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BERUHT AUF EINEM WAHREN EREIGNIS: Die Influencerin und Modedesignerin Jennifer Eggert erbt an ihrem 21. Geburtstag sowohl das alte Herrenhaus als auch ein verstecktes Geheimnis ihrer einst so geliebten, vor sechs Jahren verschwundenen und nun offiziell für tot erklärten Tante Estella. Ihre Freude über das Haus ist nicht zu übertreffen, wäre da nicht der Haken, dass es in dem großen und unheimlichen Gemäuer spukt. Seit jüngster Vergangenheit passieren dort immer wieder mysteriöse Vorfälle und auch tödliche Unfälle. Jennifer schafft es, ihren Nachbarn Michael, Rekrut der Los Angeles Police Academy und zugleich bester Freund seit Kindertagen, zu überreden, sie gemeinsam mit ihren anderen beiden besten Freunden, Brooklyn und Samantha zu begleiten. Die vier machen sich auf den weiten Weg dorthin – natürlich mit einigen unerwarteten Hindernissen. Kaum dort angekommen, werden Michael, Brooklyn und Samantha immer tiefer in den geheimnisvollen Strudel von Jennifers schockierender Vergangenheit gesaugt. Dabei wird den dreien schnell klar, dass ihre beste Freundin nicht der Mensch ist, den sie zu kennen glaubten. Immer mehr Schatten ihrer Vergangenheit, die scheinbar mit der Erbin noch eine sechs Jahre alte Rechnung zu begleichen haben, treten ans Tageslicht. Gleichzeitig werden die vier auf eine rätselhafte Schnitzeljagd geschickt – von Tante Estella aus dem Jenseits, die ihrer Nichte Jennifer das größte und wertvollste Geheimnis ihres Besitzes schenken will. Als neben Geistern dann auch noch ein mit Maske getarnter Killer auftaucht und Jennifer sowie die anderen in einen psychisch tiefen Abgrund treibt, wird die Jagd ganz schnell zum blutigen Wettrennen. Die Frage ist nur: Wer von beiden wird das letzte große Geheimnis zuerst lüften?
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Seitenzahl: 782
Veröffentlichungsjahr: 2022
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MAX RESTER
Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger
Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw.
Herausgeber und des Verlags ist ausgeschlossen.
Impressum:
Texte: © 2021 Copyright by Max Rester, Linz
Lektorat und Korrektorat: Gundula Bacquet, Frankfurt am Main
Für meinen geliebten Papa,
der am 19.02.2021 gestorben ist.
Das Erlebnis eines Traumas kann einen Menschen psychisch brechen und in einen tiefen Abgrund stürzen. In seltenen Fällen aber auch antreiben.
Der Amerikaner Michael Cody war einer dieser seltenen Fälle. Er hatte eine glückliche Kindheit und die besten Eltern gehabt, die man sich nur wünschen konnte. Bis ein Trauma alles veränderte und sein weiteres Leben völlig auf den Kopf stellte. Als er seinen harten Schicksalsschlag erlitt, war er noch ein kleiner Junge von acht Jahren gewesen.
Alles begann mit seinem Dad: Privat war Robert Cody ein sehr pflichtbewusster und liebevoller Familienvater. Er liebte es, mit seinem Sohn zu basteln und zu spielen. Ihr Lachen beim Herumalbern und Spaßmachen erfüllte das ganze Haus mit Wärme. Beruflich war er ein vorbildlicher Detective beim Morddezernat des Los Angeles Police Department. Seinen Job liebte er sehr, wodurch er auf mehr Verhaftungen und geklärte Fälle zurückblicken konnte als manch einer seiner ranghöheren Kollegen. Dadurch hatte er einen ausgezeichneten Ruf und wurde schnell zu einer echten Legende.
Sowohl privat als auch beruflich wurde Mr. Cody von allen sehr geschätzt und stets mit viel Respekt und Bewunderung behandelt. Er lebte schon immer nach nur einem Motto: »Mache den anderen keinen Scheiß, dann machen sie dir auch keinen.«
Michael genoss es als Kind immer sehr, wenn er mit seiner Mom Dad im Büro besuchen kam und ihm manchmal bei seiner Arbeit helfen durfte, die sich in Form von riesigen Aktenstapeln auf seinem Schreibtisch auftürmte. Besonders liebte er es, wenn sein Dad ihn zu Verhören mitnahm. Dort stand Michael immer gespannt hinter der verspiegelten Glasscheibe und beobachtete, wie der Detective auf überzeugend gespielte, einschüchternde Art so manche harte, kriminelle Nuss schnell zum Knacken brachte und ihm durch den Spiegel immer wieder zuzwinkerte.
Bis zum Schluss hob der Detective sich seine taktisch entscheidende Frage auf, woraufhin sich die Verdächtigen dann automatisch selbst überführten.
Das große Highlight war für Michael immer gewesen, wenn sein Dad den Verbrechern Handschellen anlegte und ihnen gleichzeitig ihre Rechte vortrug. Alles verlief bei ihm streng nach Vorschrift, allerdings griff er manchmal auf etwas unkonventionelle Methoden zurück.
Doch dem ehrgeizigen und allseits beliebten Detective wurden sein Ruf und Ansehen eines Tages zum Verhängnis.
Es war eine regnerische und schwüle Spätsommernacht, als das Schicksal seinen grausamen Lauf nahm und der Detective vor Michaels Augen getötet wurde.
Mr. Cody kam gerade vom Department und fuhr die Straße entlang zu seinem Haus. Während er sich seiner Einfahrt näherte, sah er aus dem Auto heraus eine dunkel gekleidete Person mit langem Mantel auf dem Grundstück stehen, die seinen Sohn und seine Frau durch die Fenster beim gemeinsamen Abendessen zu beobachten schien. Mr. Cody ahnte sofort, um wen es sich bei der Person handeln musste.
Über sein Klapphandy rief der Detective zwar schnell nach Verstärkung, sprang aber trotz doppelter Warnung der Zentrale aus dem Auto und ging mit gezogener und entsicherter Pistole auf die dunkle Gestalt zu. Seine Vorahnung hatte ihn nicht getäuscht, es war tatsächlich der von ihm bereits gesuchte Verdächtige.
Dann passierte es: Plötzlich zog die Person im Schatten der Nacht selbst blitzschnell eine Waffe und schoss dem Detective mit einem gezielten Schuss in den Bauch, der daraufhin seine Pistole fallen ließ.
Mr. Cody ging in die Knie.
Alarmiert durch den Schuss kamen Michael und seine Mom aus dem Haus gestürmt. Schnell erkannte Mrs. Cody die Situation und griff sofort schützend nach ihrem Sohn, um ihn ins Haus zurückzuzerren.
Michael aber riss sich von ihr los, um seinem Dad irgendwie zu Hilfe zu kommen, doch der machte mit seinen Händen eine abwehrende Geste, um ihn so in sicherer Distanz zu halten.
Währenddessen ging der Schütze grinsend auf den stark blutenden Detective zu und trat ihm heftig in den Oberkörper, sodass der Detective nach hinten fiel, und kickte anschließend dessen Pistole beiseite. Dann beugte er sich über den Detective und flüsterte ihm etwas zu. Der antwortete ihm wispernd, worauf der Schütze einen besonderen Blick auf dessen Sohn warf.
Wie gelähmt stand Michael da. Er starrte die schwarze Silhouette des Mannes im langen Mantel an, verspürte aber keine Angst, sondern Wut. Wut auf sich selbst, nichts dagegen unternehmen zu dürfen. Innerlich hoffte und betete er auf Gnade des Schützen.
Was dann folgte, ließ seine Welt zusammenbrechen.
Der Täter schoss dem Detective eiskalt in die Brust und verschwand dann tanzend und entspannt – eine bestimmte Melodie pfeifend, die Michael niemals vergessen würde – in der Dunkelheit der Straße, über der bereits ein trüber Herbstnebel lag.
Im selben Moment kam Jennifer, Michaels gleichaltrige Nachbarin von gegenüber und zugleich beste Freundin, mit ihren Eltern aus dem Haus. Sie waren völlig geschockt. Während ihr Dad sofort den Notarzt verständigte, stürzte ihre Mom zu der völlig erstarrten Mrs. Cody hin. Sie selbst eilte zu Michael und seinem Dad auf die nebelfeuchte Straße.
Es war für das kleine Mädchen das erste Mal gewesen, Mr. Cody weinen zu sehen.
Während der Detective seine Schmerzen unterdrückte, hob er die blutverschmierte Hand und streichelte die Tränen von Michaels Wange. In den Augen seines Sohnes konnte er Angst und Machtlosigkeit sehen, und er gab ihm mit einem traurigen Lächeln zu verstehen, dass er beides nicht zu haben brauchte. Als wollte er Michael damit sagen: »Du bist in Sicherheit.«
Mit entsetztem Blick sah Jennifer auf Mr. Cody, den nun sichtlich die Kräfte verließen.
Seine letzten Worte an Michael waren: »Ich werde immer bei dir sein, mein Sohn.« Danach schloss er in dessen Armen für immer die Augen.
Der kleine Junge blieb schwer traumatisiert zurück.
Den ganzen nächsten Tag verbrachte Michael mit seiner Mom bei Jennifer und ihren Eltern – der Familie Eggert. Nur wenig bekam er von dem großen Polizeiaufgebot und Medienspektakel mit, das sich von morgens bis abends draußen auf der Straße abspielte. Die Eggerts sorgten dafür, dass er und seine Mom von den lästigen Reportern in Ruhe gelassen wurden.
