Das Erbe der Venatoren - Stefan Deichert - E-Book

Das Erbe der Venatoren E-Book

Stefan Deichert

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Beschreibung

Beinahe vier Jahre ist es her, dass Corvin das Gemetzel im „Stammheim“ überlebte. Jetzt wird Michael, Busters Bruder, brutal in München ermordet. Die Beziehung zwischen Andrea und Corvin wird auf eine harte Probe gestellt, als Corvin in Lena, der neuen Sozialarbeiterin der Schule eine hartnäckige Verehrerin findet. Außerdem scheint Andrea etwas vor ihm zu verbergen. Monate vorher feiert eine Schülerin ihren 16. Geburtstag. Am Ende der Feier beschließen die letzten Gäste mit Hilfe eines Quija-Brettes einen Geist zu beschwören. Alle Lichter im Haus verlöschen und eine der anwesenden Schülerinnen, ebenso wie einige Kilometer entfernt auch die Sozialarbeiterin, verliert zeitgleich das Bewusstsein. Seit dieser Nacht geschehen in Corvins Umfeld beängstigende Dinge.

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Seitenzahl: 348

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Das Erbe der Venarotrn

Chronik der Venatoren II

Titel

 

 

Stefan Deichert

 

Das Erbe der Venatoren

 

__________________________________________________________

 

Chronik der Venatoren II

 

 

Roman

 

Impressum

 

 

 

 

Das Erbe der Venatoren

Chronik der Venatoren II

Stefan Deichert

 

© 2020 vss-verlag, 60389 Frankfurt

Covergestaltung: Sabrina Gleichman (www.bookcover.eu)

unter Verwendung eines Motivs von Renata Soszynska

Lektorat: Chris Schilling

 

 

www.vss-verlag.de

 

Inhaltsverzeichnis

 

Vorwort 5

Prolog 7

Anspiel 11

Rückblick und Veränderung 15

Montag, der 18. Mai 2015 29

Samstag, der 23. Mai 2015 52

Donnerstag, der 11. Juni 2015 62

Busters erste Verwandlung 66

Freitag, der 12. Juni 2015 77

Dienstag, der 16. Juni 2015 105

Montag, der 20. Juli 2015 107

Freitag, der 24. Juli 2015 114

Lena 135

Samstag, der 25. Juli 2015 139

Mittwoch, der 19. August 2015 150

Urlaub und Heimkehr 161

Dienstag, der 8. September 2015 (Vormittag) 173

Buster 182

Dienstag, der 8. September 2015 (Nachmittag) 185

Mittwoch, der 9. September 2015 200

(Ghost)Buster 210

Dienstag, der 15. September 2015 (Vormittag) 220

Dienstag, der 15. September 2015 (11:01 Uhr) 237

Alisa 251

Dienstag, der 15. September 2015 (11:14 Uhr) 257

Busters erste Verwandlung 263

Dienstag, der 15. September 2015 (11:16 Uhr) 278

Epilog 286

Epilog – Nachtrag 291

Vorwort

 

Endlich hatte ich meine erste eigene Geschichte „Das Heim der Wölfe“ aus meinem Kopf zu Papier gebracht. Ich war erleichtert! All die Gedanken und den Druck, den ich mir selbst in Bezug auf diese Geschichte auferlegt hatte, fielen von mir ab, wie ein Stein. Und ja, ich war auch etwas stolz!

Natürlich gab ich die Geschichte einigen Freunden und Bekannten zum Lesen. Und neben positiver, aber wohlwollender Kritik, traten viele von ihnen auf mich mit einigen Fragen zu:

 

„Und wie geht es jetzt weiter?“

„Was wird denn nun aus Corvin und seiner Andrea?“

„Was ist aus Daniel, Joschi und Michael geworden?“

„Was wurde aus den Venatoren und gibt es sie vielleicht doch noch?“

Und natürlich: „Was hatte es nun mit den schnell heilenden Bisswunden auf sich?“

 

Diese Fragen steckten mich an. Auch ich wollte sie schließlich beantwortet haben. Außerdem hatte ich meine Freude daran entdeckt, eine solche Geschichte zu entwickeln. Also schrieb ich weiter! Um auch diese Geschichte endlich loslassen zu können, schrieb ich die letzte Seite sogar im Krankenhaus kurz nach meiner Blinddarm-OP.

Auch diese Geschichte wäre ohne das Schulleben in Hungen und ohne die inspirierenden Unterhaltungen mit meinen Freunden farblos geblieben, daher gilt mein Dank wieder all den Menschen in meiner Nähe. In dieser Geschichte werden einige der Fragen (hoffentlich) beantwortet, aber dafür werden neue auftauchen, die irgendwann den Abschluss einer Trilogie fordern werden.

 

Homberg /Ohm, März 2015 bis Januar 2016

Prolog

 

Die Gestalt hielt ausreichend Abstand zu Michael. Sie wartete immer einen Augenblick an den Ecken der Häuser, bevor sie diese umrundete, drehte sich aus sicherer Entfernung von ihrem Ziel weg, wenn dieses kurz anhielt oder studierte interessiert einige Schaufenster, wenn der Ende Dreißigjährige sich unerwartet umdrehte.

Es schien als habe der Verfolger an alles gedacht. Abgesehen von seiner Körperlänge von etwa eins-achtzig konnte man nichts Handfestes über ihn berichten. Die klobigen Turnschuhe, die weiten Freizeithosen und der übergroße Kapuzenpulli ließen kaum einen Rückschluss auf seine Statur zu. Die Kleidung verschleierte perfekt alle sekundären Geschlechtsmerkmale und der Schirm des Baseballcaps, das die Gestalt tief ins Gesicht gezogen hatte, verdeckte bis zur Nasenspitze den oberen Teil ihres Gesichtes. Ihre Haare, wenn sie denn lang genug waren, um unter der Kappe hervorzuquellen, waren durch die Kapuze ihres Pullovers verdeckt, die sie noch über der Schirmkappe trug.

Um ganz sicher zu gehen, hielt sie die meiste Zeit ihren Kopf gesenkt und hatte ihre beiden Hände tief in den Taschen ihrer weiten Baumwollhose vergraben. Trotz der extremen Vorsichtsmaßnahmen, um nicht erkannt zu werden, waren es gerade diese Attribute, die einigen Leuten auffielen und an die sie sich nach dem Vorfall als ungewöhnliche Tatsachen erinnern konnten. Denn in diesen Tagen hatte der Sommer seine Spitzentemperaturen erreicht. In den letzten beiden Tagen hatte die Sonne die 30 Grad Marke locker hinter sich gelassen und auch heute war es nicht viel kühler. Niemand war bei einem solchen Wetter in dicker, langärmeliger Baumwollkleidung unterwegs. Doch nur die Beschreibung der - zu dieser Jahreszeit untypischen - Kleidung, würde nicht helfen.

