Das Erbe der Sternentochter - Band 5 - Anna Valenti - E-Book
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Das Erbe der Sternentochter - Band 5 E-Book

Anna Valenti

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Beschreibung

Wird die Schuld ihrer Mutter ihr eigenes Glück zerstören? Die Familiensaga »Das Erbe der Sternentochter« von Anna Valenti jetzt als eBook bei dotbooks. Deutschland, Anfang des 20. Jahrhunderts: Über dem Leben der jungen Sophie Caspari liegt ein dunkler Schatten – der Makel, unehelich und in Schande geboren worden zu sein. Für jede noch so kleine Freizügigkeit wird sie seit ihrer Kindheit von ihrer strengen Großmutter hart bestraft, damit Sophie nicht den gleichen Fehltritt begeht wie ihre Mutter Caroline. Erst als sie aus diesem Kreislauf von Verdächtigung und Misstrauen ausbricht und Robert begegnet, scheint für Sophie das Glück zum Greifen nah. Doch wird er sie noch wollen, wenn er die Wahrheit über sie erfährt? Voller Zweifel und Unsicherheit steht Sophie kurz davor, den größten Fehlern ihres Lebens zu begehen … Dieser berührende Roman beruht auf der Familiengeschichte der Autorin: Der fünfte Band der großen Saga um Caroline Caspari und ihre Töchter! Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Das Erbe der Sternentochter« von Bestsellerautorin Anna Valenti ist der fünfte Band ihrer großen deutschen Familiensaga. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 591

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Über dieses Buch:

Deutschland, Anfang des 20. Jahrhunderts: Auf der jungen Sophie Caspari liegt ein düsterer Schatten – der Makel, unehelich und in Schande geboren worden zu sein. Für jede noch so kleine Freizügigkeit wird sie von ihrer strengen Großmutter hart bestraft, damit sie nicht den gleichen Fehler begeht wie ihre Mutter Caroline. Erst als sie aus diesem Kreislauf aus Verdächtigungen und Misstrauen ausbricht und Robert begegnet, scheint für Sophie das Glück zum Greifen nah. Doch wird er sie noch wollen, wenn er die Wahrheit über sie erfährt? Voller Zweifel und Unsicherheit steht Sophie kurz davor, den größten Fehler ihres Lebens zu begehen …

Über die Autorin:

Anna Valenti ist das Pseudonym einer erfolgreichen Autorin. Nach ihrem Studium der Politikwissenschaft und Germanistik arbeitete sie in Forschung und Lehre. Heute lebt sie als Autorin und Produzentin mit ihrem Mann in Berlin.

Ihre bei dotbooks veröffentlichte »Sternentochter«-Saga war auf Anhieb ein Erfolg. Die sechsteilige Bestseller-Reihe erzählt die auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte einer jungen Frau vor dem Hintergrund des ausgehenden 19. Jahrhunderts und umfasst die folgenden Romane: »Sternentochter – Band 1« »Die Liebe der Sternentochter – Band 2« »Das Schicksal der Sternentochter – Band 3« »Das Glück der Sternentochter – Band 4« »Das Erbe der Sternentochter – Band 5« »Der Mut der Sternentochter – Band 6«

Die ersten drei Romanen der »Sternentochter«-Saga sind auch als Sammelbände unter den Titeln »Wer für die Liebe kämpft« und »Die Sternentochter – Die Liebe der Sternentochter – Das Schicksal der Sternentochter« erhältlich.

Mehr über die »Sternentochter«-Saga erfahren Sie auf Anna Valentis Homepage: www.anna-valenti.de

***

Originalausgabe Mai 2017

Copyright © der Originalausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Anja Rüdiger

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Taras Atamaniv / Sayan Puangkham / dimities_k / elenamiv / underworld

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (sh)

ISBN 978-3-96148-005-0

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Anna Valenti

Das Erbe der Sternentochter

Roman

dotbooks.

Kapitel 1

Es war der erste Sonntag im Mai des Jahres 1905, als die Mahlsheimer Konfirmanden gemeinsam das Abendmahl empfingen. Alle wurden von ihren Eltern begleitet – einzig ein auffallend hübsches Mädchen mit glänzendem hellbraunem Haar und blauen Augen war mit zwei Frauen in die Kirche gekommen. Die eine, etwa Mitte Dreißig, rundlich und mit heiterem, entspanntem Gesichtsausdruck, setzte sich ohne Weiteres zu den Elternpaaren und zog die andere, eine würdig aussehende Frau mit schwarzem Hut und hoch geschlossenem Kragen, die die Fünfzig bereits um ein gutes Stück überschritten hatte, neben sich auf die Kirchenbank. Sehr aufrecht sitzend, mit ernstem Gesicht, verfolgte die ältere Dame die Zeremonie. Als ihre Enkelin Oblate und Wein aus der Hand des Pfarrers entgegennahm, verriet ihr Gesicht keine Regung. Die Orgel setzte ein, der Gemeindechor stimmte das Schlusslied an.

Die junge Frau lächelte und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Damals, vor fast genau fünfzehn Jahren, haben wir dich hier getauft!, dachte sie. Mein Vater, der damals noch der Pastor war – deine Urgroßmutter war dabei … und deine Mutter, meine liebe Line, die nun schon so lange drüben ist, in der Neuen Welt.

»Sophie!«, sagte sie leise vor sich hin, während ihr Blick gedankenverloren auf ihrer Patentochter ruhte.

Glücklich lächelte das junge Mädchen zurück, ihre blauen Augen leuchteten. Sie ging auf ihre Patentante zu, gab ihr einen Kuss auf die Wange und wollte eben, deren Arm ergreifend, auf den Ausgang des Kirchhofs zugehen, als eine freundliche Stimme rief: »Aber, liebe Frau Pistorius, so warten Sie doch einen Moment!«

Der Pastor kam, die Großmutter des Mädchens führend, auf die von ihm Angesprochene zu und drückte ihr beide Hände. »Wie schön, dass Sie gekommen sind! Sophie hat sich so darauf gefreut!«

»Natürlich musste ich kommen! Und mein Mann bedauert es außerordentlich, dass er mich nicht begleiten konnte. Er hat ja selbst heute Konfirmationen. Seine herzlichsten Grüße richte ich Ihnen nur zu gern aus.«

»Vielen Dank.« Pastor Neubert lächelte. »Vielleicht gehst du schon einmal voraus mit der Großmama«, richtete er das Wort dann an Sophie.

»Gewiss, Herr Pastor. Und danke für die schöne Feier heute.«

Neubert nickte Großmutter und Enkelin freundlich zu und sah den beiden nach, die nun Arm in Arm auf der Hauptstraße in Richtung der Pappelallee gingen, die den Mahlsberg hinauf und schließlich zur Mahlsburg führte.

Emma Pistorius schaute den Amtsbruder ihres Mannes ein wenig erstaunt und fragend an; dieser aber sagte ohne Umschweife: »Es war nicht leicht für Sophie heute – ich meine, es wäre nicht so leicht für sie gewesen, wenn Sie nicht gekommen wären, liebe Frau Pistorius. Empfindsam wie sie ist, hat sie durchaus darunter gelitten, als Einzige ohne ihre Eltern zur Konfirmation zu gehen.«

Emmas Gesicht wurde ernst. »Ich weiß. Aber glauben Sie mir, Herr Pastor, ich wäre in jedem Fall gekommen – auch wenn ich krank darniedergelegen hätte.«

»Sie sind ein Segen für das Mädchen. Und … was wird denn nun werden mit ihr, jetzt nach dem Schulabschluss?«

»Ich werde sie für einige Tage mit nach Marburg nehmen. Sie war ja schon im vorletzten und im letzten Sommer bei uns. Ich denke, sie sollte sich ein wenig erholen und sich darüber klar werden, was sie machen möchte.«

Der Pastor wiegte den Kopf. »Wird man das Mädchen denn fragen?«, sagte er zweifelnd. »Ich meine, der Herr Ingenieur Caspari, ihr Vormund …«

»Ich teile Ihre Zweifel, Herr Pastor. Aber heute wollen wir den Tag genießen und noch ein wenig feiern …«

»Ich halte Sie auf. Nehmen Sie das Mädchen mit. Und grüßen Sie mir Ludwig!«

»Das tue ich gern. Und ich danke Ihnen, dass Sie sich um Sophies Wohlergehen sorgen.«

Emmas Hände ergreifend, verabschiedete sich der Pastor. Dann schloss er die eiserne Pforte des Kirchhofs und ging langsam auf das Pfarrhaus zu, in dem Emma Pistorius, damals noch Emma Kessler, einst mit ihrem Vater gewohnt hatte.

Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, trat hinter dem Rhododendrongebüsch, das seitlich der Kirche stand, ein großer, grobschlächtig wirkender Junge hervor, Abscheu und Wut im Gesicht.

»Dass sie es wagt, in die Kirche zu kommen!«, presste er hervor.

Er lief die paar Schritte zur Pforte, stieß sie auf und ließ sie hinter sich ins Schloss knallen. Hasserfüllt sah er Emma Pistorius nach, bis sie um die Biegung zur Pappelallee verschwunden war. Dann nahm er mit raschen Schritten den Weg, der auf den Legerschen Gutshof zuführte.