In der darauffolgenden Nacht hatte Michael einen sehr verstörenden und bizarren Albtraum: Er begann mit einem lauten Schuss. Eine Pistolenkugel, die langsam durch ein schwarzes Nichts flog und dahinter ein großer, menschlicher Umriss im Mantel mit der Waffe, aus deren Mündung Rauch kam.
Michael sah mit großen Augen auf seinen Dad. Die Kugel hatte ihn in den Bauch getroffen, wodurch er auf die Knie gestreckt wurde.
Ab da geschah alles nur noch in Zeitlupe: Es folgte ein zweiter Schuss. Diese Kugel steuerte diesmal direkt vor Michaels Augen auf seinen Dad zu. Michael, der sich normal bewegen konnte, wollte eingreifen. Doch egal, was er versuchte, egal, wie viel Kraft er einsetzte, es gelang ihm einfach nicht, die Flugbahn zu beeinflussen oder das Geschoss zu bremsen, und so musste er hilflos mit ansehen, wie die Kugel erbarmungslos in den Brustkorb seines Dad eindrang.
Mr. Cody, der nun tödlich getroffen nach hinten zu Boden kippte, schloss die Augen, worauf Michael laut »Neeeeeeiiiiiiiiin!« schrie und mit diesem Schrei schweißgebadet aufwachte.
Jennifer, die neben Michael schlief, erwachte blitzartig und versuchte, tröstend und beruhigend auf ihn einzureden. Sie wollte ihm verständlich machen, dass er keine Angst mehr zu haben brauchte, da er nur Schlimmes geträumt habe und sie jetzt bei ihm war. In großer Sorge um ihren besten Freund war sie dennoch.
Die restliche Nacht verbrachte Michael weinend in Jennifers Armen.
Am Tag darauf kehrte Michael mit seiner Mom wieder in ihr Haus zurück, und er hoffte, in seinem gewohnten Bett wieder ruhigen Schlaf zu finden. Doch auch in der darauffolgenden Nacht kehrte dieser Albtraum erneut zurück, und mit jedem neuen Tag, mit dem auch die Bestattung seines Dad näher rückte, wurde der nächtliche Traum durch seine Angst noch verstörender, bizarrer und zugleich ... lebendiger.
Als nährte sich der Albtraum von seiner Angst, um daran zu wachsen.
Jedoch sind seine kaum auszuhaltenden Alpträume nicht das Einzige, womit Michael zu kämpfenhatte. Schnell begann auch seine Gesundheit sehr darunter zu leiden. In der Schule war er müde und erschöpft, zu Hause launisch.
Sein Verhalten war für alle anderen kaum zu ertragen.
Ignorieren wollte Michael seine Träume aber auch nicht. Nur weil er noch zu klein war, um die Botschaft darin zu verstehen, war er sich jedoch längst sicher, irgendetwas falsch oder gar nicht gemacht zu haben. Hätte er vielleicht doch versuchen sollen, einzugreifen?
In seinem Kopf spielte er immer wieder alle möglichen Szenarien durch, auch wenn diese ihm seinen geliebten Dad nicht mehr zurückbrachten.
Eines davon plagte Michael fortan besonders: Hätte er es trotzdem wagen sollen, den Mantel-Mann abzulenken, um so seinem Dad vielleicht die Chance zu geben, schnell nach der Dienstwaffe zu greifen und auf den Fremden zu schießen? Auch die Gefahr, selbst erschossen werden zu können, bedachte er. Dazu hätte der Schütze allemal die Gelegenheit gehabt.
Dieses Schuldgefühl und die Selbstvorwürfe, entgegen dem Verbot seines Dad nichts unternommen zu haben, belasteten Michael noch mehr. Dadurch wachte er jede Nacht schweißgebadet auf, sodass seine verzweifelte Mom keinen anderen Ausweg mehr sah, als ihn zu einem Kinderpsychologen zu schicken.
Nur widerwillig ging Michael mit ihr und natürlich auch in Begleitung von Jennifer hin. Aber noch während seiner ersten Therapiesitzung wurde ihm schnell bewusst, dass er das nicht wollte und brach die Behandlung mittendrin ab. Er hatte einfach keine Lust, einer wildfremden Person von seinem Traum zu erzählen. Ganz egal, wie ruhig und vertrauenswürdig der Psychologe versuchte, auf ihn einzuwirken.
Etwas Gutes hatte diese Erfahrung für Michael am Ende doch gehabt. Denn auch wenn es nur purer Zufall gewesen war, hatte er, während seine Mom mit dem Psychologen redete, im Wartezimmer der Praxis in einer alten Psychologie-Zeitschrift folgendes Zitat gelesen: »Albträume kommen nicht von ungefähr. Sie sind eine Botschaft an uns, die wir erst richtig interpretieren müssen. Aber Zufall sind sie nicht. Darum kehren diese Albträume immer wieder, bis wir herausgefunden haben, was sie bedeuten.« Diese Erkenntnis ließ ihn nicht mehr los.
Nachdem Michael die letzte Nacht vor der Beerdigung endlich hinter sich gebracht hatte und, wie er bereits ahnte, auch Details des Albtraums langsam aus seinen Erinnerungen verschwanden, wollte er die Gelegenheit nutzen und anfangen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Zu groß war seine Befürchtung geworden, dass der Traum ihn im nächsten Jahr mit dem ersten Todestag seines Dad erneut heimsuchen könnte, und diese Angst und Schmerzen hätte er nicht noch einmal ertragen.
Darum beschäftigte er sich in der restlichen Zeit vor der Beerdigung sehr viel mit Träumen und Traumdeutungen, um nach weiteren Antworten zu suchen, und tatsächlich fand er auch welche. Viele sogar, aber nur eine einzige davon half ihm wirklich, damit fertig zu werden.
Jennifer, das verspielte, kleine blonde Mädchen von gegenüber, leistete Michael während seiner schweren Zeit der Trauer sehr viel Hilfe und Beistand. Sie war immer und sofort für ihn da. Sie für Michael, ihre Eltern für Mrs. Cody.
Aber Mrs. Cody war inzwischen alles einfach zu viel geworden. Mit den Nerven am Ende verfiel sie wegen des Verlusts ihres geliebten Mannes in starke Depressionen, und noch am Vormittag – ein paar Stunden vor der Beerdigung – wurde sie von Jennifers Eltern wegen eines Nervenzusammenbruchs in eine psychiatrische Klinik eingeliefert.
So begleitete Jennifer Michael ohne ihre Eltern zur Beisetzung seines Dad, an der auch viele andere Menschen teilnahmen, um Robert Cody die letzte Ehre zu erweisen. Michael freute sich sehr darüber, als er bemerkte, dass wirklich die ganze Abteilung mitfühlend Anteil nahm und niemand diesem traurigen Ereignis fernblieb.
Während der herzzerreißenden Abschiedsrede, die der Vorgesetzte des Detective mit feuchten Augen hielt, wurde Michael klar, dass er seinen Dad kaum gekannt hatte und ihnen die restliche Zeit von dem Mörder gestohlen worden war.
Nach der Zeremonie reichte jeder einzelne Cop Michael die Hand, drückte Empathie und Beileid aus. Gleichzeitig versprach die Abteilung ihm, immer für ihn und seine Mom da zu sein, wenn sie Hilfe bräuchten. Sei es für ein offenes Ohr oder aus finanziellen Gründen.
Jennifer, die Michael schon die ganze Zeit mitfühlend die Hand hielt, blieb mit ihm am Grab zurück.
Nachdem auch die letzten Trauergäste vom Friedhof verschwunden waren, trat er näher heran und starrte weinend auf den blumengeschmückten Sarg. Er fühlte sich immer noch schwer schuldig am Tod seines Dad. Aber nicht nur das. Auch konnte er nicht verstehen, dass der Mörder noch nicht gefasst wurde. Obwohl von der internationalen Polizei und auch vom FBI in alle Richtungen akribisch und eifrig ermittelt wurde – immerhin ging es um die Tötung eines Polizeibeamten – liefen alle Bemühungen bei der Fahndung nach dem Täter ins Leere. Es war, als wäre der Mantel-Mann vom Erdboden verschluckt worden.
Die Tatsache, dass man vermutlich kaum noch vielversprechenden Erfolg sehen würde, machte Michael rasend vor Wut, und plötzlich wurde in ihm der Funke eines Gedankens geboren: Er musste selbst ein Cop werden. Nur so konnte er offiziell ermitteln, um mithilfe polizeilicher Methoden den Mantel-Mann eines Tages zu finden und der Justiz zu übergeben. Um dieses Ziel zu erreichen, schwor er sich, alles dafür Notwendige zu tun – zu Ehren seines geliebten Dad.
Mit dem Gedanken, ihm die Hand darauf zu geben, legte er die seine auf den Sarg und besiegelte somit innerlich seinen Schwur.
Nachdem Mrs. Cody wieder aus der Psychiatrie – mehr oder weniger gesund – nach Hause entlassen worden war, wollte Michael ihr helfen. Ihren Alltag leichter und stressfreier gestalten. Sie versuchte, sich Michael gegenüber als psychisch gestärkte Mutter und taffe Frau zu zeigen, nahm brav ihre Medikamente und wollte allen beweisen, dass sie ihr Leben wieder voll im Griff hatte.
Doch die Wahrheit sah anders aus, denn es verging kaum eine Nacht, in der Michael sie nicht im Bett weinen hörte. Er wusste, als Witwe würde sie sich nun als alleinerziehende Mutter mit seiner Erziehung weiterhin sehr schwertun. Darum beschloss er, mit seiner Mom gemeinsam zu trauern, indem sie beide immer wieder in alten Familienalben blätterten, um so schöne und lustige Momente aufleben zu lassen, die in seinen Erinnerungen beinahe verblasst waren.
