Das Erbe des schwarzen Abts - Marcello Simoni - E-Book

Das Erbe des schwarzen Abts E-Book

Marcello Simoni

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Beschreibung

Geheimnisvoller Pakt mit dem Medicis Florenz 1459: Ein einflussreicher Bankier wird unter mysteriösen Umständen in der Abtei Santa Trìnita ermordet. Der einzige Zeuge und gleichzeitige Hauptverdächtige ist der junge Dieb Tigrinus. Um seiner Hinrichtung zu entfliehen, muss er einen Pakt mit dem mächtigen Cosimo de' Medici schließen und sich auf eine abenteuerliche Seereise begeben – auf der Suche nach einem sagenumwobenen Buch, hinter dem sich ein unaussprechliches Geheimnis verbirgt.

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Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung ist frei erfunden, wenngleich im historischen Umfeld eingebettet. Einige Personen, Ereignisse und Orte sind historisch, andere nicht. Darüber hinaus sind Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen rein zufällig. Im Anhang befindet sich ein Glossar.

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Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »L’eredità dell’àbate nero« bei Newton Compton editori, Rom.

© Marcello Simoni

© 2019 der deutschsprachigen Ausgabe: Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Trevor Payne/Arcangel Images

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-565-7

Historischer Kriminalroman

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Ein Mann, den seine Grausamkeit und Rachsucht berüchtigt genug gemacht haben, […] ließ von seinem Raubgesindel jeden auffangen und berauben, der durch die umliegende Gegend reiste.

Giovanni Boccaccio, »Zehnter Tag. Zweite Geschichte« in »Das Dekameron«

Das Schiff sollte gut abgedichtet sein und gut ausgestattet, mit guten Masten versehen und guten Rahen und guten Wanten und guten Tauen und guten Segeln und guten Ankern. Und es soll mit Rüstzeug versehen sein, also mit Panzerungen und mit Armbrüsten und mit Beschlägen, und mit Lanzen, mit Pfeilen und mit Beilen und mit Steinen […], um damit im Kriegsfall das Schiff und die Ware zu verteidigen.

Vorbemerkung

Dies ist ein Abenteuerroman, dessen Handlung auf rein fiktiven Charakteren basiert. Es entspricht allerdings der historischen Wahrheit, dass der Mönch Lionardo da Pistoia 1459 auf einer Reise nach Mazedonien einige heilige Schriften in seinen Besitz brachte, die er nach Italien überführte.

Noch heute gilt dieser Band von Traktaten als Meilenstein der Alchimie und der Esoterik. Sein Titel »Corpus hermeticum« geht auf eine lange Tradition zurück, der zufolge diese Traktate Hermes Trismegistos zuzuschreiben sind, also niemand Geringerem als dem Gott Merkur, der bei den Priestern des alten Ägyptens als Thot und bei den Gnostikern als Erzengel Michael bekannt war.

Zwar ist das Buch bekannt, aber man weiß eigentlich nichts darüber – wer versucht hat, es in seine Hände zu bekommen, oder wer auch nur danach gesucht hat.

Prolog

Ligurisches Meer

15. April 1439

Es gibt Schutzgeister des Meeres und Schutzgeister des Festlandes, rief Cosimo de’ Medici sich immer wieder ins Gedächtnis, während er sich fest an die Bugreling des Kaiks klammerte und beobachtete, wie der Hafen von Livorno sich mehr und mehr in der Dunkelheit der Nacht verlor und einzig noch der Schein des Leuchtturms zu sehen war. Obwohl er vor einigen Jahren für den Seehandel der Stadt Florenz verantwortlich gewesen war, hielt er sich nicht für besonders befähigt, Gewässer zu durchqueren, in denen eine kleine Laune der Natur genügte, um jederzeit ein Unwetter losbrechen zu lassen. Sein großes Talent war das Geld, seine Leidenschaft galt den Bibliotheken. Dort kannte er sich aus, dort wusste er sich zu bewegen, ohne befürchten zu müssen, sich zu verirren oder verführerischen Sirenengesängen zu erliegen.

Und doch fuhr er nun hier übers Meer und ließ zu, dass der kalte Wind unter seinen Umhang drang, während er bereits den Moment herbeisehnte, in dem er wieder den Rasen seines Gartens in Careggi unter den Füßen haben würde. Von der Galeere aus Byzanz war noch nichts zu sehen, Cosimo wusste jedoch, dass sie irgendwo dort draußen auf dem Wasser sein musste, daher blickte er angestrengt nach vorn, um zumindest einen kleinen Lichtschein zu erhaschen. Kein Christenmensch ertrug auf Dauer die Dunkelheit. Da war ihm jedes Licht willkommen, selbst wenn es die Schismatiker aus dem Osten brachten.

Bevor er das andere Schiff sah, nahm er das Ächzen des hölzernen Rumpfes wahr, erst danach konnte er die flackernden Feuer von einigen Laternen ausmachen. Die Galeere war riesig, spindelförmig mit wohl fünfzig Rudern. Mehr konnte er auf die Schnelle nicht erkennen. Der Mond war verdeckt, und außerdem war Cosimos Kopf ganz in Beschlag genommen von Sorgen über die Begegnung mit einem Mann, dessen Verhalten mindestens so unvorhersehbar war wie das des Meeres. Der Mann war vom Goldenen Horn am Bosporus in Begleitung von griechischen Theologen aufgebrochen, die zum Konzil von Ferrara wollten, das nach monatelangen Verwicklungen nun in Florenz stattfand.

Anders als der Patriarch und der Basileus, die bereits vor Tagen an Land gegangen waren, hatte dieser Wahnsinnige es vorgezogen, auf hoher See zu bleiben. Und abzuwarten.

Der Kaik glitt an der Ankertrosse der Galeere vorbei und legte dann am hinteren Ende des Schiffes an. Als Cosimo sich gefahrlos vorbeugen konnte, packte er eine Strickleiter und kletterte über nasses Tauwerk und schwankendes Holz nach oben. Eine Hand streckte sich ihm entgegen, die er gern ergriff, um das letzte Stück zu bewältigen, bis er schließlich sicher auf dem Deck stand und einen Diener in einem Kaftan vor sich sah.

»Mein Herr erwartet Euch.«

Cosimo nickte und wollte instinktiv auf den Bug zulaufen, wo für gewöhnlich das Zelt des Kapitäns aufgeschlagen war. »Nein, dort drüben«, erklärte der Diener und zeigte auf den Aufbau auf dem Heck. Ohne ein weiteres Wort geleitete er Cosimo zu der Kabine, die dem Kapitän und wenigen Besatzungsmitgliedern vorbehalten war.

In einer dunklen Ecke des Raumes erblickte Cosimo eine in einen weiten Reiseumhang gehüllte Gestalt. Nein, korrigierte er sich sogleich. Zwei. Einen Mann und einen kleinen Jungen, auf dessen Kopf der Erwachsene seine Hände gelegt hatte. Nachdem der Diener das Zelt verlassen hatte, näherte Cosimo sich den beiden.

»Ich hatte schon Zweifel, ob du dich von meiner Botschaft überzeugen ließest«, begann der Mann und schlug die Kapuze zurück.

Cosimo überlief ein Schauer. Die Augen, die Nase und sogar das Lächeln, alles, was er sah, war identisch mit seinen eigenen Zügen. Die beiden Männer glichen sich wie ein Ei dem anderen – wären da nicht die silbernen Strähnen im rabenschwarzen Haar des Mannes gewesen, die nicht etwa dem Alter oder durchlittenem Kummer geschuldet waren, wie Cosimo nur zu gut wusste. Cosimo ermannte sich, nahm eine Kerze und zündete damit eine von der Decke hängende Öllampe an. »Unsere letzte Begegnung ist sechzehn Jahre her.«

»Siebzehn«, korrigierte ihn der Mann. »Wenn ich mich recht erinnere, hattest du damals das Amt des Meereskonsuls inne. Heute bist du Gonfaloniere.«

»Ich pflege mich dessen nicht zu brüsten«, wiegelte Cosimo ab, dessen Selbstsicherheit langsam zurückkehrte. »Meine Loyalität gilt den Interessen der Familie.«

»Die inzwischen vollkommen mit denen von Florenz übereinstimmen.«

»Und wenn?« Cosimo versteifte sich. »Halte mich nicht länger hin und sag mir lieber gleich, welche Torheiten dich umtreiben, dass du mich unbedingt sprechen willst.«