Gegen halb sieben hatte man Michael heute aus dem Sanatorium entlassen. Er hatte sich langsam an die immer wiederkehrenden Tests gewöhnt und sich mit der Tatsache abgefunden, dass sein Leben wohl nie wieder in sogenannten „normalen Bahnen“ verlaufen würde. Aber zumindest würde er keine Gefahr mehr für andere sein und den überwiegenden Teil seines Lebens bei seiner Familie verbringen dürfen… und das war für ihn das Wichtigste. Es würde kein Verstecken mehr geben und er würde keine Angst mehr haben müssen. Er würde ein menschenwürdiges Leben führen und dafür war er mehr als dankbar!

Nach dem kurzen Fußmarsch von nicht mehr als vier oder fünf Minuten erreichte Michael schließlich die U-Bahnstation am Scheidplatz, die ihn nach drei Stationen in die Nähe seines neuen Zuhauses bringen würde. Diese bewohnte er seit knapp vier Jahren zusammen mit seiner jüngsten Schwester und seinem Vater hier in München. Durch Sponsorengelder und staatliche Subventionen für die Forschungsarbeit kam man für das Nötigste auf, um seine Familie zu unterstützen und sich seiner Mitarbeit zu versichern.

Als Michael die Unterführung zur U-Bahn-Station betrat, schlug ihm eine etwas kühlere, aber auch abgestandene Brise entgegen. Die verbrauchte Luft hier unten vermischte sich mit dem Duft von altem Urin und den Absonderungen der elektrisch aufgeladenen Leitungen. Beim Hinabsteigen versuchte er einen großen Bogen um die überquellenden Mülleimer und die allgegenwärtigen leeren Bierdosen und vollen Kondome zu machen, die wie die verstreuten Leichen eines Kriegsschauplatzes in jeder Ecke dieser unterirdischen Tunnel und Katakomben zu finden waren. Er ahnte nicht, dass er beschattet wurde. Nicht einmal dann, als er aus der Masse der Wartenden heraustrat, um sich direkt vor dem Absatz des Bahnsteiges zu platzieren und die Gestalt direkt hinter ihn an den Rand der Bahngleise trat.

Ein Lichtkegel, der im Inneren des Tunnels vor ihm um eine Ecke bog, ließ Michael kurz die Augen zusammenkneifen, während er das Gesicht abwandte. Mit einem unangenehm hallenden und quietschenden Klang kam die U-Bahn aus der Tunnelöffnung der Bahnstation heraus und wurde zusehends langsamer, als sie an der Haltestelle abbremste.

Das jetzt Folgende geschah sehr schnell und konnte nie ganz aufgeklärt werden.

Zwei Passanten, die in unmittelbarer Nähe von Michael und der vermummten Gestalt ebenfalls auf die Bahn warteten, sagten später aus, sie hätten gehört, wie die Gestalt dem jungen Mann etwas laut zurief, um das kreischende Geräusch der Bremsen zu übertönen.

In dem Moment als der Zugwagen der Bahn die beiden erreicht hatte, stieß die verhüllte Gestalt hart mit dem Ellenbogen zu. Mehr vor Überraschung, als vor Angst, gab Michael nur ein verwundertes „Humpf!“ von sich, bevor er auf die Gleise stürzte und das tonnenschere Personenbeförderungsmittel seinen Körper unbarmherzig erfasste. Neben seiner rechten Hand und seinem linken Bein, die man später beide sauber von seinem Körper abgetrennt auffand, wurde der Rest von Micheal buchstäblich zu einer Masse aus Fleisch und Knochen zermalmt.

Exakt in diesen Sekunden schien die Station für einige Momente ihre gesamte elektrische Energie zu verlieren. Das Licht flackerte in dem gesamten U-Bahn-Abschnitt, bevor es für eine ganze Minute völlig erlosch. Sämtliche Stromleitungen, inklusive der Überwachungskameras und der Bahn selbst wurden lahmgelegt. Dem entsetzten Geschrei der umstehenden Leute, die den Vorfall beobachtet hatten, gesellten sich nun auch noch die ängstlichen Rufe anderer Passanten durch das Erlöschen des Lichtes hinzu. Übertönt wurde diese Kakophonie nur durch das hochfrequente Kreischen der jetzt vollständig blockierenden Bremsen der einfahrenden Bahn. Die anschwellende Panik durch Michaels Tod und der Ausfall des Stromes verschafften dem Täter mehr als genug Zeit, um ungesehen zu entkommen.

 

 

 

Anspiel

 

„Glauben Sie an Gott?"

Eigenartigerweise wird mir als Religionslehrer immer wieder diese Frage von meinen Schülern gestellt. Und ich frage mich: Warum? Ich bin weder Pfarrer, noch Priester, sondern nur, unter Anderem, Lehrer für evangelische Religion und doch scheint man vor allem bei mir das Bedürfnis zu haben, mehr über meine spirituelle Einstellung zu erfahren.

Wenn man den Statistiken glauben darf, gehören knapp vier Milliarden Menschen dieser Welt einer sogenannten monotheistischen Religion an, also einem Glaubensdogma, das an einen einzigen Gott glaubt, den Gott Abrahams und Mose, „Jahve", wie er sich selbst in der Thora (oder dem Alten Testament) vorstellte. Doch natürlich bedeutet die Zugehörigkeit zu einer dieser Religionsgemeinschaften, wie dem Judentum, dem Christentum, dem Islam oder auch irgendeiner anderen Religion nicht zwangsläufig, dass man auch alle Glaubensprinzipien, Praktiken, Rituale und universellen Vorstellungen über das Transzendente mit dieser Gemeinschaft uneingeschränkt teilt.

Wie würden Sie auf diese Frage antworten?

Mein Weg zu einem gelingenden Leben und dem vorbehaltlosen Glauben an Gott war immer schon steinig. Aber gehört nicht Glauben und Zweifel auch irgendwie zusammen? Je mehr ich in meiner universitären Ausbildung über die Religion, vor allem über das Christentum erfuhr, desto mehr überschatteten die Zweifel mein Denken und meine Zuversicht in Gott. Die Faszination und die Fragen zu diesem Thema beschäftigten mich bereits in meiner Jugend und während meines Abiturs fragte ich meinen damaligen Religionslehrer, der auch Pfarrer war, wie man denn weiter an seinem Glauben festhalten könne, wenn man bereits so viel Wissen über die geschichtlichen Befunde und Hintergründe der Heiligen Schrift hätte? Seine Antwort war einfach. Während er mir offen, ohne ein Zeichen des Zweifels oder des Überlegens ins Gesicht lächelte, war seine Aussage zu dieser Frage: „Dennoch!" Ich war gleichermaßen schockiert und tief beeindruckt. Ganz ähnlich drücke es auch meine Mutter aus, als sie sagte: „Deshalb, Corvin, heißt es auch Glauben und nicht Wissen!"

