Das Feuer vergessen wir nicht - Sarah Jäger - E-Book

Das Feuer vergessen wir nicht E-Book

Sarah Jäger

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Beschreibung

Über die Bedeutung des geschriebenen Wortes – der neue Roman von Sarah Jäger («Nach vorn, nach Süden») Ari und Flint jobben aus unterschiedlichen Gründen neben der Schule im Pflegeheim. Zuerst mögen sie sich nicht besonders, doch nach und nach kommen sie sich näher. Eine Beziehung wollen sie aber auf keinen Fall, denn Flint glaubt nicht an die Zukunft und Ari nicht an feste Bindungen. Bei einer Heimbewohnerin finden sie eine wissenschaftliche Arbeit über den Aufstand der Arbeiterinnen einer Zündholzfabrik im England von 1888. Angeregt von dieser Dokumentation beginnt Ari, ihre Geschichte mit Flint aufzuschreiben. Und dann bricht im Pflegeheim ein Feuer aus ...

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Seitenzahl: 209

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Sarah Jäger

Das Feuer vergessen wir nicht

 

 

Über dieses Buch

 

 

Ari und Flint jobben aus unterschiedlichen Gründen neben der Schule im Pflegeheim. Zuerst mögen sie sich nicht besonders, doch nach und nach kommen sie sich näher. Eine Beziehung wollen sie aber auf keinen Fall, denn Flint glaubt nicht an die Zukunft und Ari nicht an feste Bindungen. Bei einer Heimbewohnerin finden sie eine wissenschaftliche Arbeit über den Aufstand der Arbeiterinnen einer Zündholzfabrik im England von 1888. Angeregt von dieser Dokumentation beginnt Ari, ihre Geschichte mit Flint aufzuschreiben. Und dann bricht im Pflegeheim ein Feuer aus …

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischer-sauerlaender.de

Biografie

 

 

Sarah Jäger wurde in Paderborn geboren und lebt seit zwanzig Jahren im Ruhrgebiet. Sie ist IHK-zertifizierte Call-Center-Agentin, ausgebildete Theaterpädagogin und umgeschulte Buchhändlerin. Für ihren Debütroman «Nach vorn, nach Süden» wurde sie vielfach ausgezeichnet.

Impressum

 

 

Erschienen bei Fischer Sauerländer E-Book

 

© 2025, Fischer Sauerländer GmbH,

Hedderichstraßes 114, 60596 Frankfurt am Main

 

Für die Verwendung in der Schule ist unter https://www.fischer-sauerlaender.de/verlag/kita-und-schule/unterrichtsmaterialien ein Unterrichtsmodell zu diesem Buch abrufbar.

Covergestaltung: Cordula Schmidt Design, Hamburg

Coverabbildung: Benjamin Harte/Arcangel

ISBN 978-3-7336-0919-1

 

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

 

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Inhalt

Ich sehe das [...]

Herz

BEGEGNUNG I

ZUHAUSE I

MILAN UND MIRJAM

ERSTE ERINNERUNGEN

BEGEGNUNG II

FAKTEN ÜBER FRAU MARTIN

MÄRCHENSTUNDE

U-BAHN I

VERSCHWUNDEN

U-BAHN II

HANNAH

GÄNSEBLÜMCHEN

LEERES ZIMMER

GERBERSTRASSE NUMMER 5

NACH DEM KUSS I

BEGEGNUNG NACH DEM ERSTEN KUSS – VARIANTEN

VORWORT

MILANS BRUDER

MIRJAM ALLEIN

MILAN ALLEIN

FOTO I

NACH DEM KUSS II

NIGHTSWIMMING I

GEWONNENE UND VERLORENE WETTEN (UNVOLLSTÄNDIGE LISTE)

NIGHTSWIMMING II

NACHRICHTEN ZWISCHENDURCH I

NIGHTSWIMMING III

DIESER MOMENT

NIGHTSWIMMING IV

IM WELTRAUM

NIGHTSWIMMING V

STREICHHOLZMÄDCHEN

IHRE NAMEN, NUR EINIGE VON 1400

NIGHTSWIMMING VI

ZUHAUSE II

NOTIZBUCH

NACHRICHTEN ZWISCHENDURCH II

ABSCHIED I

FOTO II

PARTY I

VARIANTEN EINER BEGEGNUNG II

PARTY II

NIEMALS

PARTY III

DORA

PARTY IV

ABSCHIED II

– Was machst du?