Obwohl sich die Stimmung im Haus spürbar verändert hatte und längst kein Lachen mehr zu hören war, schien der Zusammenhalt zwischen Mutter und Sohn tatsächlich für einige Zeit relativ gut zu verlaufen. Vor allem aber auch, weil Jennifer mit ihren Eltern mithalf und die beiden, so gut sie konnten, kräftig unterstützten.
An Michaels fünfzehntem Geburtstag fragte ihn seine Mom, was er sich denn beim Ausblasen der Kerzen gewünscht habe. Er verriet ihr, dass er wie schon sein Dad ein Cop werden wolle, und berichtete ihr auch von seinem geheimen Schwur am Grab. Mrs. Cody war entsetzt, und es kam, wie es kommen musste: Aus dem Gespräch wurde eine Diskussion, die in einen heftigen Streit mündete. Alles, woran Michael sich heute noch erinnern konnte, war, wie der Streit geendet hatte, in dem er schrie: »Ich hasse dich!«
Danach redeten beide kaum noch ein Wort miteinander und gingen sich aus dem Weg.
Natürlich hatte Michael es nicht so gemeint. Welches Kind tat das schon? Aber als er sich für seine letzten Worte entschuldigen wollte, war sie schon weg. Er kam eines Tages von der Schule nach Hause, sie hatte alles gepackt und war einfach abgehauen.
Mrs. Cody hatte ihren Sohn allein zurückgelassen.
Er hatte nie erfahren, wohin sie gegangen war.
Da Michael aber noch minderjährig war, ohnehin schon sehr viel mitgemacht, und nun auch noch den zweiten Elternteil verloren hatte, wollte das Jugendamt ihm zumindest seine beste Freundin und Schule lassen. Auch setzten sich viele Cops für den Teenager ein, worauf die Behörde eine Nanny engagierte, die schnell bei ihm einzog.
Elli, so hieß sie, war eine der Frauen, die nur das taten, wofür sie gut bezahlt wurden. Wenn sie mal nicht gerade auf der Couch schlief oder stundenlang telefonierte, erledigte sie immer nur das Nötigste im Haushalt. Es gab auch nie frisch gekochtes Mittagessen, sondern sie brachte Übriggebliebenes immer nur vom Kindergarten mit, wo sie ebenfalls arbeitete.
Michael verstand sich nicht besonders gut mit Elli, und ihre Unterhaltungen waren auf ein Minimum beschränkt. Selbst Jennifer hatte vom ersten Tag an Probleme mit der Frau gehabt. Scheinbar beruhte das auf Gegenseitigkeit, denn Elli sah in der blonden Nachbarin eine verwöhnte, junge Göre und hatte sofort Vorurteile. Darum besuchte Jennifer Michael immer nur dann, wenn Elli nicht da war.
Trotz kleinerer Differenzen und Meinungsverschiedenheiten war Michael auf Elli angewiesen.
Das Jugendamt fühlte sich als Goldesel, denn immerhin war die Nanny die Bedingung dafür, dass Michael in seinem geliebten Elternhaus bleiben durfte.
Obwohl Michael von Elli großgezogen wurde, blieb er weiterhin für sich allein oder verbrachte Zeit mit Jennifer. Mit ihr suchte er nach Abenteuer.
Um seinem Schwur treu zu bleiben, musste Michael zunächst einmal die harte Aufnahmeprüfung an der Police Academy bestehen. Zur Vorbereitung darauf begann er, sich für Kriminalfälle zu interessieren. Er verfolgte jede Krimiserie und jede Dokumentation, die das Fernsehen zu dem Genre ausstrahlte. Nebenbei verschlang er unzählige Bücher und Fachzeitschriften und recherchierte auch viel im Internet über die kriminelle Psyche.
Wenn er allein oder mit Jennifer unterwegs war und Zeuge einer polizeilichen Handlung wurde, beobachtete er immer ganz genau, wie die Cops vorgingen. Zu Hause spielte er dann die Szenen mit ihr nach – natürlich war er der unbestechliche Mann des Gesetzes, wobei sein Dad ihm als Vorbild diente.
Michael erforschte kriminelles Denken und hatte zum Schein schlechten Umgang mit Jugendlichen. Durch die war er auch an diversen kleineren Verbrechen beteiligt, blieb aber im Grunde seines Herzens immer ein Guter.
All das wurde für ihn zu seiner eigenen Therapie.
Mit Logik- und Denksportaufgaben und dem Lösen von Rätseln trainierte Michael täglich sein Gehirn. Er wollte sich so viel kriminaltechnisches und psychologisches Wissen wie nur möglich aneignen. Insbesondere die menschliche Körpersprache – das Lesen von Mimik und Gestik sowie das Profiling – die Persönlichkeitsanalyse, erweckten seine pure Leidenschaft.
Höchst motiviert fühlte Michael sich jeder Herausforderung gewachsen, die bereits auf ihn wartete, als hätte der Beruf des Cops ihn auserwählt, und er begann, heimlich Informationen über den letzten Fall seines Dad zu sammeln.
Es sollte jedoch ein paar Jahre dauern, bis ihm die ersten brauchbaren Dokumente in die Hände fielen.
Eine Hitzewelle überrollte gerade Kalifornien, als Elli, die sich inzwischen so einigermaßen mit Jennifer verstand, die letzten persönlichen Sachen von Mr. Cody in der Garage für die Müllabfuhr aussortierte.
Darin fand Michael mit Jennifer beim Herumstöbern einige alte, in Kartons versteckte Berichte, Akten und Notizen seines Dad. Daraus erfuhr er, dass der Detective zuletzt in einem abscheulichen Fall ermittelt hatte. Er war einem psychopathischen Serienkiller, der junge Frauen vergewaltigte und danach auf bestialische Weise tötete, dicht auf der Spur gewesen. Dieser sadistische Killer schlachtete seine Opfer regelrecht ab, um so eine Identifikation zu erschweren. Es sollte nur noch eine Frage von Laborauswertungen und Zeugenaussagen sein, bis der Detective mit seiner damals ermittelnden Abteilung den Hauptverdächtigen hätte verhaften können. Einen Mann namens Gregor Graf.
In den Kartons fand Michael auch eine Phantombild-Zeichnung und verschwommene Fotos von Observierungen, die immer einen dunkel gekleideten Mann mit einem langen Mantel zeigten. Da wurde es ihm mit einem Schlag bewusst: Dieser Serienkiller war einst der Schütze gewesen, der seinen Dad ermordet hatte, und Michael prägte sich das Gesicht von Mr. Graf gut ein. Gleichzeitig erinnerte er sich auch und war sich absolut sicher, den Killer bei der Beisetzung seines Dad gesehen zu haben. In einiger Entfernung hatte er versteckt in der Menschenmasse gestanden, von wo aus er alles entspannt und amüsiert mitverfolgte.
Leider hatte Jennifer den Mann nicht gesehen und konnte ihn anhand der Zeichnung auch nicht wiedererkennen. Somit hatte Michael keinen Beweis und beließ es bei seiner Beobachtung. Vorerst.
Durch die Unterlagen erfuhr Michael auch, dass sich sein Dad damals wie ein Hai im Blutrausch in diesen Fall verbissen hatte. Was Michael allerdings noch nicht wusste, war, dass der Detective aus Angst um seine Familie plötzlich von den Ermittlungen abgezogen worden war und nur noch als Berater fungieren durfte. Er war bereits emotional zu sehr involviert gewesen, weil er eines der letzten Opfer – eine Prostituierte – sogar persönlich durch seinen Job gekannt hatte. Aber auch, weil der Psychopath bereits zu viel über das Privatleben von Detective Cody hatte in Erfahrung bringen können und ihm telefonisch gedroht hatte, sollte der Cop nicht aufhören, ihn zu jagen, werde er den Spieß umdrehen und seine Familie jagen. Frau und Sohn werde er töten und die Leichen in der Hauseinfahrt ablegen – als Botschaft und Warnung.
Nach dem Drohanruf wurde Detective Cody von seinem Vorgesetzten sofort beurlaubt und nach Hause geschickt. Eine Entscheidung, die zu spät kam, denn in jener Nacht wurde er von Mr. Graf kaltblütig ermordet, weil der Detective nicht lockergelassen hatte und sogar noch später in der Nacht heimlich einen seiner Informanten treffen wollte.
Aus Michaels Schwur wurde Ernst, und er sah seine Chance gekommen, denn sofort begann er im Stillen mit der Jagd nach dem Killer. Jeden Tag riss er aus allen möglichen Zeitungen Artikel über aktuelle Morde heraus, die auf das Täterprofil von Mr. Graf passen konnten, und mit jedem neuen Artikel über eine tote Vergewaltigte fühlte er sich dem Killer einen Schritt näher. Es wurde für ihn schon fast zu einer Obsession.
In der Zwischenzeit versuchte Michael zudem krampfhaft, sich immer wieder daran zu erinnern, was Mr. Graf seinem Dad damals zugeflüstert hatte. Was waren seine letzten Worte an den Killer gewesen? Ging es um Michael selbst? Oder bat sein Dad nur um einen schnellen Tod? Was es auch war, er musste es einfach wissen, denn es belastete ihn sehr.
Obwohl Jennifer Michael immer wieder davon abriet, versuchte er es sogar später einmal mit Hypnose, was aber zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis führte. Eher zu weiteren Schmerzen. Diese hielten ihn aber nicht davon ab, fest daran zu glauben, diesem kranken Arschloch eines Tages gegenüberzustehen, um seine einzige Frage von ihm beantworten zu lassen, damit er endlich auch seinen Seelenfrieden finden konnte. An dieser Motivation hielt er selbst heute noch fest.
