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Als die betagte Helene Frankenberger stirbt, hinterlässt sie ihrem Neffen Christian und seinem langjährigen Freund Felix nicht nur eine verschlossene Truhe. Die Suche nach dem passenden Schlüssel bringt unerwartete Akteure und Jahrzehnte zurückliegende, dunkle Geheimnisse auf die Bühne. Alle Beteiligten werden dazu gezwungen, sich mit dem Geschehenen und ihrer eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Wer lügt? Wer sagt die Wahrheit? Und was ist wirklich mit Helenes verschwundenem Ehemann passiert?
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Seitenzahl: 280
Veröffentlichungsjahr: 2020
Für Mama und Papa, Oma und Uroma. Und für all jene, die ich nicht kennenlernen durfte.
Schmerzen! Mein Kopf. Gesicht wie tausend Nadeln. Ich atme noch. Es tut weh. Es tut gut, ich atme. Meine Finger … ich kann sie bewegen. Ich greife … scharfe Steinchen. Und Sand … Erde. Weiche, feuchte Fasern. Meine Beine. Ich kann sie bewegen. Kalt. Ich friere. Warum bin ich … meine Kleidung ist nass. Ich höre, fühle … Wasser.
Dunkel. Augen öffnen. Es geht. Es ist immer noch dunkel. Ich kann den Kopf heben, mich aufstützen. Ich sehe Bewegung. Zweige. Sträucher. Bäume. Dort oben … schwarze Zweige vor dunkelblauem Himmel. Der Wind bewegt sie. Nacht. Kalt. Ich … schaffe es … mich aufzusetzen. Wasser. Ich war im Wasser. Warum? Warum der Schmerz? Gewitter im Kopf. Schraubstock am Schädel. Meine Augen brennen. Warum sitze ich hier in der Nacht, nass, mit Schmerzen? Ich muss … aufstehen. Langsam. Ich … stehe … meine Beine gehorchen mir. Diese Kopfschmerzen! Ich muss vom Wasser weg. Einen Fuß vor den anderen setzen. Wo bin ich? Unwichtig. Ich gehe. Zu den schwarzen Bäumen dort. Vor mir. Über mir. Ich muss klettern. Meine Füße rutschen. Ich halte mich fest und ziehe mich hinauf. Nicht nach unten schauen. Sonst wird der Schmerz schlimmer. Über mir, die Bäume.
Mir ist übel. Ich muss mich ausruhen. Dann weiter. Ich bin oben, lehne mich an den Baumstamm. Raue Rinde an meinen Händen. Sicherheit. Ich ruhe mich aus. Immer noch Schmerzen. Was ist nur geschehen? Alles dreht sich. Meine Beine geben nach. Ich klammere mich an den Baum, um nicht zu fallen. Ich will nicht wieder hinunter zum Wasser. Aber ich bin schon auf den Knien. Ich setze mich hin, lehne mich fest gegen den Stamm. Vielleicht kann ich den Schmerz in die Rinde drücken. Ich bin müde. Darf ich schlafen? Oder wache ich dann nicht mehr auf? Gleichgültig. Ich weiß ohnehin nicht …. Wer ich bin. Wo ich bin. Was passiert ist. Die Schwärze. Schlaf. Ja. Ich will schlafen. Bis der Schmerz vorbei ist. Lange … schlafen.
Kapitel 1: Tante Lenis Erbe
Kapitel 2: Generationsspiel
Kapitel 3: Der Markt der Fundsachen
Kapitel 4: Die Jagd beginnt
Kapitel 5: Wer den Unsichtbaren sieht
Kapitel 6: Tee für die Oma
Kapitel 7: Was keiner wissen darf
Kapitel 8: Die Stimme des Gewissens
Kapitel 9: Vertreibung aus dem Paradies
Kapitel 10: Unverhofftes Glück
Kapitel 11: Lektion für einen Freund
Kapitel 12: Licht im Dunkel
Kapitel 13: Friedhof der Träume
Kapitel 14: Einmal Jenseits und zurück
Kapitel 15: Bilder voller Leben
Kapitel 16: Hilferuf der Seelen
Kapitel 17: Kinderspiele
Kapitel 18: Die unvollendete Geschichte
Kapitel 19: Begegnung mit der Zukunft
Kapitel 20: Das Geschenk
Kapitel 21: Spiel mit offenen Karten
Kapitel 22: Der wahre Schatz
Kapitel 23: Die Stunde der Wahrheit
Kapitel 24: 35 Jahre sind ein Tag
Kapitel 25: Der Überlebende
Kapitel 26: Die zweite Chance
Kapitel 27: Pläne sind zum Scheitern da
Kapitel 28: Demaskierung
Kapitel 29: Angst hat viele Gesichter
Kapitel 30: Im Schatten der Schuld
Kapitel 31: Die letzte Runde
Kapitel 32: Nicht nach Fahrplan
Kapitel 33: Das andere Leben
Kapitel 34: Eine Handvoll Staub
Kapitel 35: Das Ende eines langen Weges
Kapitel 36: Ein Leben für ein Leben
Kapitel 37: Eine schönere Welt
„Ich glaube, wenn Menschen Dinge besitzen und sie die Welt eines Tages verlassen, dann bleibt etwas von ihrem Wesen an den Stücken zurück. Wie Fingerabdrücke.“
- Anna Crowe, The Sixth Sense (1999)
Felix Leonhardt klappte den Blitz seines Fotoapparates zu, bevor er ihn in die gepolsterte Tasche zurücklegte. Mit dem Handrücken strich er sich die dunklen Haare aus der Stirn und blickte sich um.
