos verleitet, was uns weiter vom Licht Gottes entfernt. Das kollektive Handeln der Menschheit hat den Todesengel heraufbeschworen, und mit ihm das Ende der Tage.«

Die Blutgefäße unter Patels Haut erweiterten sich und hinterließen eine Gänsehaut. »Das Ende der Tage? Der Konflikt im Nahen Osten – wird er zum Dritten Weltkrieg führen? Zu einem nuklearen Holocaust? Jerrod?«

Der Sterbende schlug die Augen wieder auf. »Symptome«, stieß er hustend hervor. Der schlechte Geruch verstärkte sich.

Patel suchte ein unberührtes Frühstückstablett, nahm mit einem Löffel ein Eisstückchen auf und legte es seinem Lehrer in den Mund. »Vielleicht sollten Sie sich ausruhen.«

»Gleich.« Jerrod Mahurin schluckte das Eis, während er seinen Lieblingsschüler durch die Schlitze seiner fiebrigen Augen beobachtete. »Das Ende der Tage ist ein überirdisches Ereignis, Pankaj, ins Werk gesetzt vom Schöpfer selbst. Die Menschheit … entfernt sich vom Licht Gottes. Der Schöpfer wird nicht zulassen, dass die dingliche Welt von jenen ausgerottet wird, die Kraft aus der Dunkelheit schöpfen. Wie bei Sodom und Gomorra, wie bei der großen Sintflut wird Er die Menschheit auslöschen, bevor die Frevler Seine Schöpfung zerstören, und das abschließende Ereignis, was auch immer es sein mag, wird bald eintreten.«

»Mein Gott.« Patels Gedanken wanderten zu seiner Frau, Manisha, und ihrer gemeinsamen Tochter, Dawn.

»Das Folgende ist wichtig. Nachdem ich verschieden bin, wird ein Mann von großer Weisheit dich ausfindig machen. Ich habe dich ausgewählt.«

»Mich ausgewählt? Für was?«

»Als meine Vertretung. Eine Geheimgesellschaft … Neun Männer, die hoffen, das Gleichgewicht wiederherzustellen. «

»Neun Männer? Was muss ich tun?«

Ein kranker Atem kam aus Jerrod Mahurins Mund, leise pfeifend wie ein sich entleerender Blasebalg; der Geruch war schal und streng.

Pankaj Patel wich zurück. »Jerrod, diese Männer – können sie das Ende der Tage abwenden? Jerrod?« Der Schüler langte nach einem weiteren Eisstückchen, das er seinem Lehrer behutsam auf die Zunge legte.

Wasser tröpfelte aus der offenen Mundspalte des älteren Mannes.

Ein Moment verstrich, bis die Stille von dem anhaltenden Piepton des Herzmonitors unterbrochen wurde.

Dr. Jerrod Mahurin, Europas führende Kapazität auf dem Gebiet psychopathischen Verhaltens, war tot.

Station 27

Leigh Nelson betrat Station 27, einen von einem Dutzend Bereichen, die ihre Kollegen als »Aquarium des Leidens« bezeichneten. Hier wurde alles zur Schau gestellt, das Gemetzel, das seelische Strandgut, die hässliche Seite des Krieges, an die niemand außerhalb des Krankenhauses erinnert werden wollte.

Während des gesamten Ersten Golfkrieges waren nur vierzehn Amputierte behandelt worden, aber die Invasion des Irak durch die Regierung von George Bush II. war eine ganz andere Geschichte. Zehntausende amerikanischer Soldaten hatten seit der Besetzung im Jahr 2003 Gliedmaßen verloren. Ihre langfristige Pflege erdrückte ein ohnehin schon überlastetes Gesundheitswesen; ihre Qualen wurden der Öffentlichkeit bewusst vorenthalten. Und der Krieg wütete immer noch.