Draußen ist immer [...]

Wie kann schon [...]

Dienstag. Ich sitze [...]

Irgendwer hat gefilmt. [...]

Die Nacht liegt [...]

Ich bin zur [...]

In der Nacht [...]

Es wachsen wieder [...]

Quellenangaben

Ich sehe das Haus, es steht in Flammen. Und dann sehe ich dich. Erkenne sofort den Hoodie. Die grünen Flammen auf dem Hoodie. Überall Flammen. Ich will brüllen. Deinen Namen brüllen. Damit du stehen bleibst. Damit du dich nicht umdrehst. Damit du nicht in das brennende Haus läufst. Aber es würde nichts bringen.

Schreien.

Brüllen.

Würde nichts bringen. Kann nicht verhindern, dass du dich umdrehst und losrennst. In das Haus rennst. Kann dich nicht festhalten. Kann überhaupt nichts machen.

Weil ich nicht da gewesen bin.

Kann nur jetzt auf das Handydisplay starren und das Video ansehen. Das Video läuft weiter. Flammen überall. Ich könnte auf Pause drücken. Auf STOP. Es würde trotzdem nicht ändern, was passiert ist.

5 Sekunden.

10 Sekunden.

15 Sekunden.

Das Haus brennt. Das Video endet, der Bildschirm wird schwarz. Und du bist verschwunden.

BEGEGNUNG I

Als ich Flint zum ersten Mal begegne, sitzt er im Sessel von Frau Martin, und unter meinem linken Arm klemmt ein Liebesroman.

Flint – von dem ich zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht weiß, dass er Flint heißt – starrt auf ein brennendes Streichholz, das zwischen seinem Daumen und seinem Zeigefinger steckt, und er scheint gar nicht wahrgenommen zu haben, dass ich ins Zimmer gekommen bin. Kurz befürchte ich, dass Frau Martin nicht mehr da ist, weil doch alle verschwinden irgendwann, doch dann entdecke ich sie auf einem der Besucherstühle. Auch sie nimmt mich nicht wahr, aber Frau Martin nimmt mich nie wirklich wahr. Oder sie kann es nicht zeigen, ich kenne mich nicht so genau aus mit Demenz.

Frau Martin starrt wie Flint auf dieses brennende Streichholz, es ist nur noch eine klägliche Flamme.

Ich bin mitten im Zimmer stehengeblieben, zwischen dem Bett und der Tür zum Badezimmer. Trete von einem Bein auf das andere, um auf mich aufmerksam zu machen, und weil ich ohnehin schlecht stillstehen kann. Still sein gehört nicht zu meinen Stärken. Irgendwas muss sich immer bewegen, sonst fühlt es sich an wie Ersticken, finde ich. «Stillstand schlimmste Sache», sage ich meinen MiMis immer, meinen Lieblingsmenschen Milan und Mirjam, wenn sie den ganzen Tag nur in der Wohnung bleiben wollen.

«Dann geh doch pinkeln.» Und das sind sie, die ersten Worte von Flint, die in mein Leben dringen. Seine Stimme erinnert mich an Hades, den Rottweiler von dem Typen aus der Unterstraße. Hades knurrt immer leise, wenn man an ihm vorbeigeht. Flint knurrt ins Zimmer hinein, ohne den Blick von dem verkohlten Streichholz zu wenden. Während ich noch darüber nachdenke, ob er mich oder Frau Martin meint, hebt er den Kopf und sieht mich an.