Wenn der Glaube an den allmächtigen, erlösenden Gott der Israeliten und im Speziellen des Christentums auch ihr Glaube ist, wie weit heftet sich dieser Glaube dann an das heilige Wort oder auch an andere Überlieferungen? Glauben Sie auch an Engel, die Boten Gottes, Schutzengel, die über uns wachen und uns vor Schaden bewahren oder auch an den Satan - Luzifer, den gefallenen Engel, der sich gegen Gott erhob, um seinen eigenen Machtanspruch als „Lichttragender" geltend zu machen?

Was denken Sie allgemein über psychische Energien, ektoplastische Emanationen, gute oder böse Erscheinungen, wie Dämonen, Dschinns aus der Öllampe oder auch der Heilige Geist, der die Apostel beauftragte, das Evangelium Christi zu verkünden?

Neben all diesen Glaubensaspekten bleibt noch eine letzte Ungewissheit: Hat jeder Mensch eine Seele, und wenn ja, wo ist sie nach unserem Tod? Geht diese, jedem Menschen gänzlich eigene Energie, die absolute Essenz seines Seins in eine, wie auch immer geartete außerweltliche Form des Daseins über?

Überall auf unserer Welt haben vereinzelte Menschen es sich zur Aufgabe gemacht, diesen und weiteren Fragen, abseits der bekannten Naturwissenschaften und auch Religionen nachzugehen: Die Parapsychologie, Geisterjäger, spirituelle Medien oder auch Exorzisten spüren seit langem, mit Hilfe unterschiedlichster Praktiken und Hilfsmittel, sowohl technischer, naturwissenschaftlicher, als auch spirituell-religiöser Natur solchen Phänomenen nach. Sie wollen Personen oder Dinge davor beschützen, gefangene Energien freisetzen, oder diese sogar austreiben.

Aber egal welche Namen, Beweggründe oder auch Formen in den unterschiedlichsten Kulturen, Ländern, Zeitaltern oder Religionen diesen Phänomenen zugesprochen werden, letztlich lassen sich alle unter einem Begriff vereinen: Geister, die ruhelosen Seelen, die auf Erden noch etwas zu erledigen oder einen immerwährenden Auftrag haben - ob im Guten oder im Bösen!

Ich kann von mir nicht behaupten, dass ich besonders empfänglich für diese Aspekte des Glaubens war. Ich habe genug Geistergeschichten gelesen und Filme gesehen, um ihre Reaktion, die auch sicherlich meine gewesen wäre, abzusehen. Aber auch diese Geschichte ist eine Sache des Glaubens und nicht des Wissens, denn verständlicher Weise gibt es für das, was mir zugestoßen ist, keine faktischen Beweise. Doch die Erlebnisse der letzten Monate stellten nicht nur mein existierendes, naturwissenschaftliches Weltbild in Frage, sondern eröffneten mir auch neue Perspektiven in Bezug auf meinen Glauben an Gott und das Jenseits. Zumal ich Zugang zum Jenseits hatte, denn: Ich war gestorben! Ich hatte im wahrsten Sinne des Wortes am eigenen Leibe erfahren, wie es ist seine sterbliche Hülle zurücklassen zu müssen und die Nichtigkeit aller irdischen Probleme in einer Sekunde zu erkennen. Unmittelbar hatte ich so erfahren, dass die Wirklichkeit nicht mit Wahrheit gleich zu setzen ist! Aber nur beides zusammen, ob begreiflich oder nicht erklärbar und damit schwer zu akzeptieren, definiert unsere Realität.

Und dennoch erscheint mir das, was ich erlebt habe, auch jetzt noch als unfassbar...

 

Rückblick und Veränderung

 

Es sind bereits vier Jahre vergangen, seit eine Abfolge von Ereignissen innerhalb kürzester Zeit mein Leben in vielen Bereichen unwiderruflich verändert hatte.

Zum Einen lernte ich meine Traumfrau Andrea kennen, in die ich mich buchstäblich auf den ersten Blick verliebte, als sie als neue Referendarin an meiner Schule meinen Weg kreuzte. Ich hatte lange nach einer solchen Frau gesucht. Sie war alles, was ich mir für eine Partnerin erträumte: sie war witzig und wie ich leicht ironisch, Intelligent, einfühlsam, wusste, was sie wollte, war verlässlich, aber dennoch auch manchmal unberechenbar und nicht zuletzt für mich die schönste Frau der Welt.

Mein sehnlichster Wunsch erfüllte sich, denn auch sie verliebte sich in mich und nach nur wenigen Dates wurden wir ein Paar. Ich gebe zu, die Umstände waren sicher nicht gerade die Besten, aber manchmal findet die Liebe ihren eigenen Weg und in meinem Fall bin ich dafür mehr als dankbar! Etwa zur gleichen Zeit unseres Kennenlernens zog ihre Mitbewohnerin aus ihrer gemeinsamen WG in Gießen aus und meine Wohnung, in der Nähe der GesaHu - der Gesamtschule in Hungen, wurde irreparabel von einem Jahrhundertsturm in Mitleidenschaft gezogen. Nachdem ich für einige Wochen wieder bei meinen Eltern untergekommen war, die seit meiner Kindheit in Hungen lebten, entschlossen wir uns eine gemeinsame Wohnung in der näheren Umgebung zu beziehen, die genug Platz für uns bot. Sicher fanden viele meiner Freunde, wie auch meine Eltern, die Entscheidung etwas überstürzt, zumal wir auch den gleichen Arbeitsplatz teilten und uns damit eigentlich nie aus dem Weg gehen konnten, aber Andrea und ich fühlten uns in unserer Entscheidung sicher.

Zu unser beider Glück hatten wir nicht lange zu suchen: eine über 90 Quadratmeter große Dachgeschosswohnung im benachbarten Nonnenroth, einem kleinen Vorort von Hungen, sollte unser gemeinsames Zuhause werden.

In diesem Ort entstanden zunächst nach dem Zweiten Weltkrieg Zweitwohnungen, sogenannte Ferienwohnungen der etwas betuchteren Bürger der näheren Umgebung. Der Vermieter, Edmund Seule-Carlson, hatte vor etwas über einem Jahr seine fünfzehn Jahre jüngere Frau Anette bei einem tragischen Verkehrsunfall verloren. Daraufhin wurde ihm sein Eigenheim zu groß. Das Dachgeschoss, das vorher nur als Partyraum, Abstellkammer und Hobbyraum diente, hatte der Mittfünfziger, der allerdings gut und gerne zehn Jahre jünger wirkte, in Eigenarbeit renoviert und als Mietwohnung mit einem mittlerweile eigenen Zugang zunächst per Mundpropaganda angeboten. Ich kannte Carlson schon einige Jahre. Nicht nur, weil er schon einige Zeit hier in Nonnenroth lebte, sondern auch, weil er Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Justus-Liebig-Uni in Gießen war, auf der auch ich Lehramt für Evangelische Religion und Geschichte studiert hatte. So hatte ich natürlich auch einige Vorlesungen und Seminare bei ihm belegt. Durch einen Zufall erfuhr ich von der Wohnung und sah sie mir mit Andrea auch gleich zwei Tage später an.