Die tägliche Arbeit auf einer Station für Kriegsamputierte erfordert einen ganz besonderen Schlag von Therapeuten. Nach Bombenexplosionen ist der menschliche Körper schwer gezeichnet von Brandmalen und Granatsplitter-Verletzungen. Die Schmerzen können fürchterlich sein, die Operationen scheinbar endlos. Depressionen sind endemisch. Viele verwundete Veteranen sind erst zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt, einige sogar noch im Teenageralter. Mit dem das ganze Leben verändernden Verlust eines Körperteils fertigwerden zu müssen kann verheerend für das Opfer, seine Familie und die Pflegekraft sein.

So schlimm es tagsüber war – nachts war es immer noch viel schlimmer.

Leigh blieb am ersten Bett zu ihrer Rechten stehen, das von Justin Freitas belegt war. Der Feldsanitäter hatte zehn Wochen zuvor beim Versuch, eine Bombe zu entschärfen, beide Augen und Hände verloren. Er war gerade mal neunzehn.

»He, Dr. Nelson. Woher wusste ich, dass Sie es sind?«

»Sie haben mein Parfüm gerochen.«

»Genau! Ich hab Ihr Parfüm gerochen. He, Doc, ich hab die Fernbedienung für den Fernseher fallen gelassen – können Sie sie mir geben?«

»Justin, wir haben gestern darüber gesprochen.«

»Doc, ich glaube fast, Sie sind diejenige, die blind ist. Ich habe Hände, ich kann sie spüren.«

»Nein, Herzchen. Es sind die Nervenenden, die verwirren Ihr Gehirn.«

»Doc, ich kann sie spüren!«

»Ich weiß.« Nelson kämpfte mit den Tränen. »Wir werden Ihnen neue Hände besorgen, Justin. Noch ein paar Operationen und …«

»Nein … keine Operation mehr. Ich will keine Operation mehr! Ich will keine Zangen! Ich will meine Hände! Wie kann ich mein kleines Mädchen ohne Hände halten? Wie kann ich meine Frau berühren?«

Die Wut entzündete sich wie ein Pulverfass. Dr. Nelson hatte kaum Zeit, ein Zeichen zu geben, dass sie Hilfe brauchte, bevor sie gezwungen war, mit ihrem Patienten zu ringen, ihn unter vollem Körpereinsatz daran zu hindern, mit den Stümpfen seiner bandagierten Unterarme gegen das Bettgeländer aus Aluminium zu schlagen.

Ein Pfleger stürzte herbei und half ihr, Justin Freitas’ Arme mit Klettbändern zu fesseln, sodass sie ein Beruhigungsmittel in seine Tropfinfusion injizieren konnte, das ihn in ein Narkosedelirium versetzte.

Dr. Nelson hielt kurz inne, um zu verschnaufen, während sie sich Notizen auf dem Krankenblatt machte. Sechzehn weitere Amputierte lagen in Lauerstellung auf dieser Station. Der ersten von acht.

Jede Station hatte gleichsam ihren Pförtner, einen Kriegsveteranen, der genau wusste, wie seine Kameraden tickten. Auf Station 27 war es Master Sergeant Rocky Allen Trett. Acht Monate zuvor durch eine raketengetriebene Granate verwundet, saß der doppelt Beinamputierte aufrecht im Bett und wartete darauf, sie zu begrüßen.

»Morgen, Schmollmund, Sie sind spät dran. Hat die Kleine Ihnen zu Hause das Leben schwergemacht?«

»Wie war noch mal der Ausdruck, den Sie gern benutzen? Fordernd? Sie scheinen gute Laune zu haben.«

»Mona ist mit den Kindern vorbeigekommen.«

»Okay, sagen Sie nichts … Die Jungs heißen Dustin und Logan, Ihre Tochter heißt Molly.«

»Megan. Blaue Augen, genau wie Ihre. Großartige Kinder. Kann’s nicht abwarten, nach Hause zu kommen. Hören Sie, ich hab versprochen, nicht zu fragen …«

»Ich hab unseren Prothetiker heute Vormittag noch mal angerufen. Er hat mir versprochen, nicht später als Mitte September.«