Nur wenige Gäste hatten sich in Friederike Casparis Wohnung versammelt, um die Konfirmation ihrer Enkelin Sophie zu feiern. Die Eheleute Fidis, die mit ihren drei Kindern das Untergeschoss des Hauses bewohnten; Ferdinand Schmidt, der Dorfschmied und Onkel des Mädchens, mit seinen alten Eltern Heinrich und Magdalene; und Renate Kissling, die ehemalige Postverwalterin, die seit dem Tod ihres Mannes Walter Witwe war.

»Kein Wort über die Vergangenheit!«, hatte Friederike sich erbeten und zur Erklärung hinzugefügt: »Die Sophie ist ein gutes Mädchen. Dafür danke ich dem lieben Gott jeden Tag. Sie selbst weiß sich nichts damit, dass sie keine Eltern mehr hat, und sie fragt auch nicht mehr.«

Alle hatten es versprochen; nur Magdalene hatte, als Friederike ihr die Einladung überbrachte, wehmütig gesagt: »Die Line war auch ein gutes Mädchen, Friederike. Sie hat nur so viel Pech gehabt, so viel Unglück und …«

»Schweig!«, wurde sie heftig unterbrochen. »Pech mag sie gehabt haben. Aber sie war selbst schuld an ihrem und vor allem auch an unserem Elend! Eduard und meine alte Mutter …«

Tränen traten in ihre Augen, sodass Magdalene erschrocken sagte: »Ich wusste ja nicht, dass dich das immer noch so mitnimmt, Friederike. Du hast ja recht, die Line ist nun auch schon tot, und Sophies Vater noch länger. Wir wollen sie in Frieden ruhen lassen und an die Zukunft denken.«

So wurde es für alle ein fröhlicher Tag mit gutem Essen und Trinken aus Frau Fidis’ Küche. Das war ihr Geschenk für das Mädchen. Das weiße Kleid mit dem Spitzenkragen hatte die Großmutter schneidern lassen, und Tante Emma hatte das hübsche in Leder gebundene Gesangbuch geschenkt, in dem auf der ersten Seite Sophies Konfirmationsspruch zu lesen war.

Das Mädchen freute sich über die Maßen, mit Tante Emma nach Marburg reisen und dort ihre Freundin Marie wiedersehen zu dürfen. Zwei Wochen hatte die Großmama genehmigt; so lange werde sie wohl allein zurechtkommen. Und sie, Sophie, habe es sich nach dem guten Zeugnis zum Schulabschluss verdient. Was sie hauptsächlich dazu veranlasst hatte, die Reise zu erlauben, war jedoch die Ankündigung ihres Sohnes Gustav gewesen, »mit dir über die Zukunft meines Mündels ernsthaft sprechen« zu müssen. Unter diesen Umständen war ihr Sophies Abwesenheit sogar willkommen, denn sie versprach sich nichts Gutes von dieser Ankündigung.

Zunächst aber erschien nicht ihr Sohn, sondern, bereits einen Tag nach Sophies und Emmas Abreise, ein anderer Besucher bei ihr, der den Weg vom Schulhaus in der Mitte des Dorfes zu dem auf halber Höhe des Mahlsbergs gelegenen Casparischen Haus nicht gescheut hatte.

»Herr Lehrer Liepoldt!«, entfuhr es Friederike denn auch, als sie dem überraschenden Besucher die Tür öffnete.

»Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.«

»Aber nein. Kommen Sie nur herein. Es ist nur … etwas überraschend. Sophie ist doch nun aus der Schule.«

»Gewiss, liebe Frau Caspari«, sagte der junge Lehrer, als beide in der guten Stube Platz genommen hatten. »Aber ebendas ist der Anlass meines Besuchs.«

»Ich verstehe nicht recht.« Friederike schenkte Kaffee ein und reichte Liepoldt Zuckerdose und Milchkännchen an.

»Sehen Sie, verehrte Frau Caspari, Ihre Sophie ist ein gutes Kind, bescheiden und immer hilfsbereit. Und sie hat ein ansehnliches Zeugnis mit auf den Weg bekommen. Um es kurz zu machen: Herr Pastor Neubert, der sich Ihnen angelegentlich empfehlen lässt, ist mit mir der Meinung, dass das Mädchen etwas lernen sollte.«

»Eine Lehre, meinen Sie … Aber, lieber Herr Lehrer, das ist …« Viel zu teuer, hatte Friederike eigentlich sagen wollen. Stattdessen fuhr sie fort: »… doch nicht das Richtige für ein Mädchen.«

»Und warum nicht, Frau Caspari? Wenn ein Mensch bestimmte … Begabungen hat, sollte man sie wohl fördern, egal, ob es ein Mann oder eine Frau ist.«

»Nun, ich weiß nicht, Herr Lehrer. Eine Frau heiratet; und ihre Bestimmung liegt in der Führung des Haushaltes und der Erziehung der Kinder.«

»Sophie wäre eine wunderbare Krankenschwester. Auch ihre Handarbeiten sind, wie mir Fräulein Lehrerin Richter nur zu gern bestätigte, sehr vielversprechend. Es wäre also auch eine Schneiderlehre denkbar.«

Wenn ich Gustav das erzähle, dachte Friederike, als sie diese Sätze vernahm – er erklärt mich für verrückt. Zwar wusste sie nicht genau, wie sich das Sophie betreffende Gespräch mit ihrem Sohn gestalten würde, eines aber war ihr bereits klar: Niemals würde er eine Lehre für das Mädchen bezahlen.

»Sophie ist eine Waise, wie Sie wissen. Eine Lehre ist sehr teuer …«

»Nun, wir, der Pastor und ich, dachten da an Sophies Vormund. Der Herr Ingenieur ist doch ein wohlhabender Mann, und Sophie, soviel ich weiß, das Kind seiner verstorbenen Schwester.«

Frau Caspari fühlte, wie ihr der Schweiß auf die Stirn trat. Mit einer betont ruhigen Bewegung zog sie ihr Taschentuch hervor und tupfte sich das Gesicht. Sich nur jetzt keine Blöße geben! Nicht die alte Geschichte wieder hervorkramen lassen! Noch dazu vor diesem jungen Pädagogen, der erst vor zwei Jahren dem in den Ruhestand verabschiedeten Lehrer Kunert nachgefolgt war.

»Ich werde darüber nachdenken«, sagte sie, um eine entspannt klingende Stimme bemüht. »Und nun, Herr Lehrer, danke ich Ihnen für Ihren Besuch und für Ihr … Bemühen um meine Enkeltochter.«

Liepoldt stand auf und verbeugte sich.

»Grüßen Sie mir Ihre Enkelin. Auf Wiedersehen, Frau Caspari.«

Mein Gott!, dachte Friederike. Eine Lehre! Für ein Mädchen! Ich bin ja schon froh, wenn die Sophie einen Mann findet – mit ihrer Herkunft!

»Wir haben solches Glück mit dem Wetter!«, freute sich Emma. »So ein schöner, warmer Mai! Und wenn die Marie morgen frei hat, wandern wir nach dem Mittagessen zum Schloss hinauf, und dann gehen wir Kaffeetrinken.«

»Oh, Tante Emma, das wäre wunderbar!« Sophie drückte Emmas Hände und lächelte Amalie zu, der treuen Magd, die schon auf dem Legerschen Gut und später in der deutschen Kolonie in Windhoek die Vertraute ihrer Dienstherrin gewesen war.

»Sie müssen mitkommen!«, schlug sie ihr vor.

»Gern«, war die Antwort. »Wenn nichts mehr zu tun ist natürlich nur.«

»Sicher, kommen Sie mit«, pflichtete Emma Sophie bei. »Aber jetzt lasst uns fertig werden.«

Amalie schmeckte den Eintopf ab, Sophie deckte den Tisch.

Gleich würde ihre Freundin Marie aus der Haushaltungsschule kommen und Onkel Ludwig aus seinem Arbeitszimmer. Emma ging hinüber in Johanns Zimmer, um ihren behinderten Sohn zum gemeinsamen Essen zu holen. Er lächelte, als er Sophie sah, stieß einen erfreut klingenden Laut aus und nickte dabei beständig mit dem Kopf.

»Setz dich nur schon, Johann«, sagte sie freundlich.

Johanns Lächeln verstärkte sich. Seine Mutter tippte auf seine Schulter und legte eine Hand auf seinen Kopf. Das Nicken hörte auf.

Seit Sophies Ankunft war eine knappe Woche vergangen, harmonische Tage, die dem Mädchen spürbar gutgetan hatten. Die freundliche Atmosphäre im Pfarrhaus, in Emmas Familie, die Harmonie, die sie und Onkel Ludwig ausstrahlten, die Zuneigung ihrer Freundin Marie, Johanns Vertrauen in sie – all das tat ihr wohl, mehr als sie es sich selbst eingestand.

»Komm«, forderte Marie sie nach dem Essen auf, »ich muss dir etwas zeigen!«

Sie zog Sophie mit sich in ihr Zimmer, öffnete die obere Schublade ihrer Kommode, fand das Gesuchte und hielt es hoch. Es war ein heller Baumwollstoff.