Die Wohnung entsprach ziemlich genau unserer beider Vorstellungen: Es gab für jeden von uns beiden einen kleinen Raum, um ungestört zu arbeiten. Dann hatte die Wohnung einen ausreichend großen, gemeinsamen Wohnraum. Während ich auf eine größere Garage für meine Lady, meinen schwarzen Mazda MX5 gehofft hatte, ebenso wie auf einen größeren Kellerraum, wünschte sich Andrea eine größere Küche und einen Ort für diverse reptile Haustiere, da sie als Biolehrerin eine gewisse Faszination für diese Geschöpfe entwickelt hatte. Aber wir wussten beide, dass eben nichts perfekt ist und wir Kompromisse eingehen würden müssen. Doch zumindest gab es einen entscheidenden Vorteil für mich: Die Wohnung lag nur zwei Querstraßen von meinem besten Freund Daniel entfernt, den ich auf diese Weise, so oft mir danach war, besuchen konnte.

Zum Anderen hatten mich die Erlebnisse mit Buster in der gleichen Zeit, als ich Andrea kennen lernte, maßgeblich verändert und geprägt.

Buster, eigentlich Sebastian Seipp, war mit mir aufgewachsen und damit auch mein ältester Freund. Ich dachte, ich würde alles über ihn wissen, so wie er eben auch alles über mich wusste. So sehr, dass er zum Teil das aussprach, was ich dachte. Im Lauf der vielen Jahren wurde er mehr als nur ein Spielkamerad, ein Partykumpel oder ein guter Zuhörer - er wurde der Bruder, den ich nie hatte. Doch ich sollte herausfinden, dass er seit Jahren ein dunkles und tödliches Geheimnis hütete.

Nicht ganz zwei Wochen nach dem Ende der langen Sommerferien wurden am Stadtrand von Hungen, nur etwa hundert Meter von den Schulgebäuden entfernt, dem Ort, an dem ich mein halbes Leben verbracht hatte, über ein Dutzend abgenagter, menschlicher Überreste gefunden, als eine Firma damit beauftragt wurde dort einen Mobilfunkturm zu errichten.

Fünfzehn Jahre lang, immer im Sommer, wenn die Tage am längsten waren, verschwand jedes Jahr ein Mensch im Umkreis von bis zu dreißig Kilometern. Bei zwei der Vermissten ging man davon aus, da sie todkrank und alleinstehend waren, dass sie den Freitod gewählt hatten und sich dafür einen so abgelegenen Ort wählten, dass ihre Überreste wohl erst in vielen Jahren, wenn überhaupt, durch puren Zufall gefunden werden würden. Weiteren Vieren sagte man nach, sie wären einfach durchgebrannt. Zwei Jugendliche, die mit der Situation in ihrem zerrütteten Elternhaus nicht mehr zurechtkamen und so kurzerhand Reißaus genommen hatten, um anderweitig ihr Glück zu versuchen, oder bei einem Freund oder einer Freundin heimlich unterzutauchen, um dauerhaft dem Terror ihrer Familie zu entgehen.

Einer der beiden, ein Junge namens Heiko Lorenz, schien Busters erstes Opfer gewesen zu sein. Besonders erschreckend war die Tatsache, dass der damals dreizehnjährige Heiko einer von Busters und meinen Schulfreunden aus einer Parallelklasse gewesen war. Erst einige Wochen nachdem Buster als Werwolf enttarnt worden war, dämmerte mir, dass auch ich vermutlich in der Nacht von Heikos Verschwinden gestorben wäre, wenn mich damals nicht eine heftige Grippe ans Bett gefesselt hätte. Eigentlich wollte ich in dieser Sommernacht mit Buster und Heiko zusammen Zelten. Die Erkältung hatte mir damals wohl das Leben gerettet! Doch Heiko hatte nicht so viel Glück gehabt! Ich stellte mir immer wieder die Frage, warum ich, als Busters bester Freund, damals nichts gemerkt hatte. Wie konnte ein Junge so grausam und dabei so berechnend sein? Was musste Buster durchgemacht haben, als er endlich verstanden hatte, was mit ihm vorging? Und wie konnte er Jahr für Jahr mit einer immer neuen Tat leben, ohne dass irgendjemand etwas auch nur erahnte? Ein solches Vorgehen erforderte einen absolut kaltblütigen Verstand, denn Heiko war schließlich nur der Anfang gewesen.

Bei einem weiteren Vermissten war man sich sicher, da er so gut wie keine nennenswerte Vermögenswerte hinterlassen, aber ansonsten ein gutbürgerliches Leben geführt hatte. Er habe als Glücksritter seine Zelte abgebrochen und sei ins Ausland ausgewandert. Dem vierten, einem Geschäftsmann des höheren Managements, sagte man eine tiefgreifende Affäre mit einer jüngeren Frau nach, mit der er das Land und damit seine Ehefrau und seine beiden Kinder verlassen habe. Die polizeilichen Akten waren in diesen Fällen zwar nicht geschlossen worden, hatten aber recht schnell kaum noch Beachtung gefunden, zumal bei keinem dieser Leute irgendwelche Indizien, geschweige denn Beweise gefunden worden waren, die auf einen Gewaltakt von weiteren Beteiligten schießen ließ.

Bei den restlichen neun Opfern war es nicht ganz so einfach gewesen. Man hatte in jedem dieser Fälle eine Sonderkommission eingerichtet, hatte das Telefon des Lebenspartners oder der Eltern überwachen lassen, auf eine Nachricht der mutmaßlichen Entführer gewartet, die Bevölkerung um ihre Mithilfe gebeten und mit großer Sorgfalt und einem oft eben so großen Aufgebot von Beamten erfolglos die nähere Umgebung durchkämmt. An keinem der wahrscheinlichen Entführungsschauplätze war verwertbares Genmaterial eines potentiellen Täters gefunden worden und so waren die Ermittlungen schließlich im Sande verlaufen.

Da die Opfer, abgesehen von dem ungefähren Zeitraum ihres Verschwindens in jedem Jahr, keinerlei, wie auch immer geartete Verbindung oder Gemeinsamkeiten aufwiesen, blieb der Polizei ein gemeinsamer Nenner dieser Fälle verborgen. Auch die Schwester von Jörg Heidrich, einem alten Bekannten aus Schulzeiten, gehörte zu den Opfern. Da ihn dieses traumatische Erlebnis nicht los ließ, wurde „Joschi", wie wir ihn nannten, schließlich Polizist und hatte am Ende einen weiteren mentalen Schlag einzustecken, als er, eher durch Zufall, die Überreste seiner eigenen Schwester identifizierte. An einigen der Opfer fanden sich Haare, die man genetisch jedoch keiner bekannten Spezies zuordnen konnte. Doch die Haare, die Gräber, der Jahreszyklus und die größtenteils abgenagten Körper sollten sehr bald einen Sinn ergeben.