Der weitläufige, niedrige Kellerraum, in dem er sich befand, war trocken, die Wände weiß verputzt, und die LED-Röhren an der Decke versorgten auch den letzten Winkel mit kaltem Licht.
Dr. Christian Frankenberger, Felix‘ Freund aus Kindertagen, hatte den kleinen Bungalow am Rande des Südschwarzwalds in Waldshut-Tiengen, im Wohngebiet unterhalb des Vitibuck, einige Jahre zuvor gekauft.
„Was willst du denn mit diesem Riesenkeller anfangen?“, hatte Felix bei der ersten Besichtigung seinen Freund gefragt.
„Partykeller,“ hatte Christian lapidar geantwortet. „Oder ich stelle hier unten einen OP-Tisch auf und mache meine eigenen kleinen … Experimente.“
„Dann musst du aber noch Schallschutz anbringen, Herr Doktor. Damit die Schreie die Nachbarn nicht stören,“ hatte Felix entgegnet. „Oder willst Du aus Frankenberger Frankenstein machen?“
„Ha ha, sehr witzig.“
„Was denn? Du hast angefangen.“
Felix lächelte und schüttelte den Kopf, um die Erinnerung zu vertreiben. Bis vor wenigen Tagen war, entgegen aller Partykeller- und Frankenstein-Pläne, der Kellerraum fast völlig leer gewesen. Natürlich bis auf die üblichen Umzugskartons der Kategorie Die-räume-ich-später-irgendwann-mal-aus.
Jetzt allerdings standen, lagen und lehnten auf der gesamten Fläche verteilt die Erbstücke von Christians kürzlich verstorbener Großtante Helene, der Schwester seines Großvaters.
Felix wandte sich seinem Laptop zu, das er auf einer Kommode aus Eichenholz abgestellt hatte. Zeilen und Spalten voller Zahlen, Stichwörter und Bemerkungen füllten die geöffnete Datei. Beschreibungen und Maßangaben von Vasen, Kandelabern, Schatullen, Statuetten, kleineren und größeren Gemälden in hölzernen Rahmen, aber auch von einer ganzen Anzahl an größeren und kleineren Möbelstücken.
Er nahm seinen aufgeklappten Laptop in beide Hände und drehte sich damit langsam einmal um sich selbst, um zu prüfen, ob er auch wirklich alles erfasst hatte. Vorsichtig schritt er dann, den Computer auf den linken Unterarm balancierend und mit der Hand stützend, zwischen den Möbelstücken hindurch und warf gelegentlich einen Blick in seine Aufzeichnungen.
Im Vorbeigehen strich er mit der rechten Hand liebevoll über den einen oder anderen Gegenstand.
Felix liebte diese Tätigkeit, den Kontakt mit Dingen, die so unglaubliche, alte Geschichten zu erzählen wüssten, wenn sie es nur könnten.
Immer wenn er von Kollegen, Freunden oder Bekannten gebeten oder von diesen an Dritte weiterempfohlen wurde, ein schönes altes Erb-, Erinnerungs- oder Fundstück zu betrachten und zu schätzen, war es für Felix wie eine Reise in die Vergangenheit. Manchmal berührte er ein solches Stück und stellte sich vor, die Gedanken und Empfindungen der Personen nachvollziehen zu können, die es mit Liebe, Fantasie und Geschick hergestellt, verziert oder endbearbeitet hatten.
Hin und wieder schloss er dann für einige Momente die Augen und konnte die Werkstatt des Künstlers vor sich sehen, das frische Holz riechen. Er spürte die Hitze des Feuers in einer Schmiedewerkstatt und das warme Blut, das nach einer unbedachten Handhabung des Werkzeugs aus einer Wunde auf das Werkstück getropft war.
Er konnte die Tränen auf den Wangen des Lehrbuben schmecken, der aus irgendeinem Grund eine saftige Maulschelle vom Meister bekommen hatte.
Dann kam es ihm so vor, als seien es seine eigenen Tränen, die zu weinen er sich immer versagt hatte, trotz des tyrannischen Verbotes seines Vaters, seinen Wunschberuf erlernen zu dürfen. Wie gerne hätte er mittlerweile eine eigene Antiquitätenhandlung, vielleicht mit einer kleinen Holzwerkstatt besessen, anstatt anderen Leuten mehr oder weniger wertvolle Immobilien anzudrehen.
Wie sehr er es doch hasste, den reichen Klienten und seinem geldgierigen Chef, in dessen Unternehmen ihn sein Vater großzügig hineingebracht hatte, nach dem Mund reden zu müssen.
Aber er hatte dieses Theater bereits lange und erfolgreich genug durchgehalten, um mittlerweile Junior-Partner zu sein. Das ermöglichte ihm die Abgabe mancher Aufträge an zuverlässige Subunternehmer und die etwas freiere Einteilung seiner Zeit, sodass mehr davon für sein geliebtes Hobby übrig blieb, das er mit mehr Leidenschaft ausübte als seinen Beruf, und das ihm auch die eine oder andere nicht zu verachtende Provision bei erfolgreichen Auktionen und Verkäufen einbrachte.
Dieses Mal war Felix von seinem Freund Christian gebeten worden, den hinterlassenen Besitz seiner Großtante Helene zu schätzen, zu katalogisieren und – idealerweise – für gutes Geld zu veräußern. Manches würde Christian natürlich selbst behalten. Er hatte die alte Dame sehr gemocht und in den letzten Tagen unter den Dingen in seinem Keller einige Erinnerungsstücke ausgesucht und teilweise schon in seinen Wohnräumen untergebracht.
