Das erste Geheimnis - Kai Erik - E-Book

Das erste Geheimnis E-Book

Kai Erik

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Beschreibung

Kann ein Buch böse sein? Oh ja! Leander Granlunds Gedichte haben bisher jeden ins Unglück gestürzt, der mit ihnen in Berührung kam. Michel Backman ist daher tödlich erschreckt, als ihn ein Student in einer Vorlesung auf das ominöse Manuskript anspricht. Es ist offenbar aufgetaucht - und hat den Studenten in eine tiefe Depression gestürzt. Auch Michel Backmans Leben gerät aus den Fugen, weil die Erinnerung an ein schlimmes Unglück zurückkehrt. Damals, als das Buch von ahnungslosen Menschen gelesen wurde ...

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Ähnliche


Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Anmerkung des Übersetzers

EIN BÖSES BUCH

STOPP

DAS DRITTE LÄUTEN

10000 TAGE (Stopp, Forts.)

WINTERSPIEL

EREIGNIS- HORIZONT

MEIN PLAN

DER BALKEN

VERRÜCKTE TAGE

SORGEN

FAUST

MICKEL BACKMANS SÜNDE

EIN ENGEL

MICKEL BACKMANS SEELE (Mickel Backmans Sünde, Forts.)

ANIARA

EIN GEKRÄNKTER WEIßER MANN

DER BRIEF

ABGESTUMPFT

DIE HOCHZEIT IN GUSTAVS

SCHWARZE SNEAKERS

GLOOMY SUNDAY

IMMUNABWEHR

EIN MANN DES BUCHES

KAFFEE

EIN SONDERBARES GEDICHT

DAS AUGE DES STURMS

FAHRENHEIT 451

ADVENT

AURORA

TANNERS JUNGE

MONDSICHEL (Advent, Forts.)

WIEDERSEHEN (Tanners Junge, Forts.)

FLUGBEDINGUNGEN (Tanners Junge, Forts.)

DER SINN DES LEBENS (Advent, Forts.)

PERIPETIE (Tanners Junge, Forts.)

DAS LOCH IM SAND (Advent, Forts.)

SCHNEE

SCHERBEN (Epilog)

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Die Arbeit an dieser Übersetzung wurdegefördert von FILI.

Titel der finnlandschwedischen Originalausgabe:

»Onda boken«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2015 by Kaj Korkea-aho

First published in 2015 by Schildts & Söderströms with the Swedish title Onda boken. Published in the Spanish language by arrangement with Otava Group Agency, Helsinki.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de

Umschlagmotiv: © shutterstock: cla78 | Yongcharoen_kittiyaporn

eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-3999-4

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Niko

Ihr, Fleisches Erinnerungen, duftend süß wie derRauch von steingegarten Rüben in der Abendbrise,an euch wendet sich die hungrige Seele,kehrt gestärkt zurück mit frischen Lippen.

– Rabbe Enckell

Und alles erlosch,und meine Götter sprangenin Scherben.

– Gunnar Björling

Ich war in tiefste Schwermut versunken, etwas, dasmir auch später im Leben häufig widerfuhr, wennjemand mehr Zustande brachte als ich selbst.

– Muminvaters wildbewegte Jugend

Alles wird gut, bis du heiratest.

– Sprichwort

Solange du es nicht in Gustavs tust.

Anmerkung des Übersetzers

Finnland ist ein zweisprachiges Land. Die große Mehrheit der Bevölkerung spricht Finnisch, während Schwedisch die Sprache einer kleinen Minderheit ist. Da dieser Roman auf Schwedisch verfasst ist, wurden die schwedischen Orts- und Straßennamen in der Übersetzung beibehalten, sodass der Ort der Handlung nicht Turku, sondern Åbo heißt, und die finnische Hauptstadt nicht Helsinki, sondern Helsingfors.

EIN BÖSES BUCH

WÄHREND DER DREISSIG JAHRE, die Mickel Backman an der Åbo Akademi gelebt und gelehrt hatte, war der Etat für das Literaturwissenschaftliche Institut ständig gekürzt worden. Die schlechte Wirtschaftslage hatte die ganze Universität in Mitleidenschaft gezogen, aber ganz besonders die kleinen Institute und die weichen Fächer. Als Hochschullehrer hatte sich Mickel vor dem Fakultätsrat den Mund darüber fusselig geredet, dass dieser Abbau zu einer Oberflächlichkeit führte, die den Sinn und Zweck der Literaturwissenschaften aushöhlte. Alle hörten zu und nickten und murmelten Zustimmung, aber der Druck zu mehr Effektivität und schnelleren Abschlüssen kam von oben und nahm kein Fach aus.

Jetzt war auch noch der Kaffeeautomat des Instituts in Gefahr. Er hatte so lange unbenutzbar im Flur gestanden, dass der Zettel mit der Aufschrift »DER KAFFEEAUTOMAT ist aus den Fugen« sich an den Kanten aufzurollen begann, aber das Geld für die Reparatur fehlte nach wie vor. Zu Beginn des Herbstes hatten die Studenten einen Poetry-Slam zugunsten des Automaten veranstaltet, aber es hatte sich herausgestellt, dass der Kompressor ausgetauscht werden musste, und dafür hatte das Geld nicht gereicht. Jetzt wurde vorgeschlagen, den Automaten zu verkaufen und stattdessen eine Kaffeemaschine anzuschaffen. Soweit Mickel informiert war, hatte sich auf Facebook eine Protestgruppe gegen diese Idee gebildet, und in der letzten Ausgabe des Bullen, der Informationszeitschrift der Geisteswissenschaftler, war der Brief eines zornigen Lesers über das Grauen des Filterkaffees abgedruckt.

Mickel wurde fast jedes Mal von derselben Metapher heimgesucht, wenn er den kaputten Automaten sah, dessen Reparatur sich niemand leisten konnte: Er stand für die Verfasstheit einer ganzen Studentengeneration. Und der ironische Aktivismus der Studenten, um diesen Automaten zu retten, entsprang vielleicht einem Gefühl der Machtlosigkeit. Aber das fehlgeleitete Engagement für Belanglosigkeiten war trotzdem provokativ, wenn gleichzeitig ganze Studiengänge abgewickelt und komplette Fakultäten fast stillschweigend in neoliberale Profitcenter verwandelt wurden. Außerdem verstand er die Fixierung dieser Generation auf teuren und komplizierten Kaffee nicht.

Er dachte an den Automaten und die Passivität der Studenten, als er in einer kurzen Pause während der Vorlesung am Vormittag in den übervollen Seminarraum schaute.

Achtundzwanzig Studenten saßen schweigend da, ein paar machten sich Notizen, einige schauten ausdruckslos nach vorn, andere warfen glasige Blicke aus dem Fenster. Mickel hatte in einer knappen halben Stunde gerade den Durchbruch der modernistischen Literatur abgehandelt und versucht, eine Diskussion darüber in Gang zu setzen, warum es in Skandinavien gerade die Finnlandschweden waren, die sich an die Spitze dieser Bewegung gesetzt hatten. Aber die Studenten waren so antriebslos wie immer. Einige hatten offensichtlich einen Kater. Und vor allen Dingen war die Gruppe zu groß. Niemand wollte der Erste sein, der sich aus der Menge hervorhob.

»Sie müssen wissen, dass der Modernismus eine Reaktion auf alles Konventionelle war und im Grunde antinationalistisch. Man interessierte sich nicht für Normen und Ideale. Man wollte experimentieren, neue Herangehensweisen an die Literatur ausprobieren und an das Denken überhaupt.«

Er ging ein paar Schritte. Es war beinahe unmöglich, nicht an einen Roboter zu denken, wenn man seine steifen, theatralischen Bewegungen sah. Die Studenten nannten ihn Iron Man, und Mickel hatte den Spitznamen mit der Zeit lieb gewonnen. Er stellte sich vor, dass sein steifer Rücken ihm einen gewissen Charakter verlieh, genau wie bei seinem eigenen Lehrer, dem verstorbenen Professor Thomas Simpson, der häufig seltsame Melodien summte und sich unter den Studenten mit dem Spitznamen Tom Bombadil unsterblich gemacht hatte.