Als Antwort erhielt er ein verbittertes Lachen. »Dachtest du etwa, ich hätte meine Herkunft vergessen? Dass der Orient mich mit seinem Zauber eingelullt hätte?«

»Damiano, bitte, ich wollte nicht …«

»Lass mich ausreden«, fiel Damiano ihm ins Wort, sichtlich verärgert darüber, seinen Namen zu hören. »Ich bin weder hier, um irgendetwas einzufordern, noch, um dir Steine in den Weg zu legen. Der Familiensitz, die Bank, die Stadt … Du kannst alles behalten, Bruder. Mein Leben findet inzwischen nicht mehr in Florenz statt, sondern in Ländern, in denen das Florentinische einen fremden, treulosen Klang hat.« Er strich dem Jungen sanft über den Kopf und ermutigte ihn, einen Schritt vorzutreten. »Wenn ich dich heute Nacht treffen wollte, dann nur seinetwegen.«

Cosimo sah sich das Kind zum ersten Mal genauer an. Es konnte nicht älter als drei Jahre sein, aber in seinen Augen blitzte eine ungewöhnliche Intelligenz auf. Doch es waren die Haare, die seine Aufmerksamkeit fesselten. Schwarz, kurz geschnitten und mit silbernen Strähnen durchzogen wie das Fell eines wilden Tieres. Genau wie bei Damiano.

»Seine Mutter, mein einziges Kind«, erklärte dieser sichtlich bewegt, »ist im letzten Jahr gestorben.«

»Das tut mir leid«, sagte Cosimo, dem plötzlich bewusst wurde, dass er nichts über den eigenen Zwillingsbruder wusste. Nichts außer ein paar Geschichten, die ihm die Eltern in seiner Kindheit hinter vorgehaltener Hand zugeflüstert hatten oder die ein Bote aus dem Orient mitgebracht hatte. Doch da stand nun dieser enterbte Esau vor ihm und erzählte etwas von einer Tochter, die nicht mehr lebte, und von einem Enkel, der noch ein Kleinkind war. »Es tut mir wirklich leid«, wiederholte Cosimo. »Doch erlaube mir wenigstens, dass ich begreife, worum es hier geht. Aus welchem Grund wendest du dich nach so langer Abwesenheit ausgerechnet jetzt an mich?«

Als wollte er seine Gedanken verbergen, wandte Damiano sich nun den Schiffskarten zu, mit denen die Wände behangen waren. »Weil Byzanz kein sicherer Ort mehr ist«, seufzte er. »Die Türken stehen vor den Toren, und bald wird in dieser Welt nichts mehr so sein, wie es war. Und damit meine ich sowohl meine als auch deine.«

Cosimo hörte aus seinen Worten so etwas wie Angst heraus – ein Gefühl, das er nach den langen Jahren eines wechselvollen Lebens überall und sofort witterte. Er fragte sich, ob Damiano dies gesagt hatte, weil er noch größere Intrigen zu verbergen hatte. Dann wandte Cosimo sich wieder dem Jungen zu. Er ging in die Knie und sah in dessen mandelförmige Augen, die ihn aufmerksam anblickten. »Weiß er von seiner Herkunft?«

»Nein. Und ich bitte dich, dass er nie davon erfahren wird. Mach aus ihm einen Künstler, einen Gelehrten oder von mir aus auch einen Geistlichen, aber halte ihn von den Medici fern.«

»Du bist zu misstrauisch«, sagte Cosimo, während er sich wieder aufrichtete. »Nenne mir wenigstens den Namen des Vaters.«

Damiano kehrte ihm weiter den Rücken zu. »Meine Tochter hat ihn nie erwähnt.«

»Mach dich nicht lächerlich! Als ob du all diese Mühe nur wegen eines Bastards auf dich nehmen würdest!«

Schlagartig fuhr Damiano herum. Sein Gesicht war vor Wut verzerrt. »Und selbst wenn, würdest du etwa dein Fleisch und Blut im Stich lassen? So wie es unsere Eltern mit mir getan haben?«

Cosimo blieb ruhig. »Das wird nicht geschehen.«

»Wie willst du das wissen, du hast doch keine Ahnung. Du musstest nicht fern von der Familie überleben und den Gefahren von Meeren und Wüsten trotzen.«

»Ein Unrecht, an dem ich keine Schuld trage.«

Damiano schien nicht gewillt, das Thema fallen zu lassen. Plötzlich bemerkte er, dass er das Kind erschreckt hatte, und zwang sich zu einem gemäßigteren Tonfall. »Du hast recht«, gab er zu. »Doch wenn du mir nun deine Hilfe verweigerst, würdest auch du Schuld auf dich laden.«

»Du verlangst nicht gerade viel von mir«, sagte Cosimo. »Aber du kennst die Regeln der Medici. Jeder Gefallen hat seinen Preis.«

Damiano starrte ihn an, während der Zorn in seinem Innern sich legte. Er lächelte. »Ich weiß, worauf du anspielst, Bruder. Wir haben bei unserer letzten Begegnung darüber gesprochen, und damals hast du dein Interesse nicht verborgen. Nun gut, erfülle meine Bitte, und ich schwöre, du wirst erhalten, was du dir wünschst.«

»Wenn du mich wirklich verstanden hast, warum gibst du es mir nicht sofort?«, erwiderte Cosimo.

»Nicht hier und jetzt«, erklärte Damiano. »Erst wenn mein Enkel volljährig ist. Dann kannst du die Smaragdtafel erhalten. Aber er selbst muss sie von mir einfordern.« Nachdem er nun seinen Gleichmut wiedergefunden hatte, schob er den Jungen zu Cosimo hinüber. »Daher sorge gut für ihn«, ermahnte Damiano ihn. »Ganz so, als wäre dieses Kind dein wertvollstes Geheimnis.«

TEIL 1

Ein Verbrechen in der Krypta

1

Florenz, Abtei Santa Trìnita

21. Februar 1459

Der wachhabende Mönch hob die Laterne und bewunderte den wollenen Wandteppich, eine Arbeit aus Flandern, auf dem eine Meeresszenerie dargestellt war. Er verharrte vor dem Bild und suchte zwischen den Wogen nach verborgenen Seeungeheuern oder Galeeren, die zu sinken drohten, während er sich über den Bart strich und darüber nachzugrübeln schien, was ein derartiges Kunstwerk in der Krypta einer Abtei zu suchen hatte. Er betrachtete es mit fast kindlichem Staunen, bis die Stimme eines Mitbruders ihn zur Ordnung rief. Nach einem letzten Blick auf das prächtige Gewebe verschwand er in der Dunkelheit.

Sobald wieder Stille eingekehrt war, kam Leben in den Teppich. Zwei Finger tauchten hinter seinem Saum auf und schoben ihn vorsichtig zur Seite, sodass der Dieb aus seinem Versteck schlüpfen konnte.

In die inneren Gewölbe von Santa Trìnita zu gelangen, war für ihn ein Kinderspiel gewesen. Schließlich war in diesem Kloster nicht mit den üblichen Gefahren zu rechnen, denen er bei der Ausübung seines Gewerbes sonst ausgesetzt war. Allerdings durfte man sich nicht vor der ewigen Verdammnis fürchten, die einem jeden angedroht wurde, der sich an Gütern der heiligen römischen Kirche vergriff. Andererseits – war nicht jedem ein Platz in der Hölle gewiss, selbst den verwöhnten Mönchen?, fragte sich der Eindringling. Letzten Endes wurden auf Erden weitaus schlimmere Verbrechen verübt, als edle Herrschaften um ihre prallen Börsen zu erleichtern. Im Grunde genommen war es doch eine gute Tat, Stercus diaboli aus geheiligten Gemäuern zu entfernen. Willkommen und sozusagen von der Vorhersehung bestimmt.

Während der junge Mann noch über seine eigenwillige Ansicht von Religion nachdachte, nahm er eine Fackel aus einem Metallring an der Wand und suchte seine Umgebung weiter ab, beginnend bei der Stelle, an der man ihn unterbrochen hatte. Er war vollständig in Schwarz gekleidet, hatte sich das Gesicht mit Ruß geschwärzt und die Füße mit Spartgras umwickelt, um beim Laufen keine Geräusche zu machen. Es wäre doch eine Sünde, überlegte er, einen Ort, der nicht von Soldaten, sondern nur von Mönchen bewacht wurde, nicht auszurauben. Sogar eine Todsünde, wenn man bedachte, dass besagter Ort eine Kammer barg, in der die Gemeinschaft der Vallombrosaner ihre Schätze aufbewahrte.