»Mitte September.« Rocky bemühte sich, seine Enttäuschung zu verbergen. Nach ein paar Augenblicken gewann er seine Fassung zurück und zeigte über den Mittelgang. »Passen Sie auf Swickle auf. Er hat sich vorhin die Augen ausgeheult. Seine Alte hat ihm zum Frühstück die Scheidungspapiere überreicht. Meint, sie kann nicht damit umgehen, einen Krüppel zum Mann zu haben.«

»Allerliebst. Rocky, was ist mit dem neuen Burschen … Shepherd?«

Rocky schüttelte den Kopf. »Vergessen Sie den Prothetiker; der Junge braucht einen Seelenklempner.«

»Herzchen, wir brauchen alle einen Seelenklempner.« Mit einem Kuss auf die Stirn brachte sie sein Lächeln zurück, dann ging sie weiter zu Station 17, einem von mehreren Bereichen, die der Privatsphäre halber durch einen Vorhang abgeteilt worden waren. »Sergeant Shepherd, mein Name ist Dr. Nelson, und ich bin Ihre …«

Sie zog den Vorhang zurück.

Das Bett war leer.

Der Himmel über Manhattan schwamm in Blau. Eine stete Brise, die vom East River kam, reduzierte den Geruch nach Ruß auf ein Minimum. Ganze Reihen industrieller Klimaanlagen brummten in der Nähe, und das mechanische Ächzen ihrer rotierenden Ventilatoren ließ die Asphaltdecke des Daches vibrieren. Sieben Stockwerke darunter mischte sich der Verkehrslärm in die Serenade, und mit dem schnellen Näherrücken der Mittagspause verstärkte sich die Hupfrequenz allmählich.

Der Hubschrauberlandeplatz des VA Hospital war leer, der Rettungshubschrauber im Einsatz.

Der schlaksige Mann in der grauen Trainingshose und dem weißen T-Shirt lief barfuß die zwanzig Zentimeter breite Betonkante entlang, die den Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach umgab. Lange braune Haare flatterten in der Brise, und seine Gesichtszüge und der verträumte Blick erinnerten an Jim Morrison, den verstorbenen Leadsänger der Doors. Der Soldat teilte die ruhelose Seele des Künstlers, die eingeschlossen war in einer Gruft aus Fleisch.

Er hatte ein Gefühl in der linken Hand, als hätte er den Ellenbogen tief in Lava getaucht. Die Schmerzen waren fürchterlich und trieben ihn an den Rand des Wahnsinns. Da ist kein Arm, du Arschloch. Die Schmerzen sind ein Phantom – genau wie deine Existenz.

Patrick Ryan Shepherd schloss die Augen, und der einarmige Mann lockte die Geräusche und Gerüche des Großstadtdschungels, durch das Loch in seiner Erinnerung zu strömen …

… und Bilder einer längst verloren geglaubten Vergangenheit aufzuspüren …

Die Brise ist stetig, der Himmel schwimmt in Blau. Die geballten Fäuste des Jungen halten den Stickball-Schläger fest gepackt.

Patrick ist elf Jahre alt, der Jüngste in dem Spiel. Brooklyn besteht aus ethnisch getrennten Wohnvierteln, und Bensonhurst ist fest in italienischer Hand.

Patrick ist Ire, der Kleinste und Schwächste des Wurfs.

Ein Außenseiter, der so tut, als würde er dazugehören.

Es ist Samstag. Samstage haben eine andere Atmosphäre als Sonntage. Sonntage sind trister. Sonntage sind Anzughosen und Kirche. Klein-Patrick hasst die Kirche, aber seine Großmutter zwingt ihn hinzugehen.

Sandra Kay Shepherd ist behindert, seit sie bei der Arbeit von einer Leiter gefallen ist. Außerdem ist die Einundsechzigjährige Diabetikerin und auf Insulin angewiesen. Sandras zweiter Ehemann hat sie vor zwölf Jahren ohne Erklärung verlassen.

