Das Erwachen der Gletscherleiche - Roland Weis - E-Book

Das Erwachen der Gletscherleiche E-Book

Roland Weis

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Beschreibung

Eine Wandergruppe entdeckt auf dem Weg zum Morteratsch-Gletscher in Graubünden einen "Ötzi". Der ebenso geniale wie kauzige Wissenschaftler Johannes Aschendorffer raubt mit Hilfe seines listenreichen antolischen Hausmeisters die Gletscherleiche und bringt sie in ein völlig abgeschirmtes Forschungsinstitut ins badische Freiburg. Dort will er, gegen den Willen seines Teams, an dem 5000 Jahre alten ­Körper Experimente vornehmen. Sein Ziel: den Eismann zum Leben zu erwecken. Durch eine Spur auf diesen entführten Fund aufmerksam geworden, heftet sich die Schweizer Kantons­polizei ebenso an die Fersen des Professors wie die deutsche Kripo und die sensationslüsterne Presse. Wird es der Bio­chemikerin Fredericke Biesthal und dem Molekularbiologen Murij Amresh gelingen, das Schlimmste zu verhindern? "Weis hat ein Händchen für launige Regio-Krimis." Schwarzwälder Bote "Weis versteht es, seinen Figuren Leben einzuhauchen." Hochschwarzwald-Kurier

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Roland Weis· Das Erwachen der Gletscherleiche

Dr. Roland Weis, Jahrgang 1958, lebt und arbeitet in Südbaden. Der gelernte Zeitungsredakteur hat mehr als zwanzig Jahre bei Tageszeitungen, Radiostationen und Wochenzeitungen gearbeitet, ehe er 2002 in die Unternehmenskommunikation eines Energieversorgers wechselte, die er heute leitet. 1992 erschien sein erstes historisches Sachbuch „Würden und Bürden“, in dem er die Rolle der katholischen Priester im Dritten Reich untersuchte. 1998 veröffentlichte er seinen ersten Krimi „Der Güllelochmord“, dem bis heute sieben weitere folgten. Der promovierte Historiker hat neben zahlreichen Beiträgen in Fachzeitschriften und Nachschlagewerken inzwischen rund 20 Bücher veröffentlicht, darunter regionalgeschichtliche Untersuchungen, populärwissenschaftliche Sachbücher, Wander- und Urlaubsführer aus dem Schwarzwald sowie einen historischen Roman, der in der kanadischen Wildnis des 18. Jahrhunderts spielt.

Zum Titelbild:Nino Malfatti wurde 1940 in Innsbruck geboren. Er studierte an der Akademie der bildenden Künste in Wien Malerei, Grafik und Restaurierung. An der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe wurde er Meisterschüler von Horst Antes. Seit 1974 lebt er in Berlin, wo er als Gastprofessor an der Universität der Künste Berlin Maltechnik lehrte. Das Gebirge ist Gegenstand seiner Malerei seit den 80er-Jahren. Als Hochgebirgsbergsteiger ist Malfatti viel in seiner Tiroler Heimat unterwegs und fotografiert dort die Bergmassive der Alpen. Nach diesen Aufnahmen entstehen im Atelier seine Landschaftsmalereien.

Roland Weis

Das Erwachen

der Gletscherleiche

Ein Krimi, der vor 5000 Jahren beginnt und in Freiburg seinen Lauf nimmt

für Zurbo

1

Die steifgefrorene Hand ragte zu zwei Dritteln aus dem tropfenden Gletschereis. Bleich und haarig. Der Daumen war nach oben abgespreizt. Es sah aus, als wollte ein Tramper mitgenommen werden. Fast hätte Mona im starken Regen die Hand übersehen. Wer rechnet auch mit einem eingefrorenen Tramper mitten im Hochgebirge? Der Wind trieb milchige Wasserschlieren auf die kleine Wandergruppe, die sich im Schutze einer Gletscherspalte ihren Weg bahnte. Armin, der Idiot! Er war schuld an allem. Nein, er hatte nicht warten können. Am Morgen im Berghaus, da hätten sie noch alle Optionen gehabt: Ausschlafen, das Unwetter abwarten, ins Tal nach St. Moritz zurückkehren. Stattdessen stolperten sie jetzt bei kaum drei Metern Sicht durch kalten Regen über den Gletscher und drohten bei jedem Schritt ins Tal hinunter nach Morteratsch gespült zu werden. Das grandiose Bergpanorama des Engadin blieb den ganzen Tag hinter einer grauen Regenwand verhüllt. Und das im frühen Herbst. Das war doch angeblich die sonnige Wanderzeit.

Ihre Gruppe bestand aus sieben Personen. Mona mit ihrem Freund Armin, davor die vier Amis, zwei Paare aus Iowa. Vorneweg stapfte Bernie, ihr verdrossener Führer. Ein Kerl wie ein Schrank, mit Oberarmen wie Ofenrohre. Er schleppte einen mit Steigeisen, Karabinerhaken und Seilen vollbeladenen Bergrucksack mit sich, mit dem er es bis zum Himalaya schaffen würde. Bernie hatte sie gewarnt, er hatte am Morgen auf der Diavolezza vom Weitermarsch abgeraten. „Herrschafte, mr bliiebe do. Des wird nünt meh hit!“. Und damit es auch die Amerikaner verstanden: „Dätts än räiny morning. Wiee schuddent wook ower the glassijeh!“ Da war das Sauwetter bereits über den Piz Bernina gekrochen und hatte erwartungsfroh die Zähne gefletscht. Doch die beiden Paare hatten die Dollarbündel gezückt, sie wollten unbedingt die Gletschertour zu Ende bringen. Bernie hatte kurz seinen gelben Schnauzbart gezwirbelt, dann war er weich geworden: „Zwi Persone brüüchte mr no. Dennoh däte mrs probiere!“

Die zwei waren schnell gefunden. Armin der Blödmann. Was immer ihr sportiver Freund unternahm, Mona besaß kein Mitspracherecht. Armin plante Kajakfahrten, Drachenfliegen, Go-Kart-Rennen, Mountainbike-Touren und Tauchkurse. Mona wurde nie gefragt. Sie musste mitmachen. So war sie auch in diese idiotische Gletschertour geraten. Jetzt blieb sie stehen und betrachtete diese seltsam weiße Hand. Irre! Über die bläuliche Eiswand des Gletschers, aus der die Pranke herausragte, floss das Regenwasser in Strömen. Deshalb bemerkte Mona den dunklen Schatten nicht gleich, der sich in Fortsetzung der Hand im ewigen Eis verbarg. Zaghaft: „Hey, Armin, warte mal!“ Aber der war schon etliche Meter weiter getrottet, den Blick immer auf die Bergstiefel seines Vordermannes gerichtet, die Ohren hinter der Goretex-Kapuze seines Anoraks hermetisch abgeriegelt. Armin hörte sie nicht. Er vernahm höchstens das Prasseln des Regens und das Gurgeln des Wassers, das in der Gletscherspalte abfloss.

Bernie hatte den Weg durch diese begehbare Spalte gewählt, weil es oben auf dem glattgespülten Gletscher viel zu gefährlich gewesen wäre. Nach dem Zusammenfluss von Pers- und Morteratsch bahnte sich die gemeinsame Gletscherzunge ihren Weg in steilem Gelände talwärts. Große Klüfte durchzogen hier das Eis. Normalerweise machten die Bergführer einen großen Bogen um diese Spalten. Aber angesichts des sintflutartigen Regens, „mit däm het mr nit rächne chönne“, wählte Bernie einen „Geheimwäg, odder?“ Angeblich nur ihm bekannt.

Mona hegte Zweifel, ob Bernie wirklich ein Bergprofi war. Sie erinnerte sich an einen Fernsehbeitrag, in dem es geheißen hatte, die wirklich professionellen Bergführer gingen niemals bei sich abzeichnendem Unwetter auf Tour. So wie am Morgen die Dollarnoten funktioniert hatten, musste es sich bei Bernie um eine Touristenhure handeln, die bereit war, für Geld auch die blödsinnigsten Touren mitzumachen.

Inzwischen war es früher Nachmittag und sie würden den vermaledeiten Gletscher hoffentlich bald hinter sich lassen und ins Dörfchen Morteratsch absteigen, in den Zug und zurück nach St. Moritz ins Hotel. Warme Dusche, trockene Klamotten, feines Käsefondue mit Rotwein und ab ins Bett. Mona hatte sich den Rest des Tages zurechtgeträumt.

Und nun tauchte diese Hand auf, wie ein Stoppschild mitten auf der Autobahn. Mona schob sich die klatschnassen Haare aus der Stirn und wischte die Augen frei. Es war tatsächlich eine Hand. Und sie gehörte zu einem dunklen Etwas, das im Eis steckte. Der Gletscher spuckte eine Leiche aus.

Sportsmann Armin kehrte mit Bernie zu Mona zurück. „Wo steckst du bloß, du blöde Kuh“, schimpfte er. „Sollen wir ewig im Regen auf dich warten?“

Mona verstand nicht, was er sagte. Sie sah nur, dass er brüllte, mit ausladenden Schritten zu ihr aufstieg und dabei wütend seinen Stock ins Eis hieb. Seine grellgrüne Trekking-Jacke leuchtete durch den Regen wie ein Papagei im Amazonasnebel.

„Hey du Arsch, hast du endlich was gemerkt?“, brüllte Mona durch den Regen zurück. Aber Armin konnte sie ebenso wenig verstehen.

Bernie entdeckte die Hand sofort: „Was isch dös für än Cheib? Iigfrore, odder?” Zu Dritt standen sie um die Fundstelle herum und glotzten. Wasser tropfte von ihren Kapuzen, lief über Nasenund Kinn. Keiner wagte es, das seltsam bleiche Etwas zu berühren.

„S’isch än Maa!“, erkannte Bernie. Er zwirbelte sich den feuchten Bart. Ein Zeichen, dass er nachdachte. „Lecksch mi doch am Füdli!“

Armin zückte sein Handy, um Fotos zu machen. Ganz der Beamte. Erst einmal alles protokollieren. Wenn er gerade nicht auf Abenteuertouren ging oder sportliche Höchstleistungen vollbrachte, saß er als stellvertretender Dezernatsleiter im Landratsamt in Freiburg, wo er Probleme löste, wie er es sah, Probleme auslöste, wie mancher Antragsteller es betrachtete. Jedenfalls brauchte man immer Bilder für die Akten. Also fotografierte Armin die Hand. Mona folgte seinem Beispiel und knipste ebenfalls drauf los. Sie sah es mehr als Fotosouvenir. Schließlich fand man nicht alle Tage so etwas Skurriles im Eis.