Sobald er diese Kammer gefunden hatte, musste er es nur noch irgendwie bewerkstelligen, deren Inhalt nach draußen zu schaffen. Zu diesem Zweck hatte er sich einen Komplizen gesucht, einen Strauchdieb von zwergenhaftem Wuchs namens Caco, der sich inzwischen vor einem Fenster der Krypta auf der Straße postiert hatte. Die Gitterstäbe standen dort weit genug auseinander, um Florin, Edelsteine und vielleicht auch den einen oder anderen silbernen Kerzenhalter durchzureichen.

Doch jetzt sollte er sich besser beeilen, schließlich würde die Vesperandacht nicht ewig dauern, außerdem waren die unterirdischen Gewölbe des Klosters um einiges weitläufiger, als er angenommen hatte. Lautlos bewegte er sich zwischen den Marmorsäulen weiter, bis er die Umrisse einer mit Nieten beschlagenen Tür erkannte. Er holte ein Stilett und ein schmales Schreibrohr hervor, die er zum Aufbrechen von Schlössern verwendete, dann machte er sich ans Werk, voller Vorfreude auf das, was ihn dahinter erwartete.

Doch näher kommende Stimmen schreckten ihn auf.

Schnell steckte er die Fackel zurück in ihren Ring und kauerte sich hinter eine Madonnenstatue, gerade noch rechtzeitig, ehe zwei Personen um die Ecke bogen. Diesmal handelte es sich jedoch nicht um Mönche.

»Ihr wusstet es, Ihr wusstet es ganz genau!«, schimpfte der Kleinere von beiden. »Es gibt Schiffe, die das Unglück anziehen und zum Untergang verdammt sind.«

»So wie es unerfreuliche Menschen gibt, die geboren wurden, um die Geduld ihrer Nächsten zu strapazieren«, gab der andere zurück. Er lief mit hocherhobenem Kopf voran, sein Chaperon betonte sein scharf geschnittenes Profil. Er war groß und hager und war in einen bis zum Hals zugeknöpften Lucco aus schlichtem Wollstoff gehüllt.

Der Dieb erkannte Giannotto Bruni, einen Florentiner Bankier und Kaufmann. Wer der andere war, wusste er nicht. Seinem Akzent und dem Turban nach zu urteilen, war er ein Fremder.

»Begreift Ihr denn nicht?«, fuhr Letzterer in seiner Verzweiflung fort. »Ich bin ruiniert!«

»Das ist Euer Problem.«

»Wohl eher das Problem Eures Unternehmens, da dieses mir eine Entschädigung garantiert hat, sollte ein Unglück geschehen.«

Giannotto Bruni lachte, dass es laut durch die Gewölbe der Krypta hallte. »Ihr redet nicht von einem meiner Unternehmen, sondern nur von einer assoziierten Filiale. Wendet Euch doch an diese und lasst mich in Frieden.«

Der Mann mit dem Turban packte ihn am Arm. »Seid Ihr vollends von Sinnen? Meint Ihr etwa, ich sollte nach Famagusta reisen? Zu dieser Jahreszeit?«

»Ich habe es bereits gesagt, das ist Euer Problem«, erklärte Bruni und riss sich mit einem Ruck los. »Wenn ich gewusst hätte, dass Ihr mich mit solch einem Unsinn belästigen wollt, hätte ich niemals zugestimmt, Euch an diesem abgeschiedenen Ort zu treffen.«

»Zweitausend Goldflorin!«, schrie ihn der Fremde an. »Erstattet mir wenigstens diese Summe, das ist nicht einmal ein Drittel dessen, was ich verloren habe.«

Giannotto Bruni schwieg, während er den Blick durch die Dunkelheit schweifen ließ, der so durchdringend war, dass der Dieb hinter der Madonnenstatue einen Moment glaubte, er habe ihn entdeckt. Doch dann sah er, wie der Bankier an ihm vorüberlief, und seine Gedanken fingen an, sich mit den zweitausend Goldflorin zu beschäftigen, von denen er eben gehört hatte. Eigentlich ja sogar sechstausend, wie der Mann mit dem Turban behauptet hatte. Es gab Woll- oder auch Gewürzhändler, die schon nach dem Verlust von weitaus geringeren Summen den Bankrott erklären mussten.

»Selbst wenn ich willens wäre, jemandem eine derart hohe Summe zu bezahlen, und das bin ich keineswegs«, erklärte Bruni und wandte sich dem Ausgang zu, »würde ich mich ganz sicher nicht mit einer solchen Geschichte zufriedengeben. Jeden Tag erhalte ich die Berichte von den Häfen und den Zollämtern, und ehrlich gesagt habe ich darin rein gar nichts von einem Schiffsuntergang gelesen.«

»Die ›Saturnia‹ ist gesunken!«, brauste der Fremde auf und stellte sich Bruni in den Weg. »Untergegangen wie ein Stein, wenn ich es Euch doch sage.«

Bruni stieß ihn zurück, doch der andere wich nicht zur Seite. »Schert Euch zum Teufel, Messere. Lasst mich vorbei!«, rief er.

Der Fremde, untersetzter und stämmiger als Bruni, bewegte sich nicht vom Fleck. »Zum Teufel werdet allein Ihr gehen, verfluchter alter Wucherer.«

»Wie könnt Ihr es wagen?«, empörte sich Bruni. Er versuchte zum zweiten Mal, vorbeizukommen, doch als es ihm wieder nicht gelang, zückte er einen Dolch und richtete ihn drohend gegen den Fremden. »Ich befehle Euch, von hier zu verschwinden, oder, bei Gott …«

Doch anstatt sich davon einschüchtern zu lassen, packte der Fremde ihn am Handgelenk. Außer sich vor Wut stürzte sich Bruni auf ihn, sodass der andere Mann unter seinem Gewicht zu Boden taumelte.

Der Dieb in seinem Versteck überlegte, ob er hinter der Madonna bleiben oder lieber eingreifen und die beiden verrückten Streithähne trennen sollte. Wenn das so weiterging, würden noch die wachhabenden Mönche aufmerksam werden. Er sollte besser aus der Krypta verschwinden, solange ihm noch die Zeit dazu blieb, und hoffen, dass man ihn nicht …

Ein entsetzlicher Schrei ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.

Er sah, wie der Mann mit dem Turban sich hastig erhob, sich die Hände abwischte und davonrannte. Giannotto Bruni dagegen blieb am Boden liegen und wand sich, als wäre ihm der Teufel in den Leib gefahren.

Der Dieb konnte nun nicht anders, er verließ seinen Beobachtungsposten und eilte zu Bruni, doch er musste feststellen, dass dieser bereits mit dem Tod kämpfte. Bruni stöhnte auf und umklammerte den Griff des Dolches, den der Fremde in seinen Bauch gerammt hatte. »Herr im Himmel, rette mich …«, betete er. »Heilige Jungfrau Maria, rette mich …«

Aber die Klinge steckte über eine Handbreit tief in seinem Leib, es sah aus, als würde nicht einmal der beste Chirurg von Florenz ihn retten können. Und Bruni schien das zu wissen. In einer Mischung aus Wut und Todesangst presste er die Zähne zusammen. Es wirkte, als würde er Scham empfinden, Scham darüber, in einem Handgemenge abgestochen zu werden wie irgendein Lump aus dem Volk.

Doch da lag noch etwas anderes in seinem Blick, das den Dieb einen Moment zu lange verweilen ließ.

Lange genug, dass die Wachen des Klosters sich auf ihn stürzen und ihn ergreifen konnten.

2

Florenz, Viertel Oltrarno, Palazzo Bruni

Nacht vom 21. auf den 22. Februar

Angelo Bruni stand vor der Bahre und betrachtete die Leiche seines Vaters. Noch im Tod bewahrte Giannotto Bruni den grimmigen Gesichtsausdruck, mit dem er zu Lebzeiten selbst seinen erbittertsten Gegnern Respekt eingeflößt hatte. Die Hakennase und die geschwungenen Brauen erinnerten an einen Adler, während die Blässe des Todes den schmallippigen Mund noch mehr hervorhob. Angelo hatte sich stets vor seinem Vater gefürchtet, und selbst jetzt, im Angesicht dessen leblosen Körpers, konnte er keine Betroffenheit empfinden. Auf der anderen Seite der Bahre stand seine Cousine Bianca de’ Brancacci, und trotz des düsteren Halbdunkels, das in der Privatkapelle des Palazzos herrschte, sah man sie bitterlich weinen, von tiefem Schmerz erfüllt.