Felix hatte ihm dabei geholfen und sich bei jedem einzelnen Teil anhören dürfen, wo es in Helenes altem Häuschen in Freiburg gestanden hatte. Und sogar, welchen Platz es in ihrer letzten Residenz hatte. Dabei hatte Felix Helene selber einige Male mit Christian zusammen in beiden Wohnungen besucht und dort auch einige Stücke bewundern dürfen.
Außerdem hatte Helene einen guten Geschmack gehabt, für den sie von vielen Leuten bewundert worden war.
Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als Christians Großonkel Walter irgendwann spurlos verschwunden war.
Danach, so schien es, hatte auch ihr Interesse an neuen materiellen Dingen nachgelassen, denn kaum eines der Objekte, die sie hinterlassen hatte, konnte nach dem zweiten Weltkrieg entstanden sein.
Eines der Möbelstücke hatte Felix heute mit besonderer Aufmerksamkeit untersucht und katalogisiert. Es war eine sehr gut erhaltene alte Truhe, etwa einen Meter zwanzig lang, etwas mehr als einen halben Meter breit und achtzig Zentimeter hoch, mit gewölbtem Deckel und feinen Intarsien, vermutlich Nussbaum und Ahornwurzel. Form, Stilelemente und Verarbeitung ließen ihn das gute Stück auf ein Alter von ungefähr 250 Jahren schätzen.
Unglücklicherweise stellte die schöne Truhe Felix und Christian vor ein Problem. Sie war verschlossen und der Schlüssel schien nicht auffindbar zu sein.
Felix betrachtete die Truhe mit glänzenden Augen. Er hätte den ganzen restlichen Tag dort verbringen und das Meisterwerk von allen Seiten bewundern können. Es war nicht das Gefühl, dieses exzellent gearbeitete Stück besitzen zu wollen, das ihn fesselte. Ihm genügte es, sie ansehen zu dürfen. Zwar hatte er sich einige Male dabei ertappt, wie er überlegte, die Truhe selber von seinem Freund Christian zu erwerben, aber er war sicher, dass ein Auktionshaus einen Preis erzielen würde, der sich außerhalb von Felix' finanzieller Leistbarkeit befand. Christian selbst würde ihm das Schmuckstück sicher für einen Spottpreis abtreten. Aber allein der Gedanke, seinen Freund um ein kleines Vermögen zu bringen, kam Felix wie Betrug vor.
Zunächst mussten sie ohnehin einen Weg finden, die Truhe zu öffnen, bevor sie sie zum Verkauf anbieten konnten.
Felix fuhr sich mit der Hand durch die Haare und überlegte einen Moment. Dann holte er seine Kamera aus der Fototasche. Er überprüfte die Einstellungen, kniete sich vor die Truhe und machte ein paar Nahaufnahmen vom metallenen Schloss der Truhe. Anschließend holte er einen kleinen Messschieber aus dem Aktenkoffer, der aufgeklappt auf der untersten Kellerstufe lag, und notierte sämtliche ermittelten Innen- und Außenmaße des Schlosses in seinem Computer.
Die Kamera wanderte in ihre Tasche zurück, Computer und Messschieber verschwanden in Felix' Aktenkoffer.
Mit der Kameratasche über der Schulter und dem Koffer in der Hand ging Felix die Kellertreppe hinauf, knipste das Licht aus und schloss die Tür hinter sich.
„Christian? Ich bin fertig!“ rief er in das stille Haus hinein.
„Super!“ Ein hochgewachsener, blonder Mann um die Vierzig trat in den Korridor. „Ich danke dir. Und? Glaubst du, wir werden was los von den Sachen? Es wäre ja schön, wenn ich alles behalten könnte. Aber so viel Stellfläche habe in nun doch nicht, wie du weißt. Die Sachen in meinem Keller vergammeln lassen will ich auch nicht. Und auf den Sperrmüll werfe ich garantiert nichts davon.“ Die beiden Männer gingen nebeneinander durch den Flur zur Haustür.
„Nun ja,“ antwortete Felix. „Da sind viele wunderschöne und möglicherweise durchaus wertvolle Stücke dabei. Besonders, wie gesagt, die große Truhe. Und du hast wirklich keinen Schlüssel dazu?“
Christian öffnete die Tür. „Tut mir leid. Nein. Ich habe nochmal sämtliche Schränke, Schubladen, Schachteln und was man sich vorstellen kann, durchsucht. In Helenes Sachen ist kein Schlüssel, der in dieses Schloss passt. Meinst du, das wird den Preis drücken?“
Felix lachte auf, während er in den sonnigen Vorgarten hinaustrat. „Würdest du ein so großes Möbelstück für eine vierstellige Summe kaufen, obwohl du es nicht verwenden kannst, bloß weil es von außen hübsch aussieht?“
Christian blieb stehen und staunte: „Vierstellig? Glaubst du wirklich? Das wäre allerdings enorm.“ Er ging weiter und beschleunigte seine Schritte auf dem Kies, um das Gartentor für Felix zu öffnen.