Bernie nestelte am Hochsicherheitsreißverschluss seiner wetterfesten Bergführer-Jacke herum und angelte schließlich ein Funkgerät hervor. Er machte Meldung an eine irgendwo im Nebel befindliche, verrauschte Bergwacht-Einheit. Mona lauschte dem knarrenden Wechsel von Fragen und Antworten, die Bernie im Knattern und Knistern vielfältiger Störgeräusche mit seiner Bodenstation austauschte. Sie verstand nur so viel: Leiche im Eis gefunden, untere Morteratsch-Gletscherzunge, schwer zugänglich, Bergung erst nach Regen möglich. Alle drei ermittelten mit Hilfe ihrer Handys die exakten GPS-Daten der Fundstelle. Bernie zückte sein Bärentöter-Überlebensmesser, um an der Stelle im Eis zu kratzen, wo die Hand herausragte. Er gab den Versuch jedoch gleich wieder auf. „Mr mache en nu abenand!“, klagte er, um gleich zu entscheiden: „Dös lömmer d‘Spezialischte mache!“

Fast bedauerte es Mona, als sie die Fundstelle verließen. Ihr war, als winkte ihr die Hand aus ihrem frostigen Käfig nach. Aber Bernie drängte mit Blick zum Himmel auf den schnellen Abstieg. Sie mussten auch die Amis wieder einholen, die ohne Erlaubnis des Führers alleine weitergegangen waren. Und Armin war inzwischen auch ganz in seinem Element: „Das müssen wir umgehend den Behörden melden.“ Das hätte sie sich denken können.

Sie erreichten das Ende der Gletscherzunge, an einer Stelle, wo der Gletscher eine Art Tor bildete, aus dem gurgelnde Sturzbäche strömten. Hier warteten die vier Amerikaner. Gemeinsam stiegen sie über einen bequemen Wanderpfad zum Tal ab. Bernie erstattete Meldung beim örtlichen Gendarmerie-Posten, während der Rest der Gruppe sich kurz im Hotel-Restaurant Morteratsch aufwärmte. Die Amerikaner quartierten sich hier ein. Mona und Armin fuhren alleine mit dem Zug zurück nach St. Moritz.

Armin war nicht sehr gesprächig. Er spielte mit seinem Smartphone und zappte sich mit eingestöpselten Kopfhörern durch verschiedene Apps. Mona hingegen hatte das dringende Bedürfnis, über den grausigen Fund zu sprechen. Nicht dass der Fund sie geschockt hätte. Sie fand das Ganze einfach nur aufregend. Tote machten ihr gar nichts aus. Wie oft bekam sie es in ihrem Job mit Leichen oder Teilen davon zu tun? Das war Alltag am Freiburger Forschungsinstitut BioGen, wo Mona als wissenschaftliche Assistentin arbeitete. Schließlich galt ihr Chef, Professor Dr. Johannes Emanuel Aschendorffer, als Koryphäe auf dem Gebiet der Gen- und Stammzellenforschung, und der schnitt schon gerne einmal an Leichenteilen herum. Schon während der Zugfahrt, erst recht aber später im Hotelzimmer, geisterte deshalb die Gletscherleiche auch als Objekt wissenschaftlicher Neugierde durch Monas Gedanken. Wie lange mochte sie wohl schon im Eis tiefgefroren sein? War es ein Bergsteiger? Ein Bauer? Ein Soldat? Welches Schicksal stand hinter dem Fund?

Für Armin, obergescheit wie er war, stand längst fest: „Das war jemand, der unvorsichtig in schlechtes Wetter geraten ist. Zack, da fiel er in die Gletscherspalte, wurde eingeschneit und tiefgefroren!“

„Ja, ja, wie unprofessionell, bei schlechtem Wetter auf dem Gletscher herumzuturnen“, spottete Mona.

Armin bemerkte die Ironie nicht, wie er überhaupt selten etwas bemerkte. Subtile Zwischentöne waren ihm so fremd wie thailändische Gewürze. Im Hinblick auf Monas zwischenmenschliche Signale besaß er die dicke Haut eines Elefanten. Wichtiger war ihm, dass die Frisur saß, die Sonnenbrille cool wirkte und man seinen geölten Bizeps bemerkte. Der gleiche Pedant, der er in seinem Behördenjob war, war er auch im Hinblick auf seine äußere Erscheinung. Er ging nur zum angesagtesten Friseur, kaufte keine Schuhe, die unter zweihundert Euro kosteten, ließ sich alle zwei Monate die Zähne polieren, war Mitglied einer ambitionierten Mountain-Bike-Clique, die regelmäßig den Freiburger Windmühlen-Berg Roßkopf unsicher machte, trimmte sich darüber hinaus im Abo im Freiburger Fitness-Gym-Zentrum, und ließ es niemals zu, dass Smartphone, Sonnenbrille, Kugelschreiber oder IPhone älter als ein Jahr wurden. Ja, es stimmte, er sah bei alldem blendend aus. Ein großer, sonnengebräunter Typ Anfang Dreißig, mit welligem hellbraunem Haar, breiten Schultern und schmalen Hüften. Ein Hingucker. Das war der Grund, warum Mona mit ihm zusammen war. Man konnte sich so schön mit Armin schmücken. Ihre Freundinnen beneideten sie. Leider war er als Gesprächspartner ein Totalausfall. Und vor lauter Selbstgefälligkeit entging es ihm meistens, dass andere Menschen auch Wünsche und Emotionen hatten. Speziell bei Mona berührte ihn das nicht. Empathie war ein Fremdwort für ihn. Mona war für Armin keine wirklich gleichberechtigte Partnerin, sondern lediglich ein weiteres schmückendes Accessoire, mit ihrem zarten Mädchengesicht ein ganz besonders hübsches. Sie passte so gut auf den Beifahrersitz in Armins BMW Z4 Roadster. So lange sie schlank blieb und bei seinen sportlichen Aktivitäten halbwegs mithalten konnte, hielt er sie für die geeignete Lebensgefährtin.

Die Zugfahrt verlief also ohne ernstzunehmendes Gespräch. Mona grübelte darüber, ob die Gletscherleiche vielleicht ein Ötzi war. Wenn es nun ein Ötzi war? Eine Leiche aus der Steinzeit? Was würde ihr Professor Aschendorffer dazu sagen? Der Gedanke machte sie ganz zappelig.

Nach der Ankunft in St. Moritz duschten sie, genossen im Hotel-Restaurant ein feines Mahl zu Schweizer Monsterpreisen und drehten vor dem Einschlafen noch eine ziemlich eingeübte Sexrunde. Bei Armin ging das in Richtung asiatischer Kampfsportart. Mona kam dabei eher die Rolle des passiven Sparringspartners zu. Sie ließ die Dinge geschehen. Als Armin sich grunzend auf seine Seite wälzte und zufrieden mit seiner Leistung unverzüglich zu Schnarchen begann, blieb Mona mit geöffneten Augen liegen. Sie konnte nicht einschlafen.

Die Gletscherleiche beschäftigte sie. Im Halbschlaf mischten sich Traum, Fantasie und Erinnerung. Ein großer, haariger Yeti brach aus dem Eis und brüllte sie durch das Prasseln des Regens hindurch an. Seine Schnauze mit Raubtiergebiss verwandelte sich in das kantige Kinn von Armin, der unverwandt weiterbrüllte. Es hörte sich an, als ob jemand eine Schallplatte in der falschen Geschwindigkeit abspielte. Das Gebrüll zog sich zäh in die Länge. Mona wollte davonlaufen. Da packte sie eine Hand, die aus dem Eis herausragte und hielt sie fest. „Was hämmer do für en Cheib?“, echote es mit der Stimme des Bergführers Bernie aus dem Regen.

Schweißgebadet wachte Mona aus ihrem Dämmerschlaf auf. Sie setzte sich im Bett auf. Armin schnarchte selbstzufrieden neben ihr. Der Radiowecker zeigte 0.47 Uhr an. Hatte sie so lange geschlafen? Sie dachte an ihren Chef, Professor Aschendorffer. Wenn der das wüsste! Sie kannte Aschendorffers Interesse an Leichen. Ganz besonders an mumifizierten und eingefrorenen. Die waren sein Steckenpferd. Sie musste ihren Chef anrufen.

*

Bei Professor Dr. Johannes Emanuel Aschendorffer klingelte das Handy um 0.50 Uhr. Er war noch wach. Aschendorffer war fast immer wach. Er schlief drei oder vier Stunden. Höchstens. Ansonsten las er. Jede Nacht las er ein Buch, manchmal auch zwei. Es gehörte zu den vielen phänomenalen Fähigkeiten des Professors, dass er Bücher im Schnelldurchlauf lesen konnte. Er schlug eine Seite auf, ließ den Blick einmal von links oben nach rechts unten wandern und blätterte um. In maximal drei Stunden war er durch. Was er einmal gelesen hatte, das blieb in seinem Gedächtnis gespeichert wie in einem Computer. Er vergaß nichts. Bei der Lektüre war er nicht wählerisch. Bevorzugt nahm er sich große Schinken der Weltliteratur vor. Zwischendurch verspeiste er politische Biografien, Sachbücher zur Weltgeschichte, Ratgeber, Kochbücher, Reiseführer, theologische Schriften, naturkundliche Werke, ganze Lexika, naturwissenschaftliche Lehrbücher, indizierten Schweinekram, kurzum, alles, was ihm in die Finger kam. Nach „Feynmans Vorlesungen über Physik, Band 1, Mechanik, Strahlung und Wärme“, das er gestern mit Begeisterung beendet hatte, steckte er heute mitten in Tolstois „Krieg und Frieden“. Soeben erschoss Pierre den Draufgänger Dolochow, da klingelte das Telefon. Der Professor strich sich genervt durch sein farbloses, struppiges Haar. Sein Blick, trübe wie eine undurchsichtige Regenpfütze, wanderte verwirrt durch das unordentliche Wohnzimmer, das er behauste. Das Telefon klingelte aufdringlich unter einem Stapel von großformatigen Computerausdrucken, die mit endlosen Zahlenkolonnen übersät waren. Aschendorffer wühlte mit seinen dünnen Stubenhockerärmchen darin herum, wie eine andalusische Bäuerin im Brotteig. Er schichtete den Papierstapel um, vergrößerte damit das Chaos, das ohnehin schon auf dem Wohnzimmerboden herrschte. Wie Inseln im Meer, so lagerten auf dem ausgetretenen Teppich verschiedene Stapel von Akten, Büchern, Folien, Zeitschriften und Computerfahnen. Letztere rollten sich zu abenteuerlichen Achterbahnen, die sich Girlanden gleich um die verschiedenen Papierberge wanden. Jede dieser gestapelten Inseln verkörperte ein Forschungsthema. Der Professor pflegte sich mit jeweils einem halben Dutzend und mehr Forschungsthemen gleichzeitig zu umgeben. Ansonsten bestand das Wohnzimmer aus heillos überladenen Bücherregalen an jeder Wandseite, einem großen Arbeitssessel und einem ringsum von Büchern und Folianten zugebauten Schreibtisch, auf dessen im Papier ertrinkender Arbeitsfläche ein Notebook aufgeregt blinkte.