»Haben Sie Fragen?«, sagte Mickel mit einer Stimme, die alles andere als roboterhaft klang, sondern warm und freundlich. Ruhig.

Kaum hörbare Geräusche erfüllten den Raum: Sehnen und Muskeln, die sich streckten, Rücken, die sich entspannten, Hintern, die auf den Stühlen herumrutschten. Heutzutage gab es nur noch selten Fragen.

Plötzlich räusperte sich jemand und sagte: »Der Modernismus war also schuld daran, dass alle möglichen Trottel sich auf einmal für Schriftsteller hielten?«

Vereinzeltes unterdrücktes Lachen. Die Stimme gehörte einem Mann, der förmlich in seinem Stuhl lag. Mickel fiel es schwer, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Die roten Haare und die Stimme waren ihm allerdings bekannt. Es war natürlich Werther Fogh, das einzige Kind von Kristina Fogh, Mickels engster Kollegin am Institut. Er war einer dieser Studenten, die vereinzelte Kurse besuchten, ohne dass sich daraus eine konkrete Richtung ablesen ließe, die manchmal Klausuren schrieben, aber sich selten die Mühe machten, die Vorlesungen zu besuchen, wenn ihnen das Thema nicht sonderlich interessant erschien.

»Ja, genau so dachten damals auch viele Kritiker und Literaturwissenschaftler«, antwortete Mickel mit einem Lächeln. »Man sagte, dass Dichtung realistisch sein sollte. Und schön! Sie sollte sich an Formen halten. Und dann kommt ein Haufen junger Leute – die meisten auch noch Autodidakten! – und stellt das alles auf den Kopf!«

Aus Werther Foghs Richtung kam ein verächtliches Schnauben. Der junge Mann schien keine Lust auf eine Diskussion zu haben, aber Mickel ahnte, dass dies auch gar nicht seine Absicht gewesen war.

»Weitere Fragen?« Mickel wartete eine Weile, dann setzte er sich und zog eine Grimasse, als sein verspannter Rücken gegen die Bewegung protestierte. »Habt ihr euch alle einen Modernisten ausgesucht, über den ihr eure Seminararbeit schreiben wollt?«

Mickel ließ alle nacheinander antworten. Viele wollten wie immer über Kafka, Woolf und Södergran schreiben. Ein Mädchen machte ihm die Freude, sich für Henry Parland zu entscheiden. Werther Fogh hatte sich Karin Boye ausgesucht, wobei ihn bereits das Aussprechen ihres Namens zu Tode zu langweilen schien. Aber erst, als der letzte Tisch an der Reihe war und der letzte Student mitteilte, über wen er schreiben wollte, war Mickel wirklich überrascht.

Um nicht zu sagen, zu Tode erschrocken.

»Leander Granlund«, sagte der junge Mann, ein Nebenfachstudent namens Pasi Maars.

Zuerst dachte Mickel, er hätte sich verhört, und bat den Jungen, die Antwort zu wiederholen. Als er den Namen noch einmal hörte, musste er sich anstrengen, damit seine Stimme weiterhin fest und unberührt klang. »Wie haben Sie von ihm gehört?«

»Er hat ein Buch mit dem Titel Aus dem trübseligen Dunkel des Lebens geschrieben.«

»Leander Granlund ist nie veröffentlicht worden.«

Ein gluckerndes Lachen erklang, als Werther Fogh erneut die Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte. »Na ja, man kann doch Modernist sein, ohne veröffentlicht worden zu sein?«

Einige aus der Gruppe kicherten.

Mickel schaute in seinen Notizblock, in erster Linie, damit in diesem Moment niemand sein Gesicht sah. Er wartete eine Weile, bevor er antwortete.

»Da haben Sie vollkommen recht. Aber es gibt nicht viel, was zu Leander Granlund geschrieben wurde. Es wäre bestimmt einfacher für Sie, Pasi …« Er hob den Blick und lächelte das verschwommene Gesicht in der letzten Reihe an. »… wenn Sie sich jemand anderen aussuchen, Hagar Olsson zum Beispiel, bei der …«

»Ich habe gehört, dass Leander Granlund richtig interessant sein soll.«

Mickel strich seine Hosenbeine glatt. »Was haben Sie gehört?«

»Dass er ein böses Buch geschrieben hat.«

»Ein böses Buch.«

»Ja.«

»Können Sie … was meinen Sie damit?«

»Dass man in der Hölle landet, wenn man es liest.«

Jemand atmete tief ein, ein anderer lachte, aber dann wurde es mucksmäuschenstill im Raum.

Mickel lächelte, aber zu übertrieben, als würde man für sich allein lächeln. »Ja, das klingt ja wie eine richtige Gruselgeschichte!«

Er lachte, aber niemand schloss sich an.

»Wer ist denn dieser Granlund?«, fragte eines der Mädchen aus der ersten Reihe mit einer ängstlichen Stimme, als fürchtete sie, für dumm gehalten zu werden. »Ich glaube nicht, dass ich von ihm gehört habe, ich …« Die Kommilitoninnen an ihrer Seite murmelten zustimmend.

»Da müssen Sie sich keine Gedanken machen!« Mickel lachte und bereute es sofort, weil er merkte, wie dumm es klang. »Worüber wir hier reden, ist ein absoluter Sonderfall in der finnischen Literaturgeschichte. Wenn wir noch genug Zeit haben, kann ich es Ihnen erzählen …« Er schaute auf die Uhr und stellte zu seinem großen Bedauern fest, dass er noch fünfzehn Minuten hatte. »Ja, das schaffen wir locker.«

Großer Gott, wie schlecht er die Sache im Griff hatte.

Er benutzte seinen Rücken, versuchte einen Teil seiner sichtbaren Verwirrung auf einen fiktiven Schmerz abzuwälzen und gewann ein paar Sekunden Bedenkzeit, bevor er zu erzählen begann.

»Leander Granlund war eine traurige Gestalt«, sagte er. »Ein echter Trottel, wie Sie es vorhin genannt haben, Werther …«

Sie lachten. Das war gut. Er lächelte mit ihnen. Setzte seine Hoffnung auf das, was er von dieser Generation wusste, dass sie sich höchstens für die Sensation interessierten und sich vermutlich nicht weiter darum kümmern würden.

Sprich natürlich, entspannt, dachte er. Dann vergessen sie bald alles wieder.

Mickel Backman hatte schon immer gewusst, dass er ein guter Redner war.

Dieses Gefühl hatte nichts mit Selbstüberschätzung zu tun, sondern mit einem gesunden Selbstvertrauen, das sich aus einer langen Leidenschaft für das Erzählen und zehn Jahren Erfahrung speiste. Als er jung war, hatte er Laientheater gespielt und sich an einer Schauspielschule beworben, bevor er bei den Literaturwissenschaften hängen geblieben war. Er hatte schnell begriffen, dass das Handwerkszeug des Schauspielers auch dem Lehrer zugutekam, dass ein entspanntes Selbstvertrauen und die Kunst der Improvisation in einem Klassenzimmer genauso wichtig waren wie auf einer Theaterbühne. Aber seine vielleicht wichtigste Erkenntnis als Redner war, dass Sachwissen in jedem Fall weniger entscheidend war als die Fähigkeit, neue Situationen schnell zu erkennen und eine bestimmte Dynamik zu erzeugen.

Er hatte seine Fertigkeiten im Laufe unzähliger Seminarstunden und Vorlesungen immer weiter verfeinert. Als er nun vor dem überfüllten Auditorium nach Leander Granlund gefragt wurde, fiel ihm trotzdem das Atmen schwer, sein Kopf war leer, und es gab keine Fluchtmöglichkeit. Die Frage war ohne Vorwarnung gekommen, aber seine plötzliche Unbeholfenheit war dennoch peinlich, um nicht zu sagen, unverzeihlich.