„Andererseits,“ fuhr er fort, „Tante Leni hat die Truhe trotz dieses Schönheitsfehlers immerhin auch behalten.“
Felix trat zu seinem Wagen, öffnete den Kofferraum und legte den Aktenkoffer und die Kameratasche hinein. „Aber deine Tante Helene hat die Truhe ja bereits besessen, als der Schlüssel abhanden kam. Und weißt du was?“ Er schlug den Kofferraumdeckel zu. „Vermutlich hat sie persönlich das Wissen um den Verbleib des Schlüssels mit ins Grab genommen.“
Christians Blick fixierte Felix' Kofferraumdeckel. „Wenn wir Pech haben, hat sie sogar den Schlüssel selbst mit ins Grab genommen.“
Die beiden Männer sahen sich eine Weile an, bis Felix fragte, „Warum sollte sie so etwas tun?“
Christian lachte, „Mann, das sollte ein Witz sein.“ Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, und er fuhr fort, „Oder glaubst du ehrlich, dass in der Truhe etwas so Wertvolles steckt, dass sie es am liebsten, na ja, mitgenommen hätte?“
„Wer weiß?“ Felix ging um den Wagen herum zur Fahrertür. „Auf jeden Fall würde es den enormen Preis völlig ruinieren, wenn du jetzt hinunter gingest und versuchtest, das Schloss aufzubrechen. Davon rate ich dir also dringend ab.“
Er stieg ein und schlug die Autotür zu. Christian beugte sich hinab und sprach durch das offene Autofenster. „Keine Sorge. Ich werde versuchen, meine Neugier zu zügeln. Hast du eine andere Idee?“
Felix ließ den Motor an. „Oh ja, ich denke schon.“
Das Auto brauste über den Kies davon und Christian blieb mit offenem Mund und einer ungestellten Frage auf den Lippen zurück.
„Ärzte verbringen die meiste Zeit damit, sich auf die Zukunft zu konzentrieren, sie zu planen, darauf hin zu arbeiten. Doch an einem bestimmten Punkt erkennt man plötzlich, dass sich das Leben jetzt abspielt. Nicht erst wenn das Studium vorbei ist, oder die Facharztausbildung, sondern jetzt und hier. Es passiert gerade eben. Einmal blinzeln und man hat es verpasst.“
- Dr. Meredith Grey, Grey's Anatomy: Die jungen Ärzte, S5E24, Jetzt oder nie, Intro (2009)
Christian ging langsam zurück ins Haus. Er schloss die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen.
Er dachte an seine Großtante Helene, die wenige Wochen zuvor im Alter von unglaublichen einhundertundzwei Jahren in ihrer Freiburger Einrichtung für betreutes Wohnen im Schlaf verstorben war.
Rüstig war sie noch gewesen, und geistig komplett auf der Höhe. Bis zuletzt hatte sie sich Bücher aus allen möglichen Leihbüchereien geholt oder bringen lassen. Sie hatte Biographien und Kriminalromane bevorzugt. Die spannenden Leben anderer Menschen, realer wie fiktiver, hatten sie interessiert, über ihr eigenes hatte sie nie sprechen wollen.
Christian hatte nur wenige Versuche unternommen, seiner Großtante Fragen über ihre Vergangenheit zu stellen.
„Gestern war gestern, junger Mann,“ pflegte sie dann zu sagen. „Warum willst du deine Gegenwart mit Gedanken an die Vergangenheit verplempern, wenn du doch eine Zukunft zu planen hast?“
Und doch las sie leidenschaftlich gerne Bücher über die Vergangenheit fremder Leute.
Christian konnte sich nicht vorstellen, dass Helenes Leben nicht interessant gewesen war. Was konnte man in über hundert Jahren alles erleben! Gut, es war verständlich, wenn sie die Erlebnisse, die die beiden Weltkriege unweigerlich mit sich gebracht hatten, gerne ungeschehen gemacht hätte. Möglicherweise hatte sie liebe Menschen verloren, vielleicht gar den Vater? Christian wusste es nicht.
Auch sein eigener Vater, Erich, der Sohn von Helenes Bruder Hans, hatte keinerlei Kenntnis über die Dinge, die Helene hätte erzählen können, wenn sie es nur gewollt hätte.
Vor allem die merkwürdige Sache mit Großonkel Walter, welche das auch immer gewesen sein mochte, hatte zeitweilig für Rätselraten bei Felix, Christian und dessen Eltern gesorgt. Aber die Mischung aus eisigem Schweigen und offener Feindseligkeit, welche ihnen bei ihren unschuldig gestellten Fragen auf das Heftigste entgegen geschlagen war, hatte sie von weiteren Nachforschungen absehen lassen.
Und nun war Großtante Helenes langes Leben zu Ende.
Auf ihren testamentarischen Wunsch hin war sie im kleinen Kreis in Freiburg beigesetzt worden, fernab vom Rest ihrer Familie. Ihr Bruder, Christians Großvater, und dessen Frau lagen in Luttingen bei Laufenburg am Hochrhein begraben.
Christian ging in die Küche und widmete sich wieder der Zubereitung seiner Samstags-Gemüsesuppe, eine Tradition, die er von seiner Mutter übernommen hatte. Er wusste genau, dass gerade in diesem Augenblick in einer anderen Tiengener Küche ebenfalls Gemüse für die Zubereitung einer Suppe geputzt wurde.
Natürlich konnte er jederzeit zur Wohnung seiner Eltern hinunter gehen und bei ihnen zu Mittag essen. Das galt für jede Mahlzeit an jedem Tag. Das hatten sie ihm unmissverständlich klar gemacht, als er sich damals seine erste eigene Wohnung gesucht hatte. Seine Mutter kochte immer noch für drei und würde es weiterhin tun. Aber meistens war es dann sein Vater, der mit den Resten einer wieder einmal zu üppig bereiteten Mahlzeit beglückt wurde.