Manche Cops und ehemalige Kollegen seines Dad, die Michael gelegentlich besuchten, hatten versucht, ihm in all den Jahren immer wieder glaubhaft einzureden, dass Gregor Graf längst tot sei. Andere waren der festen Meinung, das FBI habe ihn vor Jahren geschnappt und der Killer würde bereits lebenslang im Knast verrotten. Doch Michael war sich stets sicher, dass sie das nur behaupteten, um zu verhindern, dass er etwas Leichtsinniges oder Dummes anstellen könnte.
In all den Jahren bat Michael auch immer wieder seinen besten Freund Brooklyn, im Internet nach aktuellen Informationen über Gregor Graf zu recherchieren, und Brooklyn meinte inzwischen herausgefunden zu haben, dass der Killer mit falscher Identität in Mexiko lebte. Doch daran glaubte Michael nicht eine Sekunde.
Denn in all den Jahren war er sich absolut sicher gewesen: Er war immer noch da! Dieser Killer lief heute noch frei herum! Irgendwo da draußen, ganz in seiner Nähe und er wusste, dass Michael ihn suchte! Und wenn es so weit war, würde Michael auch bereit sein. Bereit für Gregor Grafs Verhaftung, damit seinem Dad Gerechtigkeit widerfuhr.«
Selbst heute wusste Michael noch, was ihm damals durch den Kopf gegangen war, als er mit Jennifer vor dem Friedhof auf ihre Eltern gewartet hatte, die die beiden nach Mrs. Codys Einweisung abholen kamen. Es war eine besondere Erinnerung. Eine ganz spezielle. Sie war eine der schönsten, die ihm bewusst geblieben war. Immer, wenn er mal verzweifelt war oder nicht mehr weiterwusste, motivierte sie ihn. Er konnte diese Erinnerung inzwischen wie einen Film vor seinen Augen abspielen, denn sie hatte ihn ... verändert.
Das Erlebnis dazu spielte in demselben Jahr wie der Mordfall.
Es war Ende April gewesen. Ein später Samstagvormittag.
Der Tag schien für Michael perfekt zu werden, da es Frühling war und er diese Jahreszeit sehr liebte, weil alles traumhaft blühte.
Er saß draußen auf den Eingangsstufen. Die Sonne schien, und es war bereits angenehm warm. Der Geruch von frisch gemähtem und feuchtem Gras hing überall in der Luft. Das lag daran, dass gerade alle Nachbarn liebevoll ihre Vorgärten pflegten, sie einladend gestalteten und dekorierten. Es war Tradition. Jeder wollte den schönsten haben.
Jennifer war an diesem Tag aus den Sommerferien zurückgekehrt, die sie wie immer bei ihrer geliebten Tante Estella verbracht hatte, und wie üblich zu Besuch. Sie half Mrs. Cody in der Küche bei der Zubereitung des Mittagessens. Wurstsalat war geplant.
Mmmmh... lecker.
Michael genoss die Sonne und sah seinem Dad entspannt beim Mähen zu. Der Mäher stammte noch aus der Generation, die Mr. Codys Dad benutzt und der hier im Garten schon seine müden Runden mit dem alten Gerät gedreht hatte. Es hatte daher bereits schon viele Jahre auf dem Buckel, war aber immer zuverlässig.
Doch an diesem Tag verlief es anders. Während des Mähens stotterte der Motor plötzlich und erstarb. Er ließ sich auch nach wiederholten Versuchen und trotz Mr. Codys liebevollen Flehens nicht mehr zum Starten überreden. Den Tank hatte er noch vor Beginn randvoll mit Benzin gefüllt, und auch die Zündkerze war schon vor dem Mähen durch eine neue ersetzt worden.
Michael sah sich schon mit seinem Dad einen neuen Mäher kaufen fahren, aber dann geschah etwas völlig Unerwartetes.
Mr. Cody packte das alte Gerät, gab seinem Sohn ein Zeichen mitzukommen, und beide marschierten mit dem Mäher zum kleinen Holzschuppen hinter dem Haus, in dem auch Gartengeräte und anderes Werkzeug untergebracht waren.
Dort wuchtete Mr. Cody – er nannte kaputte Geräte immer gerne ›Patienten‹ – den Mäher auf die Werkbank und setzte sich schweigend auf seinen alten, dreibeinigen Hocker davor.
Michael stand in der Tür und fixierte seinen Dad mit neugierigem Blick.
Es dauerte nicht lange und Mr. Cody – der wie ein Chirurg vor einem OP-Tisch wirkte – erhob sich, griff nach einigen Schraubenschlüsseln aus der Werkzeugkiste und montierte die Plastikverkleidung ab. Diese legte er mit den Schrauben sauber geordnet daneben. Er griff nach einer spitzen Zange und zog eine abgebrochene Spiralfeder aus dem Innenleben des Patienten heraus.
»Na toll«, sagte Michael, »eine kaputte Feder. Die muss man sicher im Baumarkt bestellen und das wird bestimmt Wochen dauern, wenn man das Teil überhaupt einzeln bekommt.« Er zog es von der Zange und wollte es schon achtlos wegwerfen, als ...
»Nicht so schnell«, stoppte Mr. Cody und hielt Michaels Arm mit der Feder fest. Er nahm die zwei Stücke, legte sie ebenfalls auf die Werkbank, betrachtete sie kurz und sah sich nachdenklich um.
Michael versuchte herauszufinden, wonach sein Dad Ausschau hielt, indem er dessen Augen folgte.
»Weißt du, mein Junge ...«, fing Mr. Cody zu erzählen an, während er sich umsah, »wenn etwas kaputtgeht, ist es immer das Einfachste, es gleich wegzuwerfen und sich sofort etwas Neues zu kaufen ...«, seine Augen streiften suchend durch den ganzen Schuppen. »Aber wenn man ein bisschen überlegt und sich etwas umsieht, was man so alles hat ...«, plötzlich blieb sein Blick an einer alten, verbeulten Taschenlampe aus Aluminium hängen, »... entdeckt man manchmal überraschende Möglichkeiten, mit der man eine Sache wieder zum Laufen bringen kann«, lächelte er verheißungsvoll.
Das hintere Gewinde der Taschenlampe schraubte er ab und zum Vorschein kam eine Feder, die die beiden dicken Batterien in dem Taschenlampengehäuse nach vorne drückte, um den Kontakt zu schließen.
Michael beobachtete seinen Dad erstaunt und mit aufgerissenen Augen weiterhin höchst interessiert. Was hatte er bloß vor?
Mr. Cody zog mit der Spitzzange die Feder aus der Verankerung heraus und klemmte einen kleinen Teil davon ab. Das Stück, das davon übrigblieb, sah nun der kaputten Feder in Form und Größe wirklich sehr ähnlich.
Michael war beeindruckt und sichtlich sprachlos.
Mr. Cody baute die Feder geschickt und schnell ein und schraubte die Abdeckung wieder darauf. »Was meinst du, Michael?«, fragte er seinen Sohn nach vollendetem Werk, zwinkerte ihm liebevoll zu und stellte den Rasenmäher zurück auf den Holzboden des Schuppens.
»Patient gerettet«, hoffte Michael.
Gemeinsam rollten die beiden den Mäher wieder zurück vor das Haus an die Stelle, wo der Motor versagt hatte.
Michael setzte sich wieder auf die Eingangsstufe und wartete gespannt die Premiere ab.
Tatsächlich! Gleich beim ersten Versuch sprang der Mäher ohne Protest und unter lautem Geknatter an.
Während Mr. Cody entspannt weitermähte, schrie er durch den Lärm zu Michael hinüber: »Wenn man was reparieren will, dann schafft man’s auch!« Nachdem er fertig war und das Gartengerät an seinem gewohnten Platz in der Garage verstaut hatte, setzte er sich neben Michael auf die Stufe, wischte sich den Schweiß von der Stirn und genoss sichtlich diesen gemeinsamen Vater-Sohn-Moment.
Michael wollte es aber genauer wissen. »Wie hast du das gemacht? Ich meine, wie bist du auf diese Idee gekommen?«, fragte er, denn so einen Einfall hatte man doch nicht einfach so. Da steckten schon etwas Fantasie und Improvisationskunst dahinter.
Gespannt sah er ihn an.
»Das habe ich von meinem Dad – deinem Großvater – gelernt«, antwortete Mr. Cody und warf ihm einen liebevollen Blick zu.
Beeindruckt starrte Michael ins Leere, und selbst heute noch wusste er ganz genau, was danach geschehen war:
Mr. Cody sah in den sonnigen Himmel hinauf, schloss verträumt die Augen und sagte: »Der beste Weg ein Problem zu lösen, ist der, es für sich selbst nutzbar zu machen.« Dann öffnete er langsam die Augen und schenkte seinen Sohn ein warmes Lächeln.
»Wow ...«, murmelte Michael immer noch schwer beeindruckt, während sein Dad ihm liebevoll durch das Haar strich und die beiden zum Essen gerufen wurden.
Das war sein letztes gemeinsames Erlebnis mit seinem Dad gewesen.
Der Schwur, den Michael am Grab abgelegt hatte, würde immer für ihn gelten. Für ihn war sein Dad nicht nur beruflich ein Held ohne Cape und privat ein Vorbild gewesen. Nein, mehr noch: Er war sein erster ... bester ... Freund auf der ganzen Welt gewesen.
Doch noch jemand war Michael geblieben. Jemand, auf den er sich blind verlassen konnte. Jemand, der nur einen Steinwurf entfernt wohnte ...
Jennifer Eggert war wie Michael ein Einzelkind. Altersmäßig trennten sie nur ein paar Monate.
