Das entgrenzte Gericht - Matthias Jestaedt - E-Book

Das entgrenzte Gericht E-Book

Matthias Jestaedt

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Beschreibung

Während die Unzufriedenheit mit Politikern und Parteien zunimmt, bleibt die Beliebtheit des Bundesverfassungsgerichts ungebrochen. Urteile wie zum Lissabon-Vertrag, zur Onlinedurchsuchung oder zur Höhe der Hartz-IV-Sätze werfen jedoch die Frage auf, inwiefern die Karlsruher Richter bisweilen die Grenzen ihrer institutionellen Zuständigkeit überschreiten. Anläßlich des 60. Jahrestags der Eröffnung des Bundesverfassungsgerichts unternehmen vier renommierte Juristen daher den Versuch einer wissenschaftlichen Kritik an Deutschlands beliebtestem Verfassungsorgan.

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Seitenzahl: 472

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2011

edition suhrkamp 2638

Erste Auflage 2011

© Suhrkamp Verlag Berlin 2011

Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

eISBN 978-3-518-76800-6

 

www.suhrkamp.de

 

 

 

Während die Unzufriedenheit mit Politikern und Parteien zunimmt, bleibt die Beliebtheit des Bundesverfassungsgerichts ungebrochen. Urteile wie zum Lissabon-Vertrag, zur Onlinedurchsuchung oder zur Höhe der Hartz-IV-Sätze werfen jedoch die Frage auf, inwiefern die Karlsruher Richter bisweilen die Grenzen ihrer institutionellen Zuständigkeit überschreiten. Anlässlich des 60. Jahrestags der Eröffnung des Bundesverfassungsgerichts unternehmen vier renommierte Juristen daher den Versuch einer wissenschaftlichen Kritik an Deutschlands beliebtestem Verfassungsorgan.

Matthias Jestaedt, geboren 1961, lehrt Öffentliches Recht an der Universität Freiburg. Oliver Lepsius, geboren 1964, lehrt Öffentliches Recht und Staatslehre an der Universität Bayreuth. Christoph Möllers, geboren 1969, lehrt Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. In der edition suhrkamp erschien zuletzt von ihm Der vermisste Leviathan (es 2545). Christoph Schönberger, geboren 1966, lehrt Öffentliches Recht an der Universität Konstanz.

Inhalt

Vorwort

 

Christoph Schönberger

Anmerkungen zu Karlsruhe

 

Matthias Jestaedt

Phänomen Bundesverfassungsgericht. Was das Gericht zu dem macht, was es ist

 

Oliver Lepsius

Die maßstabsetzende Gewalt

 

Christoph Möllers

Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts

 

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Der sechzigste Geburtstag des Bundesverfassungsgerichts lädt zu einem frischen Blick auf diese Institution ein. Hinter der eigentümlichen Kombination aus großer Popularität des Gerichts und juristischer Technizität seiner Entscheidungen sind viele Möglichkeiten der wissenschaftlichen Annäherung in den Hintergrund getreten: die Historisierung, ein Verständnis des Bundesverfassungsgerichts als Gebilde, das sich wandelt, an Bedeutung gewinnt und verliert und von Kontexten abhängt, die es selbst nicht kontrollieren kann (Schönberger); die Analyse der keineswegs begriffsnotwendigen juristischen Weichenstellungen, mit denen das Gericht sich erst zu dem gemacht hat, was es heute ist (Jestaedt): ein Organ, dessen Aussprüche sich in einem Zwischenreich von Recht, Wissenschaft und Politik zu bewegen scheinen (Lepsius); schließlich die offene Frage nach seiner Legitimation (Möllers).

Die vier Autoren des vorliegenden Bandes wenden sich diesen Themen mit unterschiedlichen Vorverständnissen und Fragestellungen zu. Sie verbindet das Interesse an einer bemerkenswerten Institution und die Überzeugung, dass die Rechtswissenschaft mehr zu deren Verständnis beizutragen hat als die Kommentierung und Kanonisierung einzelner Entscheidungen. Die Autoren verbindet dagegen weder eine gemeinsame Methode noch eine – sei es affirmative, sei es kritische – Haltung zum Gericht.

Trotz aller Unterschiede konnten die vier Beiträge unter dem Stichwort der Entgrenzung zusammenfinden, das dem Buch seinen Titel gibt. Verschiedenste Varianten solcher Entgrenzungen finden sich in ihm analysiert. Manche, etwa die von Recht und Politik, Recht und Moral sowie Rechtspre chung und Gesetzgebung, scheinen allen Verfassungsgerichten gemein. Andere, wie die Entgrenzung von subjektiven Rechten und objektivem Recht sowie Rechtsprechung und Rechtswissenschaft, wirken gerade für das Bundesverfassungsgericht typisch.