Eigentlich sollte ich derjenige sein, der sich vor Gram verzehrt und bittere Tränen vergießt, dachte Angelo. Doch ihn quälten ganz andere Sorgen. Nun, da er zum Oberhaupt der Familie geworden war und die Geschäfte der Bruni leiten sollte, trug er schwer an dieser Last, deren Ausmaß er bis vor einem Tag nicht im Entferntesten erahnt hatte. Vielleicht lag dies auch daran, dass er im Gegensatz zu Giannotto überhaupt keine Begabung für das Handelsgewerbe hatte. Er hatte sich nie für eine Tätigkeit interessiert, bei der es um Wechselbriefe und Handelswährungen ging, deshalb wusste er schon von Kindesbeinen an, dass er seinem Vater kein würdiger Nachfolger sein würde.

Sein Onkel Teodoro wäre wesentlich geeigneter für diese Aufgabe gewesen, doch dieser war kürzlich während einer Reise nach Frankreich ums Leben gekommen. Angelo war auf sich gestellt, hatte niemanden, bei dem er Rat suchen konnte. Was sollte er nun tun, um ein Unternehmen zu führen, das in den vergangenen Jahren schon mehrfach vom Bankrott bedroht gewesen war?

Angelo küsste die kalte Stirn seines Vaters und wandte sich dem Vallombrosanermönch zu, der neben ihnen in der Krypta stand, dem ehrwürdigen Montano da Bagnone. Dieser hatte mitten in der Nacht an die Tür zum Palazzo geklopft, gefolgt von einer Schar Mönche, die die in ein Tuch gewickelte Leiche seines Vaters trugen, und ihm die traurige Nachricht überbracht.

»Ich habe Euch noch nicht gedankt, dass Ihr die Angelegenheit so diskret behandelt habt.«

»Ich habe so schnell wie möglich gehandelt, ehe sich Gerüchte verbreiten«, sagte Pater Montano seufzend.

Angelo nickte. Er hatte erfahren, dass trotz der nächtlichen Stunde die Abtei Santa Trìnita inzwischen von einer Meute von Gaffern belagert wurde, die gehört hatten, dass es dort ein Verbrechen gegeben hatte. Welche Schande für die Familie Bruni, wäre die noch blutüberströmte Leiche des angesehenen Giannotto den Blicken des Pöbels ausgesetzt gewesen.

»Seine Seele lag mir immer sehr am Herzen«, fuhr Pater Montano fort und legte die Stirn seines sonst so statuenhaft reglosen Gesichts in Falten. »Ich habe mich verpflichtet gefühlt, ihn sofort hierherzubringen, auf dass er seinen Frieden finde.«

»Glaubt Ihr das wirklich, Vater?«, meldete sich nun Bianca mit brüchiger Stimme zu Wort und trat aus dem Schatten hervor. Ihr hübsches, tränenüberströmtes Antlitz färbte sich rot vor Empörung. »Glaubt Ihr wirklich, dass mein Onkel Frieden gefunden hat?«

Pater Montano bekreuzigte sich. »Er befindet sich nun im Schoße des Herrn.«

»Sein Mörder jedoch lebt noch.«

»Beherrscht Euren Groll, Madonna Bianca«, ermahnte Pater Montano sie sanft. »Nehmt Euch ein Beispiel an Messer Angelo, der so diskret ist in seinem Schmerz.«

Bianca schüttelte den Kopf so heftig, dass eine kastanienbraune Locke unter ihrem Schleier hervorkam. »Auch mein Cousin verlangt nach Rache«, sagte sie kämpferisch. »So ist es doch?«

Angelo zuckte zusammen. Am liebsten hätte er sich jetzt in die Bibliothek verkrochen und sich der Lektüre gewidmet. Er las leidenschaftlich gern Heldenlieder über Ritter ebenso wie Berichte von Reisenden aus der weiten Welt, in die er sich oft hineinträumte, um das eigene Unvermögen zu vergessen. Ganz anders als Bianca, die, obschon nur eine Frau, Giannotto Brunis Geschäftssinn geerbt hatte. Er verschränkte die Hände vor dem Bauch. »Ich …«, hob er an, doch dann wusste er nicht mehr weiter.

»Schäm dich!«, rief Bianca. »Dein Vater ist tot, und du bleibst stumm wie ein Fisch.«

»Der Schuldige ist bereits gefasst«, sagte Pater Montano, um die Gemüter zu beruhigen. »In diesem Moment ist er im städtischen Gefängnis Le Stinche.«

»Der Schuldige?«, wiederholte Bianca hasserfüllt. »Und wer soll das sein?«

»Ein Dieb, so hat man mir berichtet.«

Angelo riss ungläubig die Augen auf. »Ein Dieb?«

Der Mönch nickte. »Sein Name ist Tigrinus. Anscheinend ist er in die Krypta von Santa Trìnita eingedrungen, um die Schätze des Klosters zu stehlen.«

»Und was hat mein Vater mit diesem Kerl zu schaffen?«

»Auch er befand sich in der Krypta, Messere. Wahrscheinlich sind die beiden zufällig aufeinandergetroffen … Nun, den Rest könnt Ihr Euch vorstellen.«

»Ich stelle mir rein gar nichts vor«, fauchte Bianca. »Ich will diesem verdammten Tigrinus ins Gesicht sehen! Ich will in seine Augen schauen und ihm den grausamsten Tod wünschen.«

»Beruhige dich, meine Tochter«, versuchte Pater Montano sie zur Vernunft zu bringen. »Le Stinche ist kein angemessener Ort für eine ehrbare Frau.«

Doch Bianca war wilder als ein verwundetes Raubtier. »Dann werde ich eben nicht allein gehen«, zischte sie. »Angelo wird mich begleiten.«

3

Städtisches Gefängnis Le Stinche

Tigrinus stützte die Ellenbogen auf dem Holztisch ab und rieb sich die gefesselten Hände. Wegen der Schläge, die er erst von den Wachen des Klosters und danach von den Soldaten des Viertels erhalten hatte, konnte er nicht mehr aufrecht auf dem Hocker sitzen. Die Strecke von der Piazza della Signoria bis zum Gefängnis war die reinste Hölle gewesen. Doch mehr als alles andere machten ihm die geschlossenen Räume und der Mangel an frischer Luft zu schaffen. Sein letzter Aufenthalt im Gefängnis lag nun schon einige Jahre zurück, doch er erinnerte sich nur zu gut an den modrigen Geruch von feuchten Steinen, der ihm auch jetzt wieder in die Nase stieg. In der Hoffnung auf eine nächtliche Brise wandte er sich dem winzigen Fenster zu, doch da war nichts als die Dunkelheit, die den Innenhof von Le Stinche ausfüllte.

»Du würdest am liebsten fortfliegen wie ein Vöglein, nicht wahr?«, verhöhnte ihn der Mann auf der anderen Seite des Tisches.

Der kräftig gebaute Kerl war Niccolò Vitelli, der Hauptmann der Stadtknechte. Er hatte seine Lederstiefel auf den Tisch gelegt und eine Weinkaraffe auf dem Bauch aufgestützt. Jeder in Florenz kannte ihn, und das ganz sicher nicht wegen seiner Barmherzigkeit. Für gewöhnlich war er irgendwo in einer der Tavernen entlang des Arnos oder auf dem Mercato Vecchio zu finden, stets in Begleitung eines Molossers mit grauem Fell. Auch jetzt war der kräftige Hund an seiner Seite und döste, den riesigen Kopf hatte er auf die Pfoten gelegt. Nicht wenige Unglückliche hatten mit anhören müssen, wie ihre Knochen zwischen den Zähnen dieses Ungeheuers zerknackten, aber bis jetzt konnte Tigrinus sich glücklich schätzen, dass er verhältnismäßig gut davongekommen war, trotz der Anwesenheit dieses dümmlich dreinschauenden Hundes und vor allem trotz Vitelli, der auch nicht gerade mit Weisheit gesegnet zu sein schien.