Patricks Mutter starb an Brustkrebs, als er sieben war. Patricks Vater ist im Gefängnis und sitzt das vierte Jahr einer fünfundzwanzigjährigen Haftstrafe wegen Totschlags aufgrund von Trunkenheit am Steuer ab.

Zwei Outs, die Bases sind besetzt, nur dass es keine Bases gibt. Die erste und dritte sind geparkte Autos. Die zweite ist ein Gullydeckel. Die Home Plate ist ein Pizzakarton.

Klein-Patrick lebt für diese Momente. In diesen Momenten ist er nicht mehr der Kleinste und Schwächste. In diesen Momenten kann Patrick der Held sein.

Michael Pasquale steht auf der Werferplatte, dem Pitcher’s Mound, und wirft. Der Dreizehnjährige ist von dem jüngeren Iren schon zweimal arg in Verlegenheit gebracht worden. Der Italiener platziert den ersten Wurf auf Patricks Kopf.

Patrick ist bereit. Er macht einen Schritt zurück und drischt mit dem Besenstiel auf den mit Gumminoppen versehenen Ball, sodass der Base Hit am linken Ohr des Werfers vorbeisaust. Die springende Kugel kullert unter mehrere geparkte Autos, bevor sie außer Sichtweite verschwindet.

»Kloakenball! Ground-Rule-Double. Geh ihn holen, Deutscher Schäferhund.«

»Meinst du nicht Irischer Schäferhund?«

Patrick jammert, als die älteren Jungs ihn zum Gully eskortieren. Die Stickball-Regeln sind einfach: Der, der den Ball schlägt, holt ihn zurück.

Zwei Jungs heben den Gullydeckel hoch, womit sie einen Brechreiz erzeugenden Geruch freisetzen. Die flüssige Jauche ist anderthalb Meter weiter unten, und Gary Doroshow, der normalerweise eine Metallharke mitbringt, ist mit seinen Eltern auf Coney Island.

»Runter mit dir, Shepherd.«

»Bist du sicher, dass er da reingefallen ist? Ich kann ihn nicht mal sehen.«

»Du nennst mich einen Lügner?«

»Schwing deinen Irenarsch runter in dieses Loch.«

Patrick steigt hinab, Sprosse um Sprosse; gegen den durchdringenden Gestank nach flüssiger Scheiße hat er sich den Kragen seines T-Shirts hoch über die Nase gezogen.

Der blaue Himmel verschwindet plötzlich, als der Gullydeckel mit einem dumpfen Geräusch zurück an seinen Platz geschoben wird.

»He!«

Das gedämpfte Geräusch von Gelächter verursacht Patrick Herzrasen.

»He! Lasst mich raus!« Er stemmt sich mit der Schulter gegen den gusseisernen Deckel, unfähig, ihn unter dem Gewicht von Michael Pasquale von der Stelle zu bewegen. Rechter Hand ist eine schmale Lücke zwischen Bordstein und Straße. Er versucht sich herauszuzwängen, nur um von tretenden Turnschuhen empfangen zu werden.

»Lasst mich raus! Hilfe! Oma, Hilfe!«

Er würgt, dann erbricht er sein Frühstück in die Jauche.

Schweiß strömt ihm übers Gesicht. Ihm ist schwindelig. »Lasst mich raus, lasst mich raus!«

Panik macht sich bemerkbar, er kann nicht atmen. Adrenalin verwandelt seine Schultern in Rammböcke, und er attackiert den Gullydeckel, wobei die Kraft seiner Stöße Michael Pasquale kurz aus dem Gleichgewicht bringt. Durch das Gewicht eines zweiten Jungen wird der Widerstand schnell verdoppelt.