»Wie schön! Woher hast du ihn?«

»Den haben wir in der Schule bekommen. Und ein passendes Schnittmuster. Es soll ein Rock werden.«

»Ihr lernt dort auch das Nähen?«

»Wir haben Nähmaschinen, ja. Wir sollen alles können, wenn wir heiraten.«

Sophie nickte langsam und nachdenklich. »Wie gut du’s hast, Marie.«

»Ehrlich gesagt, vor dem Zuschneiden und dem Nähen ist mir ein bisschen bange. Ich bin darin nicht so geschickt. Aber Kochen und Backen kann ich schon ganz gut. Und die Organisation des Haushaltes fällt mir leicht. Planen und rechnen und die Bücher führen.«

»Was lernt ihr denn noch?«

»Säuglingspflege«, sagte Marie und wurde sofort rot. Verschämt wandte sie den Blick ab.

Sophie senkte den Kopf und schluckte. »Das musst du ja auch wissen. Wenn du mal heiratest«, sagte sie schließlich.

»Weißt du, manchmal habe ich Angst davor.«

»Vor dem Heiraten?«

»Mehr vor dem Kinderkriegen.« Die Röte in Maries Gesicht steigerte sich.

Sophie hob den Kopf und sah die Betroffenheit, die sich in den Augen ihrer zwei Jahre älteren Freundin spiegelte.

»Es ist … ja auch gefährlich. Ich meine, es kann manchmal gefährlich sein.« Marie presste die Lippen aufeinander. Dann überwand sie sich, sah direkt in Sophies Augen und sagte: »Bei Mutter war es so.«

»Bei Tante Emma? Du meinst, bei deiner Geburt?«

»Bei meiner wohl noch nicht. Dann kam Jakob. Das war schon schlimm für Mutter. Und dann gleich Johann. Da ist sie fast gestorben. Und er, er war an allem schuld!«

»Wer?«

»Er! Mein leiblicher Vater. Jakob Leger.«

Sophie schaute Marie mit großen Augen an. Themen wie diese waren zu Hause bei der Großmama selbstverständlich niemals berührt worden. Und über diese Sache wusste sie nicht mehr, als dass Pastor Ludwig Pistorius Tante Emmas »zweiter Mann« war, der ihre beiden Kinder Marie und Johann adoptiert hatte, während Jakob junior bei seinem Vater lebte. Die Erinnerung an ihn war beklemmend. Er war es gewesen, der sie immer wieder beleidigt und als »Bankert« beschimpft hatte. So lange, bis Pastor Neubert bei seinem Vater vorstellig geworden war und die Attacken unterbunden hatte.

»Leger hat meine Mutter … nie in Ruhe gelassen. Sie hat so gelitten, Sophie. Und sie wäre bei Johanns Geburt gestorben, wenn deine Mutter nicht gekommen wäre und ihr geholfen hätte!«

Maries letzter Satz hing wie ein Schwert über Sophies Kopf. Erst die Erinnerung an Jakob Leger. Und jetzt diese zwei Worte, die zu Hause nie hatten fallen dürfen: Deine Mutter …

»Sophie!«, hörte sie Maries erschrockene Stimme. »Was ist denn? Hab ich etwas Falsches gesagt?«

Sie setzte sich neben Sophie auf ihr Bett und legte den Arm um die Schultern der Freundin. »Sophie, es tut mir leid. Ich wollte nicht … darüber sprechen. Aber es war ja doch so! Mutter hat mir oft davon erzählt.«

Sophie saß mit geschlossenen Augen da. Blind suchte sie Maries Hand und fand sie auch. »Wir … reden nicht darüber zu Hause … Die Großmama … Marie, was weißt du über meine Mutter?«

»Dass sie die beste Freundin meiner Mutter war und ihr geholfen hat, die Geburt zu überleben. Deshalb ist Mutter ja auch deine Patentante, obwohl sie eigentlich gar nicht deine richtige Tante ist.«

Sophie nickte, sagte aber nichts.

»Hat deine Großmutter wirklich nie etwas über deine Mutter erzählt?«

Sophies Augen waren noch immer geschlossen. Sie drückte Maries Hand, schluckte wieder und atmete hörbar aus. »Doch, ein- oder zweimal. Sie hat gesagt, dass sie … eine … ehrlose Person war. Und dass sie nie wieder über sie sprechen möchte.« Der Druck auf Maries Hand verstärkte sich. »Aber das ist ja jetzt auch alles egal. Weil sie sowieso tot ist.«

Am Abend zog sich Sophie früh zurück. Marie nutzte die Gelegenheit, um den Eltern ihre Sorge über das am Nachmittag stattgefundene Gespräch zu offenbaren.

»Ich konnte es ihr nicht sagen!«, wandte sie sich an ihren Adoptivvater. »Ich habe von dem Thema angefangen, weil ich … immer noch Angst habe, einem Mann so ausgeliefert zu sein, wie Mutter es in ihrer ersten Ehe war. Ich habe das miterlebt als Kind, ich träume manchmal davon … Aber das wollte ich nicht!«

Pastor Pistorius setzte sich neben Marie aufs Sofa. »Es ist gut, dass du so ehrlich darüber sprichst.«

»Ich wusste ja nicht, mein liebes Kind, dass die Angst in dir noch so gegenwärtig ist!«, sagte Emma. Ihre Stimme klang erschrocken. »Und du wolltest doch auch unbedingt in diese Schule, wo man vorbereitet wird auf alles, was mit Heirat und Haushalt zusammenhängt«, fuhr sie fort, als ihre Tochter die Antwort schuldig blieb.

»Ja, das wollte ich. Es gefällt mir dort auch sehr gut. Aber ich glaube beinahe, ich habe gedacht …« Marie suchte nach Worten.

»Dass du dich auf diese Weise von deiner Angst befreien könntest«, beendete Ludwig den angefangenen Satz.

»Ja. Das trifft es wohl. Ach, Vater, du bist so gut, und ich wollte dich nicht …«

»Schon gut, Marie. Ich fühle mich durchaus nicht angesprochen.«

Marie sah in sein lächelndes Gesicht. »Und du wirst ja auch nicht verheiratet wie deine Mutter. Gerade einmal so alt wie du es jetzt bist, war sie damals.«

»Vater, wenn wir dich nicht getroffen hätten …« Sie beugte ihren Kopf über seine Hände, als wolle sie sie küssen. Er aber entzog sie ihr und sagte, noch immer lachend: »Nein, Marie, so nicht. Ich habe euch von Herzen lieb und ihr mich. Und dabei wollen wir es belassen.«

»Du wirst dir deinen Mann aussuchen, Marie, und es wird der Richtige sein«, bestätigte Emma. »Aber diese Sache mit Sophies Mutter … Weißt du, vielleicht war es gar nicht so schlecht, dass du davon angefangen hast.«

»Das habe ich auch gerade gedacht«, pflichtete Ludwig ihr bei.

»Sophie ist jetzt alt genug«, fuhr Emma fort. »Ich habe, um ehrlich zu sein, schon darüber nachgedacht, ob ich mit ihr sprechen und ihr während ihres Aufenthaltes hier Carolines Brief zeigen soll.«

»Es ist so schrecklich, Mutter! Vater und du und ich, wir wissen, dass Caroline Caspari lebt, oder Carol O’Connell, wie sie jetzt heißt. Dass Sophie gar keine Waise ist! Und heute, da … musste ich mich zurückhalten, ihr nicht die Wahrheit zu sagen. Ich wollte nur nichts kaputtmachen … Tante Friederike – sie weiß es ja auch und Sophies Vormund … Das ist alles so kompliziert! Aber sie hat doch ein Anrecht auf die Wahrheit!«

Marie war heftig geworden. Schon in den beiden Sommern zuvor hatte ihr die Freundin leidgetan; allerdings war nie, so wie dieses Mal, die Rede auf Caroline gekommen.

»Wir sollten es tun«, hörte sie ihren Vater sagen. »Sophie ist ein verständiges Mädchen. Sehr reif für ihr Alter, sehr besonnen.« Vor seinem inneren Auge stand das Mädchen, wie sie mit dem behinderten Johann umging. »Wenn sie es jetzt erfährt, hat sie noch ein paar Tage Zeit, um es zu verarbeiten, bevor sie wieder zurück zu ihrer Großmutter fährt.«

Marie nickte heftig; Emma jedoch wandte ein: »Marie hat erzählt, dass Sophie ihre Mutter für eine ehrlose Person hält … Ich muss etwas dagegensetzen, viel dagegensetzen. Tante Friederike wird außer sich sein, wenn sie es erfährt.«

»Meinst du, Sophie wird mit ihr darüber sprechen?«, fragte Ludwig.

»Ich weiß es nicht. Aber in einem hast du recht, Liebster: Sie ist verständig genug. Und das Gespräch mit Marie zeigt mir, dass es sie umtreibt. Sie ist verunsichert. Und sie hat natürlich Friederikes Version im Kopf.«

»Gib ihr den Brief von ihrer Mutter.« Mit diesen Worten stand Ludwig auf, zog seine Frau aus dem Sessel hoch und küsste sie auf das aufgesteckte aschblonde Haar. »Du wirst die richtigen Worte finden, meine Liebe. Und alles Übrige liegt in Sophies Händen.«

Emma lehnte den Kopf an seine Brust.