Besucher hätten diesen Raum zweifellos beim ersten Anblick als die Behausung eines Messies identifiziert. Die Wohnung verfügte noch über ein mit Büchern vollgestelltes Schlafzimmer, eine spartanisch eingerichtete Küche von der Größe eines Campingwagens und eine Toilette, die der Hauseigentümer einst mitsamt einer Duschkabine in einen ehemaligen Putzschrank hineingebaut hatte.

Der Professor verdiente – ohne Vortrags- und Autorenhonorare – ungefähr eine Viertel-Million Euro im Jahr. Die hochdotierten Preise, die es so regelmäßig hagelte, dass man darauf beruhigt eine Hypothek hätte aufnehmen können, nicht mitgerechnet. Locker hätte Aschendorffer sich eine Villa in der Wiehre oder in Herdern leisten können, dort, wo traditionell die Freiburger Professoren wohnten oder deren arbeitsscheue Kinder und Kindeskinder. Aber Aschendorffer dachte gar nicht daran, sein Geld in einer Immobilie anzulegen. Es strömte unablässig auf sein Konto bei der Sparkasse Freiburg-Nördlicher Breisgau und brachte höchstens die dortigen Vermögensberater zur Verzweiflung, weil sie nicht damit spielen durften. Johannes Aschendorffer war weltlichen Verlockungen gegenüber in einem Maße gefeit wie die Menschheit es seit Diogenes nicht mehr erlebt hatte. Er besaß kein eigenes Auto, nicht einmal einen Führerschein, trug Kleidung aus dem Hause C&A, ernährte sich aus der Dose und mithilfe diverser Pizza- und Döner-Bringdienste, besaß weder Schmuck noch technisches Spielzeug – nicht einmal einen Fernsehapparat –, und er leistete sich nie einen Urlaub. Dafür war ihm die Zeit zu schade.

Und so wohnte er eben in dieser viel zu engen, unkomfortablen Etagenwohnung unter dem Dach eines Acht-Familien-Hauses in Freiburgs fadestem Wohnbezirk, im Stadtteil Brühl-Beurbarung. Für diese Standortwahl gab es nur einen Grund: die Wohnung lag ziemlich nahe am Forschungsinstitut BioGen im Industriegebiet Nord, so dass der Professor jeden Morgen zu Fuß zur Arbeit gehen konnte. Jetzt kraxelte Aschendorffer auf allen Vieren über einen seiner Papierhaufen und versuchte, das Telefon hervorzuziehen, ohne das labile Papierkonstrukt aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die Architektur des Stapels besaß nämlich eine chronologisch-inhaltliche Logik, und die wäre zunichte, würde Aschendorffer einfach alles umwerfen, um an sein Telefon zu kommen.

Er schaffte es schließlich ohne Kollateralschäden. Die Stimme seiner Assistentin meldete sich: „Professor, endlich gehen Sie dran! Hier ist Mona! Ich rufe aus dem Urlaub an. Es ist wichtig. Wir haben eine gefrorene Leiche gefunden.“

Die Stimme seiner hübschen Assistentin weckte in Aschendorffer unverzüglich unsittliche Gedanken. Niemals hätte er es gewagt, das „Fräulein Mona“, wie er sie nannte, im Institut auch nur andeutungsweise anzubaggern. In den dortigen Laboren stierte er ihr lediglich nach, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Aber zu Hause in seinen vier Wänden, insbesondere vor dem Einschlafen im Bett, da brachen alle in seinen 35 Lebensjahren angestauten sexuellen Fantasien über ihn herein, und in ihrem Mittelpunkt stand Mona, insbesondere ihre primären und sekundären Geschlechtsmerkmale. Das war sein ganzes Sexualleben. Eigentlich war der Professor noch Jungfrau. Weder hätte er es gewagt, aktiv nach einem weiblichen Wesen Ausschau zu halten, noch es anzusprechen. Seine Verklemmtheit reichte so weit, dass er den Blick bereits verschämt niederschlug, wenn eine Frau auch nur den gleichen Raum betrat.

Dienstlich konnte Professor Aschendorffer allerdings Frauen gegenüber herrisch und kühl auftreten, selbstbewusst bis zur Arroganz, weil er ein künftiger Nobelpreisträger war.

Und dieser Anruf mitten in der Nacht erwies sich als ein dienstlicher. „Erzählen Sie!“, forderte Aschendorffer seine Assistentin auf. Sie erzählte die Geschichte von der Tour über den Morteratsch-Gletscher. Einzelheiten über die Route und über das Verhalten des Bergführers interessierten den Professor nicht. Hingegen zog er Mona jedes Detail über die Beschaffenheit des Eises, das Aussehen der Hand und über die noch im Eis steckenden Hauptbestandteile der Leiche aus der Nase. Und ganz spezifisch interessierte er sich für die Wetterverhältnisse und die Pläne der schweizerischen Bergwacht, die Leiche aus dem Gletscher zu bergen. „Wir müssen ihnen zuvorkommen!“, flüsterte er einmal ergriffen. Professor Dr. Dr. Johannes Emanuel Aschendorffer war ein eingefleischter Fan tiefgefrorener Leichen. Gelegentlich besorgte er sich welche über die Gerichtsmedizin. Unter dem Vorwand, Auftragsobduktionen durchzuführen, eine Kunst, in welcher der Professor es zu unerreichter Meisterschaft brachte, schwätzte er den Amtsbehörden hin und wieder einen vermeintlichen Selbstmörder, eine Baggerseeleiche oder einen Verkehrstoten ab. Meistens aber musste er sich mit Tierkadavern begnügen. Im privaten Forschungsinstitut BioGen, dessen wissenschaftlicher Leiter Aschendorffer war, wusste niemand so genau, an was der Professor nun eigentlich forschte, wenn er Organe sezierte, Stammzellen züchtete, an Genen herummanipulierte und wässrige Kulturen durch Zentrifugen jagte. Zwischendurch schnippte er mit den Fingern – und schwupps, hatte er ein neues, wirkungsvolles Arzneimittel gegen Kopfschmerzen aus dem Reagenzglas gezaubert. Das reichte, um ein Jahresbudget des Instituts locker zu finanzieren.

Das reichte auch seinem aufgeblasenen Chef, dem kaufmännischen Geschäftsführer und Institutsleiter Jens-Merten Föllstiegel, einer ahnungslosen, selbstgefälligen Niete, um den Professor machen zu lassen. Hauptsache Geld kam herein.

Seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Labor verehrten und bewunderten den Professor wie die Jünger ihren Messias. Aber ganz sicher verstanden sie nicht die Hälfte von dem, was er tat. Dabei war Aschendorffer durchaus von einer Riege hochkarätiger Wissenschaftler umgeben, die alle selbst denken konnten. Da waren seine Stellvertreterin, Dr. Frederike Biesthal, Biochemikerin, eine kalte Schönheit, emanzipiert wie ein Haifisch, Dr. Murji Amresh, der Molekularbiologe aus Indien, die Doktoren Schröder (Onkologie und funktionelle Genetik) und Westphal (vaskuläre Biologie und Entwicklungsbiologie), und selbst Assistentin Fräulein Mona blickte auf ein – wenn auch abgebrochenes – Studium der Humanbiologie zurück.

Nun schickte sie per Mail einige der Handyaufnahmen, die sie im Gletscher von der Hand im Eis gemacht hatte. Aschendorffer beugte sich über den Bildschirm seines Laptops und studierte jede Einzelheit, zoomte die Härchen und die Poren heran, als wollte er Fingerabdrücke nehmen.

Als Nächstes mailte Mona auf Geheiß des Professors die GPS-Daten von der Fundstelle.

„Bleiben sie dran!“, kommandierte Aschendorffer, ehe er an seinem Bildschirm Landkarten aufrief, Google-Earth bemühte, alles über den Gletscher und seine Geschichte las und nebenbei eifrig Notizen machte.

„Professor, was ist los? Was sagen Sie?“, fragte Mona nach längerer Wartezeit. Das Telefon lag auf dem Fußboden. Der Professor hatte Mona vor lauter Begeisterung glatt vergessen. Irgendwann, nach einer oder zwei Stunden, wäre sie ihm wieder eingefallen. Dann hätte er wieder in den Telefonhörer gesprochen und sich gewundert, wenn sie bereits aufgelegt hätte. Das hätte er für völlig unangemessen gehalten und bei nächster Gelegenheit gebührend gerügt. So aber machte sie sich selbst laut bemerkbar: „Professor! Was ist los?“

Aschendorffer wollte antworten, da vernahm er durch den Hörer die verschlafene Stimme von Monas Freund Armin: „Hey, was brüllst du denn so herum? Du weckst ja das ganze Hotel auf.“

„Pschcht, nicht so laut“, besänftigte Mona.

„Wer ist hier laut? Mit wem telefonierst du eigentlich?“

Aschendorffer hörte alles mit. Er griff ein: „Fräulein Mona? Ja? Ist das Ihr Freund, der da redet? Was weiß er?“

„Keine Sorge Herr Professor, er schläft gleich wieder ein.“

„Mit wem telefonierst du da. Dein Chef? Ist das etwa der verrückte Professor?“, dröhnte Armins wütende Stimme aus dem Hörer.

„Sei doch still!“

„Wieso soll ich still sein? Du telefonierst doch in einer Lautstärke herum ...“

„Hören Sie, Fräulein Mona“, flüsterte Aschendorffer. „Gehen Sie auf die Toilette. Nehmen Sie das Telefon mit. Ich möchte nicht, dass Ihr Freund alles mithört, was ich Ihnen sage.“

Bettzeug raschelte.

„Wo willst du hin?“

„Aufs Klo! Siehst du doch!“

Eine Tür klapperte. Ein Schlüssel wurde umgedreht.