Beide lebten schon seit ihrer Geburt in einer dieser typischen kleinen, verschlafenen Bilderbuch-Siedlungen am Rande von Los Angeles, wo jeder den anderen gut kannte. Die einzigen Vergehen, die hier passierten, waren, dass einem Nachbarn die Zeitung vor der Hauseinfahrt geklaut wurde.
Jennifer wohnte mit ihren Eltern direkt gegenüber von den Codys auf der anderen Straßenseite, und so waren die beiden Familien natürlich bestens miteinander befreundet. Michaels Eltern mochten Jennifer sehr und auch ihre Eltern zählten Michael längst zur Familie.
Seit der Sandkastenzeit waren die beiden wie Geschwister. Michael wurde zu ihrem großen Bruder und Jennifer zu seiner kleinen Schwester. Es war eine rein platonische Liebe.
In ihrer Kindheit und Jugend hörten sie fast dieselbe Musik, gingen in dieselben Klassen an der Junior-High und an der High-School und später auch am College. Sie besuchten teilweise dieselben Kurse und verfolgten ähnliche Interessen.
Es verging kaum ein Tag, an dem die beiden nicht gemeinsam abhingen.
An den Wochenenden übernachtete Jennifer abwechselnd bei ihm oder Michael bei ihr drüben.
Sie wuchsen gemeinsam auf. Lernten und spielten, stritten und lachten sehr viel miteinander.
Durch sie lernte Michael auch schon früh etwas über Mädchen und Frauen und Jennifer durch ihn über Jungs und Männer. Sie weihten sich sozusagen gegenseitig in die Geheimnisse des anderen Geschlechts ein.
Als beide dann so langsam in die Pubertät kamen, fanden sie den Freundeskreis des anderen immer interessanter, was aber niemals zu Stress oder Problemen zwischen ihnen führte. Im Gegenteil. Es wurden Geschichten, Erfahrungen und Meinungen ausgetauscht.
Rückblickend gesehen hatte Jennifer zwar ein paar Verabredungen und kurze Beziehungen mit einigen Möchtegern-Machos vom College gehabt, die aber alle nie länger als nur ein paar Tage andauerten. Vielleicht lag es ja auch immer an demselben Thema: Sex.
Was diesen anging, war Jennifer eher der altmodische Typ geblieben. Sie war immer noch stolze Jungfrau und wollte so lange nicht mit einem Jungen schlafen, bis sie sich ihrer Gefühle absolut sicher war und ihr Herz eindeutig Ja sagte. Was aber nicht heißen mochte, dass sie sich über dieses intime Thema nicht bereits umfangreich informiert hätte. Hierfür las sie interessiert Jugendzeitschriften und hörte ihren älteren Freundinnen immer wieder neugierig zu, wenn die sich über sexuelle Erfahrungen und Geschichten austauschten.
Einer von Jennifers vielen Verehrern hatte ihr zum Anreiz sogar einmal heimlich ein Buch über Sex geschenkt. Dieses hatte sie auch ein paar Mal neugierig durchgeblättert, und heute stand es noch irgendwo bei ihr im Regal, zwischen Kinderbüchern und Gute-Nacht-Geschichten in einem falschen Buchumschlag versteckt, aus Scham, ihre Eltern könnten es entdecken.
Jennifers sexuelle Neugier war dadurch natürlich geweckt worden und gewachsen, aber ihr erstes Mal sollte für sie einfach etwas »ganz Besonderes« sein. Sie hatte es nicht wirklich eilig damit gehabt. Manche aus ihrem Freundeskreis beneideten Jennifer deswegen sogar, weil deren erste sexuelle Erfahrungen alles andere als romantisch oder perfekt abgelaufen waren und vieles am liebsten rückgängig gemacht hätten. Michael dagegen war im gleichen Alter keine Jungfrau mehr gewesen und mit achtzehn hatte er schon einiges an sexueller Erfahrung mit Mädchen sammeln können. Dennoch hatte er großen Respekt vor Jennifers Einstellung zum Sex und zeigte viel Verständnis, auch wenn er manchmal seine Witze darüber riss.
Im Gegensatz zu Michael glaubte sie nicht wirklich an die Liebe auf den ersten Blick, dafür aber an das legendäre Kribbeln im Bauch.
Schon mit fünfzehn galt Jennifer als frühreif: Körbchengröße 75 C, große und athletische Figur. Obwohl sie allen Arten sportlicher Aktivität aus dem Weg ging, hätte sie es mit ihrer Grazie locker ins Cheerleader-Team geschafft. Michael hingegen war eine regelrechte Sportskanone und liebte es, zu laufen.
Wenn Jennifer wieder einmal mit einem Sportler aus der Footballmannschaft ausgegangen war, die sie hauptsächlich datete, und ihren neuen Partner dann stolz Michael vorstellte, verriet die Körpersprache des jeweiligen Kerls ihm doch nur dessen eigentliches Ziel: nämlich Jennifer mit Coolness imponieren zu wollen, um sie möglichst schnell ins Bett zu kriegen. Für Jennifer folgte eine Enttäuschung nach der anderen.
Auch diverse Wettspiele und kindisches Verhalten anderer Halbstarker durchschaute Michael rechtzeitig und konnte Jennifer oftmals vorwarnen, ohne sich direkt in ihr Liebesleben einzumischen.
Wenn dann aber ein Kerl doch mal zu aufdringlich wurde oder Jennifer zu sehr an die Wäsche wollte, weil sie unbeabsichtigt falsche Signale gesendet hatte, rief sie sofort Michael an, und er rettete Jennifer häufig aus peinlichen Situationen, die sie eigentlich selbst heraufbeschworen hatte.
Innerlich war Jennifer für Michael heute noch das kleine, sensible, verletzbare, süße Mädchen von gegenüber, das für etwas Aufmerksamkeit und Bewunderung gerne mal kleine Dummheiten machte. Ein bisschen naiv und leichtsinnig, unvorsichtig und auch sehr stur. Ein freches Mädchen, das Ärger und Stress stets wie ein Magnet anzog. Dahinter steckten aber niemals böse Absichten, darum konnte man ihr selten allzu lange böse sein.
In emotionalen Situationen brach Jennifer auch mal schnell unkontrolliert in Tränen aus oder lief vor Problemen einfach davon. Sie übernahm nicht gerne Verantwortung, akzeptierte aber Veränderungen.
Ja, Jennifer Eggert war schon sehr ... eigen. Einerseits kompliziert und offen wie ein Buch und andererseits ... völlig zugeknöpft.
»Habe ich gerade Scheiße gebaut, rufe ich einfach nach Problemlöser-Mike.« Nach dieser Devise lebte sie schon immer. Aber Michael liebte und schätzte sie trotzdem. Oder gerade deswegen. Denn genau diese Macken machten Jennifer zu eben dem Menschen, der sie heute war. Sie allein sorgte schon dafür, dass kein Tag in seinem Leben langweilig wurde. Action gab es mehr als genug.
Jennifer war längst ein wichtiger Teil von Michaels Leben geworden und er auch von ihrem. Beide fühlten einander seelenverwandt.
Man könnte jetzt denken, dass Jennifers Eltern sie so erzogen hatten, aber das stimmte nicht. Mr. und Mrs. Eggert waren sehr verantwortungsbewusst und hatten gute Jobs. Beide waren überaus erfolgreich im Immobiliengeschäft tätig und dadurch viel unterwegs. Nur an den Wochenenden und an Sonn- und Feiertagen waren sie zu Hause anzutreffen. Sie versuchten, ihrem Sprössling voll und ganz zu vertrauen. Meistens jedenfalls. Außerdem spielte Michael ja die Rolle des großen Bruders und Beschützers, der auf die Nachbarstochter aufpasste. Das zumindest beruhigte die stets besorgten Eltern etwas.
Wie Michael hatte sich auch Jennifer großteils selbst erzogen. Sie schrieb eine lange Zeit Tagebuch, liebte Liebesromane und hatte durch ihre Eltern zudem diverse Abonnements von Bekleidungs- und Modezeitschriften.
Da Jennifer immer gute Noten schrieb, gab es reichlich Taschengeld als Belohnung. Das viele Geld und ihre Schulleistungen machten sie relativ schnell angesagt und beliebt, und so verwandelte sie sich noch schneller in einen äußerst attraktiven, in der Nachbarschaft und am College begehrten Teenager.
Es gab auch kaum Klamotten, die Jennifer nicht in ihrem begehbaren Kleiderschrank hatte. Selbst die Anzahl ihrer Schuhe und Handtaschen war astronomisch. Sie trug ein Bauchnabelpiercing, und ein Ring zierte ihren rechten Nasenflügel. Dieser war das Ergebnis eines kurzen Internet-Hypes gewesen. Beides trug sie mit sehr viel Stolz zur Schau. Mit diesen beiden modischen Accessoires fühlte sie sich richtig frech und ... keck.
Gab es einen neuen Trend oder Hype bezüglich Mode, Make-up oder Haarstyling, musste Jennifer eine der Ersten sein, die damit Aufmerksamkeit erregten. Selbst schwarze, braune oder bunte Haare, alles schon da gewesen. Was ihr eigenes Make-up anging, blieb sie eher dezent. Sie hasste Lippenstift, trug aber täglich einen perfekten Eyeliner-Strich, der inzwischen mit dem Nasenring zu ihrem persönlichen Markenzeichen geworden war. Dennoch ging sie mit ihrem Körper sehr sorgsam um und behandelte ihn wie einen Tempel.
Jennifers Lieblingsfreizeitbeschäftigung war es, in ihrem Zimmer vor dem großen, runden Spiegel zu sitzen und ihre riesige Schminkausstattung zu plündern. Sie filmte sich selbst für Tutorials und knipste Unmengen an Selfies in allen möglichen Outfits, die sie sofort auf all ihren sozialen Plattformen postete. Danach kam das ganze aufgemalte und -gepinselte Zeug schnell und spurlos wieder ab. Sie tat das nur für ihr weltweites Publikum.