 

Berlin, Mai 2011

Christoph Möllers

Christoph Schönberger Anmerkungen zu Karlsruhe

I. Aufstieg

Es war neu. Es hatte keine Tradition. Die scharlachroten Roben seiner Richter borgte es beim Florenz der Renaissance aus. Im Karlsruher Schlosspark bezog es fünf flache Würfel aus Beton, Stahl und vor allem Glas. Es war ein Gericht, das nicht so war und nicht so sein wollte, wie deutsche Gerichte üblicherweise sind.

Ohne Tradition war auch das Staatswesen, in dessen Dienst das Bundesverfassungsgericht trat. Die Bundesrepublik rettete aus dem Konkurs des nationalsozialistischen Deutschland und den Unsicherheiten des beginnenden Ost-West-Konflikts, was zu retten war. Sie vereinigte provisorisch, wie man glauben wollte, die drei westlichen Besatzungszonen. Die Eingeborenen von »Trizonesien«, welche ein Karnevalslied jener Nachkriegsjahre besang, wurden zu Bürgern eines behelfsmäßigen westdeutschen Staates – eines Staates, der in Bonn am Rhein in schmuckloser Unauffälligkeit regiert und verwaltet wurde.

Dieses notdürftige Staatswesen brauchte eine rechtliche Grundlage. Seit den Revolutionen in den Vereinigten Staaten und Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts heißen solche rechtlichen Gründungsurkunden Verfassungen. Für den bescheidenen Staat von Bonn, in einem zunehmend geteilten Land und noch unter Kuratel der Westalliierten, erschien dieses Wort zu hoch, zu pathetisch, zu endgültig. Der Parlamentarische Rat, der in der Bonner Pädagogischen Akademie innerhalb weniger Monate, von Herbst 1948 bis Frühjahr 1949, das westdeutsche Gründungsstatut schuf, wählte einen zaghafteren Namen: Grundgesetz. In dieser Bezeichnung klangen zwar ältere Traditionen leise mit, denn schon im altehrwürdigen Heiligen Römischen Reich Deut scher Nation hatte man leges fundamentales, Grundgesetze, gekannt. Aber in der Situation des Jahres 1949 signalisierte dieser Name doch in erster Linie Unfertigkeit und Vorläufigkeit des gesamten Statuts. Und noch heute zeigt ein Blick in den letzten Abschnitt des Grundgesetzes ein buntes Allerlei von der Staatsangehörigkeit über das süddeutsche Notariat bis hin zum Staatskirchenrecht. Der Parlamentarische Rat musste diese Angelegenheiten eilig irgendwie regeln, ohne sie doch endgültig ordnen zu können. Für die Ewigkeit war das Dokument ganz offenkundig nicht gemacht.

Eine vollgültige Verfassung sollte dieses Grundgesetz nicht sein. Aber das Gericht, das es letztverbindlich auslegen sollte, führte nach dem Willen des Parlamentarischen Rates die Verfassung im Namen. Für das neue Gericht interessierte man sich im Parlamentarischen Rat indes nur am Rande (Fronz 1971; Niclauß 2006). Zu viel Sonstiges musste in kurzer Zeit beraten und entschieden werden, vom Verhältnis zwischen Bund und Ländern bis hin zu den Finanzfragen. Die Parteien waren sich ohnehin im Grundsatz einig. Die neuartige Möglichkeit des Bundesverfassungsgerichts, Gesetze wegen Verstoßes gegen das Grundgesetz für nichtig zu erklären, löste keine Kontroversen aus (Laufer 1968: 52f.). Bei einigen europäischen Nachbarn war das nach dem Zweiten Weltkrieg ganz anders. So galt die Verfassungsgerichtsbarkeit in der französischen Vierten Republik weiterhin als undenkbar, und in Italien wurde sie erst nach erbittertem Streit eingeführt. Vor allem die linken Parteien befürchteten eine Einschränkung der demokratischen Entscheidungsgewalt des Parlaments. Sie wollten der Volksvertretung die volle gesetzgeberische Freiheit zur Umgestaltung der Gesellschaft erhalten (Pasquino 1998: 44ff.). Im Parlamentarischen Rat befürworteten aber gerade auch die Sozialdemokraten eine derartige Kontrolle. Nur die Kom munisten waren dagegen (Kau 2008: 91ff.). Noch in der Weimarer Republik war grundsätzlich über Vorzüge und Nachteile der Verfassungsgerichtsbarkeit debattiert worden (Wendenburg 1984; Beaud/Pasquino 2007; Baumert 2009; zu älteren Traditionslinien: Scheuner 1976). Bei der Entstehung des Grundgesetzes gab es solche Fundamentalkontroversen hingegen nicht mehr.