„So, ich habe mich eingeschlossen. Er kann uns nicht mehr hören.“

„Gut so!“, lobte der Professor. „Jetzt passen Sie gut auf, was ich Ihnen sage. Und zu keinem Menschen ein Wort darüber. Zu niemandem! Haben Sie verstanden?“

„Ja, ja! Aber ...?“

Aschendorffer setzte ihr seinen Plan auseinander. Der wichtigste Satz lautete: „Ich schicke Herrn Kaymal. Er soll die Leiche bergen.“

*

Meslut Kaymal war der Chef einer türkischen Putz- und Hausmeisterfamilie, die im Institut die Büros und Labors reinigte und den Schlüsseldienst versah. Ganz genau wusste man das nicht, aber die Familie bestand aus mindestens drei Ehefrauen und sieben Töchtern. Söhne gab es keine, dafür aber ein schier unüberschaubares Heer von Brüdern, Cousins, Onkeln und weiteren ferneren Verwandten. Je nach Bedarf wurden sie in den Betrieb mit eingespannt. Aschendorffer und die anderen Institutsmitglieder hatten es aufgegeben, Verwandtschaftsbeziehungen zu ergründen. Da hätte man gleich ein anatolisches Sippenverzeichnis in Auftrag geben können.

Meslut Kaymal saß am Steuer, neben ihm ein dunkler, schnauzbärtiger Typ mit grimmigem Blick und furchterregenden Augenbrauen, und rechts außen im Führerhaus des Lieferwagens saß der Professor. Gegen fünf Uhr am Morgen hatte Kaymal ihn vor dessen Wohnung abgeholt. Ungeduldig hatte Aschendorffer dort schon gewartet: „Herr Kaymal, Sie haben über vier Stunden gebraucht, einen Lieferwagen zu organisieren. Das kenne ich nicht von Ihnen.“ Meslut Kaymal blickte den Professor mit seinen schwarzen Dackelaugen unterwürfig an: „Isse abber nicht normale Lieferwage! Isse Eiswage!“

„Ein Eiswagen?“, der Professor runzelte die Stirn.

„Gefrierewage“, verbesserte Kaymal. „Kannsch du mache Kühlschrank hinte drinne.“ Er klopfte stolz auf die seitliche Schiebetür. Dort prangte ein großer rotblau auflackierter Schriftzug „bofrost“. Darunter war das Foto eines in viele leckere Scheiben zerschnittenen Rollschinkens abgebildet, ungefähr so groß wie ein komplettes Mastschwein. Über allem stand der Slogan: „Frische und Genuss – tief gekühlt direkt ins Haus.“ Der Professor nickte anerkennend: „Ein Kühlfahrzeug! Hervorragend. Wo hast du den Wagen so schnell mitten in der Nacht herbekommen?“

Kaymal lächelte bescheiden, wie stets, wenn ihm großartige logistische Leistungen gelungen waren: „Habe ich Bruder, der wo isse Fahrer von kalte Wage.“

„Aha, ausgeliehen!“, kombinierte der Professor. Er wollte es nicht genauer wissen, weil er ahnte, dass jedes Hinterfragen eine Reihe zweifelhafter, höchstwahrscheinlich gesetzeswidriger Handlungen ans Licht brächte.

„Und wer ist das da?“, fragte Aschendorffer, als er einsteigen wollte und auf dem Mittelplatz im Führerhaus bereits der Schnauzbart saß.

„Isse andere Bruder.“

Die Antwort reichte dem Professor nicht. Er ließ seinen fragenden Blick auf „andere Bruder“ ruhen und schnarrte: „Und? Wozu brauchen wir ihn?“ Es gefiel ihm nicht, dass noch weitere Personen in sein Vorhaben eingeweiht wurden.

Kaymal grinste und entblößte dabei unter der von einem fadendünnen Schnäuzer gesäumten Oberlippe eine Reihe unglaublich gelber großer Zähne. Ein Eckzahn trug eine protzige Goldkrone. Sie funkelte im Morgenlicht. Kaymal erklärte: „Bruder isse Cheffe von Bergewachtposte auf die Feldberg obe.“ Als sei dort der Gipfel, zeigte er zur Bekräftigung mit seinem dicken Zeigefinger himmelwärts.

„Bergwacht Feldberg?“ Der Professor blickte skeptisch drein. Kaymals „anderer Bruder“ saß unschuldig wie ein kurdischer Flüchtling auf seinem Platz und machte den Eindruck, als verstünde er kein Wort von dem, was gesprochen wurde.

Kaymal schob eine Erklärung nach: „Kann er fahre Ski-Doo-Schlitte!“

„Ski-Doo was?“

Mit dem Daumen deutete Kaymal hinter sich Richtung Lieferwagen: „Ski-Doo! Isse so kleine Schlitte zum Fahre über Schnee und Eiseberg!“ Zur Bekräftigung schürzte er die Lippen und machte ein Gesicht, das Aschendorffer an dem Türken schon kannte. Es drückte in etwa aus: Mach dir keine Sorgen, alles wird gut.

Der Professor wanderte um den bofrost-Lieferwagen herum und zerrte hinten an der Luke. Kaymal kam ihm zu Hilfe und stemmte die Tür auf. Arktische Kälte schlug ihnen entgegen. Der Laderaum des Lieferwagens war fast leer. Keine tiefgefrorenen Leckerbissen. Stattdessen stand im hinteren Teil des Transporters eine große, verschlossene Blechkiste und davor ein gelber Motorschlitten, der mit einer Pritsche zum Transport von havarierten Wintersportlern ausgestattet war. Der Schlitten trug vorne auf der Nase die Aufschrift „Bergwacht“.

Johannes Aschendorffer schüttelte ungläubig den Kopf, nicht ohne innerlich seinem Helfer zu gratulieren. Blendende Idee. Natürlich würden sie ein Transportfahrzeug brauchen, um die gefrorene Leiche vom Gletscher zu holen. Kaymal hatte an alles gedacht.

Sie schlugen die Luke des Lieferwagens zu.

„Und dein Bruder ist bei der Bergwacht Feldberg?“, fragte Aschendorffer skeptisch.

Kaymal nickte: „Cheffe dort!“, bekräftigte er.

Also zwängte der Professor sich auf den Beifahrersitz neben Kaymals Bergwacht-Bruder, der aber keinesfalls wie ein Bergwacht-Chef aussah. Hätte er sonst Sandalen und kurze Hosen getragen? Die Fettspritzer auf dem kurzärmeligen Hemd des Bruders sprachen auch eine andere Sprache. Überhaupt roch es streng nach Dönerbude. Kaymal startete den Wagen. Aschendorffer seufzte. Er hatte einen Kühlwagen, einen Motorschlitten, zwei zu allem bereite türkische Helfer, er kannte die exakten Koordinaten vom Fundplatz der Gletscherleiche. Was wollte er mehr?

Die Fahrt ging durch Nieselregen auf der A5 Richtung Basel und Schweizer Grenze. Der Professor vertiefte sich in einen Wälzer mit dem Titel „Zur Flora der Sedimentgebiete im Umkreis der Südrätischen Alpen“. Er sprintete in gewohnter Manier durch die Seiten. Die beiden Türken qualmten stinkende Balkanzigaretten. Die Lüftung des Lieferwagens surrte auf Hochtouren, um den Qualm ins Freie zu befördern. Aschendorffer fühlte sich nicht belästigt. Der Professor war zwar hundertprozentiger Nichtraucher und Antialkoholiker, aber keineswegs ein Gesundheitsfanatiker. Es machte ihm nichts aus, wenn er von Zigarettenqualm eingenebelt wurde. Im Autoradio lief SWR3: Das Wetter würde nicht besser werden, regnerisch und kalt, so, wie es Ende September in der Schweiz zu erwarten war.

Ohne Schwierigkeiten kamen sie über die Grenze in Basel. Kaymal hatte kurz zuvor eine bereits mehrfach gebrauchte, geschickt präparierte Schweizer Autobahnvignette aus seiner Brieftasche gezaubert und auf eine Art und Weise auf der Windschutzscheibe befestigt, dass er sie jederzeit wieder abnehmen konnte. Die Schweizer Grenzposten belästigten sie nicht. So fuhr das Trio ohne Pause in gesetzeskonformem Tempo auf der Autobahn über Zürich nach Chur, von dort in immer heftiger niederprasselndem Regen auf der Schnellstraße nach Lenzerheide, Silvaplana, St. Moritz, wo der Regen in leichten Schneefall überging. Dann bogen sie auf die Via da Bernina Richtung Pontresina und Morteratsch ab.

Alles ging gut. Ihnen begegneten kaum andere Autos. In Morteratsch lag die Hauptstraße verlassen im Schneeregen. Das Dorf befand sich im Postkartenmodus. Still und leer. Einheimische und Touristen saßen noch beim Frühstück. Die Tachouhr im Lieferwagen zeigte kurz nach neun Uhr. Kaymal fand sofort die Stelle, wo der Gletscherlehrpfad zum Gletscher ins Gelände führte. Ein großes Verbotsschild zeigte an, dass dieser Wanderweg für Fahrzeuge gesperrt war. Kaymal wendete und steuerte den Lieferwagen im Rückwärtsgang in den schmalen Schotterweg hinein. „Fahre so weit wie komme.“ Aschendorffer kontrollierte die GPS-Koordinaten. Der „andere Bruder“ schwieg und qualmte.