Patrick fühlt sich schwach. Er kommt sich klein vor, und er hat Angst. Der Krebs hat ihm seine Mutter geraubt, der Alkohol seinen Vater. Der Sport ist der Kitt, der ihn bis jetzt zusammengehalten hat, und seine sportlichen Fähigkeiten ebneten ihm das Spielfeld des Lebens. Als das Gelächter anschwillt und der letzte Funken Würde seinen Körper verlässt, lockert er den Griff um die Leitersprosse, fest entschlossen, seine Leere mit der ertränkenden Umarmung der Jauche zu füllen.

Dann hört er die Stimme eines Mädchens, energisch und fordernd. Unterstützt durch die Anwesenheit von jemand Älterem männlichen Geschlechts.

Die Turnschuhe rennen los.

Der Gullydeckel wird hochgehoben.

Patrick Shepherd blickt empor in den blauen Augusthimmel auf seinen Engel.

Das Mädchen scheint in seinem Alter zu sein, nur sehr viel reifer. Welliges blondes Haar, lang und seidig. Unter dem kurzen Pony schauen grüne Augen auf ihn herab. »Und? Willst du den ganzen Tag dort unten bleiben?«

Patrick klettert aus der Kanalisation und ins Licht; ein Mann in Hemdsärmeln und mit kastanienbrauner Krawatte hilft ihm heraus. Sein graues Wollsakko hat er sich über die Schulter geworfen. »Nichts für ungut, Junge, aber du musst dir ein paar neue Freunde suchen.«

»Sie sind nicht … meine Freunde.« Patrick hustet und versucht das Schluchzen zu verbergen.

»Übrigens, das war ein schöner Schlag … so wie du deine Handgelenke zurückgehalten hast. Versuch die Finger von Würfen außerhalb der Strike Zone zu lassen.«

»Die können nicht besser auf mich werfen. Wenn er über der Plate ist, kann ich ihn tief nehmen, bloß verlieren wir zu viele Bälle. Obwohl, eigentlich bin ich Werfer, nur dass sie auch nicht möchten, dass ich werfe …«

» … weil du so gut bist, hä?« Das Mädchen grinst.

»Wie heißt du, Junge?«

»Patrick Ryan Shepherd.«

»Tja, Patrick Ryan Shepherd, wir sind gerade auf dem Nachhauseweg von der Synagoge, anschließend fahren wir rüber zur Roosevelt High, um uns das Gerangel der Baseball-Mannschaft anzusehen. Warum schnappst du dir nicht deinen Handschuh und triffst dich dort mit uns? Vielleicht lass ich dich beim Schlagtraining werfen.«

»Schlagtraining? Moment … Sind Sie der neue Baseball-Coach? «

»Morrie Segal. Das ist meine Tochter …«

»… Nein, komm mir nicht zu nahe, du stinkst. Geh nach Hause, duschen, Shep.«

»Shep?«

»Das ist dein neuer Spitzname. Dad lässt mich allen Spielern Namen geben. Jetzt geh, bevor ich deinen Namen in Stinkender Pete ändere.«

Coach Segal zwinkert, dann führt er seine Tochter fort.

Der Himmel schwimmt in Blau, der Augusttag ist prächtig …

… der Tag, an dem sich für Patrick Shepherd das Leben veränderte – der Tag, an dem er sich verliebte.

Der Mann ohne linken Arm öffnete die Augen. Der Phantomschmerz war abgeklungen, ersetzt durch etwas viel Schlimmeres.

Es war elf Jahre her, seit er zum letzten Mal die einzige Frau geküsst hatte, die er je geliebt hat, elf lange Jahre, seit er sie in den Armen gehalten oder zugesehen hatte, wie sie mit ihrer gemeinsamen kleinen Tochter spielte. Die Sehnsucht zerriss ihn im Innersten; sein Herz war wie ein Damm, der kurz davorstand, zu brechen und dabei einen angeschwollenen Fluss aus Frustration und Wut freizusetzen.