Große Schwierigkeiten hatte der Parlamentarische Rat hingegen mit der Organisation der höchsten Gerichte insgesamt. Anders als die Schweiz oder die USA kannte Deutschland seit der Gründung des Deutschen Reiches kein einheitliches Oberstes Bundesgericht. Es gab keinen deutschen Supreme Court, der für alle Rechtsstreitigkeiten vom Privatrecht über das Strafrecht bis hin zum Verwaltungsrecht die höchste Instanz gebildet hätte. Am ehesten hatte diese Rolle zuvor das Reichsgericht in Leipzig ausgefüllt, das in letzter Instanz über Streitigkeiten des Zivil- und Strafrechts entschied. Die Einrichtung eines Bundesverfassungsgerichts beschäftigte den Parlamentarischen Rat deshalb in erster Linie unter dem Aspekt, wie die höchsten deutschen Gerichte zukünftig insgesamt organisiert sein sollten. Im Kern stritt man um die Frage, ob das neue Gericht nun schlicht der deutsche Supreme Court sein oder ob es als besondere Institution neben die normale Justiz treten sollte. Die Kontroverse mutet technisch an. Es ging dabei aber um die Natur der Verfassungsgerichtsbarkeit. Denn in einem einheitlichen Obersten Bundesgericht nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten wären die typischen Alltagsfragen des Rechts ebenso zu entscheiden gewesen wie die häufig hochpolitischen Verfassungsfragen. Dagegen wehrten sich vor allem die Vertreter der traditionellen deutschen Justiz. Nach ihrem Selbstverständnis war normales Recht unpolitisch, Verfassungsrecht hingegen politisch. Hätte ein deutsches Oberstes Bun desgericht über beides zu befinden gehabt, befürchteten sie einen Autoritätsverlust der gesamten Justiz durch deren Politisierung (Laufer 1968: 52ff.; Sörgel 1969: 142ff.; Otto 1971: 177ff.). Diese Sichtweise setzte sich in der Sache durch. Das Grundgesetz stellte das Bundesverfassungsgericht neben die anderen Gerichte des Bundes und der Länder. Ein einheitliches Oberstes Bundesgericht war zwar im Verfassungstext noch vorgesehen, wurde aber später nie Wirklichkeit. Schlecht und recht kam so das Grundproblem von Verfassungsgerichten zur Sprache. Die Vorstellung von einem Gegensatz zwischen »rechtlich« und »politisch« ist zwar häufig bloße Richterideologie. Auch normale Gerichtsentscheidungen haben eine politische Dimension, zumal bei den höchsten Gerichten. Wenn das Bundesarbeitsgericht über die Zulässigkeit von Streik und Aussperrung urteilt, wenn der Bundesgerichtshof über die Strafbarkeit der Präimplantationsdiagnostik entscheidet, dann sind das auch politische Entscheidungen. Aber das politische Element spitzt sich doch zu, wenn ein Gericht etwa zu beurteilen hat, ob der Bundespräsident den Bundestag vorzeitig auflösen darf oder ob der gesetzlich festgelegte Sozialhilfesatz gegen die Verfassung verstößt. Wenn man derartige Entscheidungen überhaupt Gerichten überträgt, dann stellt sich die Frage, ob man sie den üblichen Gerichten zusätzlich anvertraut oder dafür besondere Gerichte schafft, die nach ihrer Zusammensetzung und Organisation stärker politisch geprägt sind. Diese Frage verschärft sich, wenn die Politiker der traditionellen Justiz die Aufgabe der Verfassungskontrolle nicht recht zutrauen. Hans Kelsen hatte für Österreich nach dem Ersten Weltkrieg das erste selbstständige Verfassungsgericht praktisch konzipiert und theoretisch gerechtfertigt (Haller 1979: 45ff.; Kelsen 1929). Diese Form einer konzentrierten Verfassungsgerichtsbarkeit, die gegenüber der normalen Jus tiz verselbstständigt ist, passte besser für die kontinentaleuropäischen Staaten, weil deren Rechtskultur – anders als die angloamerikanische – traditionell auf eine systematische Gesetzgebung und deren Richterschaft auf die Deutung und Anwendung derartiger Gesetze ausgerichtet ist (Cappelletti/Ritterspach 1971: 89ff.; Beyme 2006: 521f.).

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