Er hoffte allerdings, dass die Angst hinter dem Lächeln nicht zu erkennen war.

»Wie wir ja heute schon besprochen haben, veröffentlichten zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts viele junge Leute ihre Gedichte«, sagte er und spürte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit ebenso deutlich wie seinen eigenen Herzschlag. »Einige unserer größten Dichter debütierten damals. Aber es gab darüber hinaus natürlich viele andere, die schrieben und dichteten, aber einfach nicht gut genug waren. Oder sie wurden missverstanden und deshalb von den Verlagen abgelehnt.«

Mickel erhob sich erneut von seinem Stuhl. Er empfand es immer noch als unnatürlich, still dazusitzen, während er etwas vortrug. »Kein einziges Manuskript von Leander Granlund ist jemals veröffentlicht worden, und obwohl sein Schicksal in vielerlei Hinsicht faszinierend ist, gehört es eher in den Bereich der Kriminalgeschichte als der Literaturgeschichte. Die Texte, die er hinterließ, sind, wenn ich ehrlich sein soll, ziemlich mittelmäßig.« Er lächelte in Pasi Maars Richtung und fühlte sich schon wieder ein bisschen ruhiger, als der Junge ihn unterbrach.

»Es gibt eine halbfertige Magisterarbeit aus den Achtzigerjahren, die sich mit Granlund beschäftigt.«

»Aha, ja, durchaus möglich.«

»Und warum sagen Sie dann, dass es keine Informationen über ihn gibt?«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich sagte, dass es nicht viele Informationen über ihn gibt. Und dass er für das Thema dieses Kurses nicht interessant ist.« Mickel schwieg und hoffte, dass die Stille dem Jungen unangenehm wurde, bevor er fortfuhr:

»Also, Leander Granlund … Bei diesem Namen denkt ihr wahrscheinlich zunächst an Sägewerke und Holzlager, und richtig, er gehört tatsächlich zu dieser Familie. Die bekannte Holzhandelsgesellschaft, wie wir sie heute kennen, begann als Familienunternehmen, das sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts auf Holzveredlung spezialisierte, als dieser Industriezweig boomte. Den Granlunds ging es richtig gut. Die Kinder besuchten Privatschulen in Åbo und in Europa, und Leander war bereits mit wichtigen Aufgaben in der Firma betraut, bevor er zwanzig war. Er war sechzehn, als der Bürgerkrieg ausbrach. Der älteste Bruder, Simeon, schloss sich als Freiwilliger den Weißen Garden an und nahm an der Schlacht um Tammerfors teil. Nach dem Krieg kehrte er als Held nach Hause zurück. Es bestand kein Zweifel daran, dass Simeon dazu auserkoren war, den Familienbetrieb zu übernehmen, was Leander – verständlicherweise – eifersüchtig machte und zu Rivalität zwischen den Brüdern führte, die ganz sicher die Ursache für das war, was später passierte.«

Mickel ging auf und ab und ließ ein weiteres Mal seine achtundzwanzig Studenten an Iron Man denken. Er blieb am Fenster stehen und schaute in den dämmerigen Herbsttag hinaus, schluckte ein paarmal und hörte seinen eigenen Puls, ein dumpfes Metronom vor dem Hintergrund des grummelnden Brausens seines Blutkreislaufs.

»Dass die Eltern Simeon bevorzugten, wenn es um die Verantwortung für die Firma ging, könnte an Leanders … empfindsamem Charakter gelegen haben. Er war ein grüblerischer Junge, der nur wenige Freunde hatte, ein Tagträumer, der zu heftigen Gefühlsausbrüchen neigte und auch vor Gewalt nicht zurückschreckte. Er war schon mehrfach verhaftet worden, bevor er achtzehn war, wegen Trunkenheit, Körperverletzung … Die Familie hatte sich daran gewöhnt, sich mit den Opfern ihres Problemkinds im Guten zu einigen. Das Ansehen der Familie war wichtig, das könnt ihr euch sicherlich vorstellen. Man wollte Gerichtsverfahren und übles Gerede vermeiden.

Ein besonders großes Interesse schien der Junge nicht an der Holzwirtschaft zu haben, jedenfalls nicht, wenn man es mit seinem großen Lebenstraum vergleicht. 1922 gewann Leander einen Schreibwettbewerb, der vom Hufvudstadsbladet ausgeschrieben worden war. Bei der Preisverleihung wurde ein Interview mit ihm geführt, in dem er betonte, dass er schon immer Schriftsteller werden wollte. Und er sagte, dass er sich für die expressionistische Dichtung interessiere, wie sie seinerzeit in Europa verbreitet war.«

Er hörte der Stille, die zwischen seinen Sätzen entstand, geradezu an, dass er mittlerweile einen Teil der Aufmerksamkeit seiner Studenten verloren hatte. Es gab Nuancen in der Stille, Veränderungen, die alle möglichen Informationen transportierten. Und im Moment sagte ihm die Stille, dass er sich beeilen und endlich zur Sache kommen sollte.

Lass König Ödipus erfahren, wen er wirklich geheiratet hat.

Sophokles’ Tragödie war immer noch das dramaturgisch vollendetste Schauspiel, das er kannte, und er benutzte es häufig als Modell, als Erinnerung daran, dass er jederzeit nach einer Art von Höhepunkt streben sollte.

Zur Peripetie.

»Es war der Åstrand-Verlag, der im Jahr 1920 zum ersten Mal ein Manuskript von Leander Granlund ablehnte. Es handelte sich um eine Gedichtsammlung, die kurz und bündig Gedichte hieß. Der Verlagschef Kenneth Björk schrieb dem Verfasser, dass einige der Gedichte durchaus ansprechend seien, die Bildsprache ihm allerdings zu experimentell erscheine. Leander schrieb einige der Gedichte um, wurde ein Jahr später aber ein weiteres Mal abgelehnt.

Drei Jahre darauf lehnte derselbe Kenneth Björk Leander Granlunds nächstes Manuskript mit einem Brief ab, der ebenso kurz wie deutlich war. ›Abstoßend‹, schrieb er. Die Gedichtsammlung hieß Mumi und war nichts anderes als eine ausführliche Beschreibung der Einbalsamierung von Leanders Großmutter, Henriette Granlund. Der Detailreichtum schwelgte in dem Naturalismus, den die Dichter dieser Zeit eigentlich überwinden wollten … und Henriette Granlund lebte, wohlgemerkt, zu diesem Zeitpunkt noch. Sie wohnte gemeinsam mit Leander, Simeon und deren Eltern auf dem Erbhof der Familie.«

Jetzt hatte er sie wieder eingefangen. Die Stille war so redselig wie ein Plakat mit großen Buchstaben. Er begegnete Werther Foghs Blick und stellte befriedigt fest, dass auch dieses feiste und chronisch blasierte Gesicht vor lauter Interesse an dem, was jetzt kommen würde, zumindest für einen Moment seinen gewohnten Ausdruck verlor.

Sie halten den Atem an. König Ödipus hat seine eigene Mutter geheiratet. Aber es ist noch schlimmer, noch ist der Höhepunkt nicht erreicht, denn wer ist eigentlich der Mörder, nach dem er sucht, wer hat seinen Vater erschlagen?

»Am Heiligen Abend 1924 verlobt sich Leanders Bruder Simeon mit Ingrid, einer gemeinsamen Kindheitsfreundin der beiden Brüder und, wie sich herausstellen wird, Leanders großer Liebe. Simeon, dem vor seinen Augen gerade das Familienunternehmen übergeben wurde, schnappt ihm jetzt also auch noch das Mädchen, in das er verliebt ist, vor der Nase weg. Nimmt man dann noch die barsche Zurückweisung seiner zweiten Gedichtsammlung dazu, kann man sich vorstellen, wie es in dem Jungen kochte. Beim Weihnachtsessen, als die Verlobung bekannt gegeben wird, geraten Simeon und Leander aneinander. Simeon kommt mit ein paar Schrammen davon, aber Leander wird so böse zugerichtet, dass er beinahe das Gehör verliert.«

Ein Tropfen Schweiß lief Mickel in den Nacken. Die Luft war warm, und die Anstrengung, die diese kleine Promenade vor den Studenten für seinen steifen Körper bedeutete, hatte ihn an den Rand der Erschöpfung gebracht.