«Bist schon du gemeint, oder tanzt du gerade zu irgend ’ner Musik, die ich nicht hören kann», sagt er ohne Fragezeichen, diesmal mit viel lauterer Stimme. Ich erschrecke mich immer, wenn Hades plötzlich losbellt. Deshalb ist es nur konsequent, dass ich mich auch in diesem Moment erschrecke und das Buch fallen lasse.

Der Liebesroman landet genau vor Flints Füßen. Ausgelatschte Turnschuhe, die bestimmt mal weiß gewesen sind. Auf dem Cover von Küsse im Abendrot sind eine Frau und ein Mann abgebildet, die sich umarmen und nur Unterwäsche tragen. Sofort denke ich, dass Flint kein bisschen so aussiehst wie der Mann auf dem Cover. Der Mann auf dem Cover ist ungefähr 30, und ich schätze direkt, dass Flint so alt ist wie ich. Der Mann hat blonde Locken, zurückgegelt. Flints Haare verstecken sich unter einer schwarzen Baseballcap. An diesem Samstag weiß ich noch nicht, dass sie dunkelbraun und kurz rasiert sind. Die Lippen des Mannes sind leicht geöffnet. Flints Lippen sind zusammengepresst. Der Mann hat seine Augen geschlossen. Ich vermute mal, weil er so viel fühlt, dass es mit offenen Augen nicht auszuhalten ist. Flints Augen sind grau, wie die Sterne auf Frau Martins Bettdecke. Der Mann hat einen Waschbrettbauch. Und Flint trägt einen Hoodie, der mindestens eine Nummer zu groß ist.

Flint sieht kein bisschen so aus wie der Mann auf dem Cover, und wahrscheinlich ist es genau das, was mir sofort an ihm gefällt.

Ob ich viel Ähnlichkeit mit der Frau auf dem Cover habe, kann ich schwer beurteilen. Man sieht ihr Gesicht nicht, weil es an der Schulter des Mannes verborgen ist. Die Frau ist nur Körper. Roter Tanga. Ich trage am liebsten Baumwollunterhosen.

Flint schaut mich immer noch an. Sein Blick will mich ganz bestimmt nicht ausziehen, um herauszufinden, ob ich einen roten Tanga trage. Sein Blick ist eher ein drohendes Zähnefletschen.

Der Liebesroman, der immer noch vor Flints Füßen liegt, ist nicht für Frau Martin. Er ist für später, wenn ich Herrn Wischinski besuche und ihm vorlese. Frau Martin lese ich Einträge aus dem fünfzehnten Band von Meyers Enzyklopädisches Lexikon vor, der auf ihrem Nachttisch liegt. Buchstaben Let bis Meh. Seit vier Monaten, jeden Samstag.

Flint holt ein neues Streichholz aus der Schachtel und zündet es an. Sein Blick wandert von mir zu der Flamme. Auch Frau Martin schaut wieder auf das Streichholz. Sie sind zwei Menschen, die auf Flammen starren. Ich bücke mich, um das Buch in die Hand zu nehmen. Dann richte ich mich wieder auf, mache den Rücken gerade und räuspere mich. Ich versuche, meine Stimme auch wie ein Knurren klingen zu lassen, weil ich mich nicht einschüchtern lasse – außer von Hades vielleicht – und weil ich Mirjam an einem Regentag vor zwei Jahren geschworen habe, dass uns niemals wieder irgendwer einfach so drohen darf.

«Ich weiß nicht, ob das so gut ist.» Es klingt wie das Kläffen von Speedy, dem Yorkshire Terrier von Mirjams Tante. «Hier, wegen Dings. Brandgefahr.»

Mein Kläffen beeindruckt Flint kein bisschen, er zuckt noch nicht mal zusammen – nur sein Knie zuckt, aber das macht es schon die ganze Zeit –, und sein Blick bleibt an der Flamme hängen, ohne ein einziges Blinzeln.

«Die Alte mag das, warum auch immer», antwortet er nur.