Dadurch hatte Jennifer mittlerweile Millionen an Followern, die ihr sehr aufmerksam und interessiert folgten. Likes und positive Kommentare mussten bei ihren Posts stets Rekorde brechen. Neidische und negative Bemerkungen interessierten sie nicht. Auch One-Night-Stands und Heiratsanträge waren ihr schon aus aller Welt angeboten worden. Nicht selten wurde sie auch auf der Straße von ihren Followern erkannt und gab wie ein Promi Autogramme. Jennifer war es immer sehr wichtig, dass gepostete Selfies mit ihren Fans online markiert und geteilt wurden. Bei Anfragen für Nacktfotos und perverse Posen wurde die entsprechende Person gnadenlos blockiert. Auf so einen Scheiß stand sie absolut nicht, ganz egal, ob oder wie viel Geld ihr angeboten worden war.
Von ihren Followern bekam Jennifer immer sehr viel Unterstützung, und in Rekordzeit hatte sie ihre eigene echte Fan-Gemeinde aufgebaut. Sie liebte diese Aufmerksamkeit abgöttisch und ließ ihre Community alle paar Tage an ihrem privaten Leben teilhaben.
Viele angesagte Modelabels und große Kosmetikfirmen waren dadurch auf Jennifer aufmerksam geworden. Sie kontaktierten sie und machten ihr Top-Angebote, wenn Jennifer für deren Produkte auf ihren Social-Media-Plattformen warb.
Wenn Michael Jennifer auf ihren häufigen, stundenlangen Shoppingtouren begleitete, war ihr bevorzugter Kleidungsstil schnell zu erraten: Möglichst viel nackte Haut zeigen – aber mit Stil.
Jennifer ließ kaum eine Gelegenheit aus, um sich irgendwie aufzubrezeln. Sie musste auffallen. Oberweite und Hintern mussten ein Blickfang sein. Sie wollte gesehen werden, und das in der schönsten Verpackung der Welt. Auch heute tat sie das noch. Nur weil Michael ihr einmal gesagt hatte: »Nutze das, was du hast, anstatt dich in jemanden zu verwandeln, der du nicht bist.« Diesen Spruch dürfte sie wohl etwas zu wörtlich genommen haben.
Selbst wenn man Jennifer Eggert nicht persönlich kannte, brauchte man kein Diplom in Psychologie, um zu erkennen, dass sie auf diese Weise nach Aufmerksamkeit suchte, um immer im Mittelpunkt zu stehen. Nur attraktiv zu sein war ihr einfach zu wenig. Sie musste die Heißeste der Heißesten sein. Der Traum aller Männer. Die Kleopatra der heutigen Zeit. Möglicherweise war die ihr Vorbild.
Von ihren besten Freunden wollte Jennifer geliebt werden, von allen anderen bewundert und begehrt.
Viele aus Jennifers Freundeskreis hatten den Kontakt zu ihr spontan abgebrochen, weil ihnen dieses »Schlampen-Image« zu viel wurde, und mit zunehmendem Alter wuchs Michaels Befürchtung, dass sie bald gar keine Freunde mehr haben würde, die sie persönlich kannte.
Bis Jennifer eines Tages Michael ihre neue Freundin vorstellte, die schnell zu ihrer besten wurde: Samantha Parker.
Samantha, von allen liebevoll »Sam« genannt, war neunzehn Jahre jung und einen Kopf kleiner als Jennifer. Sie hatten sich durch Zufall während einer Vorlesung am College kennengelernt.
Obwohl Samantha nicht gerade in denselben Kreisen wie Jennifer verkehrte, hatte sie Jennifer spontan angeboten, ihr jederzeit Nachhilfe zu geben, als diese – abgelenkt durch die Werbung einer neuen Modekollektion – etwas mit dem Stoff nachhing. Samantha nahm an, dass Jennifer ihre Hilfe ablehnen würde, doch die willigte überraschend ein.
So dauerte es nicht lange, da saßen die jungen Frauen bereits nach der Schule bei Jennifer zu Hause und büffelten für eine wichtige anstehende Prüfung. Dadurch lernten sich die beiden noch besser kennen und trafen sich auch weiterhin regelmäßig nach der Schule, gingen gemeinsam shoppen oder hingen bei Jennifer oder Samantha ab.
Samantha wurde für Jennifer wie eine Schwester. Eine wahre Zuhörerin, deren Art und Charakter Jennifer mit zwei Worten beschreiben könnte: rebellische Zicke.
Samantha hatte eine fürsorgliche und liebevolle Art, doch in besonderen Momenten kam eine sehr aufdringliche, freche und biestige Seite zum Vorschein. Sie sagte und tat auch immer das, was sie wollte, und die Meinung anderer war ihr völlig egal.
Interessanterweise war Samantha aber, und das fiel Michael schnell auf, Männern gegenüber schüchtern. Sie erwartete von denen immer den ersten Schritt, und sobald dieser getan war, brach wieder die kleine, freche Rebellin aus ihr heraus. Dennoch hatte sie Michael relativ schnell ins Herz geschlossen und zu dritt unternahmen sie viel zusammen.
Sie waren ein tolles Trio.
Soweit Jennifer wusste, hatte Samantha noch zwei ältere Geschwister, die aber schon das elterliche Nest verlassen hatten. Ihre Eltern arbeiteten heute noch als Verkäufer in einer großen Shoppingmall in Los Angeles.
Zum Abschlussball am College hatte Michael jemanden mitgebracht, der seit neuestem in seiner Nachbarschaft lebte: Brooklyn Armstrong.
»Brooke«, wie nur seine engsten Freunde ihn nennen durften, war zwanzig Jahre alt und leicht untersetzt. Mit seinem Auftreten übertrieb er oft und gerne, und in kurzer Zeit war er für Michael wie ein Bruder geworden. Er war absolut loyal und vertrauenswürdig. Seine Eltern waren russische Einwanderer, die sich in New York niedergelassen und im Stadtteil Brooklyn ein kleines Apartment bewohnt hatten.
Bis heute war er davon überzeugt, dass er dort gezeugt worden war und seine Mom ihn auch dort per Hausgeburt zur Welt gebracht hatte. Aus diesen Gründen, so behauptete er jedenfalls, sei Brooklyn zu seinem Namen gekommen, auf den er sehr stolz war.
Eine Angewohnheit, die Brooklyn von dort mitgenommen hatte, war, dass er fast jeden Satz mit »Alter« begann oder das Wort immer irgendwo im Satz steckte. Eigentlich war es schon ein richtiger Tick, der aber niemanden störte. Wenn man etwas Zeit mit ihm verbrachte, gewöhnte man sich auch relativ schnell daran.
Manchmal sprach Brooklyn auch sehr gebildet und geschwollen, was Michael und alle anderen ganz schön auf die Palme brachte. Dann ließ er wieder Bemerkungen los, weswegen man in ernsten Situationen nicht mehr aufhören konnte zu lachen oder automatisch mit den Augen rollen musste.
Vor einiger Zeit hatte Mr. Armstrong ein sehr lukratives Angebot einer großen Internetfirma angenommen, binnen kurzer Zeit viel Geld verdient, und die Armstrongs hatten sich daraufhin auf Michaels Straßenseite nur ein paar Häuser weiter ein schickes Einfamilienhaus gekauft. Mrs. Armstrong arbeitete heute noch als Rechtsanwaltsgehilfin in einer kleinen Kanzlei in der Stadt.
Durch seinen Dad erhielt Brooklyn umfangreiches Wissen und Können über Computer, insbesondere Hard- und Software. Recherchen im Internet zählten zu seinen Spezialgebieten. Oft reichten ihm nur Stichwörter und er fand in Sekundenschnelle zu jedem Thema alles Wichtige heraus. Für ihn war alles pure Spielerei.
Sobald neues Hightech-Spielzeug auf den Markt kam, hatte Brooklyn sich bereits umfassend darüber informiert und besaß nicht in den seltensten Fällen oft schon Tage später bereits eines dieser Produkte.
Auf dem Abschlussball hatte Jennifer ziemlich schnell bemerkt, dass es zwischen Brooklyn und Samantha gewaltig knisterte.
Beide waren aber leider zu schüchtern gewesen, um sich anzusprechen.
Aus irgendeinem Grund, den Jennifer Michael um keinen Preis erklären wollte, musste er sich widerwillig und auf ihr Drängen hin etwas einfallen lassen, um das Eis zwischen Brooklyn und Samantha zu brechen. Eine Idee war schnell gefunden.
Michael lud Jennifer und die beiden am darauffolgenden Wochenende zu einem Blu-Ray-Horrorabend zu sich nach Hause ein. Auf dem Programm stand der erste Teil der Filmreihe »Paranormal Activity«, den er als einen der besten Horror-Found-Footage-Filme bezeichnete. Abgesehen vom Klassiker »The Blair Witch Project«, den er liebte, aber zu dem Zeitpunkt verliehen hatte.
Noch vor Beginn des Films bat Michael Jennifer, einfach mitzuspielen, und täuschte mit ihr einen kleinen Streit vor. Dieser sollte dafür sorgen, dass Samantha Michael und Jennifer auf der Couch trennte und er auf den Couchsessel daneben geschickt werden sollte, was auch geschah.
So musste Brooklyn zwischen den beiden Frauen auf der Couch Platz nehmen, wie es Michael insgeheim geplant hatte.