Doch etwas ganz anderes brachte Tigrinus ins Grübeln. Nachdem er sich einige Zeit für seine Dummheit verflucht hatte, war ihm aufgefallen, dass man ihn ziemlich ungewöhnlich behandelte. Statt in einer normalen Zelle befand er sich in einem Raum, der an den Innenhof angrenzte. Zudem war er noch keiner höherrangigen Persönlichkeit vorgeführt worden, die für die Wahrung der Ordnung zuständig gewesen wäre. Nur Vitelli, der ihn starr anglotzte wie ein Ochse.

»Auf wen warten wir?«, fragte Tigrinus.

Vitelli nahm schwungvoll einen großen Schluck aus der Karaffe und kümmerte sich nicht um die roten Rinnsale, die ihm dabei übers Kinn liefen. »Warum fragst du das?«, knurrte er.

»Falls Euer Gnaden mich nicht zur persönlichen Belustigung geholt haben, muss es einen guten Grund geben, warum Ihr mir unbedingt zu so vorgerückter Stunde Gesellschaft leisten wollt.«

Vitelli beugte sich vor, setzte die Karaffe geräuschvoll auf dem Tisch ab und musterte ihn finster. »Du hältst dich wohl für ein ganz schlaues Kerlchen, was?«

Tigrinus zuckte mit den Schultern. »Wäre ich das wirklich, dann säße ich jetzt nicht hier.«

»Keine Sorge, du bleibst nicht lange. Auf Mörder wartet der Galgen.«

»Ich habe niemanden umgebracht.«

»Messer Bruni wäre da wohl nicht deiner Meinung.«

»Es war jemand anderes. Ich habe ihn gesehen.«

»Du erbärmlicher Lügner!« Vitelli sprang auf, rot vor Zorn packte er Tigrinus bei den Haaren und knallte ihn mit der Nase auf die Tischplatte. »Jetzt wirst du alles gestehen, und zwar bei mir! Bevor er kommt!«

Tigrinus verdrehte schmerzerfüllt die Augen, um zu ihm aufzusehen. »Wer denn?«

»Hast du mich nicht gehört?«, polterte Vitelli weiter und ballte die Fäuste. »Gestehe, dass du ihn ermordet hast.«

»Ich kannte ihn ja nicht einmal, diesen …« Ein kräftiger Schlag gegen das Jochbein holte Tigrinus vom Schemel und schickte ihn zu Boden. Er kauerte sich zusammen und versuchte, die Muskeln zu entspannen, um den Schmerz aufzufangen. Nur wenige Fingerbreit von seinem Gesicht entfernt starrte ihn der Molosser an.

»Komm schon, du Hurensohn!«, fuhr Vitelli ihn an, während er um den Tisch herumging und drohend auf ihn zukam.

»Ihr … Ihr habt doch meine Mutter gar nicht gekannt.«

»Ebenso wenig wie du, soweit man hört.«

Diese Worte trafen Tigrinus schmerzhafter als die groben Hände, die ihn am Kragen packten und gegen eine Wand schleuderten. Der Hund knurrte.

»Willst du ihn, Malacoda?«, höhnte Vitelli mit sadistischem Grinsen. »Willst du ein bisschen an ihm knabbern?«

Tigrinus sah schon das schäumende Maul des Hundes vor sich, da tat sich auf einmal die Tür auf, und zwei Soldaten kamen herein.

Vitelli unterdrückte einen Fluch und ließ vom Gefangenen ab, den Hund beruhigte er mit einem knappen Befehl.

Gerade noch rechtzeitig, denn schon betrat Cosimo de’ Medici den Raum.

Caco hatte sich einen Platz an der Ecke zwischen der Via Ghibellina und dem Graben gesucht, der um das viereckige Gebäude von Le Stinche führte. Nachdem er gesehen hatte, wie Tigrinus verhaftet worden war, hatte er sich in den Zug von Soldaten und Bürgern eingereiht, die den Dieb zum Gefängnis begleiteten. Doch schnell war ihm bewusst geworden, dass er seinem Freund nicht zur Flucht verhelfen konnte. Allein der Anblick dieses mächtigen Gefängnisbaus mit seinen fensterlosen dicken Steinmauern, die von den Fackeln der Menschenschar in ein rötliches Licht getaucht waren, jagte ihm eine Heidenangst ein. An einem Ort wie diesem konnte keiner lange überleben.

Doch Caco mochte Tigrinus wirklich. Er war der Einzige, der ihn noch nie wegen seiner Kleinwüchsigkeit ausgelacht hatte, und hatte ihm schon einige Male das Leben gerettet. Caco würde versuchen, ihm wenigstens Brot und etwas Geld zukommen zu lassen, damit Tigrinus sich die Wachen gewogen machen konnte. Er würde die Übergabe natürlich nicht selbst erledigen, er kannte Menschen, die dafür besser geeignet waren. So manche fromme Frau würde gern solche Dienste der Nächstenliebe leisten.

Nachdem er sich alles im Kopf zurechtgelegt hatte, wollte Caco sich gerade auf den Weg machen. Da entdeckte er zwei Gestalten, die sich mit Laternen in der Hand dem Eingang zu den Kerkern näherten. Ein Mann und eine Frau.

Eine recht ungewöhnliche Stunde für einen Besuch, dachte Caco. Am meisten überraschte ihn jedoch die Entschlossenheit, mit der die Frau ihrem Begleiter voranschritt. Dieser etwas plumpe, dickliche Mann konnte kaum mit ihr Schritt halten und versuchte immer wieder, sie zur Umkehr zu bewegen, doch sie stieß ihn wütend zurück und lief mit hocherhobenem Haupt zu den bewaffneten Männern, die am Portal Wache hielten.

»Ich will ihn aber jetzt sehen!«, widersprach Bianca und schwenkte die Laterne so energisch, als wollte sie diese jeden Moment einer der beiden Wachen überziehen.

»Madonna, das ist nicht möglich«, sagte der Soldat, der näher bei ihr stand. Demonstrativ rammte er seine Lanze vor ihr in den Boden. »Ihr müsst Euch bis morgen früh gedulden.«

»Und wenn ich Euch dafür bezahlte?«

Der andere Soldat schnaufte verächtlich. »Haltet Ihr uns etwa für käuflich wie Söldner?«

Bianca starrte die beiden vernichtend an, dann drehte sie sich zu ihrem Cousin um. »Angelo, so sag doch auch etwas!«

»Bianca, hab doch Geduld …«, brachte dieser gepresst heraus und lächelte verlegen. »Wir werden morgen wiederkehren, ich verspreche es dir.«

»Aber es geht um deinen Vater!«

»Mein Vater war ein bedachtsamer Mann, er hätte gewartet.«

»Wie wenig du ihn doch kanntest! Er war furchtlos und hätte vor zwei aufgeblasenen Kerlen wie denen niemals den Rückzug angetreten.«

»Madonna, also wirklich!«, fuhr einer der Soldaten wütend auf. »So beleidigt Ihr uns!«

Angelo Bruni besänftigte ihn mit einer entschuldigenden Geste. »Meine Cousine weiß nicht, was sie sagt«, erklärte er. »Wenn Ihr ihr doch diesen Gefallen tun könntet …«

»Es tut mir leid«, erwiderte der Soldat. »Der Gefangene, nach dem Ihr gefragt habt, steht unter strengster Bewachung. Der Befehl lautet, dass er bis morgen früh mit niemandem sprechen darf.«

»Und von wem stammt dieser Befehl?«, brauste Bianca auf, die sich nicht geschlagen geben wollte.

Da bemerkte Angelo, wie ein dritter bewaffneter Mann bedrohlich näher kam. Da er das Schlimmste befürchtete, gelang es ihm endlich, Bianca an einem Arm zu packen und mit sich fortzuziehen. »Morgen«, flüsterte er ihr zu in dem Versuch, sie zu beruhigen. »Morgen!«

4

Cosimo de’ Medici befahl Niccolò Vitelli, zusammen mit den Wachen und seinem Hund den Raum zu verlassen, dann löste er seinen Umhang, legte ihn über einen Stuhl und setzte sich Tigrinus gegenüber, der sich unter Mühen aufrichtete. Er hätte es wissen müssen. Die ungewöhnliche Behandlung im Gefängnis, das Verhör durch den Hauptmann der Stadtknechte, noch dazu mitten in der Nacht … Unter den hochrangigen Persönlichkeiten von Florenz waren nur wenige so mächtig, dass sie die Gesetze der Republik beugen konnten. Und kaum jemand von ihnen hätte einem mutmaßlichen Mörder Aug in Aug gegenübersitzen wollen. Man konnte allerdings darüber streiten, wer von ihnen beiden nun der Gefährlichere war. Nur selten hatte es jemand gewagt, die Geduld von Cosimo de’ Medici zu strapazieren, und außer Tigrinus hatte fast jeder dafür büßen müssen.