Marie, sichtlich erleichtert, nickte zu Ludwigs Worten und sagte mit einem wehmütigen Lächeln im Gesicht: »Ich hoffe so sehr, dass Sophie ihre Mutter wiederfindet – eines Tages.«

Kapitel 2

Der sonntägliche Ausflug war für alle eine angenehme Abwechslung gewesen. Sophie genoss, nachdem sie sich ausgeschlafen hatte und am Morgen in Pastor Pistorius’ Gottesdienst auch wieder froh geworden war, den langen Nachmittags-Spaziergang und den wundervollen Blick vom Schloss hinunter auf die Stadt und über das grüne Hügelland. Emma war mehr als erleichtert, und Marie fasste freudig die Hand der Freundin und lief lachend und juchzend mit ihr den Schlossberg hinunter. Später, im Café in der Altstadt, hatten beide sichtlich Appetit, und auf dem Rückweg an der Lahn entlang gingen die Gespräche lebhaft hin und her.

Ludwig und Emma fühlten sich in ihrem Vorhaben bestärkt und richteten es am nächsten Abend so ein, dass Emma mit ihrem Patenkind allein war. Ludwig saß nebenan in seinem Arbeitszimmer, bereit, seiner Frau zur Seite zu stehen, falls es nötig sein würde. Er wusste, wie schwer die Mission zu erfüllen war, die Emmas ferne Freundin ihr aufgetragen hatte. Der vor fünf Jahren von Caroline an ihre Tochter geschriebene Brief lag neben ihr auf dem Beistelltisch, genauso wie sie ihn einst erhalten hatte: verschlossen und mit der Aufschrift Für meine liebe Tochter Sophie.

Das Mädchen schaute Emma neugierig, aber absolut entspannt an. Niemals hatte sie etwas Böses oder Schlimmes erwartet, wenn ihre Patentante sie mit den Worten: »Ich muss einmal allein mit dir reden, mein liebes Kind« beiseitegenommen hatte. Meist war es um Erkundigungen gegangen: nach ihrem Befinden, nach ihrem Verhältnis zur Großmama, nach ihren Problemen oder Wünschen. Mit etwas Ähnlichem rechnete sie auch jetzt, und so sagte sie auf Emmas Aufforderung hin auch sofort: »Es geht mir hier bei euch so gut, Tante Emma! Wenn du dich sorgst, so ist es durchaus unnötig.«

»Das freut mich, Sophie. So soll es auch sein. Aber wenn du zurück bist bei der Großmama, was wird dann werden? Ich meine, hat sie schon mit dir über deine Zukunft gesprochen?«

»Nein; sie sagte nur, dass sie mit dem Herrn Vormund darüber sprechen werde.«

»Oh, ich verstehe. Es lässt sich ja vieles denken; und ich nehme an, du hast auch schon eine Vorstellung, was du machen möchtest.«

»Krankenschwester würde ich gern werden. Oder mit Menschen arbeiten, die so sind wie Johann. Gebraucht werden ist etwas Schönes. Aber ich muss mich hineinfügen, wenn der Herr Vormund etwas bestimmt.«

Betroffen sah Emma in die klaren blauen Augen ihres Patenkindes. Jetzt, dachte sie, jetzt musst du es angehen!

»Sophie«, sagte sie leise, »ich … « Sie musste sich räuspern, ihre Stimme hatte den Klang verloren. Dann fasste sie sich, verschränkte ihre Hände ineinander und sagte klar und deutlich: »Vielleicht gibt es noch andere Möglichkeiten.«

»Was meinst du?«

»Sophie, du bist nun fünfzehn Jahre alt. Du bist ein kluges, verständiges Mädchen. Es wird Zeit, dass du die Wahrheit erfährst. Und wenn du alles weißt, so wie es wirklich ist, dann kann es sein, dass sich noch andere Möglichkeiten für deine Zukunft auftun.«

Sophie hatte ihre Patentante aufmerksam beobachtet. Emmas Stimme, ihr Blick, ihre Haltung wirkten anders als sonst. Was jetzt gesagt werden sollte, das spürte sie genau, hatte nichts mit dem zu tun, was sonst das Thema ihrer Vier-Augen-Gespräche gewesen war. Ihr Herz schlug schneller.

»Was willst du mir sagen, Tante Emma?«, fragte sie gespannt.

»Vorab sollst du eines wissen: Zwischen uns bleibt alles so, wie es immer war, Sophie. Das ist mir wichtig, hörst du! Ich habe dich lieb, sehr lieb. Ich möchte, dass du das weißt.«

»Das weiß ich doch, Tante Emma! Aber was ist das für eine ›Wahrheit‹, die ich erfahren soll?«

Emma, die genau herausspürte, wie unruhig und angespannt das Mädchen geworden war, wies auf den neben ihr liegenden Brief und sagte: »Diesen Brief hat mir, vor nun genau fünf Jahren, eine sehr liebe Freundin geschickt. Er ist noch immer verschlossen, denn er ist nicht an mich gerichtet, sondern … an dich.«

»An mich?« Und einer Ahnung folgend, fragte Sophie mit belegter Stimme: »Welche Freundin?«

Emma griff nach dem Brief, setzte sich neben sie auf das Sofa und nahm die Hand des Mädchens in ihre. »Man hat dir erzählt, dass deine Mutter gestorben wäre, mein liebes Kind. Die Großmama wollte es so. Aber, wie Marie dir vorgestern schon sagte, war deine Mutter meine beste Freundin. Auch noch, als sie nach Amerika ausgewandert war. Und …«, der Griff um Sophies Hand wurde fester, »… sie hat mir von dort regelmäßig geschrieben und ich ihr auch.«

Sophie umklammerte nun ihrerseits Emmas Hand. Was kam da auf sie zu? Was wollte Emma ihr sagen?

»Geschrieben …«, sagte sie tonlos. »Wann? Wie lange?«

»Bis jetzt, Sophie. Denn deine Mutter ist nicht tot. Sie lebt. Dort drüben, in Amerika.« Emma beobachtete Sophie, während sie die entscheidenden Worte aussprach. Das Mädchen wurde blass, ihre rechte Hand legte sich auf ihr Herz, die linke fuhr an den Mund. Wie bei Caroline!, dachte Emma, genau so hat sie auch reagiert, wenn sie etwas Schockierendes gehört oder gesehen hat. Dabei hat Sophie ihre Mutter nie kennengelernt, jedenfalls nicht bewusst …

»Geht es, mein liebes Kind? Kann ich etwas für dich tun? Brauchst du ein Glas Wasser?«

Sophie nickte stumm; sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Minuten vergingen. Emma saß an ihrer Seite und sah, dass die Hände des Mädchens zitterten, als sie das gefüllte Glas aus ihren Händen entgegennahm. So griff sie erneut danach und half Sophie beim Trinken.

Ich warte, ging es Emma durch den Kopf. Ich will nicht auf sie einreden. Ich werde ihr sagen, was sie wissen möchte. Und dann sehen wir weiter.

Das Mädchen saß noch immer mit geschlossenen Augen da. Langsam kehrte die Farbe in das hübsche Gesicht zurück. Beide Arme lagen nun ausgestreckt neben ihr, so als wären sie vollkommen kraftlos geworden. Emma streckte die Hand aus und strich beruhigend darüber. Geduldig wartete sie auf eine Reaktion.

Irgendwann – Emma schien es, als wäre eine endlos lange Zeit vergangen – öffnete Sophie die Augen. Ihr Blick spiegelte die seelische Anspannung deutlich wider. Vor allem aber war dieser Blick abweisend; abweisend und kühl.

Emma schreckte zurück. Unwillkürlich griff sie wieder nach Sophies Hand, als wolle sie sich der engen Verbindung, die sie bisher zu ihrem Patenkind gehabt hatte, vergewissern.

Aber Sophie entzog ihr die Hand und sagte eisig: »Ich glaube dir nicht! Denn wenn du jetzt die Wahrheit sagen würdest, dann hättest du mich belogen – vorher, die ganze Zeit.«

Ich muss diesen Blick aushalten, beruhigte Emma sich stumm – ich erkläre ihr alles, ruhig und sachlich.

»Hast du mich belogen, Tante Emma?«

»Ich musste es tun, Sophie. Um deinetwillen.«

Sophie kniff die Augen zusammen, Wut und Verzweiflung standen ihr ins Gesicht geschrieben. Sie starrte Emma an, als hätte sie sie nie zuvor gesehen.

»Sophie, lass mich dir alles in Ruhe erklären.«

Aber Sophie war schon aufgestanden. Einen Moment lang stand sie starr da. Dann sagte sie heftig: »Ich glaube dir nicht! Meine Mutter ist tot! Tot!«, und rannte davon.

Ludwig war, aufgeschreckt von dem lauten Geräusch der zufallenden Tür, herbeigeeilt und fand Emma weinend vor.

»Sie glaubt mir nicht«, schluchzte sie. »Und sie verzeiht mir nicht, dass ich sie angelogen habe.«

Der Arm um ihre Schultern linderte den Schmerz ein wenig. »Ach, Liebster«, sagte Emma, noch immer unter Tränen, »vielleicht war es doch der falsche Zeitpunkt.«

Ludwig reichte ihr sein Taschentuch, sie schnäuzte sich die Nase und sah ihn an.

»Nein, Liebling, es wäre immer schlimm für das Mädchen gewesen. Ob heute oder später. Und unser Schweigen wäre uns immer schwerer geworden, von Jahr zu Jahr mehr.«

Emma nickte. Ludwig hatte recht.