Er schaltete noch alle Lichter aus und machte das Wohnzimmer so dunkel wie möglich. Die Lautstärke des Films hatte er dann noch fieserweise wegen des Popcornraschelns erhöht, und während der Spuk im Film so richtig losging, kuschelte sich Samantha immer dichter an Brooklyn. Gleichzeitig rutschte Jennifer vorsichtig von den beiden weg und verkrallte sich bei den Gruselszenen fest in das Couchkissen, während sie Michael immer wieder ängstliche Blicke zuwarf.
Michaels Plan funktionierte perfekt.
Gegen Ende des Films saßen Brooklyn und Samantha sehr eng beieinander und alle drei trauten sich nicht mehr nach Hause.
Da Michael das schon vorhergesehen hatte, bot er Jennifer sein Bett an, wobei sie sich nur mit eingeschaltetem Nachtlicht und leiser Entspannungsmusik aus Brooklyns iPod, an dem er kleine Hosentaschenboxen angesteckt hatte, entspannen konnte. Jedenfalls nur so lange, bis Michael zu ihr nachkommen wollte. Brooklyn übernachtete mit Samantha im Ehebett von Michaels Eltern, ebenfalls nur mit eingeschaltetem Nachtlicht und angenehmer Schlummermusik aus dem Radiowecker.
Bevor aber Jennifer, Brooklyn und Samantha zu Bett gingen, überzeugten sie sich, dass Michael die Haustür gut abgeschlossen hatte. Die drei gruselten sich sehr und Michael hatte seinen Spaß, als jedes Geräusch, das er heimlich absichtlich machte, seine Freunde hochschrecken ließ.
Wie gemein.
Nachdem die drei in den Betten lagen, sah Michael anschließend noch etwas fern und war dann doch zu müde, um noch nach oben zu Jennifer zu gehen. Vermutlich schlief sie schon, und er befürchtete, sie zu wecken, wenn er zu ihr ins Bett schlüpfte. So verbrachte er eine etwas unbequeme Nacht auf der Couch.
Was Michael aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, war, dass sein Nachbar einen neuen Hund hatte. Es gab weit und breit in der Umgebung keinen Vierbeiner, der schärfer war und lauter bellen konnte. Das leiseste Autogeräusch reichte aus, dass der Hund sofort Alarm schlug. In dieser Nacht musste, seinem Bellen nach zu urteilen, heimlich ein Freeway vor Michaels Haustür gebaut worden sein, denn er bellte ununterbrochen.
Am nächsten Morgen kamen Samantha und Brooklyn eng umschlungen und einander küssend aus der ersten Etage heruntergestolpert.
Jennifer, die schon munter war und in der Küche Kaffee machte, sah Samantha mit weit aufgerissenen Augen überrascht und erwartungsvoll an. Von dem verliebten Paar bekam sie als Antwort ein kurzes, verlegenes Lächeln.
»Geschafft«, murmelte Jennifer grinsend in sich hinein und triumphierte innerlich, als sei der Blu-Ray-Abend ihre Idee gewesen. Als Michael sie von der Couch aus mit einem »He! Meine Idee!«-Blick ansah, nickte sie ihm dankend zu.
Von diesem Tag an waren Brooklyn und Samantha in einer festen Beziehung, wobei sich diese heute mit der eines seit langem verheirateten Ehepaares vergleichen ließ: Streitereien und Versöhnungen, Diskussionen und Kompromisse, Spannungen und Spaß, eisige Kälte und heißer Sex und so weiter. Es war ein tägliches Auf und Ab.
Michael genoss es immer wieder, Brooklyn und Samantha zuzusehen, und amüsierte sich köstlich, wenn die beiden sich fetzten, weil sie am Ende ja doch wieder in der Kiste landeten. Danach war alles wieder gut und jedes böse Wort längst vergessen.
Jennifer hingegen war immer ein wenig eifersüchtig auf ihre beste Freundin, wenn Samantha mit Brooklyn vor ihrer Nase herumturtelte, was sie aber immer wieder geschickt vor Michael und den beiden zu verstecken wusste.
Heute bewohnte Michael allein das elterliche Einfamilienhaus. Natürlich hatte er die harte Aufnahmeprüfung der Police Academy mit Bravour bestanden und war inzwischen ein aufsteigender und zielstrebiger Rekrut in Los Angeles.
Seine Suche nach dem Killer Gregor Graf ließ er im Hintergrund heimlich weiterlaufen.
Aus Jennifer war – wie nicht anders zu erwarten – eine ehrgeizige, weiterhin sehr attraktive und begabte Modeberaterin und Designerin geworden, die noch immer bei ihren Eltern im Haus gegenüber wohnte.
Aufgrund ihrer starken Präsenz in den sozialen Netzwerken war aus Jennifer eine sehr erfolgreiche Influencerin geworden, die als Trägerin für diverse Produkte mit Werbung bereits gutes und schnelles Geld verdiente.
Brooklyn hatte sich zum IT-Experten hochgearbeitet und lebte inzwischen bei Samantha und ihren Eltern – seinen Schwiegereltern in spe. Zusammen mit seinem Dad und Samantha betrieben sie einen modernen und stark besuchten Internet-Café-Shop im Herzen der Stadt.
Immer, wenn die Clique Zeit miteinander verbrachte, waren sie nicht nur ein eingespieltes, zusammengeschweißtes Superteam. Vielmehr waren sie wie eine richtige Familie.
Bis ein vergessener Schatten aus der Vergangenheit vorhatte, in das Leben dieser verschworenen Freunde zu treten, um ihr familiäres Band zu zerreißen. Denn er hatte nur eines im Sinn: Rache!
Manche Häuser lebten.
Wenn man ganz still war, konnte man sie atmen hören.
In jeder noch so dunklen Ecke, in jedem noch so kleinen Spalt, jeder Diele und jeder Ritze war ein Puls wahrzunehmen. In den Wänden, an der Decke, in der Luft, einfach überall.
Diese Häuser verfolgten einen und studierten jede einzelne Bewegung, die innen gemacht wurde. Sie sahen einen an, ganz egal, zu welcher Zeit und in welchem Zimmer man sich gerade aufhielt. Auch wussten sie immer, was man gerade dachte und vorhatte.
Selbst Geheimnisse zu verstecken war unmöglich, denn man fühlte sich nie wirklich unbeobachtet.
Das geliebte Zuhause sollte ein Ort der Geborgenheit und Sicherheit sein, dessen Job es war, seine Eigentümer zu beschützen. Aber wie es nun mal in der menschlichen Natur lag, dass man krank wurde, konnte mit unseren Häusern dasselbe passieren. Auch sie konnten erkranken, aber an einem unsichtbaren Virus: den eigenen Bewohnern.
Denn wenn in einem Haus etwas Schreckliches passierte und Menschen darin auf tragische Weise plötzlich aus ihrem Leben gerissen worden waren, konnte es durchaus vorkommen, dass diese Seelen keinen Frieden fanden. Sie konnten ja nicht wissen, dass sie nicht mehr am Leben waren, und ihre Energie würde für immer an diesem Ort verweilen.
Sie wurden zu ruhelosen Geistern.
Verloren und in den eigenen Wänden gefangen, beschützten sie ihr geliebtes Heim weiterhin vor jeder Bedrohung. Welcher Art auch immer.
Der Schutz dieser Geister lag auch über dem alten Herrenhaus, das zu einer bestimmten Uhrzeit einen neuen Besitzer bekommen sollte.
Seit sechs Jahren war es nun schon verlassen. So wirkte es zumindest von außen.
Die Verantwortung wurde an jemanden übergeben, der das historische Gebäude gut kannte. Die Aufgabe bestand darin, sich um die Instandhaltung zu kümmern, es in Schuss zu halten und für interessierte Käufer vorzubereiten.
Aber schon lange berichteten Augenzeugen von seltsamen Phänomenen. Gerüchte kursierten über Geistererscheinungen und angebliche Schattengestalten, die sich in den Fluren und an den Fenstern zeigten. Türknaufe würden sich von selbst drehen, Möbel würden sich von allein verschieben und schauriges Kinderlachen sollte nachts zu hören sein.
Innerhalb der letzten Monate hatte sich die Lage weiter verschlimmert. Die Medien berichteten über eine neue Reihe eigenartiger, erschreckender Beobachtungen und inzwischen auch über mysteriöse Unfälle mit Todesfolge.
Das zuständige Sheriff Department war ratlos, und daraufhin ergriffen viele Einheimische aus Angst die Flucht, weil sie behaupteten, das Haus sei verdammt und von Geistern besessen. Selbst der Bürgermeister war überzeugt, es läge ein Fluch auf dem Haus.
Nun hofften die letzten Ortsansässigen, dass der neue Eigentümer den Grund für diesen Horror finden würde ... und dem Spuk ein Ende bereitete.
Die Sommernacht zu diesem bereits angebrochenen Freitag war traumhaft und angenehm warm. Klar und absolut wolkenfrei. Die Sterne funkelten, und der Vollmond stand hoch, prachtvoll und majestätisch schön am Himmel. Er bestrahlte alles in einem trüben Weiß. Es war friedlich und windstill. Das Zirpen einer Grille war zu hören, ein Auto fuhr vorbei, und irgendwo in der Nähe bellte ein Hund. Eine Straßenlaterne warf ihren weißen Lichtschein durch die Jalousien in das halb geöffnete Fenster.
Die gleiche Stille, die nun wieder draußen herrschte, lag auch über dem Zimmer. Der Radiowecker auf dem Nachttisch schaltete gerade auf 3.49 Uhr. Direkt daneben war ein Bett, in dem jemand schlief. Es war Michael. Mit seinen Alltagsklamotten bekleidet lag er unter einer dünnen Bettdecke. Seine Atmung ging leise und gleichmäßig. Er schien tief zu schlafen.
