Das Fleisch der Welt oder die Entdeckung Amerikas durch Niklaus von Flüe - Adam Schwarz - E-Book

Das Fleisch der Welt oder die Entdeckung Amerikas durch Niklaus von Flüe E-Book

Adam Schwarz

0,0
25,50 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

- Romandebüt des Jungautors Adam Schwarz - Tollkühne postfaktische Geschichtsschreibung - Der Schweizer Nationalheilige auf Abwegen Als sein Vater Niklaus beschliesst, die Familie zu verlassen, um Eremit zu werden, ist Hans von Flüe schockiert. Drei Jahre später jedoch hat sich der junge Bauer an die väterliche Abwesenheit gewöhnt. Er hat eine Menge zu tun, bewirtschaftet einen eigenen Hof und hilft seiner Mutter und den Geschwistern. Da tritt sein Vater auf einmal wieder in sein Leben und fordert Hans auf, ihn auf eine letzte Pilgerreise zu begleiten. Zögernd willigt Hans ein. Die Reise führt das ungleiche Paar nach Westen, immer dorthin, wo Niklaus' Vision sie führt. Als sie am Atlantik ankommen, glaubt Hans, die Reise sei nun Ende. Ein Irrtum, denn Niklaus möchte sich mit einem Floss auf den Ozean wagen … «Das Fleisch der Welt» ist ein wilder spätmittelalterlicher Road Trip, der daran erinnert, dass man weder vor der Welt, noch vor der eigenen Familie und schon gar nicht vor sich selbst fliehen kann. Glaube, Unglaube, Wahrheit, Moral und die Kolonialisierung bekommen in diesem gewieften Text einen ernsthaften Platz zugewiesen, und so ermöglicht das Buch neue Einsichten in die Welt von Niklaus von Flüe. Auch wenn es ganz anders gewesen sein kann.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 310

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ADAM SCHWARZ

DAS FLEISCH DER WELT

ODER DIE ENTDECKUNG AMERIKAS

Adam Schwarz

DAS FLEISCHDER WELT

ODER DIE ENTDECKUNG

AMERIKAS DURCH

NIKLAUS VON FLÜE

Roman

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

© 2017 Zytglogge Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Angela Fessler

Coverfoto: Deutsches Gebetbuch – Cod.brev.12, 1476, Württembergische Landesbibliothek Stuttgart

E-Book: Schwabe AG, www.schwabe.ch

ISBN: 978-3-7296-0957-0

eISBN (ePUB): 978-3-7296-2163-3

eISBN (mobi): 978-3-7296-2164-0

www.zytglogge.ch

 

Ich sah den Bruder Nikolaus

Den frommen Schweizersmann.

Ein Beispiel der Enthaltsamkeit,

Der sein Gelübde gewann:

Zwanzig Jahre in dieser Welt

Ohne zu essen zu leben;

In seiner unendlichen Herrlichkeit

Wird Gott ihm Fleisch zu Genüge geben.

Jean Molinet, ca. 1495

I.

Ranftschlucht, Januar 1474

«Es wird zu viel erzählt. In den Tälern hockt das Volk und pult sich Lügen aus der Nase. Auf den Gipfeln würgen die drei Erzengel lauter Anklagen heraus. Alle glauben sie, Niklaus von Flüe zu kennen. Aber die Wahrheit? Die Wahrheit kümmert sie nicht. Die Wahrheit hat noch nie interessiert. Auch Euch, mein lieber Amgrund, wird sie nicht gefallen.»

«Ich muss sie aber erfahren», sagte Amgrund. «Das schulde ich ihm.»

«Wenn er Euch so wichtig ist, solltet Ihr erst recht wieder gehen.»

«Ich bin hierhergekommen, um mit Klaus zu sprechen. Stattdessen finde ich dich. Meinst du, da wird man nicht stutzig?»

Hans von Flüe rieb sich den dunkelbraunen Bart und musterte Amgrund, ohne etwas zu sagen.

«Wo ist er?»

«Nicht da. Das seht Ihr selbst. Und mehr braucht Ihr auch nicht wissen.»

«Wann kommt er wieder?»

«Das kann dauern.»

Heimo Amgrund schloss die Augen und rieb sich die Schläfen. Er, seit dem neunzehnten Lebensjahr Pfarrer von Kriens, hatte seinen Ohren nicht trauen wollen, als man ihm nach der letzten Christmesse gesagt hatte, Bruder Klaus, der drei Jahre zuvor seine Klause in der Ranftschlucht verlassen hatte, sei in die Heimat zurückgekehrt. Der HERRGOTT habe es ihm befohlen, hieß es im Volk, so, wie er ihm schon ’67 befohlen habe, seine Familie zu verlassen, um Einsiedler zu werden. Dem hatte er nachgehen wollen, und so hatte er den Weg auf sich genommen, war noch vor Morgengrauen aufgebrochen und den ganzen Tag durch Kälte und Schnee gen Süden gezogen, erst am Vierwaldstätter-, dann am Sarnersee vorüber, einen Wanderstab in der Hand und lauter Fragen im Kopf. Als sie ihn in Sachseln gefragt hatten, wohin er gehe, und er geantwortet hatte «zum Bruder Klaus in die Ranft», hatten die Bauern ihn mit Geschichten bestürmt: Lahme habe er geheilt, Frieden gestiftet und stets dafür gesorgt, dass die Ernte gut ausfalle. Ein altes Waschweib dagegen hatte gemeint, der Kerl sei vom Teufel besessen. Wie sonst habe er Weib und Familie zurücklassen können, nur um im Wald Löcher in die Luft zu starren? «Sein Herz», hatte sie gemeint, «ist so kalt wie die Melchaa im Winter.» Und jetzt sei er ganz durchgedreht, der Bruder Klaus, sagte sie. Nicht nur habe er sich mit seiner Familie aufs Blut zerstritten, er mache auch die Tür zu seiner Klause nicht mehr auf. Selbst das Guckloch sei verhangen. Nur am Rauch, der manchmal aus der Einsiedelei aufsteige, wisse man, dass er wieder dort hocke. Amgrund hatte gemerkt, wie er, je näher er der Ranft kam, mehr und mehr zu zittern begonnen hatte, was aber, da war er sich sicher, bloß an der Kälte lag. Als er die Umrisse der Klause endlich unten im Talgrund ausmachen konnte, hatte er seine Schritte beschleunigt. An der Kapelle mit dem roten Glockentürmchen war er vorbeigegangen, ohne sie zu beachten. Im Verschlag dahinter, da lebte Niklaus.