Patrick Shepherd verabscheute sein Dasein. Jeder Gedanke war Gift, jede Entscheidung der letzten elf Jahre verflucht. Tagsüber erlitt er die Demütigung des Opfers, nachts wurde er der Schurke, dessen Handlungen in vergangenen Kämpfen in herzzerreißenden, schädelerschütternden, nervenzerfetzenden Albträumen menschlicher Gewalttätigkeit wiederholt wurden, deren Realität kein Horrorstreifen jemals auf Zelluloid bannen konnte. Und doch, sosehr er sich selbst verachtete, noch mehr hasste Patrick Gott, denn es war sein verwünschter Schöpfer, sein ewiger Hüter der Gleichgültigkeit, der auftauchte wie ein Dieb in der Nacht und die Erinnerung an Sheps Familie aus seinem Gehirn entfernte und an ihrer statt ein leeres Loch zurückließ. Sosehr er sich auch bemühte, Patrick konnte die Leere nicht füllen, und die Frustration, die er empfand – die schiere Wut –, ist viel mehr, als ein einzelner Mensch ertragen kann.

Seine nackten Zehen krallten sich in die Betonkante. Ein seltsames Gefühl der Ruhe übermannte sein Dasein, wie eine wohltuende Flut. Patrick blickte ein letztes Mal nach oben in den klaren, blauen Augusthimmel. Ließ einen gutturalen Urschrei los, der seinen Tod ankündigte, und …

Nein.

Er verharrte in der Bewegung, unsicher auf einem Bein balancierend. Die geflüsterte Stimme war männlich und vertraut; sie zischte durch seinen Kopf wie eine Stimmgabel. Patrick Shepherd fuhr erschrocken mit dem Kopf herum. »Wer hat das gesagt?«

Der leere Hubschrauberlandeplatz verhöhnte ihn. Dann öffnete sich plötzlich der Dachausgang, und aus dem Treppenhausschacht tauchte eine dunkelhaarige Schönheit auf. Ihr weißer Arztkittel flatterte im Wind. »Sergeant Shepherd?«

»Nennen Sie mich nicht so. Nennen Sie mich niemals so!«

»Tut mir leid.« Dr. Nelson trat vorsichtig näher. »Ist es in Ordnung, wenn ich Sie Patrick nenne?«

»Wer sind Sie?«

»Leigh Nelson. Ich bin Ihre Ärztin.«

»Sind Sie Kardiologin?«

Auf diese Erwiderung war sie nicht gefasst. »Brauchen Sie eine?« Sie sah die Tränen. Seinen gequälten Gesichtsausdruck. »Hören Sie, ich habe eine Grundregel: Wenn Sie sich umbringen wollen, warten Sie wenigstens bis Mittwoch.«

Shepherds Gesichtsausdruck veränderte sich, seine Wut milderte sich zu Verwirrung. »Wieso Mittwoch?«

»Mittwoch ist die Mitte der Arbeitswoche. Spätestens am Mittwoch hat man den Freitag klar im Blick, dann hat man das Wochenende, und wer will sich schon an einem Wochenende abmurksen? Wo die Yankees im Moment so gut spielen.«

Die Andeutung eines Lächelns umzuckte Patricks Mundwinkel. »Eigentlich sollte ich die Yankees hassen.«

»Das muss ein ziemliches Problem gewesen sein, ein Sohn Brooklyns, der für die Red Sox wirft. Kein Wunder, dass Sie springen wollen. Wie auch immer, Sie können mich Dr. Nelson nennen oder Leigh, was immer Ihnen lieber ist. Wie soll ich Sie nennen?«

Patrick betrachtete die hübsche Brünette, und seine innere Leere wurde für einen Moment durch ihre Schönheit überwunden. »Shep. Meine Freunde nennen mich Shep.«

»Na schön, Shep, ich wollte gerade schnell einen Kaffee trinken und einen Donut essen. Mit Schokocremefüllung, denn es war ein beschissener Montag. Warum leisten Sie mir nicht Gesellschaft? Wir können uns unterhalten. «

Patrick Shepherd dachte über sein Leben nach. Seelisch erschöpft, atmete er verärgert aus und trat von der Kante herunter. »Ich trinke keinen Kaffee – von Koffein kriege ich Kopfschmerzen.«

»Ich bin mir sicher, wir werden etwas finden, das Sie mögen.« Ihren Arm um seinen schlingend, führte sie ihren neuesten Patienten wieder ins Innere des Krankenhauses.