„Du mästest mich, Gisela!“ hörte Christian seinen Vater sagen. „Und unser Junge ist und bleibt rank und schlank, weil er vernünftigerweise nie mehr kocht als er essen kann.“
Prinzipiell war Christian seine Selbständigkeit und die Unabhängigkeit von seinen Eltern schon immer sehr wichtig gewesen, daher hatte er sofort nach seinem Auszug begonnen, sich selbst um seine Ernährung und Wäsche zu kümmern. Zum Glück hatten seine Eltern keine größeren Probleme damit, das zu akzeptieren, außer eben der traditionellen zusätzlichen Portion bei den warmen Mahlzeiten.
Allerdings kam es schon das eine oder andere Mal vor, dass Christian nach einer anstrengenden Schicht im Spital weder Lust hatte zu kochen oder essen zu gehen, noch sich mit einem simplen Butterbrot zufrieden geben wollte. Diese Gelegenheiten schienen seine Mutter darin zu bestätigen, grundsätzlich eine Portion ‚für Christian‘ im Topf oder im Kühlschrank zu haben. Kam Christian nicht zum Essen, bekam Erich die Portion zusätzlich.
„So geht das nicht weiter!“ hatte ihm sein Vater einmal zugeraunt, als seine Mutter in der Küche verschwunden war, um den nicht weniger üppigen Nachtisch zu holen.
„Entweder brauchen wir einen Hund …“ Christian hatte genau gewusst, was nun kommen würde. „Oder du brauchst eine Frau, die das Kochen übernimmt, damit deine Mutter endlich kapiert, dass sie dich nicht mehr füttern muss.“
Christian hatte gelacht und geantwortet: „Als ob das so einfach wäre. Ihr könnt ins Steinatal rüberfahren und euch im Tierheim einfach einen Hund aussuchen, aber die richtige Frau …“
„Du denkst, das ginge so einfach? So ein Hund muss doch zu uns passen! Da kann man doch nicht irgendeinen nehmen, bloß weil er süß aussieht, und hinterher buddelt er uns die Tulpen aus oder pinkelt aufs Sofa.“
„Ach? Und mit Frauen ist das weniger kompliziert? Da nehme ich einfach irgendeine, bloß weil sie süß aussieht, und hinterher buddelt sie mir die Tulpen aus oder pinkelt …“
„Christian!“ Unbemerkt war Gisela wieder an den Tisch getreten. Sie hatte das Tablett abgestellt und finster von einem Mann zum anderen geschaut.
„Wir brauchen keinen Hund, Erich. Und Christian … nun,“ hatte sie mit gesenkter Stimme angemerkt, „wir hatten doch darüber gesprochen, dass wir ihn sein Leben so leben lassen wollen, wie er sich das vorstellt. Das geht uns nichts an.“ Sie hatte sich gesetzt und unter den entgeisterten Blicken der beiden Männer begonnen, ihren Schokoladenpudding mit Sahne zu sezieren.
„Es tut mir leid, mein Junge,“ Erich hatte sich verschwörerisch zu Christian hinübergelehnt. „Sie glaubt immer noch, dass … du … und Felix.“
„Mama?“ Christian ließ diese Art von Unterhaltung immer halb genervt, halb amüsiert über sich ergehen. „Ich bedaure sehr, dich zu enttäuschen, aber du wirst dir wirklich ein anderes Feld suchen müssen, auf dem du deine Toleranz – die dich natürlich sehr ehrt - ausleben kannst. Aber ich bin da – und ich sage es noch einmal ausdrücklich – KEIN geeignetes Objekt. Denn - ich – bin – nicht – schwul! Felix im Übrigen auch nicht.“
Meistens wurde an dieser Stelle des Gesprächs damit begonnen, die einzelnen – wenigen – Episoden mit Freundinnen zu rekapitulieren, die die beiden Freunde in ihrem Leben schon gehabt hatten, und die Frage erörtert, weshalb die Beziehungen nicht von Dauer gewesen waren.
Schließlich verabschiedete sich Christian in der Regel mit der Frage an seine Mutter, wie er denn die Tatsache zu bewerten habe, dass sie, Gisela, den größten Teil ihrer Freizeit statt mit ihrem Mann lieber mit ihrer besten Freundin Rosmarie, die sie liebevoll Rosi nannte, verbrachte.
Gisela schob ihren Sohn dann mit einem „Sei nicht so frech!“ und dem Hinweis auf den morgigen Menüplan aus der Wohnungstür hinaus.
Christian warf ein Lorbeerblatt in die duftende Flüssigkeit auf dem Herd und rührte vorsichtig um.
Er seufzte.