»Es war ein sehr kurzes Gespräch«, stellte er fest

»Ich hatte ihr gesagt, dass Caroline lebt. Dann kam sofort diese Reaktion. Ich hatte gar keine Gelegenheit, ihr mehr zu erzählen.«

»Ich verstehe. Und ich verstehe Sophie. Ihre Abwehr.«

Seine Frau sah ihn ratlos an.

»Das, was du gesagt hast, bringt ihr ganzes Gefüge durcheinander, ihr ganzes bisheriges Leben. Ihre Welt, so wie sie sie kennt.«

Emma schluckte und faltete unwillkürlich die Hände.

»Wir hätten damit rechnen müssen«, fuhr Pistorius nachdenklich fort. »Und wir dürfen sie jetzt nicht allein lassen. Soll ich noch einmal mit ihr reden?«

Seine Frau nickte stumm. Es war alles so verwirrend – einerseits glaubte Sophie ihr nicht, dass ihre Mutter lebte; andererseits warf sie ihr, Emma, vor, sie all die Jahre über belogen zu haben …

Sie hörte, wie Ludwig an Sophies Tür klopfte, eintrat, die Tür offen ließ. Sophie tat ihr so leid, und sie konnte nichts tun als hoffen, dass das Mädchen sie verstand oder eines Tages verstehen würde. Sie hörte Ludwigs sanfte Stimme, dann trat Stille ein, die schließlich durch einen leisen verzweifelten Laut aus Sophies Mund unterbrochen wurde. Sie weinte, und als Emma eintrat, sah sie, dass Ludwig das Mädchen in den Armen hielt. Sie hatte ihren Kopf n seiner Brust vergraben, es sah aus, als schrie sie in ihn hinein.

Sie hatte nie einen Vater, dachte Emma, sie hat nie gefühlt, was es heißt, einen Vater zu haben. Marie hat das Glück gehabt, nach dem rücksichtslosen Despoten, der ihr leiblicher Vater ist, diesen Schutz und Beistand zu erfahren, den Ludwig, so jung er auch ist, für sie bedeutet. Sie verehrt ihn dafür, ein wenig überspannt sicherlich, aber auch verständlich nach den traumatischen Erlebnissen mit Jakob Leger.

Sophie weinte lange und heftig. Sie weinte sich müde und kraftlos, sodass der Schlaf über sie kam wie eine Gnade. Emma deckte sie zu.

»Was hast du ihr gesagt?«, fragte sie ihren Mann.

»Dass du die Wahrheit gesagt hast. Dass ihre Mutter lebt, dass sie ihr den Brief geschrieben hat, weil sie ihr Kind über alles liebt. Dass sie auch ihren Vater sehr geliebt hat. Da brach es aus ihr heraus.«

Emma nahm Ludwigs Arm, er zog sie näher zu sich heran und hielt sie. So standen sie und betrachteten das vollkommen erschöpfte schlafende Mädchen.

»Morgen reden wir weiter«, sagte Emma leise, »und übermorgen, so lange es eben dauert. Ich möchte, dass sie versteht, wie das damals wirklich war. Und dann soll sie entscheiden, wie sie damit umgeht. So hat Caroline es gewollt.«

Sophie erwachte erst spät. Sie fühlte sich ein wenig benommen, blieb liegen und schaute sich in dem hübsch eingerichteten Gästezimmer des Pfarrhauses um. Wie gern war sie in den Sommerferien hier gewesen! In den beiden letzten Jahren hatte die Großmutter ihr den Aufenthalt gestattet, und sie, Sophie, hatte sich nach der Rückkehr belebter und zufriedener gefühlt. Es war eine selbstverständliche Harmonie und Akzeptanz gewesen, die sie hier spürte und die sie immer noch eine gute Weile trug. Wenn die Großmama Disziplin einforderte, Zurückhaltung, die »Drosselung des Temperaments«, wie sie es nannte, dann war es nach der Zeit im Pfarrhaus einfacher gewesen, dieser Pflicht Genüge zu tun. Zumal Tante Emma sie darin bestätigt hatte zu rennen, zu tanzen, sich auszutoben, wenn Friederike es nicht sah. Sie hatte sogar von Marie das Tanzen gelernt, als diese im letzten Jahr die Tanzstunde besucht und von dort Walzer, Polka und selbst südamerikanische Tänze mitgebracht hatte. In der guten Stube hatten sie das Grammophon angekurbelt, den Tisch beiseite gerückt, und Marie hatte an sie weitergegeben, was sie gelernt hatte.

»Du willst doch auch mal tanzen gehen später«, hatte die Freundin dazu gesagt.

»Ja!«, hatte sie lachend geantwortet. »Das werde ich auch. Nur darf die Großmama es nicht wissen.«

Und nun war alles anders. Tante Emma hatte sie belogen, viele Jahre lang. Weil Großmutter es so wollte, hatte sie gesagt. Um ihretwillen, um sie, ihr Patenkind, zu schonen. Und jetzt traute man ihr zu, die Wahrheit zu erfahren. Weil sie alt genug sei, sie zu verstehen. Verstehen, dass ihre Mutter lebte. Weit weg, in Amerika.

Sophie stand auf, setzte sich, so wie sie war, im Nachthemd und mit aufgelöstem Haar, auf das breite Fensterbrett und schaute hinaus. Onkel Ludwig überquerte die Straße und kam direkt auf das Pfarrhaus zu. Richtig, heute war Dienstag; er hatte Johann in die Behindertengruppe gebracht, wo ehrenamtliche Helferinnen mit den Kindern und Jugendlichen spielten, malten und Lieder sangen. Wie gern und oft war sie mitgegangen, und wie viel Spaß hatte ihr die Arbeit dort gemacht! Das Vertrauen zu spüren, die Zuneigung, die Fortschritte … Diese Menschen wussten nichts von unehelichen Geburten, von Kindern ohne Vater und Mutter. Und das, dachte sie spontan, das ist es auch gewesen, was mich hier im Pfarrhaus so frei, so leicht gemacht hat: dass alle in Tante Emmas Familie mich so genommen haben, wie ich bin, einfach als Mensch.

Als es an der Tür klopfte, nahm Sophie es nicht wahr. Sie saß an ihrem Waschtisch und sah sich im Spiegel an. Wer war sie? Wer war sie wirklich? Die Tochter einer ehrlosen Person und eines unbekannten Vaters? Oder die Tochter einer Mutter, die sie liebte, wie Onkel Ludwig behauptete. Die Tochter eines Mannes, den ihre Mutter über alles geliebt habe.

Emma öffnete leise die Tür, und das Bild, das sich ihr bot, ließ ihr Herz höher schlagen. Das junge Mädchen vor dem Spiegel mit dem offenem Haar, ernst und nachdenklich schaute sie sich an, ohne jede Eitelkeit, fragend, prüfend. Im Geist ersetzte sie Sophies goldbraune Locken durch Carolines glänzend schwarze, ihre Augen tönte sie etwas dunkler – und sah die Gesichter von Mutter und Tochter miteinander verschmelzen, sah zum ersten Mal, wie groß die Ähnlichkeit war. Die schöne, schlanke Tochter des Postillions, dem alle Mädchenherzen zugeflogen waren. Lines Worte fielen ihr ein: »Wenn ich bei ihm bin, dann lebe ich, Emma, und es fehlt mir an nichts. Es ist dann alles gut.«

Sie stand im Türrahmen und sah dieses Bild, bis Sophie ihr Haar raffte und aufsteckte. Da erst bemerkte sie Emma.

»Du bist wohlauf, Sophie. Das ist schön. Wir haben uns Sorgen gemacht.«

Das Mädchen nickte stumm. Ihre Gedanken standen ihr noch immer im Gesicht geschrieben. Sie hatte sich ausgeweint, den Schock überwunden. Nun kamen die Fragen, die sie nie hatte stellen dürfen.

»Komm«, sagte Emma und nahm ihren Arm. »Das Frühstück steht bereit.«

Die Tür zu Pastor Pistorius’ Arbeitszimmer stand offen; Sophie hörte Ludwigs Stimme, und Emmas, die ihm antwortete. Sie trat ein und sah, wie der Pastor die Zeitung zusammenfaltete und vor sich auf den Schreibtisch legte.

»Ja, das macht mir allerdings Sorgen«, sagte er dazu. »Der Streik der Bergarbeiter, das Elend in den Städten. Die Fleischpreise werden weiter steigen. Wo soll das hinführen?«

Emma, die hinter ihm stand, legte ihre Hand auf die Schulter ihres Mannes.

»Wir müssen aufpassen«, fuhr Ludwig fort, »dass wir hier keine russischen Verhältnisse bekommen.«

»Es war so schrecklich!«, pflichtete Emma ihm bei. »Diese vielen Menschen, die eine Bittschrift an den Zaren überreichen wollten, friedlich und geduldig haben sie gewartet. Und die Soldaten schießen in die Menge.«

»Genau das meine ich. Und unser allergnädigster Kaiser ist nicht gerade ein Freund sozialer Reformen. Er macht lieber Weltpolitik.« Ludwig stand auf und küsste seine Frau zum Abschied. »Ich muss gehen. Mein Vorgesetzter wartet. Nun, wenigstens ihn wird das alles nicht umtreiben.«

»Nein, sicher nicht. Er wird dir von der Einweihung des Berliner Doms berichten. Schließlich war die Kaiserfamilie anwesend.«

»Ja, das wird er wohl tun, der Herr Superintendent. Und er wird mir wieder einmal sagen, dass es meine Aufgabe sei, Gottes Wort zu predigen und die gottgewollte Ordnung zu achten.«

Da bemerkte er das in der Tür stehende Mädchen, ging auf sie zu, zog sie in die Arme und drückte sie an sich.