Und jetzt sehe ich es auch, ein Lächeln auf dem Gesicht von Frau Martin. Ihr Blick auf das brennende Streichholz gerichtet, die Flamme spiegelt sich leuchtend in ihren Augen wider.

Einen Moment lang ist alles ganz leise. Nur ein zaghaftes Knistern meiner Stoffhose, wenn ich mein Gewicht von einem Bein auf das andere verlagere. In diese Stille hinein wirkt das Öffnen der Tür plötzlich wahnsinnig laut, beinahe brutal.

Emine, eine der Altenpflegerinnen, bleibt in der Türöffnung stehen.

«Flint. Sie suchen dich schon im ersten Stock», sagt sie mit müder Stimme, und dreht sich sofort wieder um. Nun kenne ich also deinen Namen, denke ich. Und es fühlt sich an wie ein Sieg, weil ich in diesem Moment mehr von ihm weiß als er von mir.

Flint steht auf und verlässt das Zimmer von Frau Martin. Ohne ein weiteres Wort, ohne einen weiteren Blick. Nur die Streichholzschachtel lässt er auf dem Tisch liegen.

«Streichholzmädchen», sagt Frau Martin ganz leise, und ihre Augen leuchten noch immer, obwohl die Flamme längst erloschen ist.

ZUHAUSE I

Zuhause, das ist eine Dreizimmerwohnung im Norden der Stadt. Das ist mein Zimmer, in dem zwar kein Sessel steht, aber dafür alles mir gehört, auch die Bilder an den Wänden. Das sind aber vor allem meine Mutter und meine Schwester Hannah. Das ist der Küchentisch, an dem wir gemeinsam sitzen, niemals zu irgendwelchen Mahlzeiten, aber dafür immer zwischendurch, wenn irgendwer was zu erzählen hat. Das ist auch das kleine Wesen, das ich bisher nur in Schwarz-Weiß kenne, weil es noch in Hannahs Bauch lebt. Und das sind Milan und Mirjam, die ich zwar oft genervt frage: «Habt ihr kein eigenes Zuhause?», wenn sie wieder den ganzen Tag in meinem Zimmer rumhängen –, aber im gleichen Moment spüre, tief in meinem Herzen, in meinem Körper, in meiner Seele und was man noch alles so haben kann, dass wir einander das schönste Zuhause sind.

MILAN UND MIRJAM

An diesem Samstag bin ich erst abends wieder zu Hause.

Milan und Mirjam liegen auf meinem Bett, ich vermute, seit Stunden schon. Nebeneinander liegen sie auf dem Rücken, ein paar Zentimeter Abstand zwischen ihren Ellenbogen, jeweils ein Kopfhörer in seinem linken und in ihrem rechten Ohr. Wahrscheinlich hören sie irgendeinen Podcast.

«Habt ihr kein eigenes Zuhause?», seufze ich und schmeiße mich in die Mitte, in die schmale Lücke zwischen Milan und Mirjam.

«Aua», murrt Mirjam sofort, weil ich auf ihrem rechten Unterarm gelandet bin, und befreit ihn mit einem Ruck.

«War keine Absicht, Mi», sage ich und drücke einen Kuss auf die Innenseite ihrer Hand. «Sollen wir raus?», frage ich dann und zeichne mit dem Finger Mirjams Lebenslinien nach. «Irgendwas machen?»

Die beiden heben ihre Köpfe, exakt so weit, dass sie sich über mich hinweg anschauen können, aber auch keinen Millimeter weiter, dann schütteln sie synchron den Kopf. Mirjams dunkle Locken schwingen von links nach rechts, Milans Haare, hellbraun und verwuschelt wie immer, wehen nur leicht hin und her. Ich atme tief ein, lasse Mirjams Hand los und drehe mich auf den Bauch. Wenn sich beide MiMis einig sind, ist es quasi unmöglich, sie aus dem Haus zu bewegen, und sie sind sich meistens einig.

Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche und tippe eine Nachricht.