Der Pfarrer klopfte an die sonnenverbrannte Tür, leise erst, dann immer stürmischer, bis eine Stimme von innen rief:

«Wer da?»

«Ich bin’s, Niklaus, der Heimo!»

Ein Mann öffnete die Tür zwei Finger breit. Ein Augenpaar blitzte Amgrund entgegen, ein Gesicht, schmal und ernst, weich die Lippen, streng die Brauen, lang und verfilzt das Haar. Es war Niklaus – und es war doch nicht Niklaus.Amgrund streckte dem Mann die Hand hin. Der zögerte erst, dann schüttelte er sie.

Während Bruder Klaus die meisten Männer um einen halben Kopf überragte, war der Kerl auf der anderen Seite der Tür klein, kleiner selbst als Amgrund, den der HERRGOTT nicht eben mit Größe gesegnet hatte. Zwar hatte der Mann dieselben Züge wie Niklaus, doch war die Haut viel zu glatt, trotz einiger Sorgen- und Zornesfalten auf der Stirn. Bruder Klaus war bei ihrer letzten Begegnung bereits Mitte fünfzig gewesen; der Mann, der Amgrund da gegenüberstand, konnte dagegen höchstens Ende zwanzig sein und damit kaum älter als der Pfarrer selbst.

«Der Sohn, du bist doch der Sohn!»

Es wurde Amgrund plötzlich klar.

Der Einsiedler verfiel in Gelächter, tief aus der Kehle.

«Ganz recht, ich bin der falsche von Flüe!»

Amgrund versuchte zu lächeln, aber er wusste, dass man ihm anmerkte, dass es nicht von Herzen kam.

«Du bist Hans, oder?»

Er nickte.

«Ist dein Vater auch drinnen?»

«Nein.»

«Lässt du mich trotzdem hinein?»

«Geht lieber wieder, und zwar schleunigst. Wenn Ihr jetzt losmarschiert, schafft Ihr es noch ins Dorf, bevor es zu dunkel ist, und Ihr über die Wurzeln stolpert. Ihr könnt ja bei meiner Mutter klopfen.»

«Ich kann nicht.»

«Wie, Ihr könnt nicht?»

«Ich muss ihn sehen.»

«Hier gibt’s nichts zu sehen.»

«Und zu hören?»

«Das wollt Ihr nicht hören.»

Amgrund spürte, wie sich sein Kiefer anspannte.

«Nun war ich den ganzen Tag unterwegs, da werde ich bestimmt nicht wieder kehrtmachen.»

Hans seufzte.

«Meinetwegen. Macht, dass Ihr hereinkommt, bevor Euch bei dem Dreckswetter die Zehennägel abfallen.»

Hans riss die Tür auf. Amgrund sah in die Klause. Faulige Luft strömte ihm entgegen. Es war stickiger, als Amgrund erwartet hatte. Auf einem Bänkchen flackerte eine Öllampe. Daneben lag ein großer gestreifter Stein. Das Kopfkissen. Eng war es in der Klause, eine elende Kammer wie auf einem Schiff, nur, dass man aus dem Guckloch auf kahle Bäume sah, statt auf das Meer. Hans nahm auf einem Melkschemel Platz.

«Ihr müsst Euch auf die Bank setzen. Hab leider keinen zweiten Stuhl.»

«Dein Vater braucht nie einen.»

Hans saß ganz krumm, die Hand zwischen den Beinen hängend. Er lächelte halbseitig, als wolle er sich über Amgrund lustig machen. Das ließ ihn noch jünger wirken.

«Bei der Kälte wird dein Vater nicht lange draußen bleiben», sagte Amgrund. «Wann kommt er zurück?»

Hans zuckte mit den Schultern.

«Da müsst Ihr Euch wohl noch ein Weilchen gedulden.»

Seine Stimme klang müde.

«Das lässt sich einrichten. Wenn es sein muss, bleib ich die ganze Nacht.»

«Ich weiß nicht, ob das reicht.»

«Was soll das heißen?»

«Es ist eine lange Geschichte.»

«Zufällig mag ich lange Geschichten.»

«Diese wird Euch nicht gefallen.»

«Jetzt beginn halt schon!»

Hans seufzte.

«Wenn ich einen Wunsch frei hätte, Amgrund, nur einen einzigen, würde ich mir wünschen, dass Vater nicht dauernd zum HERRGOTT hochgeblickt hätte. Und ich nicht zu ihm. Dann müsste ich jetzt nicht hier sitzen und mich mit Eurer Neugier herumplagen, dann würde ich jetzt zu Hause bei meiner Frau liegen. Seit sieben Jahren lässt er mir keine Ruhe mehr.»

«Seit er in die Klause gegangen ist, meinst du?»

«Freiwillig ist er ja nicht gegangen. Wenn GOTT etwas braucht, dann holt er sich’s. Und er hat Vater gebraucht. Darum hat er ihm die Visionen geschickt, immer und immer wieder. Bis er es nicht mehr ausgehalten hat.»

«Pass auf, du versündigst dich.»

«Darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an. Wisst Ihr, Vater war nicht oft zu Hause. Sprach lieber mit GOTT als mit uns. Vier Mal im Jahr durften wir ihn sehen, mehr nicht.»

«Immerhin! Ich glaube, für ihn war es so schon anstrengend genug.»