Sophie schloss unwillkürlich die Augen. Wie gut das tat, einfach einmal in die Arme genommen zu werden! Und es war auch gut, dass sie das Gespräch gehört hatte. Onkel Ludwig war immer so gütig und herzlich. Und dabei hatte offenbar auch er Probleme und machte sich Sorgen.

»Geht es dir besser?«, fragte Pistorius.

Sie nickte und schluckte.

»Komm, mein liebes Mädchen«, forderte Emma sie freundlich auf. »wenn du es möchtest, werde ich dir all deine Fragen beantworten.«

Tante Emmas Gesicht, so offen und freundlich. Sie hat mich sehr lieb, hat sie gesagt, gestern.

Im Salon zog Emma Sophie neben sich auf das kleine Zweisitzer-Sofa und strich ihr übers Haar.

»Es tut mir so leid, Sophie. Ich meine, es war sehr viel für dich gestern.«

»Es ist alles so … anders, Tante Emma. Ganz plötzlich ist alles anders … Großmutter hat immer gesagt, dass … meine Mutter weggegangen ist, als ich noch ganz klein war, und dort drüben gestorben ist. Und einen Vater habe ich gar nicht – ich meine, … man weiß nicht, wer er war …«

»Ich weiß, Sophie, das hat sie dir erzählt. Und überall im Dorf hat sie’s erzählt, und alle haben es geglaubt, glauben es bis heute.«

Emma sah das Mädchen neben sich ruhig an. Sie hatte Sophies Hand in ihre genommen und drückte sie leicht.

»Als ich dir gestern sagte, wie lieb ich dich habe, Sophie, da habe ich dir die Wahrheit gesagt. Und ebendeshalb war ich so schockiert, als ich von Windhoek zurückkam, zu deinem zehnten Geburtstag, du erinnerst dich vielleicht noch? Der erste Geburtstag, den wir nach meiner Rückkehr gemeinsam gefeiert haben.«

Sophie nickte. »Ja, da hast du mir die Kette geschenkt.« Sie zog das Schmuckstück aus ihrem Kragen und hielt es an dem Sternenanhänger fest.

»Die hatte deine Mutter für dich geschickt. Sie wollte, dass der gute Stern dich leitet.«

Sophies Augen wurden groß. Sie schluckte, unwillkürlich löste sie den Griff ihrer Hand, sodass der kleine goldene Stern auf ihre Brust zurückfiel.

»Damals bat mich deine Großmama, dir und auch im Dorf nicht die Wahrheit über deine Mutter zu sagen. Du warst noch in der Schule, ich traf die Großmama allein an. Sie wollte nicht, dass du beunruhigt wirst, ein Kind von zehn Jahren. Und ich, Sophie, ich wollte dir deine Welt, in der du damals als Kind lebtest, nicht kaputtmachen. Mir war klar, dass du das nicht verkraften würdest, ohne Schaden zu nehmen.« Emma ergriff jetzt Sophies beide Hände und fuhr nachdrücklich fort: »Ich habe deiner Mutter alles so geschrieben, wie ich es von deiner Großmama gehört hatte. Es muss schrecklich für sie gewesen sein. Aber sie musste es wissen. Sie schrieb zurück, dass sie alles akzeptiere, um deines Wohlergehens willen. Aber sie legte diesen Brief an dich, den ich dir gestern zeigte, dem Antwortschreiben bei. Sie überließ es mir, den Zeitpunkt zu wählen, an dem du die Wahrheit erfahren solltest. Denn du hast ein Recht darauf, Sophie, jedes Recht. Und dann kannst du entscheiden, was du daraus machen willst.«

Sophie hatte still zugehört. Sie ließ Emmas Worte wirken. Dann sagte sie leise: »Ich kann das alles noch gar nicht fassen.«

»Lass dir Zeit, mein liebes Kind. Auch dazu hast du jedes Recht.«

»Tante Emma?«

»Ja.«

»Hast du … hast du mich … nur dieses eine Mal belogen?«

»Ja«, sagte Emma fest. »Nur dieses eine einzige Mal.«

»Und meine … Mutter …? Großmama sagt, dass sie eine ehrlose Person war.«

Emma seufzte. In diesem Augenblick trat Amalie ein und brachte das Teezeug. Sie nickte Sophie aufmunternd zu.

»Ja«, sagte Frau Pistorius dankbar, »das tut uns jetzt gut!«

Der starke, heiße Tee war eine Wohltat für Sophies trockene Kehle. Sosehr sie auch merkte, dass Emma ehrlich zu ihr war, sosehr fürchtete sie sich vor dem, was noch kommen würde. Die Fragen, die sie sich, vor dem Spiegel sitzend, gestellt hatte, waren quälend. Sie war vor ihnen davongelaufen, das wusste sie jetzt. Mit zwölf, dreizehn Jahren habe ich sie mir wohl das erste Mal gestellt, bekannte sie sich stumm, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Ich wollte all diese Fragen vergessen. Ich war die Tochter einer »ehrlosen Person« – und Großmama wollte, dass ich niemals so werde wie sie. Deshalb erzog sie mich so streng. Und Tante Emma wollte, dass ich heimlich diese Strenge durchbreche …

»Das, was die Großmama dir über deine Mutter erzählt hat, Sophie, das war gewiss ihre Überzeugung, und sie ist es noch. Denn sie war gnadenlos ihrer Tochter gegenüber.«

»Wo ist meine Mutter jetzt?«

»Immer noch in Amerika, in einem Staat, der Kentucky heißt. Sie hat dort eine Pferdefarm.«

»Warum hat sie mich im Stich gelassen?« Die Frage kam abrupt, heftig und ohne dass sie es geplant hatte, aus Sophies Mund. Gleichzeitig schossen ihr die Tränen in die Augen.

Emma stellte ihre Tasse ab und nahm wieder Sophies Hand. »Ich möchte dir alles von Beginn an erzählen«, sagte sie sanft, »die ganze Geschichte von Caroline und Georg, von deinen Eltern. Dann kannst du dir am besten ein Bild machen. Einverstanden?«

Am Abend, als Sophie in ihrem Bett lag, konnte sie lange nicht einschlafen. Zu sehr wirkten Emmas Worte nach; zu sehr hatte die Geschichte ihrer Eltern sie schockiert, betroffen gemacht. Und noch immer konnte sie das Gehörte nicht wirklich begreifen, geschweige denn einordnen. Aber sie hatte jetzt ein Bild vor Augen, wenn sie an die Mutter dachte: Emmas Schilderung der jungen Caroline, der sie ähnlich sah; ein schlankes Mädchen, nur wenig kleiner als sie selbst, mit lockigem schwarzem Haar, zum lockeren Knoten gebunden, und intensiv blauen Augen. Sie war dankbar für dieses Bild. Immer wieder war sie in den letzten Jahren aus Träumen aufgewacht, aus Träumen, in denen sie ihre Mutter gesucht hatte, in denen sie auf eine Frauenfigur mit dunklem Haar zugegangen war, die ihr den Rücken zukehrte. Dann hatte die Frau sich umgedreht – und hatte kein Gesicht. Da war nichts als eine leere weiße Fläche gewesen. Schweißgebadet war sie aus diesen quälenden Träumen erwacht und hatte nicht wieder einschlafen können. Jetzt, zum ersten Mal, wurde das Bild klarer, deutlicher. Ein Gesicht, ähnlich dem ihren … Irgendetwas an diesem Bild kam ihr auf merkwürdige Weise bekannt vor, ohne dass sie hätte sagen können, warum.

Als sie einschlief, nahm sie dieses Gesicht mit in den Schlaf, und am Morgen dachte sie an den Postillion, der ihr Vater gewesen war. Das, was Tante Emma erzählt hatte, war vertrauenerweckend gewesen; sie sah den großen blonden Mann in der Postuniform vor sich, lachend, sympathisch. Noch immer hielt die Postkutsche vor dem Kaiserlichen Postamt in Mahlsheim, genau wie damals, und der Postillion blies die Signale. All das war ihr vertraut. Und so sollte auch ihr Vater, auf dem Kutschbock sitzend, das Horn umgehängt, den Hut mit dem Federbusch auf dem Kopf, herangefahren sein. Und Caroline Caspari, ihre Mutter, hatte auf ihn gewartet …

Sophie dachte seinen Namen, sprach ihn leise aus: Georg Lindström. Fremd klang dieser Name, sie hatte ihn nie zuvor gehört. Wie auch, sagte sie sich, die Großmama hat nur ein- oder zweimal von Caroline gesprochen. Und sie hat behauptet, meine Mutter hätte viele Verhältnisse gehabt … »Vater unbekannt« steht in meiner Geburtsurkunde; eben deshalb, sagte Großmama, weil es jeder gewesen sein könnte. Das tat weh, so weh! Ich weiß, sie wollte mich erziehen, vor dem bewahren, was »meine Tochter mir angetan hat«. Aber es hat so sehr geschmerzt! Und einmal, als ich fragte, wer denn als Vater in Frage komme, da wurde sie böse, so bitterböse, und hat mich zurechtgewiesen und mir einen Tag Stubenarrest gegeben.