«Mit wem schreibst du?», fragt Mirjam und nimmt den Kopfhörer aus ihrem Ohr. Sie verlässt unser Haus in der Gerberstraße Nummer 5 nur für die Schule und wenn es unbedingt sein muss, aber trotzdem will sie ständig darüber informiert werden, was jenseits unserer Wohnungen geschieht. Ich kenne keinen Menschen, der so neugierig auf die Welt ist wie Mirjam und im gleichen Moment so wenig Teil von ihr sein möchte.

«Nur so ein Typ», murmele ich, obwohl ich genau weiß, dass sich Mirjam damit nicht zufrieden geben wird.

«Aus der Eisdiele?», schaltet sich jetzt auch Milan ein, nachdem er die Stopptaste auf seinem Handy gedrückt hat.

«Nein, der kann es nicht sein», antwortet Mirjam, bevor ich überhaupt etwas sagen kann, «der hat sie doch blockiert. Weil seine Freundin mitgekriegt hat, dass sie sich schreiben.»

«Oha», sagt Milan und zieht seine schmalen Augenbrauen nach oben. Dann dreht er sich auch auf den Bauch und versucht, irgendwas auf dem Display zu erkennen. Aber ich bin schneller als er und lege mein Handy mit dem Bildschirm nach unten auf das Kopfkissen.

«Von der Freundin wusste ich nichts», verteidige ich mich, obwohl das überhaupt nicht nötig ist. Milan und Mirjam stehen immer auf meiner Seite, oder sie liegen, sie liegen an meiner linken und rechten Seite so wie jetzt, ohne Anklage, ohne Verteidigung, ohne Verurteilung.

«Was findet ihr schlimmer: Erstens, mit jemandem schreiben, der eine Freundin hat? Oder zweitens, mit dem Ex von jemandem schreiben, den ihr echt gernhabt?»

Es gibt Menschen, die haben Hobbies wie Bouldern oder Karate, Mangas zeichnen oder Einhörner häkeln. Und es gibt Mirjam. Sie interessiert sich nicht für Griffkraft oder Garnstärke. Mirjam interessiert sich für moralische Fragen.

«Zweitens», sagen Milan und ich zusammen, wobei ich beides nicht allzu schlimm finde, aber Mirjam braucht eindeutige Antworten, sonst lässt ihr die Frage für den Rest des Abends keine Ruhe. Nur auf eine Frage hat sie bislang keine Antwort finden können: Wenn sie nur einen von uns beiden vor dem Tod retten könnte, Milan oder mich, für wen würde sie sich entscheiden? Einen ganzen Sonntagnachmittag hatte sie darüber mit uns diskutiert, ihre Stimme wurde lauter und lauter, je weniger sie eine Antwort fand, bis Milan sie irgendwann von hinten umarmte, ihre Arme einklemmte, damit ich ihr den Mund zuhalten konnte. «Ich schwöre bei meinem und eurem Leben, dass ich nicht wütend oder enttäuscht sein werde, falls ich sterbe, weil du mich nicht retten konntest. Und ich schwöre, dass ich dann auch nicht als rachsüchtiger Geist in deine Träume eindringen und dich in den Wahnsinn treiben werde», sagte ich mit fester Stimme. Danach löste ich meine Handfläche von ihrem Mund und schlang die Arme um meine MiMis, legte meine Wange auf Mirjams Schulter, spürte Milans Rippen unter meinen Fingern. Milan und Mirjam, ohne sie kann ich mir mein Leben nicht vorstellen.

Ich schnappe mir mein Handy, um zu sehen, ob ich schon eine Antwort bekommen habe.

«Der Typ aus der Parallelklasse?», fragt nun Milan. Wahrscheinlich meint er Wolkan, aber mit Wolkan schreibe ich schon seit Wochen nicht mehr.

«Er ist in der Stufe über uns», bleibe ich vage. «Kennt ihr nicht.»

«Wetten, kennen wir auf jeden Fall.» Manchmal reden Milan und Mirjam sogar gleichzeitig, dann klingen ihre beiden Stimmen wie eine.