«Das glaub ich gern. Jedenfalls stand er eines Tages plötzlich da und meinte, wir sollten auf Pilgerreise gehen, er und ich, Vater und Sohn.»

«Ich hatte ihm davon abgeraten», sagte Amgrund.

«Hat er also auf Euch auch nicht gehört.»

Sie schwiegen.

Es war das Flackern der Lampe zu hören und draußen tobte der Wind. Das Schneegestöber schien nun, da es eindunkelte, noch heftiger geworden zu sein. Es war zu gefährlich, ins Dorf zurückzukehren. Amgrund würde die Nacht in der Klause verbringen müssen. Beim Gedanken, bis Sonnenaufgang mit Hans allein zu bleiben, empfand er eine unbestimmte Angst.

«Ihr bleibt noch ein Weilchen, Amgrund?»

«Ich befürchte es.»

«Hört zu: Ich will es nicht länger für mich behalten. Es drückt mir von innen gegen die Kehle. Manchmal ist mir, ich müsse daran ersticken.»

Amgrund blickte zur Tür. Hans, der ganz in ihrer Nähe saß, hatte sie mit einem Riegel verschlossen.

«Ich habe eine Bitte.»

«Die wäre?»

«Ich bitte Euch, mir die Beichte abzunehmen.»

«Sagst du mir dann, wo ich deinen Vater finde?»

«Ja.»

Sie bekreuzigten sich.

II.

Die Geschichte beginnt im Wald. Eigentlich hatte ich bloß Feuerholz holen wollen. Vor bald drei Jahren war das. Der Frühling hatte noch nicht recht begonnen. Im März wird’s gewesen sein, Mitte März. Mein Vater lebte nun schon seit vier Jahren in der Klause. Ich vermisste ihn nicht wenig, auch wenn ich genug Sorgen und Pflichten hatte. Seit dem vergangenen Sommer war das Elsi meine Frau. Unser Hof lag auf der anderen Seite der Melchaa, bei St. Niklausen. Ich hatte nicht nur auf meinem Hof zu schaffen, sondern half auch der Mutter und meinen jüngeren Geschwistern. Aber ich dachte doch oft an ihn. Zu gern hätte ich gewusst, wie er über das Elsi dachte. Ob er glaubte, dass es richtig gewesen war, sie zur Frau zu nehmen. Und ob er mich für rechtschaffen hielt und stolz auf mich war. Aber obwohl er nicht weit von uns lebte, sah ich ihn kaum. Nur ein paar Mal im Jahr, zusammen mit der Familie, wenn wir ihn besuchten, und da konnte ich nicht gut mit ihm reden, jedenfalls nicht wie früher, als ich ein Junge gewesen war und er mir gezeigt hatte, wie man Kühe melkt und Hühner schlachtet. Bald bog ich in den Pfad ein, der in die Ranftschlucht hinunterführt. Weiter unten war der schwere Fels zu sehen, unter dem Bruder Ulrich hauste, Vaters Konfrater. Ich sah Ulrichs Beine unter dem Fels hervorlugen. Sie lagen auf der Wiese wie zwei knorrige Stäbe. Vater hatte ihm geraten, einen Fels weiter hinten im Tal zu suchen. Wenn er alles hinter sich ließe, würde ihn der Teufel, der ihn seit Jahren verfolgte, endlich in Ruhe lassen, hatte er ihm gesagt. Er war früher ein Edelmann gewesen, dieser Ulrich, und wenn Ihr mich fragt, wäre er auch besser einer geblieben.

Ich ging tiefer in die Schlucht hinein. Ich mag solche Tage, an denen ich ganz für mich sein kann: Das Beil hängt einem über den Rücken, und der Schweiß auf der Stirn kühlt ab, kaum stehst du im Gehölz. Weiter unten fließt die Melchaa vorbei, das Wasser braust über die Brocken. Meist braucht man nicht lange, um einen Baum zu finden. Ich nahm immer die, die schon umgefallen waren. Dieses Mal war es eine junge Buche, die das letzte Gewitter nicht überstanden hatte. Es war nur eine kleine, so dick wie mein Oberarm. Ich haute die Seitenäste ab, dann spaltete ich den Stamm in Scheite.

Nachdem ich genug Holz hatte, um meinen Korb zu füllen, setzte ich mich auf einen Baumstumpf, um einen Happen zu essen. Gerade hatte ich eine Geißenwurst und etwas Brot aus dem Beutel genommen, da knackte es hinter mir. Ich drehte mich um. Zwischen einer Gruppe von Fichten schoss eine blasse Hand hervor und krallte sich in die Nadeln, als spürte sie keinen Schmerz. Dann eine verdreckte Kutte, ein langer Bart. Vater in seiner Kutte. Seine Zehennägel staken ins Moos. Mager und großgewachsen, wie er war, hätte man ihn für ein Gespenst halten können. Und die Augen erst! Verkniffen und versunken. Da war kein bisschen Glanz mehr geblieben. Er wird sich in den Wald zum Gebet zurückgezogen haben und mich an meiner Art, das Holz zu schlagen, erkannt haben. Er hatte immer schon gesagt, ich solle das Beil nicht so weit über den Kopf schwingen.

«Guten Tag, Vater», rief ich und legte die Wurst und das Brot in den Beutel zurück, denn Vater ekelte sich davor.

Ich sah zu ihm hoch. Ein paar Herzschläge lang schwiegen wir. Irgendwo trommelte ein Specht seinen einsamen Marsch.

Dann öffnete sich sein schmaler Mund.

Ob ich ihn liebe, fragte er.

Ich sagte: «Gewiss.»

Ob ich ihm folgen wolle.

Ich nickte. Da wusste ich ja noch nicht, was er von mir verlangen würde.

Schon begann er zu erzählen. Wie ein Rinnsal, das nach einem Regen zum reißenden Fluss wird. Von einer neuen Vision sprach er.