»Meine Verehrung, Euer Gnaden«, sagte Tigrinus, während er seine blutverkrustete Lippe rieb. »Was verschafft mir die Ehre Eures Besuchs?«

»Hör auf, mich zu verspotten, du Lump, und sag mir, was du in dieser Krypta zu schaffen hattest«, entgegnete Cosimo.

»Das ist meine Sache.«

»Bald wird es die Sache des Henkers sein.«

»Glaubt Ihr allen Ernstes, dass ich es gewesen bin?«

»Was denn?«

»Der Mörder von Messer Bruni.«

»Wenn du es nicht gewesen bist, wer dann?«

»Also wirklich!«, rief Tigrinus mit theatralisch gespielter Empörung. »Haltet Ihr mich wirklich für so dumm, dass ich einen Mann absteche und mich dann erwischen lasse?«

»Na ja, immerhin warst du dumm genug, dass du im Gefängnis gelandet bist.«

»Ich konnte einfach nicht gehen«, rechtfertigte sich Tigrinus und verschwieg dabei die Sache mit den zweitausend Goldflorin ebenso wie das gesunkene Schiff. Es war schwer zu erklären. Kurz sah er wieder das im Todeskampf verzerrte Gesicht des Opfers vor sich. »Es war, als ob dieser Mann, ehe er das Zeitliche segnete, noch etwas wollte …«

Cosimo verengte die Augen zu Schlitzen. »Was soll er denn gewollt haben?«

»Ach, nichts.« Tigrinus schüttelte den Kopf. »Vergesst es einfach.«

»Das werde ich bestimmt nicht vergessen«, knurrte Cosimo. »Du kannst es dir nicht leisten, hier etwas zu verschweigen, verstehst du?«

Tigrinus war dies nur zu bewusst, aber er würde Giannotto Brunis letzte Worte nur im Austausch für einen sicheren Vorteil preisgeben. Wie dieser aussehen sollte, wusste er noch nicht, da er Cosimo de’ Medici, dem mächtigsten Mann von Florenz, nicht über den Weg traute. Warum hatte dieser ihn wohl seit seiner Kindheit beschützt und in die Obhut verschiedener Vormünder gegeben, ohne ihm je etwas über seine Herkunft zu enthüllen? Und was hatte ihn bewogen, in all den Jahren seine fortwährende Auflehnung gegen jede Form von Gesetz und Moral zu dulden? Sosehr er sich bemühte, sich zu erinnern, vor Florenz und dem Medici war da nur das Rauschen des Meeres und der Klang fremder Sprachen, neben dem unbestimmten Gefühl, aus einer fernen Welt zu stammen. Vielleicht war er deshalb so rastlos und unfähig, sich in ein gewöhnliches Leben zu fügen. »Wenn Ihr nicht an meine Unschuld glaubt, weshalb seid Ihr dann hier?«, fragte Tigrinus schließlich.

Cosimo starrte auf die Weinkaraffe, die Vitelli auf dem Tisch hatte stehen lassen, dann schob er sie unwirsch beiseite. »Für jemanden, dem der Galgen droht, zeigst du dich reichlich überheblich«, sagte er verärgert. »Glaubst du etwa, ich habe mich heute gern mitten in der Nacht aufgemacht, um zu Le Stinche zu eilen? Und doch bin ich hier und sitze meinem größten Misserfolg gegenüber.« Er klopfte energisch mit den Knöcheln auf die Tischplatte. »Seit du ein kleiner Junge warst, habe ich mich in jeder Weise für dich eingesetzt, und du … Nicht einmal Giovanni da Fiesole ist es gelungen, dich auf den rechten Weg zu führen.«

»Lasst Bruder Giovanni aus dem Spiel«, entgegnete Tigrinus. »Er hatte mich gern.«

»Ich dagegen bin dein Feind?«

»Was Ihr seid, weiß ich nicht. Ich habe nie etwas von Euch verlangt.«

»Erspar mir um Himmels willen deine Vorwürfe.« Cosimo lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Erzähl mir lieber, was in Santa Trìnita vorgefallen ist, und sieh zu, dass du eine glaubwürdige Erklärung gibst.«

»Es war ein Fremder, ein Mann mit einem Turban.«

»Dann wart ihr also zu dritt in der Krypta?«

»Ja. Ich belauschte die beiden Männer aus einem Versteck, während sie sich unterhielten. Dann wurden sie handgreiflich, und einer von ihnen kam zu Tode.«

Cosimo runzelte nachdenklich die Stirn. »Seltsam«, sagte er. »Die wachhabenden Mönche des Klosters haben keine dritte Person erwähnt.«

Tigrinus zuckte mit den Schultern. »Vielleicht, weil er ihnen entkommen ist und sie dies nicht zugeben wollen.«

»Hier steht also dein Wort gegen ihres.«

»Und wenn es stimmt, weshalb sollte ausgerechnet ich dann dafür büßen?«

»Nun stilisiere dich nicht zum Märtyrer«, mahnte Cosimo. »Allein die Tatsache, dass du in die Krypta eingedrungen bist, ist ja fast wie ein Eingeständnis deiner Schuld.«

»Das allein reicht allerdings nicht aus, um mich an den Galgen zu bringen.«

»Messer Vitelli ist da anderer Ansicht. Ich werde wohl tief in meine Börse greifen müssen, um ihn davon zu überzeugen, dich gehen zu lassen.«

Da haben wir es wieder, dachte Tigrinus. Nun bekam er wieder die Fesseln der Dankbarkeit angelegt. Diese Falle der Großmut, durch die der Medici jedermann in Florenz zu seinem Sklaven gemacht hatte. »Und wenn ich den Hauptmann der Stadtknechte überreden könnte, nach dem wahren Schuldigen zu suchen?«

»Du machst es dir einfach«, knurrte Cosimo. »Du kennst doch Vitelli. Wo sollte er den wahren Schuldigen denn suchen?«

»Ich könnte ihm helfen«, beharrte Tigrinus. »Das Gesicht des Fremden konnte ich zwar nicht erkennen, aber an seine Stimme erinnere ich mich.«

»Jemanden aufgrund des Klangs seiner Stimme beschuldigen?«, spottete Cosimo und schüttelte den Kopf. Er erhob sich und nahm seinen Umhang. »Misch dich nicht ein, lass mich einfach machen. Aber dieses Mal wirst du mir den Gefallen erwidern.«

»Und welchen Gefallen soll ich Euch tun?«, fragte Tigrinus misstrauisch.

»Das wirst du morgen Nacht erfahren, wir treffen uns vor der Taverne ›Al Passero‹, dem Wirtshaus zum Spatzen.« Cosimo war schon auf dem Weg zur Tür. »Bis dahin werden die Wachen dich hierbehalten, damit du ein wenig über dein ruchloses Leben nachdenken kannst.«

5

Florenz, außerhalb der Stadtmauern

22. Februar

Der Mönch verließ die Stadt durch die Porta alla Croce und lief weiter hügelan durch die Felder. Bis zum Kloster San Salvi lag ein Fußmarsch von einer Stunde vor ihm, aber er nahm den Weg zu der kleinen Kirche, die dem Orden der Vallombrosaner unterstand, gern auf sich, um die Kollekte der Bauern und der umherziehenden Händler aus der ersten Fastenwoche einzusammeln. Die Morgensonne schien angenehm warm, fast frühlingshaft, und die Luft war so klar, dass sie ihn die düsteren Gewölbe von Santa Trìnita langsam vergessen ließ. Es gab ja auch so vieles, worüber er nachdenken musste, und wenn das Sprichwort »Solvitur ambulando« sich auch nur zur Hälfte als richtig erwies, würde ihm das gemächliche Spazieren durch die Natur bestimmt sehr guttun.

Er lief mit großen Schritten, den Kopf gesenkt, den Beutel für die Kollekte unter der Kukulle verborgen, und ließ den Blick über die Reihen von Weinstöcken und die Bauernhäuser schweifen, um sich von seiner inneren Seelenpein abzulenken. Es fiel ihm nicht leicht, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Die Gewissensbisse, die ihn seit letzter Nacht plagten, hatten sich tief in seinem Inneren eingenistet, und weder Gebet noch logische Überlegung konnten sie lindern. Was hast du bloß getan?, fragte er sich immer wieder. Welche Schuld hast du auf dich geladen?