»Danach hielt es die Familie für angemessen, die Brüder für eine Weile zu trennen und Leander zur Erholung nach Lappland zu schicken, wo sie mit einigen Familien bekannt waren, die Grundbesitzer waren oder Holzwirtschaft betrieben. Leander wohnte fast zwei Jahre dort und schrieb sein letztes Buch, eine Gedichtsammlung mit dem Titel Aus dem trübseligen Dunkel des Lebens. Das ist bestimmt das Buch, das du eben meintest, Pasi.«

Ein böses Buch, hatte der Junge gesagt.

Man kommt in die Hölle, wenn man es liest.

Mickel blinzelte zu Pasi hinüber, während ihm ein flaues Gefühl von der Brust in die Magengrube wanderte. Von seinem geschundenen Herzen hinunter zu den Erinnerungen an die gierige Lust der vergangenen Tage.

Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden.

Er schob die Hand in den Nacken und spürte, wie die Finger über die kalten Schweißtropfen glitten.

Meine Sünde, meine Seele.

Für einen Augenblick sah er das schönste Gesicht vor sich, das er kannte, das es nicht mehr gab, außer auf Bildern.

Es waren noch fünf Minuten bis zum Ende der Vorlesung. Sein Mund war trocken, und er räusperte sich, versuchte die plötzliche Verwirrung abzuschütteln und in die Gegenwart zurückzukehren, indem er sich wegdrehte und für einen Moment die Augen schloss.

»Anscheinend nutzte Leander Granlund die Zeit in Lappland nicht, um sich zu erholen und zu sich selbst zu finden.« Er musste sich noch ein paarmal räuspern. »Stattdessen scheint er sorgfältig die Rache an den Menschen geplant zu haben, die sich gegen ihn gewendet hatten.«

Zurück zur Peripetie. Zum Höhepunkt. König Ödipus wird gewahr, dass der Mörder, nach dem er sucht, er selbst ist.

Mickel öffnete die Augen und wandte sich wieder den Studenten zu. Seine Wangen fühlten sich kalt an, er war unglücklich und angewidert. Es war ein betrüblicher, aber auch ziemlich passender Zustand für das grausame Ende der Geschichte, das er jetzt erzählen würde.

»Im selben Sommer, in dem Leander Granlund aus Lappland zurückkehrt, richtet die Familie eine große Hochzeit für Simeon und Ingrid aus. Hunderte von Gästen werden auf den Sommersitz der Familie in Gustavs eingeladen. Die Leute reisen aus dem ganzen Land an, Verwandte, Kollegen, viele der damaligen Industriebarone. Und hier setzt Leander seinen Racheplan ins Werk.«

Mickel kannte sich in der Erzähltheorie aus, er kannte all die erzähltechnischen Elemente, mit denen sich knisternde Spannung heraufbeschwören ließ. Er kannte die Theorien, die erklärten, wie Intrigen gewebt wurden, um Spannung und Leidenschaft zu erzeugen. Er kannte die diegetischen Kniffe und mimetischen Strukturen. Aber selbst nach all diesen Jahren fand er immer noch, dass die einfachste Beschreibung dessen, was sich hier und jetzt abspielte, auch die treffendste und ansprechendste war.

Magie.

So eine Art jedenfalls. Er wusste, dass Geschichten, ganz gleich, ob sie so einfach waren wie diejenige, die er gerade erzählte, oder so großartig wie Homers Epen, den Menschen in eine Art Trance versetzen konnten.

»Auf dem Hochzeitsfest vergiftet Leander die Erbsensuppe mit weißem Knollenblätterpilz. Das Brautpaar und acht weitere Hochzeitsgäste sterben innerhalb weniger Stunden. In derselben Woche wird Kenneth Björk vom Åstrand-Verlag Leander Granlunds Manuskript Aus dem trübseligen Dunkel des Lebens mit der Post zugesandt. Zwischen den Seiten befindet sich ein Pulver, eine giftige Mischung aus getrockneten Pflanzen. Jedes Mal, wenn Kenneth Björk eine Seite des Manuskripts umblättert, wird der Staub aufgewirbelt, und er atmet immer mehr Gift ein. Schließlich ist er so benebelt, dass er an die frische Luft geht. Er schafft es noch bis zur Dombrücke, wo er über das Geländer fällt und im Fluss ertrinkt. Ob er darüber hinaus auch in der Hölle gelandet ist, weil er Granlunds Manuskript gelesen hat – wie Pasi gerade behauptete –, das erzählt uns die Geschichte nicht.«

Niemand lachte, aber so wie sie da saßen und in alle möglichen Richtungen schauten, schien jeder in der Gruppe von dieser Geschichte irgendwie berührt worden zu sein, daran konnte kein Zweifel herrschen.

Verzweiflung, grenzenlos … als Ödipus einsieht, was er getan hat …

Natürlich war es Magie! Die Studenten waren in der Welt dieser Geschichte gefangen, in der der Erzähler über die Wahrheit bestimmte und in der die Wahrheit die Zuhörer einfing, die vom brutalen Ende überrascht, hingerissen, hypnotisiert waren.

… bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich selbst die Augen auszukratzen.

»Und wo befindet sich dieses Manuskript jetzt?« Werther Foghs Stimme klang ein wenig zaghaft, als tastete er sich erst langsam wieder in die Wirklichkeit zurück. »Hallo?«

Mickel war in seine eigenen Gedanken versunken und zuckte zusammen. »Keines seiner Manuskripte ist erhalten. Ein paar Gedichte aus den Tagebüchern, aus Briefen und Zeitungen sind alles, was von Leander Granlunds Werk erhalten ist.« Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Wenn Sie mich fragen, über welchen Schriftsteller Sie schreiben könnten, dann würde ich Hagar Olsson sagen. Dann könnten Sie sich mit einer in jeder Hinsicht bemerkenswerten Frau beschäftigen.«

Pasi sagte nichts, aber Mickel meinte im unscharfen Hintergrund des Raums erkennen zu können, dass er nickte.

»Und was ist mit Granlund passiert?«, fragte jemand.

»Die Polizei hatte nach dem Hochzeitsfest in Gustavs seine Schuhe auf den Klippen gefunden, und so war man überzeugt davon, dass er sich in die Fluten gestürzt hatte.«

Niemand sagte noch etwas. Mickel schaute auf die Uhr. Fünf nach. Höchste Zeit, für heute Schluss zu machen. Das magische Spannungsfeld der Geschichte löste sich auf, als die Studenten begannen, ihre Sachen zusammenzupacken und zur Tür zu gehen. Ein paar Minuten später war Mickel allein im Raum, und als er schließlich aufstand und seine Papiere zusammensuchte, tat er das nur, um sich der beißenden Kälte zu erwehren, die seinen steifen Rücken hinaufkroch.

STOPP

DIE LICHTER VON PEMAR verglommen in der Ferne, und im Raucherabteil wurden schreckliche Gedanken gewälzt, als der Zug ohne Vorwarnung eine Vollbremsung hinlegte. Der Ruck ging wie eine Druckwelle durch die Waggons, und Calle Hollender verlor das Gleichgewicht und schlug mit dem Hinterkopf gegen die Wand. Die Asche seiner Zigarette fiel auf die Hose. Der Wehrpflichtige auf dem Platz gegenüber stolperte nach vorn und verlor sein Handy. Die Schiebetür öffnete sich mit einem Krachen, und der Raum schien sich durch die plötzliche Trägheit der Masse zu krümmen und zusammenzuziehen.

Während einiger Augenblicke war der Lärm unerträglich: kreischendes Metall, überraschte Fahrgäste, knackende Wände.