Der Turm sei gewandert, sagte er, an den Rand des Horizonts. Im Nordwesten stehe er. Es sei derselbe Turm, der ihm schon früher erschienen sei und ihn einst auf Pilgerschaft und später in die Ranftschlucht geführt habe.

«Ich weiß», sagte ich, «du hast früher davon erzählt. Als du uns noch besucht hast.»

Vater ging nicht darauf ein. Er beschrieb mir den Turm, ein hoher Turm sei es, ein Turm aus weißem Marmor. Dreimal so breit wie unser Hof, fünfmal so hoch wie der Kirchturm von Sarnen. Mit einer goldenen Kuppel, die auch in der Nacht so hell strahle, dass ihn das Licht selbst dann blende, wenn er mit geschlossenen Augen auf dem Boden seiner Klause liege.

«Und wohin willst du jetzt gehen?»

Vater stützte den linken Fuß auf den frischen Baumstumpf. Mir ekelte vor seiner Haut, die so trocken war, dass sie abblätterte. Er hob die Hand und zeigte nach Norden.

Er sehe ihn, sagte er. Er sehe ihn hinter den Hügeln und Gipfeln. Wenn er nur wüsste, was GOTT ihm damit bedeuten wolle.

«Vielleicht will er, dass du zu uns herabkommst und uns hilfst! Du kommst gerade recht. Die Lisi hat gekalbt, und der Zweitälteste der Spichtigs speit Blut. Wir haben versprochen, ihnen morgen auszuhelfen.»

Vater legte sich auf die Erde und sah zu den Wolken hoch. Er wisse es nicht. Er verstehe es nicht.

Der Kragen seiner Kutte verrutschte, sie war zu groß. Ich sah seine Leichenbrust, wie sie sich den Baumkronen entgegenreckte.

«Und woher soll ich wissen, was er damit hat sagen wollen?», fragte ich. «Was nützt es, wenn GOTT durch einen spricht, aber niemand seine Sprache versteht? Komm doch nachher zur Mutter. Sie hat das Elsi und mich zum Nachtessen eingeladen. Ich weiß, du machst so was nicht, aber es würde uns alle freuen, das kannst du mir glauben.»

Da sprang Vater unversehens auf. Er glich einem Bären in seiner erdverkrusteten schwarzgrauen Kutte und mit dem dunkelbraunen Bart rund ums Gesicht. Das macht die Wildnis aus einem.

Er werde sich dem Verführer nicht ergeben, brüllte er.

Sein Kopf war ganz rot geworden. Noch nie hatte ich eine so laute Stimme gehört. Sie hallte in meinem Bauch wider und brachte die Blätter zum Rascheln. Ich strauchelte rückwärts und fiel über eine Wurzel, Erdkrümel spritzten mir in die Augen, ich glaubte schon, der Wald wolle mich unter sich begraben. Wer im Wald stirbt, muss bis zum Jüngsten Gericht durch die Wildnis wandern, heißt es.

Er käme tatsächlich heut Abend zu Besuch, hörte ich ihn sagen, zum ersten und einzigen Mal und auch nur, weil er mit mir reden müsse.

Dann seine Schritte, die sich entfernten.

Als ich aufstand, war er verschwunden. Er ließ nur die Kordel seiner Kutte zurück, die ihm bei seiner Flucht herausgefallen sein musste. Ich nahm sie in die Hand, einen vom Schweiß, Fett und Dreck braun gewordenen Wurm. Und machte mich wieder ans Holzhacken.

III.

Bis kurz vor Sonnenuntergang hatte ich genug Holz gesammelt. Ich kehrte zum Hof zurück, trat in unsere Stube, setzte den Korb vor dem Ofen ab und gab dem Elsi einen Kuss. Täuschte ich mich, oder war ihr Bauch seit dem Morgen noch größer geworden? Ich wusch mich kurz am Brunnen, danach machten wir uns auf den Weg hinunter zu Mutter. Die Familie wartete schon auf uns.

Im Abendlicht sehen die Höfe mächtiger aus, als sie sind. Der dunkle Kasten lag auf der Schiblochmatte wie eine trächtige Wildsau. Die Fensterlöcher sahen in Richtung Ranft. Rundherum Gras, gegen das Dorf hin unser Stall und viel weiter hinten, Richtung Sachseln, der Hof der Spichtigs. Das Vieh war gerade dabei, in den Stall zurückzutrotten. Die Glocken bimmelten träge. Mein Bruder Welti trieb sie hinein. Er knallte ihnen mit dem Stock auf den Arsch. Wer war bloß auf den Einfall gekommen, das Vieh nach draußen zu lassen? Es war viel zu früh, vor zwei Wochen war die Erde noch gefroren gewesen. Vater, dachte ich, hätte die Tiere nicht so früh rausgelassen. Ich zählte das Vieh, wie es meine Gewohnheit ist, das beruhigt. Sämi, unser Hund, rannte uns entgegen und sprang so lang an mir hoch, bis ich sein Fell kraulte. Er folgte uns bis an die Haustür, vor der er stehenblieb. Auf einmal fing er an, mit den Zähnen zu fletschen. Als die Tür aufging, stand ein langer Kerl im Schatten. Es war Vater. Er wirkte ernst. Erst als er das Elsi erblickte, schaute er etwas freundlicher drein.

Also mein Weib … Schön sei das …

Er streckte ihr die Hand hin, was er sonst nie tat. Elsi lächelte. Mir war, dass ich hörte, wie ihr das Herz klopfte, nun, da sie endlich meinen berühmten Vater treffen durfte. Leider verschwand der schon wieder in der Stube.

Nichts im Gang verriet, dass Vater zu Besuch war. Keine abgestellten Schuhe, kein Mantel. Nicht mal ein Geruch. Das ist mir erst an jenem Tag aufgefallen. Er roch nicht nach Tannennadeln, nicht nach Moos, nicht nach Erde, nicht nach Laub, nicht einmal nach dem fauligen Holz seiner Klause. Das musste daran liegen, dass er nicht aß wie unsereiner. So einer stinkt nicht. Fast wie ein Engel.