»Das Absurde und Ungeheuerliche am Krieg ist, dass Männer, die keinen persönlichen Streit haben, ausgebildet werden, einander kaltblütig umzubringen.«

ALDOUS HUXLEY

SEPTEMBER

Justizausschuss des SenatsHart Senate Office Building14:11 Uhr

»Bitte nennen Sie Ihren Namen und Beruf für das Protokoll. «

Der drahtige Siebenundfünfzigjährige strich seinen Spitzbart glatt und sprach dann mit schwerem Brooklyn-Akzent in das Mikrofon. »Mein Name ist Barry Kissin. Ich bin Anwalt, und ich wohne und praktiziere zurzeit in Frederick, Maryland, dem Standort von Fort Detrick.«

Der Ausschussvorsitzende, der demokratische Senator Robert Gibbons aus Maryland, beugt sich zu seinem Mikrofon vor, um den Zeugen anzureden. »Mr. Kissin, könnten Sie kurz die Art Ihrer Tätigkeit schildern, soweit sie die heutige Anhörung betrifft.«

»Während des letzten Jahrzehnts habe ich die Aktivitäten der USA auf dem Feld der biologischen Kriegsführung untersucht, im Besonderen soweit sie die offensichtliche Vertuschung der Anthrax-Briefanschläge auf zwei Kongressmitglieder und auch auf die Medien im September und Oktober 2001 durch das FBI betreffen.«

»Vertuschung? Mr. Kissin, wollen Sie damit sagen, dass das FBI diesen Ausschuss absichtlich in die Irre geführt hat?«

»Senator, die Beweise sind erdrückend. Typisches Beispiel: Bei einer früheren Ausschuss-Anhörung, abgehalten am 17. September 2008, wies der Kongressabgeordnete Nadler das FBI und die anwesenden Ausschussmitglieder ausdrücklich darauf hin, dass es nur zwei Einrichtungen auf der Welt gibt, die über die Ausstattung und das Personal verfügen, die erforderlich sind, um das trockene, mit Kieselsäure behaftete Anthrax-Pulver zu produzieren, das im Jahr 2001 in den Briefumschlägen der Senatoren Daschle und Leahy gefunden wurde. Diese Einrichtungen sind das Versuchsgelände der US Army in Dugway, Utah, und das Battelle Memorial Institute in West Jefferson, Ohio, eine von der CIA beauftragte private Firma. Das FBI weigert sich trotz zahlreicher Anfragen nach wie vor, diese Einrichtungen in seine Ermittlungen einzubeziehen.«

»Mr. Kissin, der Ames-Stamm des Anthrax-Bakteriums wurde 1981 in einer toten Kuh in Texas entdeckt. Der Hauptverdächtige des FBI, der verstorbene Bruce Ivins, experimentierte mit dem Ames-Stamm als potenzieller Biowaffe, als er in einem Labor der Biosicherheitsstufe 3 arbeitete, das sich in Fort Detrick befindet.«

»Richtig. Aber Bruce Ivins schickte den Stamm an Battelle, wo das Anthrax von der feuchten Breiform, die es in Fort Detrick gehabt hatte, in die pulverisierte waffenfähige Form umgewandelt wurde, die man in den an die beiden Senatoren adressierten Briefen fand.«

»Mr. Kissin, was steckte Ihrer Meinung nach hinter dieser angeblichen FBI-Vertuschung?«