Nachdem ich einige Nachforschungen angestellt hatte, stellte sich heraus, dass die Toten, ebenso wie eine ehemalige Schülerin meiner Abschlussklasse des vorherigen Jahres, Opfer eines Menschen mit einem seltenen Gendefektes waren, der ihr Fleisch zum eigenen Überleben brauchte. Diese genetische Mutation, medizinisch bekannt unter dem Namen „Lycantropie", verwandelt im Endstadium der Krankheit seinen Träger in eine wolfsähnliche, gewissenlose Kreatur - einen Werwolf! Leider erkannte ich zu spät, dass mein Freund Buster diese gesuchte Bestie war. Zur gleichen Zeit verfolgte Andrea ihrerseits einige Hinweise und stieß dabei auf einen Geheimbund, der sich die „Venatoren" nannte. Dieser Orden hatte es sich über viele Jahrhunderte hinweg zur Aufgabe gemacht, die Welt vor diesen dämonischen Wesen zu schützen. Auch Andrea stieß zuletzt, beinahe zeitgleich mit mir, auf den Verursacher der jüngsten Ereignisse. In der Nacht, in der wir es herausfanden, wütete in Hungen und Umgebung ein verheerender Sturm, der auch meine Wohnung zerstörte. In dieser Nacht setzte bei meinem Freund aus Kindertagen die Metamorphose ein und innerhalb nur weniger Minuten verletzte er Daniel und mich schwer und tötete zwei unserer besten Freunde kaltblütig. Erst Busters Bruder Michael konnte ihm Einhalt gebieten. Ihm blieb keine andere Wahl, als seinen eigenen Bruder in dieser besagten Sturmnacht von hinten mit einem Schwert direkt durch sein Herz zu erstechen, um dem Morden seines Bruders ein Ende zu setzen.

Ich befürchtete zunächst, Buster könnte diese unsägliche Krankheit auf Daniel und mich übertragen haben, doch diese Angst sollte sich als unbegründet erweisen. Die körpereigenen Stoffe, die der Werwolf im Zeitraum seiner Verwandlung ausschüttete, wurden zwar durch seinen Speichel in geringen Mengen in unsere Bisswunden übertragen, was für uns eine schnellere Heilung der Wunden zur Folge hatte, aber da es sich ansonsten nicht um eine übertragbare Krankheit, sondern um eine falsche Codierung der DNS handelte, blieb uns Busters Schicksal erspart.

Daniel und ich fürchteten außerdem, die Medien würden sich erbarmungslos auf diese Geschichte stürzen und natürlich blieben Berichte im Gießener Anzeiger und anderen lokalen Zeitungen nicht aus, auch das hessische Fernsehen schickte zwei Tage später ein Kamerateam vor Ort, um über das Jahrhundertunwetter zu berichten. Inhaltlich schilderten all diese Berichte die enormen Schäden, die innerhalb kürzester Zeit in Wölfersheim, Hungen und den Ortschaften zwischen beiden Städten entstanden waren. Sie informierten über die Anzahl der Verletzten und in einigen dieser Reportagen war von drei Todesopfern in Hungen die Rede. Jedoch wurden in diesen nicht die näheren Umstände ihres Todes erwähnt. Die Polizei, die beinahe zeitgleich mit den Rettungskräften am Ort des Geschehens eintrafen, um vor allem Daniel und mir in dieser Nacht erste Hilfe zu leisten, sorgten nachdrücklich dafür, dass nicht mehr Personen von den Geschehnissen erfuhren, als unbedingt notwendig.

Michael - Busters Bruder, Andrea, Daniel und ich wurden eindringlich davor gewarnt, die Ereignisse in die Medien dringen zu lassen. Die Konsequenzen könnten ansonsten erheblichen Schaden an uns und unserem Umfeld hinterlassen. Busters Leichnam wurde noch in der gleichen Nacht abtransportiert und unter Verschluss gehalten. Und ohne eindeutige Beweise: Wer würde uns schon eine solche Geschichte glauben?

Nur zwei Tage später waren vereinzelt Berichte aufgetaucht, in denen von einem psychisch kranken jungen Mann die Rede war, der in der Nacht des Sturms in einer depressiven Kurzschlussreaktion zwei seiner Freunde mit scharfen Stichwerkzeugen ermordet hatte, bevor er sich selbst gerichtet hatte. Weiter war dort zu lesen, dass dieser Einzeltäter auch mutmaßlich für die fünfzehn gefundenen Leichen, die nur einige Tage zuvor am Galgenberg entdeckt worden waren, verantwortlich gewesen war. Der vermeintliche Killer wurde als narzisstisch-soziopathischer Serienmörder beschrieben, der all diese Menschen aus der Umgebung aus purem, krankhaftem Verlangen nach Macht und Anerkennung brutal ermordet hatte. Einzelheiten und Namen wurden in den Berichten nicht genannt. Die Berichte über einen Psycho-Killer hatten von nun an einige Tage lang sogar landesweit die Schlagzeilen bestimmt. Dies hatte die verschiedensten Zweifler und Verschwörungstheoretiker auf den Plan gerufen, die von einer großangelegten Vertuschungsaktion sprachen. Diese waren mit ihrer Interpretation der Ereignisse zum Teil näher an der Wahrheit, als sie vielleicht selbst ahnten. Aber die tatsächliche Wahrheit war auch den besten Sensationsjournalisten verborgen geblieben.

Das alle fünfzehn Opfer, die man am Galgenberg fand, zum größten Teil vor ihrer „Beisetzung" bis auf die Knochen abgenagt worden waren und der Tod jedes der Opfer beinahe genau jeweils ein Jahr auseinander lag, war in den Berichten nicht erwähnt worden, da dies größtenteils Informationen waren, die die Polizei bis zu diesem Zeitpunkt wegen ihrer laufenden Ermittlungen nicht preisgab. Auch Joschi, der als Kriminalbeamter in dem Fall ermittelt hatte und zu dieser Zeit verstärkt von der Presse befragt und unter Druck gesetzt worden war, ließ keine relevanten Informationen nach außen dringen. Nachdem die Story für die Reporter am Ende zu kalt geworden war, ließen sie auch Joschi und alle anderen Beteiligten, inklusive mich, endlich in Ruhe. Aber so funktioniert die Welt der Medien heutzutage nun einmal: Heute noch spannend und berichtenswert, morgen schon vergessen!