«Einen recht schönen Abend», rief Mutter uns zu. «Ist es nicht schön, dass der Vater einmal zu Besuch gekommen ist?»

Wir zogen die Schuhe ab und traten in die Stube. Die ganze Familie saß am Tisch: Mutter, Vater, Welti, Dorothea, Heini, Anna, Verena, Sepp, Toni, Katharina und Klaus. Dicht an dicht saßen sie. Toni und Klaus teilten sich einen Stuhl und hielten sich am Tisch fest, er war noch zu hoch für sie. Bei diesen Zusammenkünften bin ich stets der Letzte. Dabei bin ich der Erste, der aus Mutter rausgekrochen ist.

«Guten Abend, Elsi, guten Abend, Hans», sagte Mutter.

«Abend», nölten meine Geschwister.

«Müeti, wer ist das?», hörte ich Klaus fragen. Er zeigte auf Vater. Klaus war ja nur ein paar Wochen vor Vaters Weggang auf die Welt gekommen.

Vater kam natürlich nicht auf die Idee, sich vorzustellen. Er hockte vor einer Schüssel Haferbrei und sah den aufquellenden Körnern zu, als fürchtete er, der Teufel könne ihn zwingen, davon zu essen. Ich weiß nicht, warum Mutter ihm überhaupt davon geschöpft hatte.

«Du weißt nicht, wer das ist?», fragte ich. «Dein Vater ist das!»

Vater schob den Brei zur Seite und faltete die Hände. Er glaubte wohl, wir würden nun alle mit ihm beten, wie früher, als er noch bei uns gewohnt hatte.

«Ah so», meinte Klaus und schaufelte sich Brei in den Mund. Ein paar Fäden blieben an seinem Kinn kleben. Er wischte sie weg, ohne auf uns zu achten.

Eines nach dem anderen begannen die Geschwister zu schaufeln, als drohe ein Hungerwinter. Welti brauchte nicht einmal einen Löffel. Er tunkte die Hand in die salzige Masse, stopfte sich die Backen voll, dann stand er auf und verschwand. Er hatte wohl keine Lust, dem Streit zuzuhören, der – das wird er gerochen haben – bevorstand. Mutter und ich sahen uns an. Sie nahm einen großen Schluck Bier.

«Was führt dich hierher, Niklaus?», fragte sie. «Brauchst du etwas? Oder …» – ich weiß noch, wie sie zögerte, noch einen Schluck nahm: «… oder willst du gar zurückkommen?»

Vater schüttelte den Kopf und meinte, er sei nur wegen mir gekommen.

«Weißt du, wovon er redet, Hans?», fragte Mutter.

Ich erklärte ihr, dass es der Turm sei, von dem er früher immer erzählt habe. Ein Turm mit Goldkuppel, wie im alten Konstantinopel. Und nun stehe er im Norden.

«Ich weiß nicht, was es bedeutet.»

Mutter wusste es: «In die Fremde willst du? Erinnerst du dich nicht an das letzte Mal? Es war schon damals nicht sein Wille, dass du weggehst. Sonst hätt er dich in Liestal nicht zurückgepfiffen.»

Damals wäre er der Verwirrung seines eigenen Herzens gefolgt, sagte Vater. Er habe sich damals eingeredet, der HERR wolle, dass er die Ranft verlasse, dabei habe der nichts anderes gewollt, als dass er noch tiefer in sie hineingehe. Das sei dieses Mal anders. Er wisse den Heiland auf seiner Seite. Und die Ranft, die trage er immer mit sich in seinem Herzen. Aber er könne nicht alleine gehen. Der Teufel lauere ihm auf. Ich könne der Mutter ja erzählen, wie das damals gewesen sei, als ihn der Leibhaftige zerschunden hätte, als er ihn den Hang hinab in die Dornen geworfen habe.

Er wird Euch die Geschichte sicher einmal erzählt haben, Amgrund. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Ich war noch ein Bub, höchstens sieben Jahre alt, als es passierte. Wir waren die Holdermatte hinaufgestiegen, um sie von den Dornen zu reinigen, da hatte Vater plötzlich zu brüllen angefangen, so laut und stark, als plagte man ihn mit glühenden Zangen. Mit aufgerissenem Mund fiel er nach hinten und rollte gut dreißig Schritt den Hang hinab, mitten ins Dornengestrüpp. Dort zappelte er herum, es sah aus, als ringe er mit jemandem. Ich rannte hinzu und schüttelte ihn, bis er es sich beruhigt hatte und aus dem Gestrüpp kroch. Sein Gesicht war voller blutiger Striemen, der Mund voll Schaum, die Augen rundherum verquollen und blau, als hätte ihm jemand mit der Faust draufgehauen. Ich glaube, ich habe geweint. Das war der Feind, hatte er mir gesagt. Er lasse niemals ab von ihm. «Ich habe aber nichts gesehen», sagte ich. Doch, meinte er da, doch, er sei überall und nirgends und zuvorderst in unseren Herzen.

Er wolle, dass ich ihn begleite, sagte Vater. Es dauere gewiss nicht lange.

Die Geschwister waren alle fertig mit dem Essen und baten darum, gehen zu dürfen. Mutter nickte. Sie verschwanden aus der Stube und gingen hoch in ihr Zimmer.

«Du solltest deinen Vater begleiten, sagte sie. «Es dauert sicher nicht lange. Schau zu, dass er einen sicheren Ort findet. Du weißt, wie das ist in der Fremde.»

Ich glaube, sie betrog sich selbst. Es muss ihr wehgetan haben, dass er nun schon wieder gehen wollte. Stellt Euch das mal vor: Da heiratet Ihr einen guten, rechtschaffenen Mann, und dann verlässt er Euch für den HERRGOTT.