„Wer ist das?“
„Ich weiß es nicht. Er hat sich heute Abend auf den Hof geschleppt.“
„Geschleppt? Ist er verletzt?“
„Er blutet am Kopf. Hat mir einen Mordsschrecken eingejagt, als ich noch ein bisschen Holz hereinholen wollte. Er stand da, als ich vom Schuppen kam. Stand da, streckte die Hand aus und sagte irgendwas. Ich hab's nicht verstanden. Dann ist er umgefallen.“
„War der Arzt da?“
„Vor einer Stunde. Sagt, er hat wohl eine Gehirnerschütterung. Ist gestürzt. Oder geschlagen worden. Völlig durchnässt war er auch.“
„Wohl ein Flüchtling?“
„Mag sein. Hab halt nicht verstanden, was er gesagt hat. Waffen trägt er keine bei sich und auch keine Papiere.“
„Da! Er rührt sich.“
„Ja, ganz ruhig. Sie sind hier sicher. Bleiben Sie liegen.“
„Versuchen Sie nicht zu sprechen. Ruhen Sie sich aus.“
„Oh, er verliert wieder das Bewusstsein.“
„Geh. Schick Beat nochmal nach dem Arzt. Ich mach mir Sorgen.“
Mrs. Sanderson: „Doktor, was glauben Sie und Ihre Assistenten denn nun wirklich in Hill House zu finden?“ Dr. Markway: „Vielleicht nichts weiter als ein paar knarrende Fußböden. Aber vielleicht auch, ich sage vielleicht, den Schlüssel zu einer anderen Welt.“
- Bis das Blut gefriert (1963)
Zu Hause angekommen, nahm Felix mit einem Becher Kaffee und seinem Laptop am Schreibtisch Platz. Er zog die Speicherkarte aus seiner Digitalkamera und lud die Fotos, die er an diesem Vormittag in Christians Keller aufgenommen hatte, auf die Festplatte seines Rechners. Zuletzt öffnete er in einem Internetbrowser mehrere Reiter mit Auktions- und Verkaufsplattformen.
Felix hatte seine Erfahrungen mit verschiedenen Plattformen und Auktionshäusern gemacht, denen man online Artikel für eine erste Ansicht anbieten konnte. Er wusste, wo er mit welchen Artikeln die besten Ergebnisse erzielte, sowohl was den Gewinn beim Verkauf anging, als auch den Preis, wenn er selbst etwas erwerben wollte. Zudem war es ihm das eine Mal mehr, ein anderes Mal weniger wichtig, ob das jeweilige Auktionshaus einen guten Ruf unter nationalen und internationalen Kennern und Fachleuten besaß oder nicht. Besser war das grundsätzlich, aber nicht immer wichtig. Das kam immer auf den einzelnen Artikel an.
Entsprechend dieser Erfahrungen brachte Felix nun nacheinander die einzelnen größeren und kleineren Habseligkeiten von Großtante Helene bei den Auktions- und Verkaufshäusern unter. In einigen Fällen würde er im Laufe der kommenden Woche noch veranlassen müssen, dass die Möbelstücke so bald wie möglich aus Christians Keller abgeholt und in die jeweiligen Showrooms, die Ausstellungsräume der Auktionshäuser transportiert würden, wo die Interessenten sie begutachten konnten.
Nach knapp vier Stunden war er beim letzten Artikel, den er anbieten wollte, angekommen.
Mit gemischten Gefühlen stellte Felix fest, dass mittlerweile bereits die ersten Fragen zu dem einen oder anderen auf der Online-Auktions-Plattform eingestellten Stück per E-Mail eingegangen waren. Natürlich freute er sich darüber, wenn seine angebotenen Artikel schnell Interesse weckten, aber andererseits ärgerte er sich, wenn es ihm nicht gelang, alle möglicherweise aufkommenden Fragen von potenziellen Käufern vorherzusehen und direkt in die Beschreibung einfließen zu lassen. Er konnte sich aber mit der Beantwortung der E-Mails noch ein wenig Zeit lassen. Je näher der Zeitpunkt des Angebotsendes heranrückte, um so schneller beantwortete er solche Fragen, weil er wusste, dass er auf diese Weise so viele Interessenten wie möglich im Rennen halten konnte. Diese würden einander schließlich einen rasanten und spannenden Gebotsendspurt liefern, der den Endpreis in die Höhe trieb. Immerhin wollte Felix ja Geld verdienen, für seine Kunden und für sich selbst. Bei diesen Artikeln erhielt er, wie meistens, eine kleine Provision – darauf hatte Christian bestanden -, aber er wollte natürlich auch gerne für seinen Freund das Beste herausholen, was möglich war.
Felix trank etwas Kaffee und öffnete noch einmal das Dokument, das die Maße und Detailbeschreibungen von Tante Helenes wunderbarer Holztruhe enthielt. Er betrachtete die Worte und Zahlen, welche in rein mathematischen Begriffen versuchten, das Wesen des fein gearbeiteten, nach mindestens zwei Jahrhunderten offensichtlich immer noch zuverlässig funktionierenden Eisenschlosses darzustellen.
Felix wusste, dass es wenig Sinn haben würde, eine verschlossene Truhe zum Verkauf anzubieten, wenn kein Schlüssel dabei war, um sie zu öffnen. Zweifellos würde wenigstens einer von diesen selbsternannten Schatzsuchern darauf bieten, nur um hinterher das Schloss aufzubrechen und zu sehen, ob sich nicht eventuell weit größere Reichtümer darin befänden, als ein solcher Katze-im-Sack-Kauf ihn kosten würde. Natürlich würden Truhe, Deckel und Schloss dabei beschädigt werden, aber das war solchen Leuten meistens egal.
Allein dieser Gedanke tat Felix in der Seele weh. Er würde sich die größte Mühe geben, zu verhindern, dass dieses schöne Stück einem solchen Menschen in die Hände fiel.
Außerdem musste Felix sich eingestehen, dass es ihn selbst brennend interessierte, was die Truhe enthielt. Schatzsucher war auch er in gewisser Weise, aber ausgestattet mit Skrupeln und Gewissen.
Und dann war da noch Christian. Die Truhe und ihr Inhalt gehörten zu seinem Erbe. Er hatte ein Anrecht, zu wissen, was genau er da geerbt hatte. Vielleicht hatte er sogar die Pflicht dazu.