»Die Anthrax-Briefe enthielten in Druckbuchstaben die Worte ›Tod Amerika‹, ›Tod Israel‹ und ›Allah ist groß‹, ein plumper Propagandaversuch, um die Öffentlichkeit glauben zu machen, die Briefe seien von muslimischen Terroristen im Anschluss an die Ereignisse vom 11. September abgeschickt worden. Die Regierung Bush spielte diese Angstkarte aus, um den Patriot Act im Kongress durchzuboxen, obwohl es erdrückende Beweise dafür gibt, dass das waffenfähige Anthrax aus Laboren kam, die von unseren eigenen Geheimdiensten betrieben werden. Die Amerithrax-Ermittlungen verwandelten sich, kurz nachdem die New York Times und die Baltimore Sun berichtet hatten, dass der in den Briefen gefundene Ames-Stamm zuvor waffenfähig gemacht worden war, in eine Vertuschungsaktion des FBI, was bedeutet, dass das Anthrax entweder aus Dugway oder von Battelle gekommen sein muss. Von diesem Zeitpunkt an mauerte das FBI, indem es jeden Hinweis auf eine Umwandlung zur Waffe unter den Tisch fallen ließ und nur noch von getrockneten Anthrax-Sporen sprach. Das ermöglichte dem FBI, den Immunologen Bruce Ivins als alleinigen Täter hinzustellen, um so die Aufmerksamkeit von Battelle und Dugway abzulenken. Ivins’ Selbstmord im Jahr 2008 war eine willkommene Gelegenheit, die Sache zum Abschluss zu bringen und die Bücher zu diesem Fall zu schließen, bevor die Indizienkette zu den US-Geheimdiensten und zu den privaten Labors von Battelle zurückverfolgt werden konnte. Die kalte, bittere Realität, Senator, ist, dass die Vereinigten Staaten ein geheimes Biowaffen-Forschungsprogramm aufgelegt haben, das gegen den internationalen Vertrag über das Verbot solcher Waffen verstößt und das Leben jedes Bürgers auf diesem Planeten bedroht. Diese Programme wurden unter der Regierung Clinton ohne Wissen des Präsidenten begonnen und dann während der Regierung Bush und der Amtszeit von CIA-Direktor George Tenet weiterverfolgt, der nach Wegen suchte, um, ich zitiere, ›dem Bioterrorismus das Rückgrat zu brechen‹. Die Folge ist, dass wir heute eine Reihe verdeckter und extrem gefährlicher Biowaffen-Forschungsprogramme haben, die von unserem eigenen militärischen Geheimdienst kontrolliert werden, der damit Geld verdienen will.«

»Können Sie sich ausführlicher äußern, was diese geheimen Forschungsprogramme betrifft?«

»Ja, Sir. Wie die Wissenschaftsredakteure der New York Times in ihrem Buch Virus dargelegt haben, finanzierte die CIA im Jahr 1997 ein geheimes Projekt namens Clear Vision, in dessen Mittelpunkt die Entwicklung von Waffensystemen stand, mit denen die im Labor gezüchteten Bakterien erfolgreich eingesetzt werden konnten. Präsident Clinton wurde nie über das Programm unterrichtet; tatsächlich wusste nur eine Handvoll Funktionsträger, von denen die meisten mit der militärischen Geheimdienstbranche in Verbindung standen, dass das Programm überhaupt existierte. Der Schwerpunkt eines zweiten Programms, Project Jefferson, das von der Defense Intelligence Agency (DIA), dem militärischen Geheimdienst des Pentagon in Dugway, durchgeführt wird, liegt auf der genetischen Veränderung von Anthrax. Battelle wurde vertraglich verpflichtet, dieses Anthrax so weit zu modifizieren, dass es waffenfähig ist. Die an die Senatoren Daschle und Leahy verschickten Anthrax-Briefe enthielten zwei Gramm dieses waffenfähigen Anthrax, und in jedem Umschlag befanden sich über eine Billion lebende Sporen pro Gramm – das mehr als Zweimillionenfache der Dosis, die durchschnittlich erforderlich ist, um einen Menschen zu töten. Man sollte anmerken, dass Daschle und Leahy die zwei Demokraten waren, die der Verabschiedung des Patriot Act im Wege standen.«