»Du musst das vergessen, Sophie! Du musst all das vergessen!«, befahl sie mir am Tag darauf. »Ich habe dafür gesorgt, dass Gras über die Sache wächst, und die Leute hier sehen dich zuallererst als Waisenkind. Dafür solltest du dankbar sein! Und du darfst nichts tun, was in irgendeiner Weise moralisch anstößig ist! Dir wird man es eher als jeder anderen verübeln.«

Seitdem habe ich geschwiegen; ein halbes Jahr ist das jetzt her. Und nun die Geschichte, die Tante Emma mir erzählt hat … Das ist das Gegenteil von dem, was ich immer über meine Mutter hören musste. Diese Liebe, dieses Vertrauen, von dem sie sprach. Dann der Tod Georg Lindströms im Manöver, vor der Heirat, vor meiner Geburt – das klingt so …. unglaublich, ein bisschen wie erfunden. Aber Tante Emma lügt mich nicht an. Es war nur dieses eine Mal, weil ich noch zu jung war. Ich müsse Mutters Brief lesen, meinte sie, damit ich alles aus ihrem Munde höre.

Aber ich kann nicht! Und ich kann nicht nach Hause fahren, noch nicht. Ich werde Onkel Ludwig bitten, an die Großmama zu depeschieren – eine Woche vielleicht, ich kann noch nicht dorthin zurück.

Ludwig hatte das Telegramm noch am selben Tag aufgegeben. Sophie wäre krank, nichts Ernstes, die Magenverstimmung würde in ein paar Tagen kuriert und das Mädchen eine Woche später als geplant wohlbehalten wieder zu Hause sein, schrieb er, und gab Sophie, Emma und Marie damit die Gelegenheit, immer wieder und ausgiebig zu reden. Sophie wurde langsam ruhiger, je mehr Einzelheiten sie erfuhr. Die ausgiebigen Spaziergänge an der Lahn taten ihr gut, Amalies Fürsorge, Emmas deutlicher denn je gezeigte Zuneigung, Maries Freundschaft und Johanns Zutraulichkeit. Es schien ihr, als fühle er auf seine ganz eigene Weise mit ihr.

Was sie am meisten umtrieb, war die Verleumdungsgeschichte. Gustav Caspari, ihr Vormund, habe die Intrige gesponnen, die seine Schwester Caroline als Hure brandmarkte. Und deshalb waren alle Versuche ihrer Mutter, sie, Sophie, zu sich zu nehmen, gescheitert. Caroline habe sich umbringen wollen, nachdem sie erfahren habe, dass die Großmama sie ihrem Kind gegenüber für tot erklärt hatte.

»Warum ist sie nach Amerika gegangen?«, fragte sich Sophie immer wieder. »Sie hätte doch in Berlin bleiben können.« Und schließlich stellte sie diese Frage, die die quälendste von allen Fragen war, laut.

»Sie hatte hier alles verloren, Sophie! Dich, den geliebten Mann; in Mahlsheim konnte sie sich nicht mehr sehen lassen, ohne dir zu schaden – als Person mit einem unmoralischen Lebenswandel! Das hatte sie doch schriftlich, vom Vormundschaftsamt!«

Sophie nickte, wenn Emma so sprach, und alles schien ihr einsichtig und nachvollziehbar. Doch wenn sie abends in ihrem Zimmer allein war, fragte sie sich wieder: Warum ist sie weggegangen? Wenn ich ihr wirklich so viel bedeutet hätte, dann wäre sie geblieben!

Drüben, in Kentucky, hatte die Mutter nach schweren Schicksalsschlägen ein neues Glück gefunden, Sie hatte wieder geheiratet und noch einmal eine Tochter geboren.

Die Tränen flossen unaufhaltsam, als Sophie sich das vorstellte. Dieses Kind hatte eine Mutter und einen Vater. Und sie selbst würde ewig eine Uneheliche bleiben …

Zwei Tage vor der Heimreise offenbarte sie Emma und Ludwig diese Gedanken, denn sie trug zu schwer daran.

»Deshalb hat deine Mutter dir den Brief geschrieben, Sophie! Sie schrieb an dich, kurz bevor ihre zweite Tochter geboren wurde.

Damit du all das weißt und auch die Gründe kennst.«

»Lass dir Zeit, Sophie«, ergänzte Pastor Pistorius die Worte seiner Frau. »Lass alles auf dich wirken, so lange es auch dauert. Und dann entscheide nach deinem Gefühl. Glaube mir, es ist das Beste so.«

Sophie nickte zustimmend. Onkel Ludwig hatte recht, sie war aufgewühlt, die Wucht der Ereignisse hatte sie völlig unvorbereitet getroffen.

»Die Großmama – was wird sie zu all dem sagen, Tante Emma?«

»Es wird sie sehr schockieren, dass du die Wahrheit kennst. Willst du es ihr denn überhaupt gleich erzählen?«

Sophie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Die Großmama hat mich aufgezogen; sie ist streng, aber sie war immer für mich da. Sie ist alles, was ich habe – außer euch natürlich. Ach, Tante Emma, was soll nur daraus werden?«

»Übermorgen reist du ab, Sophie. Du allein entscheidest, was du wann wem preisgeben willst. Werde dir nur erst selbst darüber klar. Lies den Brief deiner Mutter, sobald du es vermagst. Sicher hilft er dir zu verstehen.«

Kapitel 3

Gustav Caspari war auf dem Weg zu seiner Mutter. Er genoss den morgendlichen Ritt von seiner Villa in der Kreisstadt Fuchshagen nach Mahlsheim und nahm bewusst einen Umweg, um ihn zu verlängern. Seit er in die Jahre gekommen war und stark auf die vierzig zuging, neigte er zum Fettansatz und hoffte, diesem Übel durch den Sport abzuhelfen. Zugleich gab ihm der Weg durch den Hirschwald und um den Mahlsberg herum die Gelegenheit, noch einmal über das bevorstehende Gespräch nachzudenken. Die Worte seiner Frau Elisabeth, die diese während des gemeinsamen Frühstücks eindringlich an ihn gerichtet hatte, kamen ihm wieder in den Sinn; und diese Worte waren es auch, die ihn unglücklicher machten, als er es sich eingestand.

»Cecilie hat drei Kinder, Margarethe hat vier.« Als ob er das nicht wüsste! Natürlich kannte er den Grund, warum sie diese Tatsache so oft wiederholte: Sie war der Sorge geschuldet, dass er sich seiner Nichte als Nachfahrin des Hauses Caspari erinnern und sie in irgendeiner Weise am Erbe beteiligen könnte.

»Sieben Neffen und Nichten. Und Margarethes ältester Sohn zeigt ein deutliches Interesse am Beruf des Ingenieurs.« Dann, auf sein Schweigen hin, der Nachsatz: »Das Fehrhofensche Erbe ist gesichert; und die Fehrhofens sind auch deine Familie, Gustav.«

Hatte er ihr so deutlich gezeigt, dass er unter der fehlenden Nachkommenschaft litt, darunter, dass ihre Ehe kinderlos geblieben war?

Litt er wirklich darunter? Ja, gestand er sich ein. Wenn ich bei Kurt Westphal bin, meinem Partner in der Firma Westphal und Caspari, bei seiner sanften, gütigen Frau und den drei Jungen. Wenn ich so einen Jungen hätte, einen Caspari, der meinen Platz in der Firma einnehmen könnte, eines Tages. Elisabeth ist siebenunddreißig – da können doch noch Kinder kommen …

Aber er wusste, dass solche Gedanken abwegig waren. Die zahllosen Kuren in Schwalbach, Konsultationen bei Professoren, Temperaturmessungen, Pflichttage für die Versuche, seine Frau zu schwängern. Aber derlei Gedanken vergingen auch wieder. Er hatte viel zu tun, gebaut wurde mehr denn je, und inzwischen wurde das Bauunternehmen auch mit vielen öffentlichen Aufträgen betraut: Krankenhäuser, Schulen, Ämter. Und hatte Elisabeth nicht recht? Waren nicht Cecilies und Margarethes Kinder gerade so wie eigene, konnte nicht sein Neffe Rudolf eines Tages in die Firma einsteigen, so wie es sein eigener Sohn hätte tun können, wäre er je geboren worden?

Und dann diese Sorge wegen seines Mündels – als ob er es jemals auch nur in Erwägung gezogen hätte, diesem Bankert in irgendeiner Weise Familienstatus zuzuerkennen! Das war es, was ihn an Elisabeths stetem Insistieren am meisten ärgerte. Es war schon genug, dass er bis zum einundzwanzigsten Geburtstag des Mädchens seinen Pflichten als Vormund nachkommen musste.

Als er um die Biegung des Mahlsbergweges ritt, sah er das große Haus, das er von seinem Vater geerbt hatte, samt den Nebengebäuden vor sich liegen. Das Tor zum Hof stand offen, Stellmacher Fidis war bei der Arbeit. Er hob die Hand zum Gruß, Gustav grüßte zurück und nahm den Hintereingang zu der im Obergeschoss gelegenen Wohnung seiner Mutter. Sophie war verreist, wusste er, bei ihrer Patentante zu Gast. Er war entschlossen, das Vorhaben, das ihm die günstige Gelegenheit der Bekanntschaft mit dem Gutsbesitzer Julius Arnsberg verschafft hatte, so bald wie möglich umzusetzen. Sophie würde aus dem Dorf verschwinden und Elisabeth endlich Ruhe geben.