Felix' Fantasie begann, Blüten zu treiben. Möglicherweise befanden sich wirklich Schätze darin, Schmuck, alte, wertvolle Münzen, Akten, Urkunden aus längst vergessenen Zeiten, Beweise für brisante, ungelöste geschichtliche Rätsel.
Er nahm einen Bleistift aus dem Stiftebecher und drehte ihn zwischen den Fingern, wie eine Majorette ihren Tambourstab in Zeitlupe. Ein paar Minuten überlegte er, bevor er schließlich den Bleistift zurück in den Becher schnellen ließ und gezielt eine An- und Verkaufsplattform aufrief.
Dort gab er unter ‚Gesuche‘, ohne Beschränkung auf ein bestimmtes Bundesland, die Daten des Schlosses und eine der Realität nicht ganz entsprechende Beschreibung des Möbelstücks an, zu dem es angeblich gehörte. Er schrieb, er suche nach einem Schlüssel, der möglicherweise zu diesem Schloss passen könnte.
Felix wusste, dass Bemerkungen wie ‚ich zahle jeden Preis‘ einen Eindruck von Verzweiflung vermittelten. Und das war immer schlecht, da man damit den möglicherweise utopischen Preisvorstellungen des Verkäufers ausgeliefert war. Er hatte beim Kaufen mittlerweile einige Übung im Feilschen, wobei er manches Mal eine gehörige Portion Schauspielkunst mit einfließen lassen musste.
Also machte er schlicht überhaupt keine Angabe dazu, wie viel zu zahlen er prinzipiell bereit war. Manchmal war ein Hauch von Gleichgültigkeit recht hilfreich, wenn es Felix auch in diesem speziellen Fall ziemlich schwer fiel, da seine Abenteuerlust und sein detektivischer Instinkt nun endgültig geweckt waren.
Besonders quälend war nach solchen Aktionen immer das Warten. Mehr konnte er jetzt aber nicht tun.
Er sah auf seine Armbanduhr. Viertel vor Sechs. Er lehnte sich in seinem bequemen Bürostuhl zurück und schloss die Augen. Er musste nicht lange darüber nachdenken, wie seine Pläne für den restlichen Samstagabend aussehen könnten. Nachdem er den Vormittag inmitten all der wunderbaren Möbel und Kunstgegenstände in Christians Keller verbracht hatte, wollte er dorthin zurückkehren und vielleicht ein wenig mit seinem Freund über dessen Erinnerungen plaudern, die er eventuell mit dem einen oder anderen Stück verband.
Christian hatte außerdem vor ein paar Tagen mit Felix' Hilfe einen von Helene geerbten Sekretär in sein Büro getragen. Auch dieser war ein exquisit erhaltenes Prachtstück, trotz seines stolzen Alters von an die hundert Jahren. Dieser Sekretär enthielt, laut Christian, immer noch einige Packen unsortierter Dokumente aus Helenes Besitz.
Felix stand auf und ging zum Telefon. Christian könnte ihm heute Abend ruhig ein Glas Wein spendieren und ihm erlauben, einen Blick in diese alten Papiere zu werfen. Vielleicht fänden sich darunter sogar noch Rechnungen oder andere Hinweise auf die Werkstätten, aus denen einige der Gegenstände und Möbel stammten, die Felix heute Nachmittag der Welt zum Kauf angeboten hatte. Diese Angaben könnte man dann ergänzen und damit im Idealfall sogar noch mehr Interessenten gewinnen oder höhere Preise verlangen.
Felix wählte Christians Nummer und legte den Hörer ans Ohr. Bereits nach dreimaligem Klingeln wurde geantwortet. „Hey, Mr. Madson! Hast du schon Geld für mich verdient?“
Felix verdrehte die Augen. Rufnummernerkennung. Tolle Erfindung … eigentlich. „Na klar, massenweise, nur heute noch nicht.“
Christian lachte. „Was gibt’s denn Neues?“
„Bis auf die Truhe habe ich alles versorgt.“ sagte Felix, während er zurück zu seinem Schreibtisch schlenderte. „Jetzt müssen wir nur abwarten.“
Christian seufzte. „Und was machen wir mit dem Truhenmonster?“
„Ein wenig mehr Respekt bitte,“ Felix musste lachen. „Rein theoretisch könnte sich deine Altersvorsorge darin befinden. Du willst doch nicht riskieren, dass dir die durch die Lappen geht.“
„Einen Blick würde ich schon gerne riskieren, da hast du recht. Sag mal, was war denn das nun für eine Idee, die du angeblich vorhin hattest? Wäre nett gewesen, wenn du mich heute Vormittag nicht so ratlos auf der Straße hättest stehen lassen.“
Felix ließ sich auf sein Sofa fallen. „Hast du für heute Abend schon Pläne oder kann ich vorbeikommen? Dann erzähle ich es dir.“
„Nur die üblichen Junggeselle-aus-gutem-Haus-Pläne. Aber ein Besuch von dir tut's auch.“
„Gutes Haus! Jetzt übertreib mal nicht!“
Christian kicherte, „Schon gut. Komm rüber, sobald es dir passt. Ich spendiere auch ein Fläschchen.“
„Oder zwei?“
„Von mir aus. Mach dich auf die Socken!“
„Alles klar!“ Felix lachte, schüttelte den Kopf und legte auf.