«Ich dachte, du wolltest zu uns zurück», sagte ich.

Aber Vater meinte, ich solle mich nicht wie ein Narr aufführen. Niemals könne er zurück zu uns. Aber wenn ich ein guter Sohn sei, dann solle ich ihn auf seiner Reise begleiten. Das würde auch meiner Seele wohltun.

Mutter lachte. Allerdings klang es freudloser, als sie wohl beabsichtigt hatte.

«Du weißt doch selbst gut genug, dass dein Vater nie zu uns zurückkommen wird. Er kann nicht. Es ist, wie es ist. Wir schaffen das auch so, GOTT ist mit uns.»

«Ich kann doch meine Frau nicht zurücklassen», sagte ich.

Das Elsi hatte sich bis jetzt herausgehalten. Nun stützte sie die Hände auf den Tisch und sah uns alle an.

«Ich kann mich gut eine Weile alleine um den Hof kümmern», sagte sie. «Geht ihr Männer nur GOTT suchen! Das ist gut und recht.»

«Ich würde lieber hierbleiben», sagte ich und goss Bier nach.

«Ich gehöre hierhin.»

«Du sollst Mutter und Vater ehren», sagte Mutter. Ihre Nasenflügel blähten sich wie ein Klumpen Sauerteig. Beim Sprechen fuhr sie mit den Händen durch die Luft, sodass sie im Licht der Lampe wilde Schatten warfen.

Gehorsam sei die größte Ehre, die es im Himmel und auf Erden gebe, meinte Vater.

«Also gut», sagte ich.

Vater nickte. Er entdeckte einen Flecken Bier auf der Tischplatte und fuhr mit dem dreckigen Fingernagel darin herum.

Das sei recht, sagte er schließlich, sah auf und schlug auf den Tisch.

Das Elsi zuckte zusammen.

Vater sagte, ich solle ihm folgen.

Er erhob sich, drehte sich um, trat aus der Stube und verschwand nach draußen, ohne sich zu verabschieden. Mutter vergrub das Gesicht in den Händen und fing zu weinen an. Ich strich ihr durchs graue Haar.

«Ist ja gut, Mueti», sagte ich, «er kommt sicher zurück.»

Es war mir unangenehm, also beschloss ich, es Vater gleichzutun und das Haus zu verlassen.

Die Luft draußen roch seltsam. Sie biss in der Nase. Ich wusste nicht, was das bedeutete. Ich kannte diesen Geruch damals noch nicht. Es war das Meer. Die Tiere brüllten im Stall, als stünde ein Gewitter bevor. Das Bier hatte meinen Bauch ganz gut gefüllt, weshalb ich erst mal aufs Feld pisste. Den Mond störte das nicht. Der Strahl floss artig dahin, es dampfte und zischte. Gerade wollte ich ein Lied pfeifen, da knallte es. Meine Wange brannte. Jemand riss mich an der linken Schulter herum. Ich stand mit aufgerissenem Mund da. Es war Vater. Seine Augäpfel glänzten im Mondlicht.

«Was sollte das, verdammt?», fragte ich.

Er bekreuzigte sich. Es täte ihm leid. Er sei sonst nicht so. Es sei nun einmal eben der HERR, der es so wolle.

«Wieso soll mich der HERR ohrfeigen wollen?», fragte ich. «Und selbst wenn dem so ist, was gibt dir das Recht, das zu tun? Ich bin schon lange kein Kind mehr!»

Gewiss, sagte Vater, ich sei der Älteste, und deswegen wäre ich auch derjenige, der mitkommen solle. Das sei so vorherbestimmt.

Dumm, wie ich war, damals noch, sagte ich nichts. Ich wandte den Blick ab, da sagte er, dass der Leibhaftige in mir säße. Schon seit ich ein Kind gewesen sei, sei ich zu hoffärtig gewesen und mein Herz zu träge. Ich solle mich meinen Sünden stellen, sagte er.

Dann sprang er auf mich zu. Warf mich fast um. Mein Vater muss wahrhaftig GOTT gehören, dachte ich, so viel Kraft wie der hat! Er drückte mich gegen die Hauswand, sein Gesicht verdeckte den Mond, der über dem Huetstock aufgegangen war. Nicht, dass der Unterschied groß gewesen wäre, bleich waren sie beide.

Er sehe ihn schon wieder!, sagte er. Grad neben mir stünde er. Satan! Der Kohlenfresser! Beelzebub!

Ich versuchte, mich loszumachen, aber er drückte mit beiden Händen gegen meinen Brustkorb.

«Ich komme ja mit», sagte ich, «du kannst loslassen.»

Vater glaubte, der Teufel wolle mich verführen, aus Missgunst gegen ihn, den Mann GOTTES. Für den Leibhaftigen sei er zu stark. Aber ich, ich sei schwach, jung und unerfahren. Er richtete den Zeigefinger auf mich. Er sehe große Übel auf uns zukommen, sagte er.

Dann sprach er von brennenden Häusern, von brachliegendem Land, von sich schälendem Fleisch und verrottenden Leibern. Davon, wie sich die acht Orte entzweien, wie Zürcher und Berner, Luzerner und Urner einander die Schädel spalten, zerfressen von Missgunst und Gier.

«Falls das die Zukunft ist, darfst du sie gern für dich behalten!», rief ich. «Kein Mensch sollte wissen müssen, was ihm blüht. Wenn du einem sagst, dass er verhungern muss, und der aufhört zu arbeiten, um in der Zimmerecke vor sich hin zu faulen, hast du dann Recht gehabt?»

Da meinte er, ich hätte kein Recht, ihm zu widersprechen.

Unser Weg hatte uns bis nach St. Niklausen und zu meinem Hof geführt. Hinter dem Fenster flackerte ein Licht. Das Elsi war bereits zurück. Sie saß am Tisch und sah ins Dunkle. Der Türriegel war kalt wie ein Sargnagel. Ich sah zurück. Vater stand auf der Wiese, dort wartete er in sicherem Abstand zu meinem Hof. Seine Arme hingen herab, als bräuchte er sie nicht mehr. Er konnte nicht nochmals über eine Schwelle treten. Nur schon der Besuch bei Mutter musste ihn sehr viel Kraft gekostet haben.