Vor dem Wecker auf dem Nachttisch lag sein Smartphone mit dem Display nach unten. Plötzlich begann es in einem personalisierten Klingelton zu läuten und dumpf auf der Ablage zu vibrieren.
Aus seinem Traum gerissen, wälzte sich Michael unruhig hin und her und rollte sich auf den Bauch. Das Gesicht drückte er in sein weiches Kissen und murmelte: »Nein ...« Er hatte es doch auf lautlos geschaltet.
Der Lärm stoppte und es herrschte wieder Stille im Zimmer.
Michael hob kurz den Kopf, um sicherzugehen, dass wieder Ruhe war, musste aber feststellen, dass der Anrufer nur aufgelegt hatte, bevor seine Mobilbox ranging und gleich noch einmal anrief. Prompt surrte und vibrierte es erneut und zerstörte damit endgültig seine wohlverdiente Nachtruhe. Irgendetwas musste er bei der Lautlos-Einstellung falsch eingestellt haben.
»Das darf doch jetzt wohl nicht wahr sein ...« Genervt von der nächtlichen Störung ließ Michael das Gesicht wieder ins Kissen fallen, rollte sich auf den Rücken und tastete mit den Fingerspitzen nach der Störquelle. Ohne auf das Display zu schauen, nahm er widerwillig den Anruf entgegen, da er bereits ahnte, wer am Telefon war. Gleichzeitig hoffte er, sich zu irren.
»Wenn das jetzt nicht die heiße Rothaarige mit der scharfen Oberweite aus meinem Traum ist, lege ich sofort wieder auf«, schickte er als Warnung voraus.
Eine weibliche, völlig aufgeregte Stimme, die ihm nur allzu vertraut war, drang vom anderen Ende an sein Ohr.
»Mike?«
Nein, er irrte sich leider nicht.
»Jenny ...«, seufzte Michael genervt, doch wenig überrascht, und ihm gingen dabei Gedanken an seine beste Freundin durch den Kopf: Es ist einfach unmöglich vorherzusagen, welche Überraschungen einem das Leben bereitet. Vor allem, wenn man mit jemandem wie Jennifer Eggert befreundet ist.
Daher wunderte es mich zum Beispiel nicht im Geringsten, als Jenny mir schon vor Wochen immer und immer wieder aufgeregt erzählte, dass sie an ihrem 21. Geburtstag vermutlich das alte Herrenhaus ihrer Tante erben wird. Tja, und zufälligerweise ist ihr ›besonderer Tag‹ genau ... heute.
»Ich muss mit dir reden! Es geht um mein Haus! Ich mu...«
»He! Stopp!«, fiel Michael ihr schnell ins Wort. »Sag mal, hast du’nen Knall? Darum weckst du mich? Was soll der Scheiß? Ich habe auch so was wie ein Privatleben, Mensch!« Für einen Moment dachte er, sie hätte nur angerufen, um ihn an ihren Geburtstag zu erinnern, den er bestimmt nicht vergessen hätte. Wie könnte er auch? Jedes Jahr erinnerte sie ihn Wochen zuvor daran. Oder dass sie einen Albtraum gehabt hatte, was für ihn bedeutet hätte: sofort raus aus den Federn und rüber zu ihr. Da aber beides zu seinem Glück nicht der Fall zu sein schien, sah er keinen Grund für ihre nächtliche Störung. Erst recht nicht ihr vermeintlich geerbtes Haus.
Mit Mühe tastete Michael mit der freien Hand nach dem Wecker und sah wütend auf die grell leuchtende Anzeige. Es war 3.50 Uhr.
»Verklag mich doch!«, fauchte Jennifer zurück. »Hör mal, es ist wirklich sehr dringend! Ja, es geht wieder um mein Erbe. Aber ich muss dich JETZT etwas sehr Wichtiges fragen. Es kann nicht länger warten!«, klagte sie.
Selbstverständlich musste es um das Erbe gehen. Jennifer kannte ja kein anderes Thema mehr.
Zugegeben, dachte Michael, es gibt eine durchaus mysteriöse Vorgeschichte, wie Jenny zu ihrer Erbschaft gekommen ist. Das Problem ist nur: Wenn diese Frau mal eine Geschichte erzählt, hat sie absolut nicht die geringste Absicht, auch nur das kleinste Detail wegzulassen.
Von Dad habe ich schon als kleines Kind gelernt, dass eine Gerade immer noch die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist. Doch wenn Jenny mal Geschichten erzählt, wählt sie lieber die landschaftlich reizvollere Strecke.
Michael stellte den Wecker zurück auf den Nachttisch und warf sich auf den Rücken. Mit halb geöffneten Augen wischte er sich über das Gesicht, das sich immer noch im Schlafmodus befand. Kurz musste er an seinen Traum denken, bevor die letzten Fragmente erloschen.
»Ja? Erkläre das der heißen Rothaarigen, von der ich geträumt habe. Sie wollte mich gerade flachlegen! Du hast sie verschreckt!«, beschwerte er sich.
»Mike, bitte. Deine Sex-Träume interessieren mich im Moment absolut nicht. Es ist wirklich wichtig!«, flehte Jennifer und gab ihm damit zu verstehen, dass sie nicht daran dachte, ihn weiter schlafen zu lassen.
»Und wehe, wenn nicht. Aber bitte gleich die gekürzte Fassung. Also? WAS!«, fauchte er scharf zurück.
Sofort begann Jennifer, wie schon so oft, von ihrer geheimnisvollen Tante zu erzählen. Sie wiederholte tatsächlich fast jede Geschichte, die er bereits schon unzählige Male gehört hatte. Und das Ganze, ohne Luft zu holen.
Während Michael sich zwang zuzuhören, richtete er sein Kissen höher und lehnte sich erschöpft zurück. Wieder in Gedanken versunken sah er zur Zimmerdecke. So viel zur Kurzfassung. Mann! Was für ein Stress! Er erinnerte sich an die sehr ereignisreiche vergangene Woche, die er endlich hatte hinter sich bringen können. Zuerst war er noch wegen seiner Ausbildung bei einem wichtigen Seminar in New York gewesen, und dann musste er seine Reise mit seiner Begleitung spontan abbrechen, weil ihn ein Rekruten-Kollege aus Los Angeles gebeten hatte, ihm bei einem Eheproblem zu helfen – was er auch tat. Es folgte noch ein dringendes Treffen mit Brooklyn, und als er dann endlich vor einer Dreiviertelstunde nach Hause kam, war er so erledigt gewesen, dass er einfach mit seinen Klamotten ins Bett gefallen war. Und jetzt riss ihn auch noch seine Nachbarin aus dem Schlaf? Er kam einfach nicht zur Ruhe!
Während Jennifer weiter aufgebracht ins Telefon schnatterte, sank Michael ein Stück tiefer ins Kissen. Bei jedem anderen Anrufer hätte er längst aufgelegt und sein Smartphone ausgeschaltet, doch bei Jennifer Eggert? Keine Chance. So wie er sie kannte – und das fast schon besser als ihre Eltern –, würde sie Minuten später vor seiner Tür stehen. Das wäre ihr ohne Frage zuzutrauen.
Da er aber ihren Besuch auf keinen Fall riskieren wollte, hoffte er, das Telefonat schnellstens hinter sich zu bringen, um endlich weiterschlafen zu können. Mit etwas Glück würde er vielleicht sogar dort weiterträumen, wo er mit der Rothaarigen unterbrochen worden war.
»... die Ermittlungen wurden daraufhin eingestellt und der Fall kam ja ungelöst zu den Akten. Und aufgrund einer neuen Gesetzesänderung – wurde Tante Estella nach Ablauf dieser Frist – nun offiziell für tot erklärt. Aber das habe ich dir eh schon alles erzählt. Ach, und sie hat ja damals schon ›angedeutet‹, dass sie ...«
Oh ja. Jennifers aufgeregter Redeschwall schien einfach kein Ende nehmen zu wollen. Sie war wie ein Aufziehspielzeug, das selbst an der Schnur zog.
»... mir ihr Haus, ›unser Märchenschloss‹, wenn sie mal stirbt, an dem Tag vererben will, an dem ich volljährig werde. Es war ihr letzter Wille. Und darum hat mir der Notar gestern eröffnet, dass es tatsächlich in ihrem Testament steht und das Haus ab heute rechtmäßig mir gehört ...«
Michael sah auf den Wecker. Erst eine Minute vergangen? Wie kann das sein? Ist das Teil kaputt? Schnell blickte er prüfend auf die Zeitanzeige seines Smartphones und ... Nein, nicht kaputt.
»... denn laut meiner Geburtsurkunde kam ich heute um drei Uhr fünfzig auf die Welt und die Erbschaft ist somit jetzt rechtsgültig. Oh mein Gott ...«, freute sich Jennifer. »Ich bin soeben einundzwanzig geworden und habe jetzt WIRKLICH ihr altes Herrenhaus geerbt. Ist das nicht der totale WAHNSINN? Und ja, dass es darin spuken soll ...«
»Nein, nein, nein«, fiel Michael ihr schnell wieder ins Wort und schüttelte protestierend den Kopf. »Jenny, wir waren uns doch einig, d...«
»Schon gut, schon gut«, unterbrach sie ihn. »Reg dich ab, ich halte ja schon die Klappe. Aber wenn ich an Geister denke, darf ich doch wohl trotzdem noch eine Gänsehaut kriegen, oder?«
»Jenny ...«, seufzte Michael genervt. »Du weißt doch ganz genau«, erinnerte er sie dennoch, »das Übernatürliche ist nichts weiter als eine bequeme Methode, Dinge zu erklären, die wir nicht verstehen.«