Es dauerte eine ganze Weile, bis man wieder aufrecht stehen konnte, ohne sich dieser Kraft entgegenstemmen zu müssen, und der Zug kam erst nach über zwei Minuten zum Stehen. Inzwischen hatte der Wehrpflichtige seine Zigarette ausgedrückt und den Zug verlassen. Calle stand vor dem Fenster, aber in der Dunkelheit sah er nur sein eigenes, mattes Spiegelbild und dass sie irgendwo im Nichts standen.

Dass dieser Stille etwas Unheimliches innewohnte, war unmöglich zu leugnen.

Am selben Morgen hatte sich Calle in Helsingfors beim Heringsfrühstück der Studentenverbindung Vasa bis auf die Knochen blamiert. Er wusste, dass er sich selbst deswegen keine Vorwürfe machen musste, und im Grunde tat er das auch nicht. Er war vor allen Dingen wütend. Wütend auf dieses Phlegma, das sich leise einstellte, wenn etwas tatsächlich so schlecht lief, wie man es bereits erwartet hatte.

Sich über Semantik zu ärgern ist zermürbend, notierte er auf seinem Telefon. Sich darüber zu ärgern, dass Unausweichlichkeit … Er zögerte bereits, das war kein gutes Zeichen … bedeutet, dass man etwas nicht verhindern kann.

Er löschte die Notiz. Der Gedanke war zu kompliziert, zu schwammig.

Er war sich noch nicht im Klaren darüber, ob Stand-up-Comedy das richtige Hobby für ihn war. Die Befriedigung darüber, dass die Leute lachten, war zwar besser als die meisten anderen Gefühle, aber er hätte sich niemals vorstellen können, dass ihn schon Tage vor einem Auftritt eine solche Angst heimsuchen würde, die sich wenige Stunden, bevor er die Bühne betrat, bis zur Unerträglichkeit steigerte. Noch weniger hatte er mit dem mörderischen und kaum abzuschüttelnden Gefühl der Erniedrigung gerechnet, das eintrat, wenn etwas schiefging und die Leute nicht lachten. Vor einem guten Jahr war er zum ersten Mal aufgetreten, und seitdem gab er im Schnitt eine Vorstellung im Monat, mehr Anfragen hatte er nicht. Nach einem geglückten Start bildeten die schlechten Erfahrungen mittlerweile eine beunruhigend lange Reihe, und sein sprudelndes Selbstvertrauen drohte vor lauter Erschöpfung zu ersticken. Helena hatte einmal gesagt, dass sein Humor vielleicht ein bisschen zu abseitig sei, um auf der Bühne zu funktionieren. Er selbst meinte, dass vor allem die Umstände schuld seien, das falsche Publikum zur falschen Zeit.

Dieser Auftritt war ein Musterbeispiel dafür. Um neun Uhr an einem Sonntagmorgen! Die offensichtlich verkaterte Gastgeberin hatte ihn als Calle Tollander vorgestellt, und er musste eingezwängt zwischen einem Geschirrwagen und einem Garderobenständer am Ende des langen, schmalen Saals stehen, in dem diejenigen, die ganz hinten saßen, ihn nicht mehr verstehen konnten, während diejenigen, die vorne saßen, so müde und betrunken waren, dass er sie auch nicht mehr erreichte. Niemand hatte gelacht, ein paar Leute hatten laut geredet, und eine ganze Gruppe war mittendrin zum Rauchen nach draußen gegangen.

»Na ja, haha!«, hatte die Gastgeberin mit einer Art Grinsen in ihrem blassgrünen Gesicht gemeint, als sie hinterher ins Büro kam, in dem er seine Jacke aufgehängt hatte. Sie hatte ihn um seine Steuernummer gebeten, obwohl ausgemacht war, dass er achtzig Euro in bar bekommen würde. Er hatte versprochen, sie ihr zuzuschicken, hatte keine Lust, sich deswegen zu streiten.

Zwischen zehn und zwölf war er mit finsteren Gedanken zwischen Kampen und dem Kaufhaus Stockmann im Nieselregen herumgelaufen, bevor er die U-Bahn zur Kabelfabrik genommen und den Nachmittag auf einer Spiel- und Comicmesse verbracht hatte. R. R. Martin war an ihm vorbeigelaufen, aber er hatte es nicht gewagt, um ein Autogramm zu bitten.

Niedergeschlagen und traurig war er zum Hauptbahnhof gegangen und hatte eine Packung Zigaretten gekauft, obwohl er wusste, dass er es später bedauern und Helena sauer sein würde.

Calle schlenderte durch den Speisewagen zurück zu seinem Platz, als es in den Lautsprechern krächzte und eine angespannte Männerstimme verkündete, was er ohnehin schon deutlich gespürt hatte – dass der Zug tragischerweise eine Person überfahren habe, die auf den Gleisen gestanden habe. Im Waggon machte sich allgemeine Bestürzung breit.

»Du lieber Gott!«, rief jemand aus, und etliche andere stimmten ein.

Die Stimme aus den Lautsprechern redete weiter, kämpfte sich stockend über Atempausen hinweg. Sie müssten auf Polizei und Krankenwagen warten, bevor die Fahrt fortgesetzt werden könne, deshalb werde sich die Ankunft in Åbo auf unbestimmte Zeit verzögern, die Fahrgäste würden auf dem Laufenden gehalten.

Ein Mann in Hemd und Krawatte beugte sich über sein leeres Bierglas und schaut aus dem Fenster. »Ich habe nichts gespürt«, sagte er. »Außer der Bremse.«

»So was spürt man doch nicht …«, sagte sein Begleiter. »Ein Mensch von siebzig Kilo. Und ein Zug, der vielleicht, ja, Hunderte von Tonnen wiegt.«

»Liegt er jetzt unter dem Zug?«

»Mhm.«

Ein Mikrowellenherd klingelte, ein warmes Sandwich war fertig.

»Wie schrecklich!«, sagte eine Frau mit einem Zimtwecken in der Hand.

»Die Fähre wartet nicht«, grummelte ein Mann, der während des Bremsmanövers seinen Kaffee verschüttet hatte – vor ihm auf dem Tisch lag ein Haufen feuchtbrauner Servietten.

Eine Frau, die das Hosenbein des Mannes abwischte, schlug ihm auf den Arm. »Da ist jemand gestorben!«

»Und andere Leute damit zu behelligen ist doch einfach …«

»Voj jumalauta, sei jetzt still!«

Als er seinen Platz in Waggon drei wieder erreicht hatte, schrieb Calle eine neue Notiz auf seinem Handy. Jemand verschüttet Kaffee, verpasst eine Überfahrt. Lässt Asche auf seine Jeans fallen.

Er starrte eine Weile vor sich hin, hörte den anderen Fahrgästen zu, die sich um ihn herum leise unterhielten, stellte fest, dass die schrecklichen Gedanken wieder zurückkehrten, und fügte schließlich hinzu: Wer auch immer du warst, dein Tod bedeutete eine Verspätung.

Helenas überbordende Begeisterung war schon ein bisschen abgeklungen, als sie den Bahnsteig erreichte und bemerkte, dass sie nach dem eiligen Spaziergang in ihrer neuen Herbstjacke vor Schweiß ganz klebrig geworden war. Sie stellte die Schachtel mit der Torte vorsichtig auf eine Bank und fächelte sich mit den Händen kühle Luft in ihr glühendes Gesicht. Als sie sich die Nase geputzt hatte und gerade ihren Pony wieder in Form bringen wollte, wurde über die Lautsprecher durchgesagt, dass sich der Zug aus Helsingfors um fünfundvierzig Minuten verspäten würde. Helena wurde wütend, und in einem Moment ziellos flatternder Zickigkeit riss sie die Jacke auf und setzte sich auf die Bank, ohne an die Tortenschachtel zu denken. Als sie das Knirschen der Pappe unter ihrem Hintern hörte, sprang sie auf und schrie los.