*

Eine knappe Stunde später standen sie in der Gletscherspalte, die den Leichnam barg. Inzwischen segelten kirschgroße, fette, weiße Schneeflocken vom Himmel. Die Sicht betrug null Meter. Dennoch fand Kaymal mithilfe von Kompass und GPS die Stelle, wo die Leiche im Eis steckte. Kaymals Begleiter steuerte den Motorschlitten, der auf Raupen fuhr, so dass er nicht nur auf Schnee und Eis vom Fleck kam, sondern auch auf Bergwiesen, Schotterhängen und Trampelpfaden, die sie bis zum Erreichen der Gletscherzunge hatten queren müssen. Das war ein abenteuerlicher Ritt gewesen. Die beiden Türken hatten den Schlitten kurzgeschlossen, um ihn zu starten. Professor Aschendorffer wusste, dass dies nichts Gutes bedeutete, sowohl im Hinblick auf die Eigentumsverhältnisse, als auch hinsichtlich der Fahrerqualitäten. Mehr als einmal drohte das Gefährt umzukippen oder steckenzubleiben. Irgendwie schaffte es „anderer Bruder“ aber immer wieder, den Kurs zu halten. Kaymal, der mit Aschendorffer hinten auf der Blechkiste saß, die die beiden Türken auf die Schlittenpritsche geladen hatten, dirigierte seinen Bruder auf Türkisch. Kein Problem für Aschendorffer. Selbstverständlich verstand er Türkisch. Er hatte die Sprache zwar nie gezielt erlernt, aber er kannte sie, wie so viele andere Sprachen auch. Er experimentierte nämlich seit geraumer Zeit mit dem Broca-Areal und dem Wernicke-Zentrum, den beiden Sprachzentren im menschlichen Gehirn. Aschendorffers neurolinguistische Experimente zählten zu seinen vielen Nebenbeschäftigungen. Bei den Kollegen im BioGen lösten sie bisweilen Kopfschütteln aus. Nur wenn der Professor aus heiterem Himmel plötzlich eine kleine Ansprache auf Indisch hielt, schauten alle verblüfft aus der Wäsche und Dr. Murji Amresh lief rot an, weil Aschendorffer ihn als blöden Wichser bezeichnet hatte, der gefälligst Frau Dr. Bliesthal nicht ständig in den Ausschnitt schielen solle. Volltreffer! Was sein Trick dabei war, das verriet Aschendorffer nicht. Aber es sah so aus, als könne er binnen weniger Tage eine völlig neue Sprache in sein Gehirn hämmern und dann auch anwenden. Aschendorffer sprach und verstand auf diese Weise leidlich unter anderem auch Russisch, Chinesisch, Portugiesisch, Finnisch und so etwas Exotisches wie Rätoromanisch. Letzteres könnte ihm vielleicht in dieser Region eine Hilfe sein, sollten sie je auf einen Ureinwohner treffen.

Der Professor inspizierte die Stelle, wo die Leiche im Eis steckte. Die Hand drohte einzuschneien. Aschendorffer blies sorgfältig die dicken Schneeflocken beiseite. Er nahm eine Lupe zu Hilfe, um die Hand Millimeter für Millimeter abzusuchen. Dabei kniete er im Schnee und wackelte mit dem Kopf. Ungerührt von Schneefall und Kälte und als hätte er alle Zeit der Welt, kramte Aschendorffer ein kleines Etui hervor, in dem er medizinisches Besteck verwahrte. Die beiden Türken schlotterten wie frisch geschorene Hunde. Meslut Kaymal schlug sich die Arme um den Oberkörper, um sich warm zu halten. Trotzdem klapperte er mit seinen gelben Riesenzähnen wie ein aus dem Eismeer geborgener Schiffbrüchiger. Sein schweigsamer „Bruder“ hüpfte von einem Bein auf das andere. Seine pelzig behaarten Füße steckten in speckigen Sandalen. Die türkischen Krummsäbelbeine zitterten in den kurzen Hosen und die üppige Behaarung stand in der Kälte ab wie kleine, spitze Stacheln.

Seltsamerweise schien der Professor überhaupt nicht zu frieren. Er widmete sich in aller Seelenruhe seinen Untersuchungen. Jetzt setzte er eine feine Kanüle an und nahm eine Biopsie vor. „Kleine Gewebeprobe“, erläuterte er, mehr zu sich selbst als zu den Türken. Dann trat er einen Schritt zurück und nahm die gesamte Situation in Augenschein. Bis auf die Hand steckte die komplette Leiche im Gletschereis. „Wie kriegen wir den Kerl da nur heraus?“ Der Professor kratzte sich am Kopf. Das Schneekäppchen rutschte ihm in den Kragen. Er reagierte nicht darauf.

„Habbe schon überlegt“, meldete sich Kaymal. Er wies seinen Landsmann an, die mitgeführte Blechkiste zu öffnen. Dort kamen zwei Kettensägen zum Vorschein. Aschendorffer begriff. Die beiden Türken wollten einen kompletten Eisklotz heraussägen. Sie wollten den Leichnam als mobile Tiefkühltruhe bergen. Hervorragend!

Der Professor nickte anerkennend. „Wo hast du die Sägen her?“

„Hab ich Onkel. Isse Holzefaller! In St. Märge!“

Aschendorffer markierte die Umrisse des Leichnams, so wie er ihn hinter der Eiswand vermutete. „Wir müssen sicher gehen, dass wir die Leiche nicht beschädigen. Also machen wir den Eisklotz lieber großzügig. Hier, und hier, und hier!“, eifrig zeigte er die Stellen, wo die Türken sägen sollten.

Nach mehreren Fehlversuchen warfen Kaymal und sein Gehilfe mit vor Kälte klammen Fingern die mächtigen Motorsägen an. Sie knatterten gierig und stießen gewaltige Abgaswolken aus.

Die beiden Türken frästen sich von zwei Seiten ins Eis. Es ließ sich schneiden wie Butter, dennoch war es Schwerstarbeit. Kaymal schwitzte trotz der Kälte nach wenigen Minuten. Zwischendurch hielten die beiden inne, damit Aschendorffer den Fortschritt der Arbeiten überprüfen konnte. Aschendorffers Helfer ackerten wie echte Holzfäller. Beide Männer waren, anders als Aschendorffer, keine halben Portionen. Kaymal besaß den Brustkasten eines olympischen Ringers. Sein angeblicher Bruder sah aus wie Ben Hur mit dem Gesicht von Omar Sharif. Beide schufteten schweigend. Nur gelegentlich stießen sie pfeifend den Atem aus. Sie mussten den Eisklotz von allen Seiten in mehreren Etappen schräg ansägen, so lösten sie das Eismaterial rund um den frostigen Sarg. Schließlich mussten sie auf dessen Rückseite gelangen, um den Fund gänzlich frei zu sägen. Sie bohrten ihn mehr oder weniger aus dem Gletscher heraus.

Aschendorffer erkundete unterdessen das Gelände. Wegen des Schneefalls sah er keine zwei Meter weit. Über dem Morteratsch-Gletscher hing milchiger Bühnennebel. Fette Schneeflocken verdeckten alle Spuren.

Die Blechkiste musste runter von der Pritsche des Motorschlittens. Meslut und sein Partner bohrten zwei Klettereisen in ihren herausgesägten Eisklotz, und zerrten ihn an mächtigen Abschleppseilen aus dem Gletscher heraus. Er glitt fließend in die bereitgestellte Schlittenpritsche, als hätte ein Dutzend Hochleistungsingenieure diesen Vorgang berechnet. Der Schlitten ging in die Knie.

Kaymal grinste: „Steckt drinne wie Schneefittschel!“, kommentierte er.

Der Professor zog tadelnd eine Augenbraue nach oben: „Schneewittchen“, korrigierte er.

Kaymal grinste weiter: „Sagge ich doch: Schneefittschel.“

Die Türken nestelten mit ihren blaugefrorenen Fingern durchnässte Zigaretten aus den Brusttaschen ihrer Hemden und beratschlagten beim Qualmen ihr weiteres Vorgehen. Dies hier war ihr Projekt. Sie zurrten den Eisklotz auf dem Schlitten fest. Der Professor stand zwar daneben, hatte aber nichts zu sagen. Er erfuhr das Ergebnis der Beratungen: „Zwei Mann musse laufe nebbe die Schlitte un abstütze! Ein Mann isse Fahrer! Geht Berge abwärts, isse einfach!“

Das war ein großes Wort. Es war klar, dass Aschendorffer nicht der Fahrer sein konnte. „Ich tue mein Bestes“, versprach er. „Wenn nur der Schlitten nicht umkippt.“

Bevor sie den Platz ihres Grabraubes verließen, deponierten die beiden Türken noch die Blechkiste mit den beiden Motorsägen in dem großen Eisloch, das sie ins Gletschereis gesägt hatten. „Schneit zu und isse weg!“, behauptete Kaymal.

*

Wie sie es schafften, Schlitten, Eis, Leichnam und Professor unversehrt bis zum Lieferwagen zu bringen, bleibt das Geheimnis der beiden anatolischen Hochgebirgsjäger. Es dämmerte bereits, als der Eisklotz mit der Gletscherleiche wohl verwahrt im Kühlregal des Lieferwagens lag. Während Aschendorffer noch immer behaglich warm und entspannt wirkte, zitterten die erschöpften Schwerarbeiter. Kaymal rotzte geräuschvoll in den Schnee, warf die Heckklappe des Lieferwagens zu und verriegelte sie. „Schnell abfahre!“, kommandierte er und kletterte selbst auf den Fahrersitz. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren. Der Scheibenwischer schob emsig Neuschnee von der Frontscheibe. „Und dein Bruder? Wieso steigt er nicht ein?“, fragte Aschendorffer.

Kaymal, wieder eine Kippe im Mundwinkel, nickte zum Heck des Lieferwagens und erklärte trocken: „Musse Schlitte versorge.“

Aschendorffer stierte skeptisch in den Seitenspiegel. Wie sollte das gehen? Wohin konnte der Mann an diesem Ort und um diese Uhrzeit mit dem Schlitten wollen? Über die Berge kroch die kalte Nacht herunter. Dicke Schneeflocken fielen vom Himmel wie sie nicht schöner an Weihnachten fallen können. Morteratsch lag vor ihnen im Schneegestöber, durfte von ihrer Anwesenheit aber möglichst nichts mitbekommen. Der arme Mann stand durchgefroren in Sandalen und kurzen Hosen im Neuschnee. Türken sind normalerweise nicht für Schweizer Gletscher gebaut. Es könnte sein Tod sein.

„Wo will er hin?“

Kaymal blies eine Qualmwolke aus und knurrte: „Musse zuruck auf die Feldberg!“ Dann legte er den ersten Gang ein und steuerte den Bofrost-Eiswagen vorsichtig den zugeschneiten Wanderweg hinunter. Aschendorffer fragte nicht weiter. Sein Vertrauen in Kaymal war grenzenlos. Und um das Wohlergehen des Bruders in Sandalen und kurzen Hosen machte der Professor sich auch keine Gedanken. Fremdes Schicksal. Aschendorffer völlig egal. Hier ging es um Größeres. Um Wissenschaft!