Ich öffnete die Tür. Drinnen roch es nach Holz, nach Feuer und nach Leben. Elsi hielt einen Humpen in der Hand. Ich setzte mich neben sie auf den Stuhl.

«Hast du mit ihm geredet?», fragte sie.

Sie reichte mir den Bierkrug, und ich nahm einen großen Schluck. Ich ließ ihn im Mund herumschwappen. Dann wollte ich sie küssen. Aber sie zog den Kopf zurück.

«Gehst jetzt?», fragte sie.

In dem Augenblick ging die Haustür auf. Wohl ein Windstoß. Es knarrte. Unterhalb der Treppenstufen war eine Gestalt auszumachen. Vater. Ich konnte ihm nicht ins Gesicht sehen, der langen, dunklen Pein. Dem menschgewordenen Hunger. Ich hob den Krug und prostete ihm zu.

«Geh ruhig, wenn du musst», sagte das Elsi. «Ich komm schon zurecht.»

Vater tat zwei Schritte auf uns zu. Nun stand er vor der Türschwelle. Aber er kam nicht rein.

«Na gut», sagte ich. «Lang werde ich nicht fortbleiben.»

Ich hätte Vaters Gesichtsausdruck, hätte ich mich ihm verweigert, nicht ertragen. Ich merkte, dass das Elsi traurig war und nicht recht verstand, warum ich ging. Aber sie war zu stolz, es zu zeigen. Wenn sie gewusst hätte, dass ich mehr als nur ein paar Tage fernbleiben würde, sie wäre sicher aufgestanden und hätte mich aufgehalten. So aber blieb sie am Tisch sitzen und lächelte.

Was blieb übrig?

Ich stand auf und trat nach draußen. In die Nacht.

IV.

Noch in jener Nacht zogen wir los. Es war der Beginn einer langen Pilgerschaft, die uns überall und nirgendwohin führte. Ein Stück Leben war’s, was da begann – stumpfsinnig wie der Rest. Doch unerfahren, wie ich war, freute ich mich beinahe darauf. Das Herz flatterte mir in der Brust.

Der Pfad schlängelte sich durch die Nacht zum See hinunter. Die Felder sprachen nicht. Also blieben auch wir stumm. Die Erde lag nackt da. Die Ackerfurchen schienen sich weit an den Rand der Welt auszudehnen. Nach einer Weile standen wir am Ufer des Sarnersees. Als Bub hatte ich oft die Füße in den See getaucht. Das kalte Wasser sollte mich abhärten. Vater meinte, es sei wichtig, dass man viel ertragen könne, ohne zu klagen, also ließ ich sie drin, bis sie zu brennen anfingen. Wir folgten dem Uferpfad Richtung Sarnen. Der Große Wagen glitzerte uns aus dem Wasser entgegen, als könnten wir eintauchen, einsteigen und zum HERRN hochfahren. Schon bald erreichten wir die Nordspitze des Sees und kamen zur kleinen Halbinsel.

Vater meinte, hier könnten wir rasten. Zwei Birken krümmten sich zum See hin, darunter nasses Laub. Vater begann gleich, es zur Seite zu kehren, um ein Stück Boden freizuschaufeln. Dann ließ er sich so unsacht auf die Erde fallen, dass mir die Knochen allein vom Anblick schmerzten. Er legte sich hin, klappte die Augen zu, faltete die Hände vor der Brust – und gab keinen Ton mehr von sich. Lag ganz starr da.

Ich sah ihn eine ganze Weile an. Wenn ich’s nicht besser gewusst hätte, ich hätte wohl geglaubt, er hätte eben seine Seele ausgehaucht. Auch ich versuchte zu schlummern, doch der See schlug immer wieder auf das arme Land ein, das ihm doch nichts zuleide getan hatte. Eine Taube gurrte mir aus der Birkenkrone ihr Beileid zu. Die Nässe tränkte mein Hemd, bis es sich anfühlte, als schwämme ich im Wasser. Lange wälzte ich mich hin und her, vergebens. Ich blieb so lange wach, dass ich mitverfolgen konnte, wie der Mond langsam wieder vom Himmel herabstieg. Erst spät in der Nacht dämmerte ich ein wenig vor mich hin – aber nur für kurze Zeit.

Die Sonne war noch nicht recht aufgegangen, als Vater mich weckte. Es war jene seltsame Stunde, nicht Tag, nicht Nacht, in der selbst die Vögel noch schweigen. Mein Kopf war schwer.

Vater sagte, wir sollten aufbrechen.

Er wollte wohl nicht, dass ihn das Volk auf der Straße erkannte, denn das hätte uns nur aufgehalten. Trotzdem waren bereits die ersten Leute in den Gassen, als wir Sarnen erreichten. Ein paar nickten uns zu. Zwei Händler, die gerade ihren Stand aufbauten, hielten inne, zeigten auf Vater und tuschelten, doch schienen sie sich nicht zu trauen, ihn anzusprechen. Vater meinte, ich solle nicht herumtrödeln, er wolle mit GOTTES Hilfe heute mindestens bis nach Luzern.

«So weit willst du?»

Er nickte. Natürlich. Immer nach Nordwesten wolle er, bis ins Elsass.

«Du hast mir nicht gesagt, dass es so weit geht.»

Das sei doch nicht weit, sagte er, das sei eine Woche bis dahin, mehr nicht. Er kenne im Elsass einen Mann, den er um Rat bitten wolle.

«Na dann», sagte ich.