»Nein, nein, nein …« Sie murmelte Flüche, während sie vorsichtig die zerknickten Ecken der geplätteten Schachtel geradebog und ablöste. Der Deckel war festgeklebt, und als sie ihn anhob, folgte ihm ein großer Teil der Marzipanschicht. Ein nicht zu rettender Krater aus Tortenboden und rosa Schlagsahne war alles, was von einem ganzen Nachmittag in der Küche übrig geblieben war. Das Schokoladenherz war zerbrochen, und der kunstvolle Text, den sie mithilfe von Puderzucker und einer mühsam zurechtgeschnittenen Schablone aufgetragen hatte, war unleserlich geworden.

Sie stampfte genervt mit dem Fuß auf, und ihr war zum Heulen zumute. Den Deckel warf sie auf die Bank. Ein paar Tränen flossen, sie war wütend und gleichzeitig ein Häufchen Elend.

Plötzlich fragte sie sich, warum sie überhaupt hier war. Warum sie sich so angestrengt hatte, warum sie diesen Impulsen und Ideen folgte, warum alles, was eigentlich spielerisch und unschuldig sein sollte, gleichzeitig so belastend war … so falsch. Warum es wieder mal schiefgehen musste! Es müsste einen Mechanismus geben, dachte sie, der immer dann verhinderte, dass man auf solch eine Weise scheiterte, wenn man sich anstrengte, um etwas Nettes zu machen.

Und wie zum Teufel konnte eine zweistündige Zugfahrt um fünfundvierzig Minuten verspätet sein? Sie rief Calle an. Es war ihr egal, dass sie damit die ganze Überraschung verdarb oder das, was davon noch übrig war. Das Gespräch wurde direkt an die Mailbox weitergeleitet, und sie versuchte es noch einmal, allerdings mit demselben Resultat. Schließlich rief sie, noch zorniger, ein drittes Mal an, stellte sich vor, wie Calle sich Kampfstern Galactica auf dem Laptop anschaute, nachdem er so lange auf dem Handy gespielt hatte, bis der schrottige Akku wieder leer war.

Keine Antwort. Die Lautsprecher über dem Bahnsteig kündigten erneut die Verspätung an, es waren nach wie vor fünfundvierzig Minuten. Für einen Moment, während sie ihn ein letztes Mal anrief, richtete Helena die rasierklingenscharfe Spitze ihrer Wut auf Calle, so ungerecht dies auch war. Er konnte schließlich nicht wissen, dass sie ihn abholen wollte, warum hätte er sie also über die Verspätung informieren sollen.

Sie selbst hätte es getan. Warum lebte man denn in einer Beziehung? Damit man jemanden hatte, den man mit Belanglosigkeiten bombardieren konnte, ohne dass es langweilig wurde? Einfach nur eine kurze Textnachricht: Hallo, sitze im Zug, hängen bei Salo fest, wieder Verspätung, vermisse dich. PS: Der Akku ist gleich leer, rufe dich später an! Aber noch nicht einmal das, nicht einmal eine SMS.

Er würde auch nie einen Kuchen backen und einen Rucksack mit Tellern, Besteck, Schampus und Plastikgläsern packen und sie auf dem Bahnhof damit überraschen. Das war nicht der einzige Unterschied zwischen ihnen, aber es war einer der offensichtlicheren. Ihm fehlte einfach das Verständnis dafür, dass sich der Unterschied zwischen dem Notwendigen und dem Ausgefallenen, zwischen dem Vernünftigen und dem Verrückten unter bestimmten Bedingungen auflösen konnte. Das Verständnis für das, was man im alltäglichen Sprachgebrauch wohl als Romantik bezeichnen könnte.

Am Boden zerstört, steckte Helena den Finger in das hinein, was von der Torte noch übrig war. Die Sahne war kalt und angenehm süß. Essbar, natürlich. Sie schnäuzte sich ein weiteres Mal und brachte ihre Frisur in Ordnung. Sagte sich selbst, dass das Missgeschick mit der Torte und ihre Ungeschicklichkeit das Ganze im Grunde nur noch romantischer machte. Und wer weiß, vielleicht würde Calle das ja sogar begreifen?

Nach zehn Minuten wurde Calle ungeduldig und stand wieder auf, ging erneut in den vorderen Teil des Zugs. Zwischen den Waggons vier und fünf waren die Türen geöffnet, und von draußen hörte man Stimmen und Schreie. Er stellte sich in die Tür und schaute hinaus. Der Schaffner stand etwas weiter entfernt auf dem Bahndamm, zusammen mit zwei Männern, die allem Anschein nach Fahrgäste waren. Sie unterhielten sich mit grimmigen Mienen und beobachteten die Arbeiten, die gerade verrichtet wurden.

Ein paar Feuerwehrleute gingen mit Taschenlampen herum und leuchteten den Schotterwall ab, und weiter hinten am Waldrand stand ein Polizist zusammen mit ein paar Männern in Warnwesten. Einer von ihnen sprach in ein Funkgerät, und das Geräusch erinnerte Calle daran, warum ihm das alles so bekannt vorkam. Es war wie ein Film, eine Krimiserie, genau so sahen die Tatorte im Fernsehen aus. Tiefer im Wald bewegten sich noch mehr Taschenlampen, und in den Fenstern der Waggons sah man starrende Gesichter eingerahmt von Händen.

Es war feucht und kalt. Die Luft war der zusammengepresste Atem des kommenden Winters. Calle hielt sein Gesicht in den Wind und spürte, wie sich Eis an seinem Haaransatz bildete.

»… ja varmistaa ettei oo ylimääräistä kuormaa«, sagte der Schaffner und machte eine vieldeutige Geste … und uns vergewissern, dass wir keine zusätzliche Ladung mitschleppen. Die beiden Fahrgäste neben ihm murmelten eine Antwort. Calle hatte keine Ahnung, was er damit gemeint hatte, aber er wollte auch nicht fragen. Die brennende Neugierde konnte sich noch nicht gegen seinen eisernen Widerwillen durchsetzen, sein schlechtes Finnisch zum Besten zu geben.

Die Frage löste sich schnell auf eine andere Weise, als eine Frau mit blutunterlaufenen Augen plötzlich neben ihm auf der Treppe stand: »Anteeks mutta mitä tässä nyt tapahtuu?« Entschuldigung, was ist denn passiert? Sie hatte sich an den Schaffner gewandt, und ein Gespräch kam in Gang.

Die Fahrt werde bald fortgesetzt. Ein Körper sei gefunden worden, in etwa zwei Kilometern Entfernung, die Rettungskräfte hätten leider nichts mehr tun können. Es gab keine Informationen über den Toten, sie wussten nicht einmal, ob es ein Mann oder eine Frau war. Dieser Mensch habe sich jedenfalls hinter den Büschen versteckt und sei auf die Gleise gestürmt, als sich der Zug genähert habe. Wahrscheinlich sei es ein Selbstmord gewesen, ja, mehr wisse er auch nicht. Die Polizei untersuche noch die Umgebung, und man müsse kontrollieren, ob der Zug Schaden genommen habe, bevor sie weiterfahren könnten.

»Herra siunatkoon.« Der Herr sei ihm gnädig, sagte die Frau und zog sich wieder in den Waggon zurück. Ihre Atemluft schwebte wie Zigarettenrauch in der Luft.

Weiter vorn sprang ein Motor an, und dem prasselnden Geräusch nach zu urteilen wurden die Waggons mit einem Hochdruckreiniger gesäubert. Einer der Feuerwehrleute ging mit einer Taschenlampe an Calle vorbei. Der Lichtkegel wanderte unter dem Waggon entlang. Ganz offensichtlich suchte er nach etwas.

Als würde der Zug dabei zu Schaden kommen, dachte Calle. Dummes Geschwätz.

Er spürte den Hamburger, den er am Bahnhof gegessen hatte, in seinem Magen rumoren, als ihm klar wurde, dass die zusätzliche Ladung, von der der Schaffner gesprochen hatte, Überreste des Selbstmörders sein könnten. Ein Körper war gefunden worden, aber vielleicht fehlten ja ein Bein oder ein Arm, vielleicht steckte ein abgerissener Fuß zwischen den Kupplungen? Bei einem solchen Zusammenstoß wurde man ja nicht zu Brei gefahren, sondern eher in Stücke gerissen?