Das unglaublich schnelle Voranschreiten Daniels und meiner Genesung war natürlich auch den Medizinern im Krankenhaus nicht verborgen geblieben. Noch Monate später mussten wir uns in regelmäßigen Abständen in der Gießener Uniklinik für diverse Tests und Blutabnahmen einfinden. Unsere schnelle Genesung, ebenso wie Busters Leichnam, hatte die Medizin vor neue Herausforderungen und Möglichkeiten gestellt. Die Wissenschaftler und Ärzte werden wohl noch lange über die Rätsel dieses Phänomens Nachforschungen anstellen müssen, doch leider hat man bis jetzt noch keine Möglichkeit gefunden, die Selbstheilungskräfte, die Buster durch seinen Biss an Daniel und mich kurzzeitig übertrug, für die Allgemeinheit nutzbar zu machen. Vielleicht bleiben auch einfach ein paar Rätsel besser ungelöst?!

Durch diese Ereignisse habe ich, ebenso wie Daniel, drei geliebte Menschen verloren, den bitteren und schalen Geschmack des Verrats kennengelernt und akzeptieren müssen, dass manche Dinge aus Sagen, Mythen oder Legenden tatsächlich existieren!

Beweisen konnte ich von den Geschehnissen natürlich nicht wirklich viel, nicht, dass ich dies gewollt hätte, aber zumindest versuchten alle Beteiligten, wie ich auch, das Erlebte auf ihre eigene Art und Weise zu verarbeiten. Meine Bewältigungsstrategie war das Schreiben.

Es begann alles mit ausführlichen Tagebucheinträgen, die ich später zu längeren Berichten zusammenfasste und zuletzt so umgestaltete, dass ein dreihundert Seiten starker Roman daraus wurde. Die Namen der beteiligten Personen hatte ich hier natürlich verändert, ebenso wie viele der Umstände und Örtlichkeiten. Nachdem ich mir ein Herz gefasst hatte, und um endlich mit diesem Alptraum abzuschließen, sandte ich mein Manuskript an einige Verlage, von denen tatsächlich auch einer Interesse bekundete. Etwa ein Jahr später erschien der Roman „Das Heim der Wölfe" unter einem Pseudonym und verkaufte sich auch recht erfolgreich. Die Regenbogenpresse und Verschwörungstheoretiker ließ diese (angebliche) fiktive Erzählung nicht ganz so kalt, wie ich es mir gewünscht hätte. Schnell zogen sie Parallelen zu den tatsächlichen Vorkommnissen des letzten Jahres. Doch da meine Geschichte einfach zu unglaublich war und keinerlei Beweise in die neuen Reportagen einflossen, hatten auch hiervon die Menschen schnell genug.

Aber auch nach diesen grauenhaften, verstörenden Begebenheiten, die ihrerseits meinen Glauben auf die Probe gestellt hatten, ging mein Leben weiter, jedoch nicht, ohne in den folgenden Jahren Spuren zu hinterlassen. Nach den Erlebnissen vor vier Jahren musste ich mir eingestehen, dass ich einer körperlichen Auseinandersetzung mit einem potentiell überlegenen Gegner nicht gewachsen war. Dieses Defizit versuchte ich in den kommenden Jahren zu korrigieren. Vor vielen Jahren schon hatte ich mir einen Compoundbogen zugelegt, mit dem ich, wann immer ich die Zeit fand, auf offenen Feldern übte. Ich legte auf eine Zielscheibe an, die ich an den gepressten Strohrundballen der hiesigen Landwirte befestigte. Damals hatte ich mir beim Joggen eine Stressfraktur am rechten Unterschenkelknochen zugezogen. Da nach dem erstellten Röntgenbild nicht eindeutig zu klären war, um was es sich handelte, hatte man bei mir eine Biopsie vornehmen lassen. So hatte ich in diesem Sommer auf einige Wochen Joggen verzichten müssen. Um dennoch die Natur etwas genießen zu können,hatte ich eben in Pfeil und Bogen investiert. Ein viertel Jahr nach der Genesung meines Beines war der Bogen samt Zubehör in eine dunkle Kellerecke meiner Eltern gewandert, aus der ich ihn nun wieder hervorholte, um meine Zielübungen wieder aufzunehmen.

Außerdem versuchte ich mich in Kampftechniken. Ich nahm zunächst an Judo-Kursen teil.

Der asiatische Kampfsport Judo ist, wie ich finde, eine sehr interessante Form der körperlichen Ertüchtigung. Neben der rein sportlichen Aktivierung des Körpers und der Möglichkeit zur Selbstverteidigung, liegt diesem Kampfsport das philosophische Grundprinzip des gegenseitigen Helfens zugrunde. Doch das Credo „Siegen durch Nachgeben" entsprach nicht dem, was ich suchte. Nach nur etwa einem halben Jahr, ich hatte zumindest die Grundprinzipien der Wurf- und Falltechniken, wie die Judorolle, ebenso wie Festhalte- und Hebeltechniken erlernt, verließ ich diesen Kurs wieder. Trotz meinem Mangel an Begeisterung für diesen Sport verinnerlichte ich vor allem die Streck- und Beugehebeltechniken, die von einem Judoka nur auf den Ellenbogen angewendet werden dürfen. Hierbei wird ein kontrollierter Druck auf das Gelenk, entgegen der anatomisch vorgesehenen Richtung ausgeübt und der Gegner gleichzeitig zu Boden gezwungen und fixiert. Eine effektive Strategie, um vor allem stärkere Gegner zu kontrollieren, ohne ihnen nachhaltig Schaden zuzufügen. In den letzten beiden Wochen, vor meinem Ausscheiden, wurden wir in die Kunst der Würgetechniken eingeführt, die nun nicht mehr meine Zustimmung fanden. Diese Techniken zielen ausschließlich auf die Halsschlagader und die Halsvorderseite ab. Durch Ausüben von Druck auf die Halsschlagader, die seitlich des Kehlkopfes verläuft, wird die Blutzirkulation zum Gehirn verlangsamt oder sogar verhindert. Die Folge ist eine Minderversorgung des Hirns mit Sauerstoff und eine, nach nur wenigen Sekunden eintretende Bewusstlosigkeit des Gegners. Im Gegensatz dazu führt ein Angriff auf die Halsvorderseite zu einer heftigen Irritation des vegetativen Nervensystems. Dies löst bei dem Gegner augenblicklich Angst- oder Panikzustände aus.

Sicher, ich lernte auch in diesem Kurs einige Dinge, die mich vor potentiellen Gegnern schützen würden, aber das allein war mir nicht genug. In der gleichen Kampfsportschule in Grünberg, in der ich Judo trainierte, so erfuhr ich, wurde auch die abgewandelte, moderne Art des japanischen Samurai-Schwertkampfes als Kurs angeboten: Kendo!