Er nestelte sein Handy hervor und rief Mona an, die in ihrem Hotel in St. Moritz schon voller Ungeduld darauf gewartet hatte. Aschendorffer erklärte nicht viel. Sie solle ihnen auf ihren Namen ein Zimmer in St. Moritz reservieren. Am besten nicht im gleichen Hotel, in dem sie selbst wohnte. Es sprach einiges dafür, ihren Aufenthalt in St. Moritz zu verheimlichen. Hausmeister Kaymal wehrte sich nicht gegen die Übernachtung. Wenn Aschendorffer es verlangt hätte, wäre er auch noch in der gleichen Nacht nach Freiburg zurückgefahren. Aber die Nacht in einem warmen Hotelbett konnte auch der unzerstörbare Meslut Kaymal dringend gebrauchen. Wieso fror Aschendorffer nicht? Das war Kaymal ein Rätsel. Normalerweise war er es gewohnt, körperlich mehr auszuhalten als jeder andere. Aber dieser komische mickrige Professor, an dem nicht viel mehr dran war als an einem verhungerten Radrennfahrer, der zeigte keinerlei Schwäche, keine Anzeichen von Erschöpfung, er fror nicht, er kannte keine Schmerzen, er litt nicht. Nicht einmal unter dem Qualm von Kaymals türkischen Zigaretten. Der Professor war ein körperliches Phänomen. Das war einer der Gründe, warum Kaymal ihm bedingungslos ergeben war. Obendrein war der Professor ein Genie. Der andere Grund.

Wenig später erreichten sie das Carlton in St. Moritz. Aschendorffer hatte während der kurzen Fahrt im Telefonat mit seiner Assistentin darauf bestanden, dass sie „den größten Klotz“ aussucht. „Wir sollten ein bisschen anonym bleiben“, erklärte er schnoddrig, ganz wie es seine Art war. Überhaupt sprach der Professor immer sehr lässig, auf schnippische Art emotionslos. Im gleichen Tonfall, in dem er den kürzesten Fußweg vom BioGen-Institut zum Freiburger Hauptbahnhof erklärte, berichtete er auch von der erstmaligen Verpflanzung eines Hühnerhirns in den Schädel einer Taube. Das war ihm vor einem halben Jahr gelungen. Die Taube konnte danach zwar nicht mehr fliegen, lebte aber noch vier Wochen lang. Auf jeden Fall hätte man an seinem Tonfall niemals erkennen können, ob es sich nun gerade um etwas Wichtiges oder eher etwas Belangloses handelte. Gefühle drückte Aschendorffer nicht durch Sprache aus, sondern durch Aktivitäten. Je hektischer er wurde, je aufgeregter und ungeduldiger, desto größer war seine emotionale Erregung. Jetzt zum Beispiel.

Während der Fahrt ließ der Professor sich von Kaymal die Funktion des Kühlwagens erläutern. Permafrost war garantiert, auch wenn sie den Wagen über Nacht in der Hoteltiefgarage abstellten. Das stellte den Professor zufrieden.

Das Carlton saß als monströses Schloss in prominenter Hanglage mitten in Sankt Moritz und blickte aus einer zwölfstöckigen Suiten-Front gelassen auf den Ort und den dazugehörigen See hinunter. Der Professor stolzierte ein, zückte seine Kreditkarten und wurde auf der Stelle kniefälligst umsorgt. Er gehörte zu jener Sorte von Menschen, denen Dienstpersonal sofort die Bedeutung ansah. Dazu brauchte er keine Worte, schon gar nicht prunkvolle Kleidung und auch keinen Porsche draußen vor der Hotelzufahrt. Es genügte ein messerscharfer Blick, damit ihm das Personal an der Rezeption alle Wünsche erfüllte. Währenddessen brachte Kaymal den Lieferwagen in die Tiefgarage. Aschendorffer versicherte sich, dass Mona alle seine Anweisungen umgesetzt, ihnen getrennte Zimmer reserviert, frische Kleidung besorgt und schon den Tisch zum Abendessen reservierte hatte. Sie telefonierten kurz miteinander. Aschendorffer legte Wert darauf, dass Monas Freund Armin weiterhin nichts von seiner Anwesenheit wusste. Er erfuhr, dass sich die Bergwacht und ein Beamter der Schweizer Gendarmerie bei Mona angemeldet hatten, um deren Aussagen zu protokollieren. Die Schweizer Obrigkeit beabsichtigte, angemessenes Wetter vorausgesetzt, den Gletscherleichnam am nächstfolgenden Werktag zu bergen.

Aschendorffer und Kaymal nahmen im Hotelrestaurant ein mehrgängiges Abendessen unter Kronleuchtern ein, bei dem Kaymal vor Erschöpfung mehrfach einzuschlafen drohte. Der Professor klopfte ihm dann mit dem schweren Silberlöffel auf den Handrücken. Ein Schwarm pinguinähnlicher Kellner umsorgte die beiden späten Gäste. Dass man gemeinhin in diesem Ballsaal in festlicherer Garderobe zu speisen pflegte, war dem Erscheinungsbild der übrigen Gäste zu entnehmen. In dieser Hotelkategorie waren die Bediensteten schrullige Typen aller Art gewohnt.

Später führte Aschendorffer sich das kostenpflichtige Porno-Video-Angebot des Hotels zu Gemüte – stets die Stimme Fräulein Monas im Ohr und ihr Bild im Kopf. Er lag noch lange wach und schmiedete Pläne hinsichtlich der gekaperten Gletscherleiche. Er wusste genau, wie er vorgehen wollte: Zuerst würde er die Gewebeproben analysieren, das genaue Alter, Herkunft und spezifische Eigenheiten des Leichnams ermitteln. Vom Zustand insgesamt wollte er dann das weitere Vorgehen abhängig machen. Vielleicht war es ja möglich ...? Nein, er wollte nicht zuviel träumen. Noch nicht.

Hatte er am Abend noch wie der vernichtend geschlagene Hauptmann des osmanischen Sultans gewirkt, so sah man Meslut davon am nächsten Morgen nichts mehr an. Frisch wie ein Animateur stand er dienstbereit auf der Matte und klopfte den Professor aus dem Zimmer. Ohne Frühstück checkten sie aus und verließen das Hotel durch die Tiefgarage. Der Eisblock im Lieferwagen, so versicherte Kaymal, befand sich noch unversehrt im Kühlraum, solide tiefgefroren. Aschendorffer konnte es nicht mehr erwarten, möglichst bald mit dem Leichnam ins Institut zu kommen. Kaymal fuhr trotzdem nicht schneller als erlaubt. In Basel bog er in den innerörtlichen Verkehr Richtung Riehen ab. Aschendorffers fragenden Blick beantwortete er mit der verschwörerischen Auskunft, einen „Schleichewege“ über die Grenze zu kennen. An dem kleinen Grenzübergang zwischen Riehen und Lörrach werde nicht kontrolliert. „Nixe Risiko!“

Kaymal konnte nicht alles wissen, und er hatte nicht immer Recht. Am Grenzübergang trat ihnen ein bundesdeutscher Zollbeamter in den Weg und zwang sie mit einer Kelle zum Anhalten. Sein Kollege saß ein paar Meter weiter im zivil getarnten Einsatzfahrzeug. So ein Pech. Sie waren zufällig in eine Stichprobenkontrolle geraten.

Kaymal bleckte die Zähne und kurbelte die Seitenscheibe herunter. Ganz höflich: „Nixe zu verzolle! Bringe tiefekühle Gemuse!“

„Ihre Papiere bitte!“

Sie streckten ihre Ausweise aus dem Fenster. Kaymal zeigte die meterbreite Front seiner gelben Zähne und hatte erstaunlicherweise auch die Fahrzeugpapiere des Lieferwagens parat. Darunter auch einen zerknitterten, mehrfach gefalteten Frachtgutlieferschein.

Der Zollbeamte nahm alles gründlich unter die Lupe und reichte eines nach dem anderen wieder ins Führerhaus zurück. Beim Frachtgutlieferschein stutzte er. „Das ist auf Türkisch ausgefüllt!“

„Isse korrekt!“, bestätigte Kaymal strahlend.

Unwillig schüttelte der Beamte den Kopf. „Das kann ich leider nicht lesen. Was haben Sie geladen?“

Aschendorffer, der sich vorgebeugt hatte, um besser zu verstehen, geriet ins Schwitzen. War jetzt alles verloren? Wie kam Kaymal dazu, Papiere auf Türkisch auszufüllen? So ein Vollidiot. Das musste ja schief gehen.

Kaymal zog dem Zollbeamten sanft den Lieferschein aus den Händen und übersetzte, was dort stand: „Isse tiefekühle Lebensmittel. 17 Kilogramme von Pizza, 31 Kilogramme von Fische, 24 Kilogramme von Gemuse, 20 Kilogramme süsse Eise, 40 Kilogramme ...“

War der Kerl wahnsinnig? Aschendorffer kniff Kaymal unauffällig in den Oberschenkel. Aber der fuhr ungerührt fort: „ ... 55 Kilogramme halbe Pilic ...“

„Pilic?“, fragte der Zollbeamte.

„Isse Bratehähne“, korrigierte Kaymal.

„Brathähnchen, ah so!“ Der Zollbeamte hatte verstanden. Er hörte sich noch einige weitere Sekunden lang Kaymals Aufzählung an, dann bat er: „Öffnen Sie doch mal den Laderaum!“

Aschendorffer wog seine Flucht- gegen seine Ausredenalternativen ab. Beide waren wenig ermutigend. Kleinlaut stieg er aus. Kaymal und der Grenzwächter standen bereits hinter dem Lieferwagen. Kaymal löste den Sicherungshebel und klappte die Ladetür auf. Das Innere des Kühlwagens war bis unter das Dach mit Bofrost-Waren gefüllt: Fertigpizzen, gestapelte Gemüseportionen, Fleischmenüs, Speiseeis, hartgefrorene Brathähnchen, handlich wie Rugbybälle, alles von einem feinen Frostreif überzogen. Der Grenzbeamte lies kurz den Blick darüber streifen, tippte mit einem Finger eine Fischstäbchenpackung an, zog sie heraus, prüfte sie kurz und legte sie wieder an ihren Platz.

„Alles in Ordnung. Sie können weiterfahren!“

Kaymal grinste und machte einen devoten Bückling. Aschendorffer stand daneben und glotzte ungläubig. Wo war ihr Eisblock? Hatte Kaymal etwa den Lieferwagen verwechselt?

„Nixe vowechsle“, beschwichtigte der seelenruhig, als sie endlich auf deutsches Hoheitsgebiet rollten. „Habbe nur bissele versteckt!“ Er grinste sein Zampanogrinsen und erklärte, dass er am Morgen vor der Abfahrt den Tiefkühllagerraum eines Lebensmittelmarktes in St. Moritz ausgeräumt und den Lieferwagen mit den Waren zugepackt habe.

Aschendorffer klopfte ihm begeistert auf die Schulter. Er wollte nicht genauer nachfragen, was „Ausräumen“ zu bedeuten hatte.