DAS DRITTELÄUTEN

BEI JEDER GRAUHAARIGEN FRAU, die sich mühsam ihres Mantels entledigte und in ihren Taschen nach Brillenetuis und Taschentüchern suchte, nahmen die Schmerzen in Mickel Backmans Rücken ein klein wenig zu, und es wurde immer beschwerlicher, reglos in der Schlange zu stehen.

Was hieß schon Schlange, es war eher ein Schwarm. Große, ältere Männer, die mit kleinen, gebeugten Damen zu den schnell arbeitenden Garderobieren drängten. Sie unterhielten sich leise und schienen zufrieden zu sein. Ein munterer, finnischer Rentnerschwarm, angemessen gesellig und herausgeputzt für einen Abend im Theater.

Beim ersten Läuten ließ das Gemurmel an der Garderobe für ein paar Augenblicke nach. Mickel Backman hielt die Garderobennummer seiner Frau in der Hand und streckte den Hals, um sich nach bekannten Gesichtern umzuschauen und gleichzeitig dem Schmerz entgegenzuwirken. Er widmete Myrna einen finsteren Gedanken, die aus irgendeinem Grund sauer auf ihn war und ihn möglicherweise zur Strafe in diese Schlange geschickt hatte, obwohl sie besser als jeder andere wusste, wie beschwerlich so etwas für ihn war.

Das Warten im Gedränge verschaffte seinen Sorgen einen gewissen Freiraum. Seit der gestrigen Vorlesung war er aus dem Gleichgewicht geraten, er war so zerstreut, dass er sich immer wieder in seinen eigenen Gedanken verstrickte und hoffnungslos den Faden verlor. Während der Taxifahrt zum Theater hatte Myrna geseufzt und ihn angepflaumt, dass er sich entweder zusammenreißen oder mit den ständigen Überstunden aufhören solle.

Pasi Maars hatte ihn vollkommen auf dem falschen Fuß erwischt. Hat die Sorgen aus ihrem Winterschlaf geweckt, seinen langjährigen Glauben erschüttert, dass alles unter Kontrolle war. Wie zum Teufel hatte der Junge von Leander Granlund erfahren?

Großer Gott.

Mickel musste unwillkürlich an Dietrich Wangman denken, und er schaute hilflos zu, wie die Erinnerungen und Ängste, die im Laufe der Zeit verblichen und verwittert waren, ihre Schärfe zurückgewannen. Er dachte an sein kurzes Zögern, bevor er Werther Foghs Frage nach dem Verbleib von Leander Granlunds Manuskript beantwortet hatte.

Diese verdammte halbe Sekunde.

Hatten die Studenten dieses Zögern wahrgenommen, und wie hatten sie es in diesem Fall gedeutet? Als ein nachdenkliches oder ein verunsichertes Zögern? Als ein Zögern, das einfach vorkommt, wenn man müde oder unkonzentriert ist?

Nein, sie waren naseweis und vielleicht auch ein bisschen selbstzufrieden, aber sie waren nicht dumm – natürlich hatte sie das Zögern als das gedeutet, was es war, als ein unbeholfenes Zaudern vor der Antwort auf eine heikle Frage, als eine Vibration in der Körpersprache, die bei jedem anständigen Menschen einer Lüge unweigerlich vorausging.

Er wurde aus dieser Seelenpein gerissen, als eine Hand auf seine Schulter gelegt wurde. Als er sich umdrehte, sah er in Mårten Tanners altes Gesicht. Die Stirn war schuppig vom Schweiß und endete in Augenbrauen, die aussahen wie Adlerklauen, die die trüben Augen herausreißen wollten. Die Wangen hingen wie Vorhänge unter den roten Ohren und dem durchsichtigen Haar, schotteten seine glänzenden, prallen Lippen wie Scheuklappen von der Umgebung ab.

»Mickel!«, sagte Mårten mit der aufdringlich ungezwungenen Stimme eines Mannes, der spontane Geselligkeit gewohnt war. Seine kräftige Hand hämmerte auf Mickels Schulter, und der Rücken antwortete mit einem lang gezogenen Wimmern.

Mickel drosch mit gespielter Begeisterung Höflichkeitsfloskeln. Er fühlte sich immer unangenehm berührt in Mårten Tanners Gesellschaft, aber der überschaubare finnlandschwedische Kulturbetrieb zwang ihn dazu, mit den wichtigen Personen auf einigermaßen gutem Fuß zu stehen. Tanner war Geschäftsführer und verantwortlicher Herausgeber des Åstrand-Verlags, und deshalb musste Mickel ihn ertragen, egal wie unausstehlich er ihn fand. »Myrna ist oben auf der Galerie«, sagte er. »Sie friert, und deswegen hole ich ihren Schal.«

»Ja, ich habe gehört, dass sie die Temperatur im Saal gesenkt haben! Pao-Liina Ounasvaara ist ja bekannt für solche Einfälle, wenn sie Regie führt.«

»Nach der Premiere sollen sie die Temperatur wieder erhöht haben. Die Leute hatten sich erkältet.« Mickel hörte sein eigenes, hohles Lachen.

»Na ja, ich selbst …« Tanner beugte sich näher an ihn heran, als wollte er vertraulich mit ihm sprechen, aber er senkte die Stimme nicht. »… finde, dass diese ganze Effekthascherei nur ihre Unfähigkeit verschleiern soll.« Er zwinkerte. »Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass das Schwedische Theater diese verkorkste Nervensäge engagiert hat! Haben die etwa nicht mitbekommen, wie sie Böll im Nationaltheater geschlachtet hat?«

Tanner schien sich wirklich aufzuregen und fauchte so laut, dass eine Dame sich ganz besorgt umdrehte, aber dann riss er sich zusammen und lachte gluckernd. »Bestell Myrna liebe Grüße! Ich …« Er drängte sich durch eine Gruppe von Damen und reichte der Garderobiere seinen Mantel. »… wollte dich demnächst ohnehin anrufen, Mickel. Wegen eines Buchs, das ich herausgeben möchte. Ich dachte an einen Band mit unterschiedlichen Stimmen zu Josef Julius Wecksell … so was wie ein Gespräch …« Tanner rammte beinahe eine Dame, die zwei Köpfe kleiner war als er selbst, als er seinen massigen Körper wieder vom Tresen wegbewegte. »Es wäre großartig, wenn du dabei sein könntest! Was du im Horizont über sein Stück Daniel Hjort geschrieben hast …« Das zweite Läuten unterbrach ihn. »Wir können uns ja in der Pause darüber unterhalten! Joakim! Da bist du ja!«

Mickel bemerkte erst jetzt einen groß gewachsenen Jungen, der etwas weiter entfernt am Tresen stand und seine Jacke abgab. Er hatte chronische Schwierigkeiten damit, das Alter von Jugendlichen richtig einzuschätzen, aber er hatte bei seinen Studenten gelernt, dass sie in der Regel älter waren, als ihn sein erster Eindruck glauben machte. Der junge Mann, der schüchtern zu ihnen hinüberschielte, konnte seiner korrigierten Einschätzung nach trotzdem kaum älter als zwanzig sein, und die klaren, wie gemeißelten Gesichtszüge kamen ihm bekannt vor.

»Joakim«, fuhr Tanner fort, »ist meine neueste Entdeckung. Er wird im Frühjahr mit einer Novellensammlung debütieren. Einer ganz hervorragenden Novellensammlung!«

»Hallo«, sagte der junge Mann, und jetzt erkannte Mickel ihn plötzlich wieder. Der Gewinner des ersten Preises im Arvid-Mörne-Wettbewerb. Mickel hatte in der Jury gesessen und ihn bei der Preisverleihung getroffen. Das war vielleicht zwei Jahre her.

»Ich erinnere mich an Sie«, sagte Mickel. »Sie kommen aus Vasa, nicht wahr?«

»Im Augenblick aus Dragsvik.« Der junge Mann deutete auf sein kurz geschnittenes Haar.