Doch plötzlich sah er sich einem ganz anderen Problem gegenüber. Er war gerade in eine schmale Straße nach Osten eingebogen, als er eine grau gekleidete Gestalt ausmachte, die sich aus dem Schatten einer Steinmauer löste und auf ihn zukam.

»Wer seid Ihr?«, fragte der Mönch abwehrend, weil er fürchtete, einen Räuber vor sich zu haben. Dann erkannte er den grauen Turban des Fremden und beruhigte sich. »Ach, Ihr seid es«, sagte er erleichtert.

»Habt Ihr etwa jemand anders erwartet?«, fragte der stämmige Mann misstrauisch.

Der Mönch seufzte. »Nach dem, was passiert ist, bin ich auf alles gefasst.«

»Da will ich Euch nicht widersprechen, Vater. Und genau dieser Grund führt mich zu Euch.«

Der Mönch schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich habe genügend für Euch getan.«

»Bis gestern wart Ihr nicht so empfindlich.«

»Gestern war ich Euer Komplize, das ist wahr. Aber wenn ich gewusst hätte, wie es enden würde …«

»Nun seid Ihr in die Angelegenheit verwickelt«, schnitt der Mann ihm das Wort ab. Er setzte ihm den Zeigefinger auf die Brust. »Ihr könnt Euch jetzt nicht zurückziehen, als ob nichts geschehen wäre.«

Der Mönch starrte ihn voller Zorn an. Ein ohnmächtiger Zorn jedoch, der sich mehr gegen sich selbst und das unselige Schicksal richtete. »Nun gut«, knurrte er. »Was wollt Ihr diesmal?«

Der Mann hob die Hände. »Ihr müsst mich verstecken, bis sich die Lage beruhigt hat.«

»Warum das denn? Soweit ich weiß, hat Euch niemand bemerkt.«

»Der Dieb schon. Er hat mich gesehen.«

»Meint Ihr den Kerl, den man eingesperrt hat? Ach der, der ist bereits so gut wie tot.«

»Und wenn er sich jemandem anvertraut, ehe er zum Teufel fährt?«

»Selbst wenn.« Der Mönch lachte nervös auf. »Wer sollte dem Geschwätz eines Verurteilten Glauben schenken? Vertraut mir, Messere. Macht Euch deswegen keine Sorgen. Niemand hat Euch beim Verlassen der Krypta gesehen.«

»Nun ja, einen Zeugen gibt es schon.« Die Züge des Mannes verfinsterten sich.

»Ihr fürchtet doch nicht etwa, dass ich Euch verraten könnte!«, rief der Mönch empört.

»Wirklich nicht, mein guter Vater«, sagte der Mann höhnisch und fing an, den Mönch zu umkreisen. »Denn falls Ihr wirklich so dumm sein solltet, kämt Ihr ebenso in Schwierigkeiten wie ich. Sogar in noch größere. Doch man kann nie wissen, und solange wir das Problem des Schiffes noch nicht geklärt haben, wäre es besser … wie soll ich sagen … wenn wir uns gegenseitig Deckung geben würden. Habt Ihr mich verstanden?«

Ich verstehe rein gar nichts, hätte der Mönch dem Fremden am liebsten ins Gesicht gerufen. Doch er war wie gelähmt, unfähig, auch nur einen Schritt zu tun, obwohl er innerlich darauf brannte, sich auf ihn zu stürzen und ihm mit einem Stein den Schädel zu spalten. Welche Erleichterung wäre das gewesen! Damit hätte er zwar die eigene Seele der ewigen Verdammnis anheimgegeben, doch wenigstens für einen Moment hätte er sich frei gefühlt.

Der Mönch schluckte leer, um den bitteren Geschmack in seinem Mund loszuwerden, während er fieberhaft überlegte, wie er sich aus dieser unangenehmen Situation befreien könnte. Doch hier draußen kam er zu keiner Lösung.

Denn auch er hatte Schuld auf sich geladen. Genau wie der Mann, dem er gegenüberstand.

6

Städtisches Gefängnis Le Stinche

Bianca hatte Angst, aber um nichts auf der Welt hätte sie das zugegeben. Die ganze Nacht hatte sie sich schlaflos hin und her gewälzt, vor lauter Ungeduld, endlich das Gefängnis aufzusuchen und dem Mörder ihres geliebten Onkels Aug in Aug gegenüberzustehen. Doch als sie nun schnellen Schrittes durch einen Gewölbegang lief, in dem es so finster wie in einer Höhle war, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als so schnell wie möglich wieder an die frische Luft zu kommen.

Hör auf zu zittern, ermahnte sie sich still. Giannotto Bruni hatte ihr beigebracht, keine Gefühle zu zeigen – ganz gleich wie widrig die Umstände gerade sein mochten –, um den Gegnern keinen Vorteil zu bieten. Denn Gegner gibt es immer, pflegte er ihr zu sagen. Immer, selbst wenn man sich in sicheren Gewässern glaubt. Bianca erinnerte sich wehmütig an jedes seiner Worte. Schon als kleines Mädchen hatte er sie auf seine Geschäftsreisen nach Pisa und Livorno mitgenommen. Er hatte ihr alles erklärt, war mit ihr an den Hafenkais entlangspaziert, wo er die Frachtlisten und die vor Anker liegenden Schiffe studierte und beobachtete, welche Waren aus aller Herren Länder die Seeleute zum Verkauf boten. Bei einer dieser Gelegenheiten hatte Bianca sich in ein seltsames Andenken verliebt – eine Maske für eine Frau, die aus einem Straußenei gefertigt worden war. Der Verkäufer, ein Berber, der als Ruderer angeheuert hatte und unter einem Zeltdach Schutz vor der Sonne suchte, hatte geschworen, dass sie von einem Magier in Algerien stammte. Giannotto hatte zunächst nur skeptisch gelacht, aber dann doch eine unglaubliche Summe dafür hingelegt, um seiner Nichte den Gefallen zu tun.

Bianca hatte diese Maske immer noch. Sie bewahrte sie in ihrem Privatgemach auf, in einer Schublade neben ihrem Schmuck. Jetzt hätte sie diese liebend gern aufgesetzt, um dahinter Schutz zu finden.

Aus dem Augenwinkel schaute sie zu ihrem Cousin, der neben ihr herlief, aber Angelos pausbäckiges Profil tröstete sie wenig. Von ihnen beiden war sie immer die Mutigere gewesen. Seit ihr Vater Teodoro sie in die Obhut seines Schwagers gegeben hatte, um sich auf seine Handelsreisen zu konzentrieren und sich so über den Verlust seiner geliebten Gattin hinwegzutrösten, hatte Bianca es sich angewöhnt, sich jedem Problem allein zu stellen und ihren Willen durchzusetzen.

»Wie lange dauert es noch?«, fragte sie die Wache, die vor ihnen lief.

Der Soldat fuhr herum, musterte sie beinahe obszön von oben bis unten, nur um sich danach wortlos wieder nach vorn zu wenden und weiter den Gang entlangzulaufen. Die Fackel in seiner Hand, die einzige Lichtquelle, beleuchtete eine Reihe von verriegelten Türen, hinter denen Seufzer und Klagen zu hören waren. Doch mehr als alles andere beunruhigte Bianca die Verzweiflung, die sie an diesem Ort spürte. Das Gebäude war von ihr durchdrungen, und sie legte sich lähmend wie ein tödlicher Hauch auf alle, die diese Stätte aufsuchten.

Als sie erkannte, dass sie ihr Ziel erreicht hatten, war sie beinahe erleichtert. Sie sah, wie der Soldat die Fackel neben einer Tür befestigte, die er mit einem Schlüssel aufsperrte, und sie mit einer unbeholfenen Verbeugung bat, einzutreten.

Dort in der Zelle wartete der Mörder ihres Onkels.

Als Bianca bemerkte, dass Angelo zögerte, atmete sie einmal tief durch und betrat entschlossen den Raum.

7

Ein ganz in Schwarz gekleideter Mann hockte in einer Ecke, sein Gesicht war mit dunkler Farbe verschmiert, als wäre er geradewegs aus einem Kamin gestiegen. Er hatte den Kopf gegen die Wand gelehnt, sodass sein Gesicht im Profil zu sehen war, und grinste sardonisch. Im flackernden Schein der Fackel fielen Bianca sofort die ungewöhnlichen silberfarbenen Strähnen auf, die sein Haar durchzogen.