2

Gendarmerie-Feldweibel Urs Rüthli vom Dezernat Kriminalpolizei bei der Graubündener Kantonspolizei in Chur wippte auf seinem ausgesessenen Schreibtischstuhl, während er den ersten Bürokaffee des Morgens trank und dabei die Protokolle aus den einzelnen Polizeiposten las. Da war übers Wochenende wieder einiges los gewesen: Ein amoklaufender Ehemann in Arosa, Fahrerflucht in Chur, randalierende holländische Hotelgäste in Flims, ein Fall von illegaler Prostitution in Lenzerheide, die Kollegen in Silvaplana hatten einen völlig unterkühlten türkischen Obdachlosen in einer Garage aufgegriffen und vor dem Erfrieren gerettet, der Polizeiposten Samedan meldete den Fund eines herrenlosen deutschen Bergwacht-Ski-Doos in der Flaz. Sachen gibt’s! Rüthli griff sich an die Stirn und fuhr mit der flachen Hand durch das bereits leicht angegraute Bürstenhaar. Kollege Korporal Hürzeler vom Schreibtisch gegenüber registrierte die Bewegung aus den Augenwinkeln und kommentierte sie seinerseits mit einem leichten Anheben der Augenbrauen. Der Rüthli wieder, er regte sich immer auf, wenn irgendwo etwas nicht nach Recht und Ordnung lief. Wie uncool. Hürzeler grinste in sich hinein und widmete sich Wichtigerem.

In Splügen stand ein Hotel in Flammen, in St. Moritz haben Unbekannte im Coop-Markt eingebrochen und die Kühlregale leergeräumt ... Rüthli seufzte. Der Posten Pontresina berichtete von einem Leichenfund im Morteratsch-Gletscher. Rüthli las das Protokoll aufmerksam durch. Die Leiche war noch nicht geborgen. Wegen des schlechten Wetters. Die Unterstützung der Kriminalpolizei wurde angefordert. Seitlich auf den Protokollausdruck hatte der Oberleutnant, Rüthlis Vorgesetzer, ein rotes Ausrufezeichen markiert und „Rüthli“ daneben geschrieben. Das bedeutete, dass er sich noch heute Morgen auf den Weg nach Pontresina machen sollte. Immer noch besser, als der Papierkram auf dem Schreibtisch. Er warf einen Blick zur trüben Fensterscheibe hinaus. Leichter Nieselregen ging über Chur nieder.

Feldweibel Rüthli spähte zum Nachbarschreibtisch hinüber, wo Korporal Pirmin Hürzeler soeben zur dienstlichen Lektüre die „Blick“ aufblätterte. Hürzeler war ein junger Kerl, ein frischer Kollege, der für Rüthlis Geschmack den Beruf nicht ernst genug nahm. Aber er war willig, und Rüthli hatte sich seiner angenommen. „Wir fahren nach Pontresina!“, rief er über die Schreibtische hinweg. „Leichenfund!“.

Widerwillig legte Hürzeler die Zeitung zur Seite und griff nach seiner Uniformjacke. Hürzeler war ein langer Lulatsch, dem die Gendarmerieuniform an den Ärmeln zu kurz, am Kragen zu weit und im Kreuz zu breit geraten war, so dass er darin wirkte wie die Parodie eines Zirkusdompteurs. Aber er stellte keine langen Fragen. Er verließ sich ganz auf Rüthli. Der würde schon wissen, was zu tun war. Er wusste immer Bescheid – ein Vorbild an Diensteifer, Pflichtbewusstsein, Genauigkeit und polizeilicher Aufopferung. In mehr als zwanzig Dienstjahren hatte Rüthli sich vom kleinen Verkehrspolizisten mit mangelhafter Schulbildung langsam und beharrlich nach oben gearbeitet. Dass er es einmal zum Feldweibel mit besonderen Aufgaben bei der kantonalen Kriminalpolizei bringen würde, hätte er sich nicht träumen lassen. Er war kein Überflieger, kein grandioser Ermittler, keine geniale Spürnase. Jeden Schritt, den er tat, überlegte er dreimal und sicherte ihn nach allen Seiten ab. Lieber bewegte er sich gar nicht als falsch. Seine Devise lautete: „Eins nach dem Anderen“. Er verfolgte einen harmlosen Autodiebstahl mit der gleichen Akribie wie einen bewaffneten Banküberfall. Er gehörte zu jener seltenen Sorte von Menschen, die beim kleinsten Online- Kauf die allgemeinen Geschäftsbedingungen ausdruckten und komplett durchlasen. So hielt er es mit jedem Schriftstück, das ihm dienstlich auf den Schreibtisch kam. Er las es zwei- oder dreimal genauestens durch, markierte wichtige Stellen mit gelbem oder grünem Stift, unterstrich einzelne Wörter, bis er sicher war, dass er alles verstanden hatte.

Rüthli war Junggeselle. Frauen hatten es nie lange mit ihm ausgehalten. Oder er nicht mit ihnen. Seine Ansprüche an die äußere Erscheinung einer Frau waren nicht sehr hoch, sie wären an sich kein Hindernis gewesen. Doch seine Erwartungen hinsichtlich der Haushaltsführung und der Rollenverteilung zwischen Mann und Frau hatten bisher noch jede sich anbahnende Zweisamkeit schnell wieder im Keim erstickt. Rüthli erwartete, dass die Frau seiner Wahl mehr oder weniger das eigene Leben aufzugeben und sich ganz in den Dienst ihres Mannes zu stellen hätte. Eine solche Frau hatte er bislang noch nicht gefunden. Das bereitete ihm aber kein Kopfzerbrechen. Er war sich selbst genug, kochte gerne, bügelte akkurat, besorgte seinen Haushalt mit der gleichen Perfektion, mit der er seine Polizeiaufgaben anging und wusste jedes Mal, wenn er auf eine Kontaktanzeige im Bündner Tagblatt reagierte, wie es enden würde. Nämlich mit einem Reinfall. Dass er sich dennoch mit schöner Regelmäßigkeit darauf einließ, hatte etwas mit seinem Pflichtbewusstsein zu tun. Ein Mann hatte die Pflicht, nach einer Frau Ausschau zu halten, nach einer Lebensgefährtin. Das war eine noch unerledigte Aufgabe in Rüthlis Leben.

Aber für den Moment stand eine ganz andere Aufgabe auf dem Dienstplan: die Leichenbergung im Morteratsch-Gletscher. Das konnte ein Fall für die Kriminalpolizei werden, musste aber nicht. Vielleicht war es ein verschollener Bergwanderer. Ein Verunglückter. Höchstwahrscheinlich war es das, die meisten Gletscherleichen waren von dieser Sorte. Aber ein Toter ist ein Toter. Also fuhr Gendarmeriefeldweibel Urs Rüthli zusammen mit seinem Kollegen Korporal Pirmin Hürzeler unverzüglich hinaus nach Pontresina.

Wie er erwartet hatte, trafen sie die ARS-Bergungsmannschaft der Alpine Rettung Schweiz, Rettungsstation 3.01 Pontresina, nicht mehr an. Der aus fünf Bergrettern bestehende Trupp war bereits zusammen mit einem Polizisten der Polizeistation Pontresina aufgestiegen zum Morteratsch-Gletscher, um dort unter Mithilfe des Bergführers Bernie den Leichnam aus dem Eis zu bergen.

„Wann sind sie losgegangen?“

Der Diensthabende in der Polizeistation von Pontresina warf einen Blick auf die Wanduhr und antwortete: „Z’ Nüni!“ Jetzt war es bereits nach 13 Uhr.

Rüthli kommentierte: „Vor vier Stunden. Dann müssten sie doch schon oben sein, oder?“

Der Kollege schüttelte den Kopf.

Korporal Hürzeler studierte unterdessen die Aushänge am Schwarzen Brett in der Polizeistube, was Rüthli missbilligend aus den Augenwinkeln zur Kenntnis nahm. Der Kollege interessierte sich wohl nicht besonders für den heutigen Auftrag.

„Schon Funk gehabt?“

Der Diensthabende verneinte. Rüthli hielt den Blick dackeltreu auf ihn gerichtet, sagte aber nichts, als wartete er auf weitere Auskünfte. Schließlich verstand der Andere. „Sölled mr äss emol ufä probiere?”

„Ja bitte, funken Sie die ARS mal an.“

Sie begaben sich an die Sendestation in der Einsatzzentrale. Rüthli achtete darauf, dass er dem Kollegen aus Pontresina auf dem Fuß folgte. Der sollte bloß nicht das Gefühl haben, die Angelegenheit wäre nicht dringend.

Nach wenigen Versuchen bekamen sie Funkkontakt. Es knarzte und rauschte zwar, als befänden sich die Gesprächspartner auf einer Mondlandemission, doch es funktionierte leidlich.

„Wa isch? No nüünt gfunde? So öbis abber au!” Ein paar Gesprächsfetzen flogen hin und her. Im Wesentlichen transportierten sie folgende Informationen: Der Suchtrupp irrte in den Gletscherspalten umher und der Bergführer wurde gerade irre, weil er die Stelle nicht mehr wiederfinden konnte, wo die Leiche sein sollte. Es regnete. Die Sicht war schlecht. Nein, die Kriminalpolizei werde nicht gebraucht. Auf keinen Fall sollten sie nachkommen. Das bringe gar nichts. Man würde den vermeintlichen Leichnam schon alleine nicht finden, falls es ihn nicht gebe, da brauche man keine Kripo dazu. Ja, klar, wenn es ihn aber doch gebe, dann werde man ihn selbstverständlich finden. Da sei noch weniger Hilfe der Kriminalpolizei vonnöten. Ja, bitte, die Selbige solle doch einfach unten in Pontresina warten und im Puntschella einen Kaffee trinken. Man melde sich wieder.

*

Der ARS-Rettungstrupp irrte tatsächlich im Nebel umher wie Robert Falcon Scotts letztes Aufgebot auf der Suche nach dem Nordpol. Vorneweg ein zunehmend ratloser Bergführer Bernie, dann fünf mit Rucksäcken, Funkgeräten, Tragegestellen, Schlitten, Akia und Eispickeln ausgerüstete Mitglieder der Alpinen Rettung Schweiz sowie, ganz am Ende der Schlange und nass wie ein Putzlappen, der Polizist aus Pontresina, Wachtmeister Luchsinger. Bergführer Bernie schaute betröpfelt aus der Wäsche. Mutlos hing ihm der Bart unter der Nase. Beide tropften. Jetzt wusste er bald nicht mehr weiter. Sie waren die Gletscherspalte erst aufwärts, dann abwärts abgegangen. Es gab keinen anderen Weg. Nur diese eine Spalte war begehbar. Und Bernie wusste genau, dass er hier mit den Amerikanern und dem Paar aus Deutschland durchgekommen war. Aber wo war die Gletscherleiche geblieben?