Tanner legte seine Hand auf Joakims Schulter. »Du musst unbedingt in den Club kommen, Mickel! Die alten Knaben dort reden nur noch über die Börse und die Wahren Finnen. Das macht mich total wahnsinnig! Am Donnerstag darf ich den Wein auswählen, und die Sauna ist geheizt!« Er lächelte Mickel aufmunternd zu und schob den jungen Mann in den Theatersaal.

Mickel war der Letzte, der die Garderobe erreichte, und bekam den Schal ausgehändigt, als es zum dritten Mal läutete. Mit schmerzendem Rücken kämpfte er sich, so schnell er konnte, die leere Treppe hinauf und schlängelte sich vorsichtig durch die halb vollen Sitzreihen auf der Galerie bis zu seinem Platz neben Myrna. Im selben Augenblick, als er sich mit einem Keuchen in den Sitz fallen ließ, erlosch das Licht, und das Gemurmel im Zuschauersaal wurde leiser.

»Das hat aber gedauert«, flüsterte Myrna ungnädig, ihr Atem dampfte in der Dunkelheit.

»Ich habe deinen ehemaligen Chef getroffen.« Er drückte ihre Hand. Die kühle Luft im Saal war erfrischend und half gegen seine Lustlosigkeit. Er schaute über das Geländer auf die Köpfe unten im Parkett hinunter und versuchte Tanner und den jungen Schriftsteller ausfindig zu machen, aber das Licht war zu schwach, und als sich der Vorhang hob, ließ er erleichtert alle sorgenvollen Gedanken fahren, um sich ganz der Welt des Theaters hinzugeben.

10000 TAGE(Stopp, Forts.)

WÄHREND SIE WARTETE, sah Helena eine Gestalt die Treppe von der Artillerigatan herunterkommen. Nachdem der Mann einen Abstecher zur Informationstafel gemacht hatte, setzte er sich auf die Bank direkt neben der Treppe, sackte in sich zusammen und starrte mehrere Minuten lang auf die Gleise. Nach einer Weile war Helena sich ziemlich sicher, dass er immer wieder auch zu ihr hinüberschielte. Als eine Bewegung im Augenwinkel ihr plötzlich signalisierte, dass der Mann aufgestanden war und sich ihr näherte, loggte sie sich bei Facebook aus, klammerte sich krampfhaft an ihr Handy und erduldete das gemischte Gefühl von unterdrückter Angst und erzwungener Ruhe, das mittlerweile immer öfter an die Stelle der Panik trat, die sie nach den Ereignissen bei der Glühweinrunde vor zehn Monaten immer wieder überfallen hatte.

Die Angst fiel sofort von ihr ab, als Pasi Maars ihren Namen nannte. Sie drehte sich um, und die Anspannung entließ sie aus ihrem Griff, als hätte sie sich einen zu engen Pullover ausgezogen. Sie fragte sich, warum sie ihn nicht gleich erkannt hatte. »Hallo«, sagte sie so fröhlich, wie es ihre Stimmung zuließ. »Was schleichst du hier herum?«

»Er müsste gleich da sein, der Zug. Du wartest auch auf Calle, nehme ich an.« Pasis Hände bewegten sich nervös über dem allzu großen Mantel, bis er sie in die Taschen steckte.

Auch. Die letzten Reste ihrer geplanten Überraschung zerrannen ihr zwischen den Händen. »Er ist ziemlich verspätet.«

»Zwanzig nach, hat er geschrieben.«

»Er hat geschrieben?«

»Ja, hast du es nicht mitbekommen? Jemand ist vor den Zug gelaufen. Darum ist er verspätet.«

Helena zögerte. Im ersten Augenblick war es schwer, sich von dem Gedanken zu lösen, dass Calle an Pasi geschrieben hatte und nicht an sie. »Ach so … oje.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist also jemand gestorben?«

»Kurz vor der Stadt.«

»Und Calle hat dir eine SMS geschickt?«

Pasi erzählte, dass er hier am Bahnhof mit Calle verabredet sei. Deswegen habe Calle ihn vor etwa einer halben Stunde über die Verspätung und den Grund dafür informiert. »Ich muss mich nur ganz kurz mit ihm unterhalten.«

Helena nickte und versuchte sich nichts anmerken zu lassen. »Er weiß nicht, dass ich hier bin, und er ist nicht ans Telefon gegangen, als ich ihn angerufen habe. Ich wollte ihn eigentlich überraschen.« Sie hörte selbst, wie verärgert sie klang, und sah, wie sich Pasis mageres Gesicht zu einer betretenen Grimasse verzog.

»Tjaa …«, sagte Pasi. »Dann will ich nicht weiter stören.«

Yess.

»Nein, du störst doch gar nicht.«

Pasis Blick fiel auf die Schachtel auf der Bank. »Oh, du hast sogar eine Torte mitgebracht?«

Helena lachte. »Und dann habe ich mich direkt draufgesetzt. Ha! Was für eine Pleite! Ich war mit den Gedanken ganz woanders.«

»Schade …« Pasis Hände hatten die Taschen wieder verlassen und irrten rastlos herum. »Ich glaube, ich gehe lieber nach Hause. Ich kann ja simsen … oder sag Calle einfach, dass er mich anrufen soll, wenn er Zeit hat.«

Pasi zog sich wieder zur Treppe zurück. Helena hatte das Gefühl, dass sie ihn aufhalten sollte, ihm sagen sollte, dass er nicht zu gehen brauchte, aber sie tat es nicht. »Das mache ich! Tschüs!«

»Tschüs!« Wenig später war Pasi schon die halbe Treppe hinaufgegangen und verschwand aus ihrem Gesichtsfeld.

Helena atmete aus, aber eine Ungewissheit blieb. Sie hatte mit Pasis hängenden Schultern zu tun.

Der Akku war schon wieder leer. Als Calle sein Ladegerät aus der Tasche zog, fand er das Buch, das er eingesteckt hatte, um es im Zug zu lesen: Rabelais und seine Welt. Er hatte noch nicht einmal den Klappentext gelesen, da stellte sich der Widerwille schon ein, ergriff alle Sinne wie ein plötzliches Unwohlsein. Der Gedanke, Literaturtheorie zu lesen, war so absurd, dass es fast zum Lachen war.

Die Energie dafür aufzubringen und das Interesse. Eher würde ich mich umbringen.

Er dachte tatsächlich diesen Gedanken, trotz der Umstände und der Lichter, die sich bis vor Kurzem noch wie große Insekten durch die Dunkelheit vor dem Fenster bewegt hatten. Als Ausdruck für die Sinnlosigkeit, dachte er schnell zur eigenen Beruhigung.

Der letzte Satz des Klappentextes handelte von Körperteilen und grotesken Verunstaltungen, sodass die Gedanken erneut zu dem zerfetzten Menschen draußen im Wald wanderten.

Im selben Augenblick ging ein Ruck durch den Zug, und aus einem der Waggons war ein überraschter Ruf – hajaa! – zu hören, der lustig klang und ihn lächeln ließ. Die Waggons knackten, sie waren wieder in Bewegung. Der Student war abgewaschen und eingesammelt worden und konnte zur Leichenhalle gefahren werden. Jetzt musste man nur noch einen Namen und eine Nummer finden und die Eltern benachrichtigen.

Calle zweifelte keinen Augenblick daran, dass es ein Student war. So nahe an einer Universitätsstadt am Rande des Landes mit der höchsten Selbstmordrate der Welt konnte es nur ein Student sein.

Sie schluckten Pillen, alle miteinander. Saßen mit glasigen Augen und chemisch ausbalancierten Gesichtsausdrücken in den Hörsälen und schrieben mit. Es war atemberaubend, wie viele Studenten er an der Akademie kannte, die von Glückspillen abhängig waren. Und dann musste es noch eine Dunkelziffer geben, diejenigen, die keine Hilfe bekamen, und alle anderen, die es im Stillen ertrugen und keine Hilfe suchten.