«Kenny», sage ich schließlich, ist ja auch kein Geheimnis. Ich drehe mich zurück auf den Rücken, weil ich nun mal nicht lange still liegen kann. Kenny und ich schreiben uns seit zwei Tagen. Wir schreiben uns, seitdem wir uns zufällig am Kiosk gegenüber der Schule begegnet sind.

«Kenny, der immer auf den Boden rotzt?», fragt Milan entsetzt.

«Was schreibt er denn?» Mirjam versucht gar nicht erst, irgendwas auf dem Display zu erkennen, sie reißt mir das Handy direkt aus der Hand. Ich lasse sie, protestiere halbherzig, aber ohne Überzeugung, denn ich würde ihnen die Nachrichten ohnehin vorlesen. Manchmal denke ich, dass ich ihr Leben für sie mitlebe, obwohl das ein gemeiner Gedanke ist.

Die Nachrichten zwischen Kenny und mir sind sowieso völlig unspektakulär. Zwei Tage zuvor hatte ich die letzte Cola Zero am Kiosk gekauft. Kenny, der genau hinter mir in der Schlange stand, jammerte ein bisschen rum, dass er jetzt Cola light trinken muss und die doch immer nach Metall schmeckt. Ich überließ ihm dann die letzte Cola Zero, obwohl er ja absolut Recht hat mit dem Metallgeschmack. Drehte mich zu ihm um und sagte: «Dafür habe ich was gut bei dir.» – «Hundertprozent», hat er gesagt und direkt nach meiner Nummer gefragt. Seitdem haben wir hin- und hergeschrieben, haben überlegt, was am Wochenende so los ist, aber es blieb alles irgendwo in der Luft, und keiner von uns wurde konkret. Weil, im Endeffekt ist es wohl so, dass wir mehr auf Cola Zero abfahren als aufeinander.

«Er wartet bestimmt darauf, dass du was vorschlägst. Für heute Abend. Was ihr zusammen machen könnt», vermutet Mirjam, nachdem sie die Nachrichten gelesen und das Handy an Milan weitergegeben hat.

«Aber ich mache lieber was mit euch», starte ich einen neuen Versuch, Mirjam und Milan aus dem Bett und hinein in eine aufregende Novembernacht zu bewegen. «Heute waren es 15 Grad und Sonne. Habt ihr schon mitbekommen, oder?»

«Wir sind doch sowieso immer da.» Mirjam dreht sich zu mir und stützt sich auf ihrem rechten Arm ab. «Du kannst ruhig was mit ihm machen.» Und auch Milan dreht sich zu mir. Mirjam und Milan sehen mich an, die Augen dunkelbraun und golden. «Halt nur, wenn es dich nicht stört, dass er überall auf den Boden rotzt», ergänzt Milan und greift nach einem Labello, der neben ihm auf der Matratze liegt. Er befürchtet immer, dass seine Lippen austrocknen und dann rissig werden. «Macht lieber irgendwas draußen. Bloß nicht Kino oder so. Das könnte peinlich werden.»

«Was ist schlimmer?», fragt Mirjam. «Auf den Boden rotzen oder sein Kaugummi unter den Tisch kleben?»

«Eins», sagt Milan.

«Zwei», sage ich. «Kaugummi unterm Tisch ist absolut hinterhältig, das machen nur Menschen mit miesem Charakter.»

Ich gucke ein weiteres Mal aufs Display, aber Kenny hat immer noch nicht geantwortet. «Er hatte seine Chance, und ich bleibe jetzt hier», entscheide ich, greife über Mirjam hinweg nach dem Tablet. «Also Film gucken?», frage ich und setze mich auf.

«Milan kann Pfannkuchen machen», sagt Mirjam, während sie ihren Kopf auf meinen linken Oberschenkel legt.