Ich war schon immer von Hieb- und Stichwaffen fasziniert gewesen. Das Führen einer solchen Waffe beinhaltete für mich immer Ausdauer, Präzision, Geschick und jahrelanges Training. Man musste seinem Gegner gegenüber stehen und sich bei gleicher Bewaffnung in Augenhöhe mit ihm messen, anders als bei dem Gebrauch einer Schusswaffe. Oder wie ich immer zu sagen pflege: Jeder Idiot kann mit einem Gewehr auf einen Mann weit vor ihm ballern!

Ich meldete mich bei einem Anfängerkurs an und war auch von Anfang an begeistert! Vor vielen Jahren hatten mir meine Eltern ein Seminar auf einem Schloss zum Geburtstag geschenkt, bei dem mir die Grundlagen der Waffentechnik, wie auch das Führen eines mittelalterlichen Breitschwertes nahe gebracht wurden. Aber dies hier war etwas gänzlich anderes. Hier ging es nicht um Schmiedekunst, den Wandel der Waffen in den Jahrhunderten, oder auch nur den reinen Umgang mit der Waffe, sondern vielmehr den „Weg des Schwertes", wie der Name Kendo schon besagt. Kendo lehrt nicht nur die Strategien und Techniken des Kenjutsu, sonder auch die psychische Ausbildung des Schülers. Aber anders als im Judo geht es hierbei nicht um Hilfsstrategien durch Verteidigung, sondern vielmehr um Überzeugung und Entschlossenheit. Hier lautete das Motto: Wer verteidigt oder zögert, verpasst die Gelegenheit zum Angriff! Im Gegensatz zu anderen Schwertkampfkünsten gibt es beim Kendo keine echte Verteidigung, deshalb geht es hier um Reaktion bei einem gegnerischen Angriff und einen schnellen Hieb, um vor dem Gegner einen Treffer zu landen.

Überzeugung, Entschlossenheit und Schnelligkeit - das war es, wonach ich suchte! Das war es, was mir fehlte und mich zögern ließ, was mich seit dieser Nacht vor vier Jahren oft nicht schlafen ließ.

Buster hatte sich vor meinen Augen in eine unmenschliche, blutrünstige Bestie verwandelt. Minuten zuvor hatte ich die Wahrheit über ihn erfahren und mit ansehen müssen, wie das Böse in ihm seine Gestalt veränderte, um anschließend auf meine besten Freunde los zu gehen. Ich hatte es gewusst. Ich hatte es kommen sehen, Und ich tat - nichts! Bewegungslos, wie versteinert hatte ich zugesehen, wie die Kreatur, die einmal mein ältester Freund gewesen war, zwei meiner Kumpels ohne einen Moment des Zögerns oder der Reue zerfleischte und Daniel, den Dritten im Raum, schwer verletzte. Und ich zögerte, war unentschlossen, verängstigt, schwach. In dieser Nacht schwor ich mir, so etwas nie wieder zuzulassen! Ich würde nie wieder zurückweichen! Ich würde nie wieder Angst haben!

Nach nur zwei Wochen des Trainings hatte mich dieser Sport überzeugt! Sehr schnell hatte ich bereits die Reiho, die Verhaltensregeln verinnerlicht und kurz darauf legte ich mir eine eigene Hakama und eine Kendo-Gi, die traditionelle Schutzausrüstung für diesen Kampfsport zu. Da im Kendo, im Gegensatz zum historischen Kenjutsu nicht mit echten Katanas, sondern nur mit Bambusschwertern gekämpft wird, sollte der Gegner eigentlich gegen Verletzungen durch seine Schutzausrüstung gefeit sein. Dennoch kommt es gelegentlich, neben blauen Flecken auch zu leichteren Kratz- und Schürfwunden. Daher ist die traditionelle Bekleidung beim Kendo meist durch eine Indigo-Färbung in einem tiefdunklen Blau gehalten. Der Farbstoff im Gewebe hat blutgerinnende Eigenschaften, beugt somit Infektionen vor und hilft dem Körper, die Wunden schneller zu heilen.

Ich ging nicht nur in dieser Kampfkunst auf, ich schien darüber hinaus auch ein echtes Naturtalent zu sein. Nach der nur kürzesten vorgeschrieben Zeit hatte ich bereits die sechs Kyu- (Schüler-) Gerade der Ausbildung bestanden, so dass ich bereits vor einem halben Jahr die Prüfung zum ersten Dan erfolgreich ablegte. Bis zum Hachidan, dem höchsten, durch eine Prüfung zu erlangenden 8. Dan, wird noch einige Zeit vergehen, aber ich habe mir vorgenommen, dieses Ziel zu erreichen.

All diese Techniken erlernte ich, trainierte ich und machte sie mir zu Eigen. Doch das alles sollte mich nur bedingt darauf vorbereiten, was mich in nächster Zeit erwarten würde...

 

Montag, der 18. Mai 2015

(genau drei Monate vor Michaels Tod)

 

Der aufdringliche Signalton meines alten Funkweckers hämmerte mir in meinen Schädel und riss mich aus meinem traumlosen Schlaf. Mein gesamter Körper zuckte leicht zusammen, während ich schlagartig in die harte Realität dieses Montagmorgens gerissen wurde und das Gerät unermüdlich weiter sein nervtötendes Signal abgab. Wieder einmal eine neue Schulwoche! Ich spürte den ruhigen, konstanten Atem in meinem Nacken und schob behutsam Andreas Arm von meiner Brust herunter, um den Wecker zu greifen und ihn seiner Stimme zu berauben.

Durch das penetrante Alarmgeräusch und meiner Aktion in ihrem Schlaf gestört, grunzte Andrea und rollte sich von mir weg auf den Rücken, ohne tatsächlich aufzuwachen. Ich schlug behutsam die Bettdecke zurück, bevor ich die Beine aus dem Bett schwang und dabei mit einem Schmunzeln registrierte, dass sich Andrea von mir weg rollte, aber nicht ohne einem gedämpften Darmwind die Freiheit zu schenken.

Während ich im Halbdunkel des Zimmers aufstand, um das Bett herum zum Kleiderschrank ging und mir noch immer mit einem leicht lächelnden Ausdruck auf den Lippen ihr entspanntes Gesicht betrachtete, aus dessen Mundwinkel ein dünner Faden Speichel tropfte, wurde mir aufs Neue klar, wie sehr ich diese Frau liebte! Ich bemühte mich keine unnötigen Geräusche zu machen, als ich meine Kleider zusammensuchte und im Badezimmer verschwand, denn Andrea sollte ausschlafen können.

Nach ihrer Verbeamtung auf Lebenszeit zum Halbjahresende diesen Jahres hatte sie gleich eine Stundenreduzierung beantragt, um wieder etwas zur Ruhe zu finden. Heute begann ihre Unterrichtszeit erst mit der vierten Stunde, während ich bereits um acht Uhr meine erste Klasse in Geschichte begrüßen durfte.