Thommy, der ARS-Truppführer in seinem schwarzgelben Antarktis-Overall, trat zu Bernie und legte ihm die behandschuhte Hand auf die Schulter. „Lömmers si, Bernie. Was meinsch? Bi dem Pflotsch finde mr nüüt meh, odder?“

Bernie schüttelte den Kopf.

„Nai! I hannen doch sälber gsähne. Un i han kein Aff cha!”

Es nützte Bernie nichts, zu beteuern, er sei nicht betrunken gewesen. Die Blicke der anderen Bergretter, die ihn umstanden wie das Ärztekollegium in der Psychiatrie den Patienten, sprachen Bände. Denn genau das dachten sie, dass er besoffen gewesen sei. Bernie holte noch einmal sein Handy mit den Aufnahmen heraus, die er von der Gletscherhand gemacht hatte. Der Regen lies die Bedienoberfläche sofort schmierig werden, doch es gelang ihm, nachdem er den Handschuh ausgezogen hatte, das Foto aufzurufen. Er zeigte es herum. Zum wiederholten Male. Leider hatte er versäumt, die GPS-Daten mit abzuspeichern. Er schalt sich einen Trottel dafür. Aber jetzt war es zu spät. Nach seinem Empfinden standen sie genau an der Stelle, wo die Hand hätte sein müssen. Doch nichts als tropfendes Eis und Schnee umgab sie. Aber Moment mal? Schnee? Wieso Schnee? Es hatte doch nicht wirklich geschneit. Und hier unten in der zwanzig Meter tiefen Gletscherspalte bestand doch keine Wand aus Schnee? Er boxte gegen die eisige Schneewand, die sogleich in Abertausende von Eisraspeln zersplitterte, in sich zusammenfiel und zu ihren Füßen in das gluckernde Schmelzwasser hineinkalbte. Der Blick war frei auf eine künstliche Höhlung in der Eiswand. Bernie sprang erschrocken zurück, die ARS-Bergretter ebenso. Die Höhlung maß etwa drei auf zwei Meter und ging fast zwei Meter tief ins Eis hinein. Gegenstände lagen darin: zwei Kettensägen, bereits festgefroren. Zwei Benzinkanister. Ein Fülltrichter. Eine große Blechkiste. Verblüffte Kommentare gingen hin und her. Bernie kniete sich auf die Kante und griff in die Höhle hinein, um einen der Kanister herauszuziehen, als ihn der scharfe Ruf von Wachtmeister Luchsinger stoppte: „Nüünt alängä!“

Bernie lies vor Schreck den leeren Kanister fallen, dieser rutschte auf der abschüssigen Eisfläche aus der Höhle heraus, überschlug sich zweimal, schusselte zwischen den Stiefeln der Suchmannschaft hindurch und wurde vom abfließenden Gletscherwasser holpernd davongetragen. Einer der ARS-Männer schnappte den Flüchtling und hielt ihn triumphierend hoch. Dann stellte er ihn wieder zurück in die Eishöhle.

„De Maa isch gmuggät worre“, stellte Thommy nüchtern fest. Bernie nickte. Fast wirkte er erleichtert. Immerhin war jetzt klar, dass er keinen Blödsinn erzählt hatte. Wachtmeister Luchsinger stellte sich so vor die Höhle, dass niemand mehr hineinfassen konnte. Er drückte höchste polizeiliche Entschlossenheit aus. War das hier tatsächlich ein Leichendiebstahl? Die Männer sahen sich ratlos an. Dann besann sich Thommy der beiden Kriminalpolizisten aus Chur, die vor einer halben Stunde über Funk so genervt hatten. „Hol de Funk ussi, mr sotte jetzt doch ämol aariefe“, kommandierte der Truppführer.

*

Im Café Puntschella in Pontresina war es gemütlich warm gewesen und der Blick durch die große Fensterscheibe hinaus aufs Dorfzentrum bot kurzweilige Unterhaltung. Hier hätten es Urs Rüthli und sein Kollege Pirmin Hürzeler auch den ganzen Nachmittag aushalten können. Aber Rüthli zögerte keine Sekunde, als er von der Entdeckung oben im Gletscher erfuhr: „Wir gehen sofort hin!“ Zwanzig Minuten später saßen sie dick vermummt in Dienstanoraks im geländegängigen Spezialfahrzeug des Polizeipostens Pontresina und ließen sich erst die drei Kilometer bis nach Morteratsch und dann von dort auf dem Gletscherpfad auf den nebelumhangenen Berg hinauf chauffieren. Hürzeler, der vollkommen in seinem Anorak verschwand, plädierte unter Berufung auf die fortgeschrittene Uhrzeit und den schwarzen Himmel unablässig für die sofortige Umkehr. „Wir kommen in die Nacht“, jammerte er. Der Geländewagen machte einen Satz. Rüthli hielt sich am Überrollbügel fest. Hürzeler, der Lulatsch, stieß sich den Kopf an und jammerte weiter.

Unterwegs trafen sie Bergführer Bernie mit vier Mann vom ARS-Rettungsteam. Sie hatten sich bereits auf den Rückweg gemacht. Rüthli ermahnte sie, sich anderntags zur Aufnahme eines Protokolls zur Verfügung zu halten und sammelte alle Adressen ein.

Nach zuletzt noch einem 40-minütigen strammen Fußmarsch erreichten sie endlich die Gletscherspalte und die Stelle, an der Anführer Thommy mitsamt einem inzwischen festgefrorenen Wachtmeister Luchsinger wartete. Urs Rüthli lobte den Tapferen als vorbildlichen Beamten, was in diesem die Bereitschaft weckte, noch die ganze Nacht in der Gletscherspalte Wache zu stehen. Rüthli ließ die Stelle zuerst auf sich wirken, während Bergretter Thommy ihm von der Seite die ganze Fundgeschichte noch einmal haarklein erzählte. Nicht ohne mehrfach zu betonen, dass ihm so etwas noch nie vorgekommen sei. Hürzeler fotografierte aus allen Lagen. Rüthli dirigierte ihn: „Klettern Sie mal hier herauf! Jetzt von oben! Jetzt von unten! Sie müssen den Blitz einschalten, odder! So wird das nichts.“

Inzwischen brach die Dämmerung über sie herein. Es wurde Zeit, die Beweissicherung abzubrechen. Rüthli wäre bereit gewesen, Scheinwerfer anzufordern und auch noch während der Nacht in der stark nässenden Gletscherspalte herumzukriechen. Alles Wichtige hatte er gesehen. Glaubte er.

Fachmännisch bargen sie die Beweisstücke, packten sie einzeln in Plastikmüllsäcke, verstauten alles in der großen Blechkiste und verluden diese auf den Rettungsakia von Thommy. Die beiden Kettensägen waren monströse Maschinen, mit Schwertern, so groß wie ein Bügelbrett, geeignet, den halben Amazonas-Regenwald abzuholzen. Rüthli wog eine in den Armen: „Mordsgerät, odder!“

Als Thommy die Blechwanne ein Stück in der Regenrinne weiter schob, die sich unter ihr gebildet hatte, schwemmte das Wasser auch einen kleinen weißen Papierfetzen weg. Rüthli wäre er fast entgangen. Er zog einen Handschuh aus und klaubte das winzige Papierchen aus dem kalten Eiswasser. Hürzeler, der seinen Kollegen kannte, zauberte aus den Tiefen seines Anoraks eine kleine Plastiktüte und hielt sie Rüthli hin. Der streifte das Papierchen in die Öffnung der Plastiktüte hinein und knotete sie dann sorgfältig zu. „S‘ könnt öbbis si“, so verfiel er vor Begeisterung in den heimischen Dialekt. Normalerweise achtete er auf seine kerzengerade, hochdeutsche Aussprache.

Dann schritt Rüthli abermals die Fundstelle ab, inzwischen wegen der Dunkelheit hinter dem buttergelben Strahl einer dicken Polizeitaschenlampe. Es trieb ihn die Sorge um, etwas übersehen zu haben. Am nächsten Tag konnten alle Spuren verweht, verwässert oder verschneit sein. Selbst Wachtmeister Luchsinger, der immer noch in Hab-Acht-Stellung ausharrte, könnte über Nacht verschwinden, wenn sie ihn nicht mitnähmen. Ein Gletscher verschluckte gerne mal auch größere Gegenstände und ohne Probleme auch einen Polizeiwachtmeister. „Bewegen Sie sich!“, befahl Rüthli. „Sie frieren uns sonst hier noch fest.“

Der Grund der Gletscherspalte war glatt wie eine eingeseifte Rutschbahn. Als sie sich auf den Rückweg machten, schlug es erst Korporal Hürzeler auf den Hintern, dann Wachtmeister Luchsinger. Rüthli und Thommy steuerten hinten und vorne an den Haltegriffen den Akia. So schlitterten sie talwärts. Rüthli sah schon die Schlagzeile vor sich: „Kettensäge aus Morteratsch-Gletscher geborgen!“ Zu peinlich! Noch konnte er sich keinen Reim auf den Fund machen. Aber er würde schon herausfinden, was hier geschehen war. Es gab zwar keine Leiche, aber es gab Beweisstücke, es gab Zeugen, es gab Fotos. Er drehte sich zu Hürzeler und raunte ihm zu: „Morgen früh müssen wir Vernehmungen machen und alle Beteiligten befragen, odder! Wenn wir im Polizeiposten sind, machen Sie eine To-Do-Liste!“

Hürzeler stöhnte. Rüthlis Lieblingsbegriff war gefallen: To-Do-Liste! Das bedeutete nichts Gutes. Diese Listen genossen einen legendären Ruf bei der Kriminalpolizei. Und Rüthli wollte sie gleich machen, nicht erst am nächsten Morgen. Nach Hürzelers Zeitempfinden war es bereits Mitternacht. Er war todmüde, nass wie eine Bisamratte und hungrig wie ein Wolf. Wie konnte der Chef jetzt noch eine To-Do-Liste verlangen?

*

Rüthli suchte das deutsche Urlauberpaar Mona Hohner und Armin Röller in ihrem Hotel in St. Moritz auf. Er hatte sie noch am Vorabend zu später Stunde angerufen und sich vergewissert, dass ihr Urlaub noch andauerte und sie für ein Gespräch zur Verfügung standen. Das genervte Mosern von Armin Röller, der etwas von einer geplanten Mountainbike-Tour ins Telefon nuschelte, hatte der Feldweibel ignoriert. Die Frau wirkte am Telefon freundlich.