Als hätte er nur auf sein Stichwort gewartet, stößt sich Milan mit beiden Händen von der Matratze ab, macht einen Satz über meine Beine und über Mirjam hinweg und landet sanft mit beiden Füßen auf dem Laminat. Dann dreht er sich zu uns um, ein Lächeln auf den Lippen. Lippen, die niemals rissig, sondern einfach nur wunderschön geschwungen sind. Er geht in die Knie, schwingt die Arme nach oben und macht einen Rückwärtssalto. Vor ein paar Jahren haben wir im Jugendzentrum um die Ecke bei einem Zirkuskurs mitgemacht. Ich schaukelte am Trapez, Mirjam versuchte, mit Bällen zu jonglieren, und Milan trainierte Backflips und Flickflacks. Mir wurde es irgendwann langweilig auf dem Trapez, Mirjam war der dritte Ball zu viel, aber Milan hat immer weiter geübt, bis das Jugendzentrum geschlossen und abgerissen wurde. Für Flickflacks ist mein Zimmer zu klein, aber der Backflip passt perfekt, genau auf die freie Fläche zwischen Bett, Schreibtisch und Kleiderschrank.

«Funktioniert immer noch», grinst Milan und verlässt das Zimmer. Milan kann Pfannkuchen machen, richtig gute sogar. Und er kann noch so viel mehr.

«Wenn ich ihn nicht schon mein ganzes Leben lang kennen würde, ich könnte mich glatt in ihn verknallen», seufze ich und schaue ihm hinterher.

«Hm», macht Mirjam nur, als hätte sie mir nicht richtig zugehört. Und dann ein bisschen genervt: «Du zappelst schon wieder. Halt die Beine still.»

Als wir später gemeinsam auf das Tablet schauen, einen Teller mit Pfannkuchen samt Schokosauce und bunten Streuseln auf Milans Knien, da weiß ich, dass ich gerade an keinem anderen Ort auf der Welt sein möchte. Mirjams Kopf liegt immer noch auf meinem Oberschenkel, und ich bemühe mich, ganz ruhig zu liegen. Nur meine Zehen wackeln ein bisschen.

Mein Handy leuchtet auf. Kenny hat geantwortet, aber ich lese die Nachricht nicht mehr.

ERSTE ERINNERUNGEN

Manchmal frage ich mich, was wohl der früheste Moment in meinem Leben ist, an den ich mich erinnern kann. Dann schließe ich die Augen und versuche, in dem Fluss aus Bildern, der durch meinen Kopf strömt, nach dem ältesten Bild zu greifen. Denn dieses älteste Bild, denke ich, müsste dann doch meine allererste Erinnerung sein.

Ich erinnere mich daran, dass wir auf eine Glastür zugehen. In meiner Erinnerung steht die Tür offen, ein warmes Licht empfängt uns. Meine Mutter hält meine Hand, ich halte Milans Hand. Und daneben laufen Mirjam und ihr Vater. Ich hüpfe auf und ab, weil ich so aufgeregt bin, weil ich in diesem Moment nichts lieber möchte, als durch diese Tür zu treten. Ich will unbedingt wissen, was dahinter auf uns wartet. Ich spüre Milans Hand, die mich nach hinten zieht, er ist stehengeblieben und schaut zu Mirjam, die sich mitten auf den Bürgersteig gesetzt hat. Ihr Vater redet auf sie ein, aber sie schüttelt nur den Kopf, schiebt ihre Vorderzähne über ihre Unterlippe.

All das sehe ich deutlich vor mir, wenn ich die Augen schließe. Auf diesen Bildern sind wir drei Jahre alt. Aber es muss doch noch irgendwo in meinem Kopf Erinnerungen geben, die älter sind als dieser erste Tag im Kindergarten. Mirjam hat mal erzählt, dass sie sich daran erinnert, wie wir gestampfte Bananen an eine Küchenwand geschmiert haben. Es muss wohl die Küchenwand von Milans Familie gewesen sein, denn Milans Vater hat uns angebrüllt, sagt Mirjam. Schätzungsweise waren wir da zwei Jahre alt. Ich erinnere mich nicht mehr daran, so fest ich auch meine Augen schließe, aber vielleicht ist es wirklich so passiert, und vielleicht mag ich deshalb auch keine Bananen mehr.