Das verlängerte Himmelfahrtswochenende lag gerade hinter mir und ich fühlte mich immer noch ein wenig angeschlagen. Wie üblich verbrachte ich diesen Feiertag zusammen mit meinen männlichen Kollegen und Freunden. Der „Vatertag" wurde von uns jedes Jahr mit einiger Planung und bis zum bitteren Ende zelebriert. Es war für uns immer die willkommene Gelegenheit, um endlich mal wieder mit allen zusammen etwas zu unternehmen. Nach dem Tod gleich drei unserer besten Freunde vor vier Jahren, hatte sich die Zusammensetzung unsere Gruppe verändert und war natürlich kleiner geworden, doch trotz allem wollten wir mit dieser Tradition nicht brechen. In den letzten Jahren verbrachten wir den Tag meist auf die gleich Weise: Diverse Grillspezialitäten und alkoholische Getränke wurden in rauen Mengen geordert (wobei wir in keinem Jahr über die Massen an Lebensmittel Herr wurden), um damit den Nachmittag bei einer Partie Crossgolf zu verbringen. Jedes Jahr änderten wir unsere Spielroute, aber das festgelegte Ziel nach diesen Ausflügen war stets das „Stammheim", Busters Junggesellenbude im Keller seines Familienhauses. Hier verbrachten wir gewöhnlich den Rest des Tages bei Gesprächen über Erlebtes und vergangener Zeiten oder verschiedenen Karten- und Brettspielen. Dieser Endpunkt blieb uns verständlicher Weise in den letzten drei Jahren verwehrt. Nicht nur, dass Buster gestorben war, auch der Rest der Familie Seipp hatte sich für einen Neuanfang entschieden. Busters Bruder Michael war bis auf weiteres in ärztlicher Behandlung in München und sein Vater hatte den Hof verkauft, um in dessen Nähe sein zu können.

Neben Daniel und mir machten noch vier weitere Jungs unsere Truppe komplett: Daniel hatte einen Kollegen aus der Bank eingeladen, den ich bis dahin noch nicht kannte, aber dieser Patrick schien ein netter Kerl zu sein. Auch Manuel, der mittlerweile in Frankfurt wohnte und mit dem ich vor einigen Jahren den Wakeboardtripp nach Florida unternahm, folgte ebenso wie Joschi dem Ruf. Seit der Tragödie mit Buster stand Joschi mit Daniel und mir immer mehr in Kontakt und das nicht nur im beruflichen Sinne. Nach all den Jahren war endlich das Verschwinden und der Mord ein seiner jüngeren Schwester aufgeklärt. Die ersten Monate danach ließ sich Joschi beurlauben, um mit sich ins Reine zu kommen. Wir telefonierten sehr häufig und schütteten uns gegenseitig unser Herz aus. Zu Beginn des folgenden Jahres fasste er einen Entschluss: Er ließ sich von der Mordkommission versetzen und zog wieder zurück nach Hungen. Auf Grund seiner Erlebnisse hatte er viele Jahre seiner Heimatstadt den Rücken gekehrt, doch jetzt war er wieder da. Er wollte vergessen, doch stattdessen hatte er nur verdrängt! Seitdem trafen wir uns immer häufiger, und da er eine absolute Niete im Crossgolf war, luden wir ihn natürlich herzlich ein, um selbst nicht allzu schlecht da zustehen.

Der letzte im Bunde war Kai Süss. Kai hatte vor zwei Jahren sein Referendariat in den Fächern Chemie und Physik an der GesaHu begonnen. Er beendete erst vor kurzem sein zweites Staatsexamen mit Bestnoten und wurde direkt mit einer Planstelle übernommen. Seit dem ersten Tag verstand ich mich großartig mit ihm, und schon nach kurzer Zeit philosophierten wir an so manchen Wochenenden in den grauen Morgenstunden bei der dritten oder vierten Flasche Wein über das Wesen Gottes und der Welt auf meinem Sofa oder im Piano, einer ortsansässigen Kneipe. Kai hatte in Marburg studiert, stammte aber eigentlich aus der Nähe von Wiesbaden. Mittlerweile hatte er eine kleine Wohnung in Utphe, einem Ortsteil von Hungen gemietet. Kaum hatte ich Daniel den neuen Kollegen vorgestellt, wurden auch sie Freunde. Und so war es nur selbstverständlich, dass auch er mit von der Partie war.

Da wir keinen echten Treffpunkt mehr wie in den vergangenen Jahren hatten, in dem wir Teile unseres Proviants aufbewahren konnten und keiner von uns den ganzen Tag einen völlig überladenen Rucksack mit sich herumtragen wollte, mussten wir uns eine Alternative einfallen lassen. Ein standesgemäßer „Packesel" musste her!

Nachdem ich vor ein paar Wochen Daniel einen kurzen Besuch abgestattet hatte und wir dieses Problem erörtert hatten, trugen wir spaßeshalber einige Ideen für den Umbau eines Bollerwagens zusammen, in und an dem für alles Platz sein würde. Ohne das ich oder einer der Anderen davon wussten, machte sich Daniel an den nächsten drei Wochenenden ans Werk, um unsere gemeinsamen Hirngespinste tatsächlich Realität werden zu lassen. Er war nicht nur sehr geschickt im Umgang mit Autos und Metallarbeiten, sondern, wie es aussah, auch mit Holz. Für ihn der perfekte Vorwand, wie er uns später erzählte, um endlich mal wieder neue Werkzeuge für Tischlertätigkeiten zu kaufen.

Das Ergebnis seiner Bemühungen, das er uns erst am Vatertag präsentierte, war einfach unglaublich. Er hatte sich den stabilen Bollerwagen seiner Eltern ausgeborgt und verschiedene Holzkonstruktionen angefertigt, die ohne jegliche direkte Verschraubung durch ein erdachtes Stecksystem an dem Wagen befestigt werden konnten. Ein Gestell, welches hochkant gestellt auch als Stehtisch genutzt werden konnte, diente als Basis aller anderen, steckbaren Teile: eine Art Tresen mit Aussparungen für Bier- und Schnapsgläser, ein gekürzter Säulengrill, eine schwenkbare Halterung für zwei fünf Liter-Fässchen, um von beiden Seiten des Wagens zapfen zu können, einen Sonnenschirm, eine integrierte MP3-Musikanlage, ein Bremssystem zum Abbremsen des Wagens und sogar eine Halterung für unsere Golfschläger! Daniel hatte wirklich an alles gedacht. Zu unserem großen Glück kam dann noch an diesem Tag perfektes trockenes Wetter hinzu, sodass der Tag ein voller Erfolg wurde.

Leider hatte ich an dem Tag alles gegeben, sodass ich mir unsicher war, wie ich nachts heimgekommen war. Außerdem sollte ich auch den Rest des langen Wochenendes mit einem überirdischen Kater büßen. Auch heute Morgen fühlte ich mich noch etwas ausgelaugt, aber was soll ich sagen: Dieser Tag war die Sache wert gewesen!