Wir bogen um die Ecke. Da roch ich auf einmal etwas, das mir nicht übel gefiel: frisches, warmes Brot, ein Geruch, der mich zur Backstube von Konrad Sutter führte. Die Tür stand offen, und die Wärme strahlte bis auf die Gasse aus. Von drinnen war Gelächter zu hören. Ich schickte mich an einzutreten, um mir eine Wegzehrung zu holen. Da riss mich Vater am Ärmel.

Er wolle mir nun einmal etwas sagen. Ich solle gut hinhören und es recht mir zu Herzen nehmen.

Er sah mich aus seinen hohlen Augen an, als sei ich so durchsichtig wie ein Butzenfenster, als könne er mir direkt in die Sünderseele sehen.

Das mit dem Essen sei ein Irrglaube. Ich solle ihm vertrauen. Nicht nur er, der Vater, sondern auch ich, der Sohn, dessen sei er sicher, bedürfe keiner Speise – ich müsse nur den Mut finden, darauf zu verzichten.

«Ich kann doch nicht den ganzen Tag gehen, ohne etwas im Bauch zu haben», sagte ich.

Das müsse ich selbst wissen, sagte er. Wer GOTT immer vor Augen habe, der sterbe sich selber und lebe nur für ihn.

Gerade, als mein Magen ein ungeheures Knurren von sich gab, trat der Bäcker nach draußen, um sich das Mehl vom Kittel zu streichen. Er fuhr wild mit den Händen darüber, das weiße Pulver wirbelte durch die Luft.

«Grüß dich, Hans», sagte er.

Er kannte mich, weil das Mehl, aus dem er seine Brötchen buk, auch aus dem Korn unserer Felder stammte.

«Grüß dich.»

«Magst du reinkommen? Wir sind gerade fertiggeworden. Alles ganz frisch.»

Seine brombeerfarbene Nase glänzte im Morgenlicht.

Ich sah zu Vater. Der schüttelte den Kopf, sacht zwar, sodass nur ich es sehen konnte, aber bestimmt.

«Nein», sagte ich. «Ist schon gut.»

Als wir außer Reichweite waren, meinte Vater, ich hätte recht gehandelt, und er sei stolz auf mich. Mir war ein wenig schwindelig, aber ich dachte, er würde es schon wissen, schließlich war GOTT auf seiner Seite.

Erst, als es schon fast ganz eingedunkelt war, näherten wir uns Sempach. Wir waren den ganzen Tag gelaufen, ohne etwas zu essen. Ich hatte in Luzern einkehren wollen, ich fühlte mich schwach und meine Füße schmerzten, aber Vater sagte mir, ich solle mich zusammenreißen, schließlich sei ich längst kein Knabe mehr.

Die Mauern von Sempach sahen aus wie aus Schatten gebaut. Ich sah das Luzerner Tor und beschleunigte meine Schritte. Nur schnell hinein, bevor sie es schlossen. Ich blieb erst stehen, als wir im Städtchen waren, unter Menschen. Meine Glieder brannten. Nun wollte ich so lange essen, bis mir der Bauch platzte, und mich dann unter einer dicken Decke verkriechen. Alles drehte sich: Die Schmieden, Schenken, Bäckereien, der Kirchturm wirbelten durcheinander und flackerten an mir vorüber. Ich wies auf eine Gaststube, einen zweistöckigen Bau mit kleinen Fenstern.

«Lass uns da übernachten.»

Das sei nicht nötig, meinte Vater.

«Ich brauche ein Bett und etwas zu essen.»

Das bilde ich mir bloß ein, das seien Einflüsterungen des Teufels. Er brauche weder Bett noch Speise. GOTT sehe für ihn vor. Ich solle mich nicht fürchten. Er würde für mich beten.

Aber weil die Müdigkeit so schwer wie eine nasse Kutte auf mir lag, prallten seine Worte an mir ab. Ohne mich nach Vater umzudrehen, stapfte ich die Eingangstreppe hoch, öffnete die schwere Tür und schlüpfte in die Gaststube.

Ich grüßte nicht, trat nur zur Theke, leerte meinen Geldbeutel aus – die paar Schillinge, die noch drin waren, purzelten über das Eichenholz – und bat die Wirtin, mir in GOTTES Namen eine Suppe zu bringen. Und ein Bett wolle ich auch.

«Gerne», sagte sie. «Das hast du auch bitter nötig, scheint’s.»

Ich nickte. Dabei wär mir fast der Kopf abgefallen, so schwer war er. Am liebsten hätte ich mich gleich auf die staubigen Holzdielen gebettet, aber die Wirtin wies mich in die Küche, wo sie mir eine dicke Hafersuppe schöpfte. Ich sah die Suppe an. Die Haferflocken hatten wohl den ganzen Tag in der Salzbrühe gehockt und sich mit dem Wasser vollgesogen. Dazwischen guckten ein paar gräuliche Rübenstücke hervor. Mich überfiel ein ungeheurer Ekel, ohne dass deswegen jedoch der Hunger verschwunden wäre. Ich fühlte mich wie eine Maus in der Falle, konnte weder vor noch zurück.

«Soll ich dir helfen?», fragte die Wirtsfrau und nahm, weil ich nicht gleich antwortete, den Löffel, um ihn mir an den Mund zu halten.

Ich machte den Mund auf und schluckte. Der Brei war erkaltet, ich spürte, wie er mir den Rachen hinunterrutschte.

Nachdem sie mir drei Bissen verfüttert hatte, riss ich den Löffel an mich. Dennoch kam es mir vor, als würde jemand anderes die Hand bewegen.

Als ich genug gegessen hatte, führte sie mich eine Treppe hoch. Im Treppenhaus war es düster, die Wirtin hatte nur eine kleine Talglampe in der Hand, deren Geruch mich würgen machte. Sie öffnete die Tür zu einer Kammer mit drei Betten. Zwei davon waren bereits besetzt, dicke Bauersleute waren’s, ihr Geschnarche erfüllte die Luft, die Wolldecken wogten hoch und nieder. Die Wirtin schwenkte die Lampe.