Milan erinnert sich weder an zermanschte Bananen noch an unseren ersten Tag im Kindergarten, nicht an die offene Tür und das warme Licht. Er behauptet, seine erste Erinnerung wäre, dass wir zu dritt in der Bastelecke vom Kindergarten gesessen und uns durch buntes Transparentpapier angeschaut haben.

Meine Mutter redet manchmal davon, dass Mirjam, Milan und ich schon gemeinsam durch das Treppenhaus gekrabbelt sind. Meine Mutter ist ein paar Monate nach meiner Geburt in dieses Haus in der Gerberstraße Nummer 5 gezogen. Die Familie von Milan und auch Mirjams Familie wohnten schon dort. Wenn meine Mutter davon redet, dass wir drei durch das Treppenhaus gekrabbelt sind, dann bilde ich mir ein – wie durch einen Schleier oder vielleicht auch durch buntes Transparentpapier –, die Treppenstufen zu sehen, meine kleine Hand, die sich auf einer der Stufen abstützt, spüre das braune Holz unter meiner Handfläche, höre das laute Krähen von Mirjam. Aber wahrscheinlich sehe und höre ich das alles nur, weil meine Mutter mir diese Geschichte so oft erzählt hat, dass ich inzwischen glaube, mich selbst daran zu erinnern. Das ist ja das Ding mit Erinnerungen, oder? Wenn man eine Geschichte nur oft genug hört, dann glaubt man irgendwann vielleicht sogar, dass man sie selbst erlebt hat. So wie mit diesem Test, den irgendwelche Psychologen mal gemacht haben. Die Menschen bei diesem Test waren überzeugt davon, sie hätten Bugs Bunny im Disneyland getroffen. Sie sagten, sie erinnern sich genau daran, wie sie seine Hand geschüttelt hätten, obwohl es definitiv keinen Bugs Bunny im Disneyland gibt und auch nie gegeben hat. Sie glaubten, es erlebt zu haben, weil es ihnen so oft erzählt worden war. Mit dem Treppenhaus ist es natürlich anders als mit Bugs Bunny. Ich bin mir sicher, dass ich das erlebt habe, dass wir das gemeinsam erlebt haben, Milan, Mirjam und ich – ich kann mich nur nicht mehr daran erinnern.

Milan meint, dass das sowieso nicht funktioniert, mit dem ältesten Bild und der allerersten Erinnerung. Weil meine allererste Erinnerung genauso gut ein Geruch sein könnte, vielleicht das Shampoo meiner Mutter, oder ein Geräusch, die Straßenbahn, die vor unserem Wohnzimmerfenster entlangfährt. «Oder ein Gefühl halt», hat er gesagt.

«Aber wie soll man dann die allererste Erinnerung finden?», habe ich gefragt. Und darauf hatte Milan auch keine Antwort.

«Wichtig ist doch nur», hat Mirjam es irgendwann auf den Punkt gebracht, «wir drei waren immer zusammen. Seit wir uns erinnern können.»

Unsere Freundschaft reicht sogar weiter zurück als unsere Erinnerungen. Eine Zeit ohne uns drei, die existiert für uns nicht.

BEGEGNUNG II

Am nächsten Samstag steige ich die Treppen der U-Bahn-Station hinauf und sehe Flint, der vor dem Eingang des Pflegeheims steht. Diesmal klemmt kein Streichholz, sondern eine Zigarette zwischen seinen Fingern. Er trägt eine gefütterte Steppjacke, schwarz, den Reißverschluss bis oben hin zugezogen. Ich hatte unser Aufeinandertreffen in Frau Martins Zimmer schon fast wieder vergessen, und doch klopft mein Herz bei seinem Anblick ein bisschen schneller. Krieg dich wieder ein, das klopft auch schneller, wenn du an Hades vorbeimusst, versuche ich mir einzureden.