Er kannte Christian schon sehr lange. Er hatte ihn sofort gemocht, als Christian, der Neue, an jenem Februartag in der vierten Klasse vorne beim Lehrer stand, nicht wissend, was ihn erwarten würde.
Felix hatte damals durchaus viele Kumpels in seiner Klasse gehabt. Nicht so sehr Freunde, aber eben die Bande, mit der man nach der Schule auch mal den einen oder anderen Schabernack anstellen konnte. Wäsche von den Leinen klauen, Schellen kloppen, Hühner freilassen oder der Nachbarskatze lustige Papierhüte aufsetzen oder Glöckchen an den Schwanz binden. Aber wenn man dann dabei erwischt wurde, konnte man sich nicht unbedingt darauf verlassen, dass alle gemeinsam zu den Untaten standen. Des Öfteren hieß es dann schon mal ‚Das war ganz alleine Felix' Idee‘ oder ‚Der Uwe hat uns dazu angestiftet‘. Oder eben ein globales ‚ICH hab nix gemacht!‘
Durch Dick und Dünn war man nicht miteinander gegangen. Aber an jenem Morgen hatte Felix das sichere Gefühl, dass das mit diesem Neuen anders werden würde. Und er behielt recht.
Sie hatten seitdem zusammen einiges durchgestanden und einander immer mit Rat, und soweit möglich auch Tat, unterstützt. Die erste Liebe und die erste diesbezügliche Enttäuschung, das erste eigene Auto, den Schulabschluss, Prüfungsvorbereitungen …
Christian hatte das Glück gehabt, nach seinem Medizinstudium in Tübingen eine Anstellung als Arzt in der Abteilung für Innere Medizin des Waldshuter Spitals zu bekommen, während Felix sich gezwungen sah, beruflich in seines Vaters Fußstapfen zu treten.
Felix beneidete Christian heimlich darum, dass dieser seine Träume immer hatte verwirklichen dürfen, während er selbst sich nie dazu aufraffen konnte, seinem Vater auch nur einmal die Stirn zu bieten.
Er wäre damals gerne mit Christian nach Tübingen gegangen, als dieser sein Medizinstudium begann, um selber Kunstgeschichte zu studieren. Aber da hatte sein Vater, ohne das überhaupt mit ihm vorher abzusprechen, den Ausbildungsplatz für Felix bereits ‚klargemacht‘ und ihm Undankbarkeit vorgeworfen, als Felix auch nur Anstalten gemacht hatte, zu protestieren und seinen eigenen Weg gehen zu wollen.
Schon immer war Christian in solchen Zeiten für ihn da gewesen. Daran hatte auch die zeitweilige Entfernung zwischen Tiengen und Tübingen nichts ändern können. Er hatte immer freundliche, aufmunternde Worten für Felix übrig gehabt, und oft besuchten sie sich am Wochenende oder in Christians Semesterferien gegenseitig, um zusammen ins Kino zu gehen oder einen neuerschienenen Videofilm anzuschauen.
Denn eine große Gemeinsamkeit, die sie schon immer verbunden hatte, war ihrer beider Leidenschaft für Filme. Seit ihrer frühen Jugend hatten sie zusammen unzählige neue und alte, schlechte und gute, lustige, traurige und spannende Filme gesehen und in sich aufgenommen. Es war für beide eine Möglichkeit, der Realität für eine Weile zu entkommen. Je fantastischer die Thematik des jeweiligen Films, umso begeisterter waren beide davon. Und umso häufiger schauten sie ihn sich an.
Viele Stunden der Flucht vor der Wirklichkeit und vor seinem Vater hatte Felix in Christians Zimmer mit dessen ersten von selbstverdientem Geld bezahlten Fernseher und Videorecorder verbracht.
Science-Fiction, Gruselfilme, Krimis. Je abstruser, je besser. Und umso länger dauerte es jedes Mal, bis die Tatsachen um ihn herum seine volle Aufmerksamkeit wieder in Beschlag nehmen würden.
Felix schüttelte die Erinnerungen an die Vergangenheit, die ihn manchmal ohne Vorwarnung überfielen und ihn wie ein schmerzhafter Hammerschlag trafen, von sich und ging zum Schreibtisch. Er verstaute seinen Laptop in seinem innen gepolsterten Aktenkoffer und entschloss sich, vorsichtshalber auch die Kamera mitzunehmen. Dann machte er sich auf den Weg zu Christians Bungalow.
„In diesem Haus darf keine Tür geöffnet werden, ohne dass die vorige verschlossen wurde! Es ist lebenswichtig, immer daran zu denken! Das ist nicht so einfach, wie es erscheinen mag.“
- Grace Stewart, The Others (2001)
Christian öffnete auf Felix' Klingeln hin die Tür und entdeckte die Kameratasche auf dessen Schulter. „Nanu? Noch mehr Fotos?“
„Man kann ja nie wissen.“ Felix trat ein und ging weiter ins Wohnzimmer. Dort legte er sein Gepäck auf ein Tischchen neben dem Sofa und setzte sich.
Christian trat mit zwei Gläsern und einer Rotweinkaraffe hinzu und ließ sich neben Felix nieder. Er stellte die Gläser auf den niedrigen Tisch vor dem Sofa und schenkte ein.
„Hast du bestimmte Pläne für heute Abend?“ Christian setzte die Karaffe ab und griff nach seinem Glas.
Felix nahm das andere. „Habe ich. Aber erst mal – Prost, auf ein hoffentlich ertragreiches Geschäft mit Großtante Helenes Hinterlassenschaften.“