»Was?«, rief Tigrinus und musterte sie misstrauisch. »Lässt man jetzt auch schon Nonnen hier herein?«

»Ich bin keine Nonne«, fuhr Bianca zornig auf. Für den Gefängnisbesuch hatte sie ein hochgeschlossenes Kleid und eine lange Haube gewählt, die ihr Haar komplett verbarg.

»Ich bitte um Verzeihung, Madonna«, sagte Tigrinus spöttisch und musterte sie nun ein wenig genauer, fast wohlwollend. »Nun, da Ihr mich darauf hinweist …«

»Schweigt!«, unterbrach Bianca ihn empört. »Ich bin nicht hier zu Eurem Vergnügen, sondern um Euch ins Angesicht zu blicken und Euch den grausamsten Tod auf Erden zu wünschen! Ihr …« Sie legte sich eine Hand an die Brust, um ihre aufwogende Erregung im Zaum zu halten. »Ihr habt meinen Onkel umgebracht, einen grundgütigen und hochverehrten Menschen, der es nicht verdiente, in einer finsteren Krypta zu sterben, ganz allein und ohne den Beistand seiner Familie! Welchen teuflischen Ränken ist es zu verdanken, dass Ihr noch nicht in der Hölle schmort?«

»Wache, bitte!« Tigrinus hob den Blick zum Himmel. »Wer ist dieses besessene Weib?«

»Bianca de’ Brancacci, Nichte des Messer Giannotto Bruni.« Plötzlich schienen Bianca die Kräfte zu verlassen, als hätte der Gefühlsausbruch sie geschwächt. Auf der Suche nach einem Halt packte sie Angelo am Arm und zog ihn in die Zelle. »Der Mann, der mich begleitet, ist Angelo Bruni, Sohn dessen, den Ihr so feige ermordet habt. Wie ich ist er gekommen, um Gerechtigkeit und Erklärungen zu fordern.«

Tigrinus rührte sich nicht vom Fleck und betrachtete die beiden gleichmütig. »Ich respektiere Euren Schmerz und Euren Zorn«, sagte er leise. »Lasst mich jedoch sagen, dass ich nicht Messer Brunis Mörder bin.«

»Macht Ihr Euch über uns lustig?«, fragte Bianca zornig.

»Keineswegs. Mein einziger Fehler war es, dass ich die Krypta aufgesucht habe, und das kurz bevor das Verbrechen geschah …«

»Dann hat sich mein Onkel also selbst den Dolch in den Leib gerammt?«

»Der Täter ist geflohen, sodass man nun mich für den Schuldigen hält.«

Bianca schüttelte den Kopf und wollte schon zu weiteren Beschimpfungen ansetzen, als Angelo sich vor sie stellte.

»Ihr müsst wirklich sehr dumm sein, wenn Ihr glaubt, dass Ihr mit solchen Lügen davonkommt«, sagte Angelo nachdrücklich, in dem vergeblichen Versuch, Autorität auszustrahlen.

Tigrinus zuckte nur mit den Schultern. »Wie Ihr meint, Messere.«

»Wie … könnt Ihr es wagen?«

»Gott ist mein Zeuge, ich sage die Wahrheit«, verteidigte sich Tigrinus und sah Bianca so durchdringend an, dass diese zurückwich. »Ihr dagegen, meine Herrin? Wollt Ihr nur Euren Zorn befriedigen oder lieber den wahren Schuldigen finden?«

Mit einer brüsken Handbewegung schob Bianca Angelo beiseite und trat einen Schritt vor. Zum ersten Mal bemerkte sie, dass das Gesicht des Gefangenen Spuren von Misshandlung aufwies. Ein Schauer der Genugtuung lief ihr über den Rücken. »Der Schuldige steht hier vor mir«, stellte sie befriedigt fest.

Tigrinus wandte den Blick nicht von ihr, als wollte er noch etwas sagen. Dann seufzte er enttäuscht auf. »Wache, was ist? Schläfst du?«, rief er. »Willst du nicht endlich diese beiden Menschen hier entfernen?«

»Wir werden nirgendwo hingehen, bis wir nicht von Euch selbst gehört haben, dass Ihr ein Mörder seid«, sagte Bianca.

»Dann bittet Ihr mich also zu lügen«, gab Tigrinus zurück. »Anstatt Euch zu fragen, wie und aus welchem Grund Messer Bruni in den unterirdischen Gewölben von Santa Trìnita zu Tode gekommen ist.«

Angelo setzte schon zu einer empörten Antwort an, aber Bianca hielt ihn zurück. Obwohl sie vor Zorn kochte, begriff sie nicht, warum der Gefangene so sehr darauf bestand, unschuldig zu sein. War er denn nicht bereits zum Tode verurteilt? Misstrauisch verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Nun denn?«

»Nun denn«, fuhr Tigrinus fort und klang sehr geheimnisvoll. »Er wurde wegen zweitausend Goldflorin umgebracht. Oder vielmehr sechstausend.«

Angelo verzog ungläubig das Gesicht. »Mein Vater hätte niemals gewagt, mit einer solchen Summe durch Florenz zu laufen. Zumindest nicht ohne Eskorte.«

»Es geht ja auch nicht um das Geld Eures Vaters«, stellte Tigrinus klar. »Sondern um das eines anderen. Des Mannes, der ihn abgestochen hat. Um es kurz zu machen, dieser Unbekannte beschuldigte Euren Vater, ihn betrogen zu haben.«

Bianca lachte nervös auf. »Jetzt beschmutzt Ihr also auch noch das Andenken meines Onkels und heißt ihn einen Betrüger?«

Tigrinus wehrte verächtlich ab. »Und doch ist es die Wahrheit.«

»Leeres Geschwätz«, sagte Angelo. »Eine dreckige Lüge.«

»Dann überprüft es doch selbst«, forderte Tigrinus ihn auf. »Soweit ich gehört habe, stammt die Schuld, um die es hier geht, aus einem Geschäft, das in Famagusta ausgehandelt wurde.«

»Famagusta?«, wiederholte Angelo erschrocken.

»Ach. Das sagt Euch also etwas …«

»Seid still!«, brauste Bianca auf. »Wenn Ihr so auftrumpft, wirkt Ihr nur umso hassenswerter.«

»Vielleicht bin ich das« gab Tigrinus zurück. »Doch ein Mörder bin ich ganz bestimmt nicht.«

»Dann heraus mit der Sprache!«, rief Angelo verzweifelt. »Was sonst meint Ihr zu wissen?«

»Cousin! Wollt Ihr diesem Verbrecher etwa Gehör schenken?«

Angelo winkte ungehalten ab. »Nun ja, er hat von einer unserer Filialen gesprochen. Die von …«

»Schweig!«, befahl Bianca ihm. »Merkst du denn nicht, dass der Kerl hier uns nur etwas vorspielt? Wie viele Hinweise willst du ihm noch geben, dass er uns mit seiner gespaltenen Zunge anlügt?«

Tigrinus lachte höhnisch auf. »Messer Angelo, lasst Ihr Euch so von einer Frau abkanzeln?«

Vollkommen außer sich stürzte Bianca vor und ohrfeigte Tigrinus so heftig, wie sie konnte. »Bald werdet Ihr nicht mehr lachen, Verbrecher!«, schrie sie wütend. »Euch werden die Scherze vergehen, wenn man Euch zum Galgen zerrt!«

Tigrinus lachte nur weiter und sah sie mit seinen Katzenaugen an. Sie wollte erneut zuschlagen, aber dann spürte sie, wie jemand sie an den Hüften packte und aus dem Raum zerrte. Wild wie eine Furie wehrte sie sich gegen Angelos Umarmung, bis sie sich befreit hatte.

»Wann wird er hingerichtet?«, fragte sie die Wache hasserfüllt. »Sagt mir, wann, zum Teufel!«

Doch der Soldat antwortete nicht und schloss stumm hinter ihr die Zellentür.

8

Viertel Oltrarno, Palazzo Bruni

Zwei Stunden später saß Angelo in dem Arbeitszimmer, das bis zum Vortag noch das seines Vaters gewesen war. Er war müde und wütend aus Le Stinche zurückgekehrt und zwang sich nun, seine schlechte Laune zu bezähmen, die er allerdings weniger der Begegnung mit Tigrinus verdankte, sondern Bianca, die immer noch auf sehr unangenehme Weise durch das Haus tobte.