»Ja, Mutter«, begann er, als sie einander in der guten Stube gegenübersaßen, »du kennst den Anlass meines Besuches. Deine Enkelin ist aus der Schule entlassen, und es gilt, über ihre Zukunft zu entscheiden.«

Frau Caspari sah ihren Sohn aufmerksam an. Unruhe lag in ihrem Blick, als sie den Kaffee einschenkte, die selbst gebackenen Kekse anbot. Gustav machte eine abwehrende Handbewegung, steckte sich eine Zigarette an, zog den Rauch tief ein, blies ihn aus, nahm einen neuen Zug.

»Wir kommen gut miteinander zurecht«, sagte Friederike, angesichts seines Schweigens unsicher geworden. »Ich dachte, dass …. Sophie kann mir doch weiter zur Hand gehen. Ich meine, ich werde immer älter. Vieles fällt mir schon schwer. Sie melkt die Kuh, sie sorgt für die Schweine, für die Hühner; sie hilft mir bei der Arbeit im Garten, vieles im Haus nimmt sie mir ab. Sie ist jung und kann für mich sorgen.«

Gustav blies wieder den Rauch aus. Dann lächelte er und schüttelte den Kopf. »Genau das habe ich mir gedacht. Dass du das sagen würdest.«

Friederike schluckte; sie merkte sehr genau, dass ihr etwas Unangenehmes bevorstand. Ihr Gefühl, dieses Gespräch betreffend, war richtig gewesen.

»Dann will ich dir einmal sagen, wie ich mir die Sache denke.« Er machte eine Kunstpause, um die Wirkung seiner Worte zu verstärken, und fuhr dann fort: »Ich habe vor Kurzem erst einen sehr honorigen Herrn kennengelernt. Er wollte an seinem Gutshaus ein paar Umbauten vornehmen lassen. Ich war persönlich dort, auf Gut Arnsberg, und habe mit ihm alles besprochen. Er war sehr freundlich, zeigte mir den Besitz; und beim Kaffee erzählte mir seine Frau – eine im Umgang äußerst angenehme und auch sehr elegante Dame –, dass sie wohl noch eine Dienstmagd brauchen könne. Sie bat mich, mich einmal umzuhören, um dann vielleicht jemanden empfehlen zu können. Viele junge Mädchen seien heutzutage so unzuverlässig; sie zahle gut, um alles, was sich bewähre, auch zu halten.«

Gustav machte erneut eine Pause, rauchte und beobachtete seine Mutter, die bei seinen Worten stetig blasser geworden war.

»Es ist eine untadelige Familie, sehr wohlhabend; bürgerliche Gutsbesitzer mit zwei beinahe schon erwachsenen Kindern und einem Spätgeborenen mit einer Behinderung. Nun, du kannst dir denken, dass mir all das sehr gefiel.«

Friederike schluckte unwillkürlich. Gustav drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus.

»Ich nahm den Hausherrn schon bei meinem Abschied beiseite und erzählte ihm von meinem Mündel, einer Unehelichen« – Friederike zuckte zusammen – »derer ich mich angenommen habe, um sie von dem Weg, den ihre Mutter, meine leibliche Schwester, genommen habe, abzuhalten und zu bewahren.«

Friederike senkte den Blick.

»Zusammen mit meiner Frau Mutter, die unter der Ehrlosigkeit ihrer Tochter sehr gelitten habe, habe ich es zuwege gebracht, dass mein Mündel ein anständiges Mädchen geworden sei, soweit das eben durch Erziehung möglich sei. Wenn er dieses Risiko – denn ein Risiko sei es trotz all unserer Bemühungen dennoch – einzugehen bereit sei, dann werde sich Fräulein Sophie Caspari bei ihm vorstellen.«

Friederike sah ihren Sohn an, tief getroffen von seiner Mitteilung, die er in einen kühlen, sachlichen Ton gekleidet hatte. »Das alles hast du ihm gesagt?«

»Ja, Mutter. Deine Enkelin muss aus Mahlsheim fort, darauf bestehe ich. Und wenn sich so eine günstige Gelegenheit bietet, wie die, die ich eben schilderte, dann müssen wir sie wahrnehmen. Aber ich will nicht, dass Herr Arnsberg später Vorwürfe gegen uns erhebt, wenn es mit der Anständigkeit deiner Enkelin doch nicht so weit her ist, wie du immer behauptest.«

»Gott, Gustav! Wenn sie schon von hier weg muss … Du kannst sie doch nicht dorthin schicken, wo sie nun von vornherein gebrandmarkt sein wird!«

Caspari schenkte sich Kaffee nach, Friederike tat ihm Milch und Zucker hinein. Ihre Hand zitterte. Er trank einen Schluck und sagte dann: »Im Gegenteil ist es besser so. Ich war nach diesem ersten Besuch noch einmal auf dem Gut. Herr Arnsberg war mit dem Fortgang des Umbaus sehr zufrieden, und er hatte auch mit seiner Gattin über meinen Vorschlag gesprochen. Frau Charlotte Arnsberg ist, das kann ich dir versichern, Mutter, eine sehr tolerante Dame. Sie lobte mich für meine Ehrlichkeit und erbot sich, deine Enkelin als Dienstmagd einzustellen. Das unselige Erbe ihrer Mutter trage sie zwar in sich, aber dergleichen sei doch immer noch durch die Erziehung zu korrigieren. Sie wisse nun um Sophie Casparis Herkunft, und das sei gut. Denn sie werde es sich vornehmen, den Weg, den wir, du und ich, das Mädchen bisher geführt hätten, fortzusetzen. Wie ich schon erwähnte: Sie ist eine liberal eingestellte Dame … Deine Enkelin hat mehr Glück als Verstand«, schloss Gustav seine Rede ab.

Friederike schwieg. Sie begriff allmählich, dass jegliche Einwände oder gar der Versuch, ihren Sohn umzustimmen, zum Scheitern verurteilt waren.

»Nun schau nicht so finster, Mutter«, hörte sie Gustav sagen. Er stand auf und reichte ihr die Hand. »Glaube mir, es ist das Beste so.«

»Das Beste für wen, Gustav? Wie soll ich denn zurechtkommen ohne Sophie! Das Beste für dich, für Elisabeth, nicht wahr – damit ihr sie los seid.«

»Das ist ungeheuerlich!«, schnaubte er. »Ihr könnt froh sein, dass ich mich für den Bankert einsetze!«

Friederike erhob sich aus ihrem Sessel und sah ihren Sohn ernst an. Er hielt ihrem Blick nicht stand – der Trauer, der Enttäuschung, der Resignation in ihren Augen.

»Du hast dich sehr verändert, Mutter«, sagte er mit abgewandtem Blick. »Wenn ich bedenke, dass dir dieses Kind sozusagen aufgezwungen wurde.«

»Fünfzehn Jahre« ,erwiderte sie leise, »und ich habe das aus ihr gemacht, was sie ist. Sie ist nicht so, wie ihre Mutter war.«

Er atmete hörbar aus, so als wolle er sagen: Ein hoffnungsloser Fall!

»Wann soll sie gehen? «, fragte sie und sah an ihm vorbei.

»Sobald sie aus Marburg zurück ist.« Er legte einige Scheine auf den Tisch. »Das Fahrgeld. Und telegrafiere an Arnsberg, bevor sie dort eintrifft.«

»Wenn du Rat und Hilfe brauchst, mein Kind, dann weißt du, dass du jederzeit hierherkommen kannst«, hatte Onkel Ludwig zum Abschied gesagt. Dieses Versprechen, Tante Emmas Abschiedskuss, Maries Umarmung, Johanns ungeschickter Händedruck, Amalies ermutigendes Lächeln, all das hatte Sophie wohlgetan. Und nun saß sie in der Eisenbahn und fuhr ihrem alten Leben entgegen: der Großmama, die sie belogen hatte; der Großmama, die sie aufgezogen hatte, die sie vielleicht doch ein bisschen lieb hatte.

Sie zog den Brief aus ihrer Reisetasche hervor und wendete ihn hin und her. Auf dem Kuvert die klare, saubere Handschrift: Für meine liebe Tochter Sophie. Sie drehte das Kuvert um, las dann wieder die Anrede auf der Vorderseite, starrte nachdenklich und in einer seltsamen Versunkenheit auf die Worte, schreckte dann auf, als Fahrgäste das Abteil betraten, und steckte den Brief hastig wieder in ihre Tasche zurück.

Als sie in Fuchshagen ausstieg, blieb das Ehepaar sitzen, nickte ihr freundlich zu. Ein Pfiff ertönte, der Zug fuhr an, und erst als auch der letzte Waggon, der Biegung der Schienen folgend, außer Sicht war, raffte sie ihre Tasche und ging langsam durch den kleinen Bahnhof auf die Straße zu, die nach Mahlsheim führte. Ganz im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen Aufenthalten bei der Pastor-Familie hatte sie es heute durchaus nicht eilig, nach Hause zu kommen. Stets hatte es sie gedrängt, der Großmama von all dem Schönen zu erzählen, das sie erlebt hatte. Und die hatte genickt und gelächelt, und einmal hatte sie ihr auch übers Haar gestreichelt und gesagt: »Bist ein gutes Mädchen, Sophie.«