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Ein Stück Holz erzählt seine Geschichte: Einst gehörte es zu einem alten Olivenbaum in Palästina, der dem Propheten Jeschua und seinen Freunden Schatten spendete, dann wird es zum Kreuz, an dem der Prophet endet. Und als der Direktor eines Wandertheaters einen Klotz mitnimmt und in seine Bühne verbaut, beginnt eine abenteuerliche Reise. Das Holz trifft auf den römischen Kaiser Nero, orthodoxe Mönche, den russischen Zaren, islamische Gelehrte, den Papst, Faschisten und Kommunisten, Erfinder und Terroristen – und verfolgt mit Ironie und Skepsis, was der Mensch durch die Jahrhunderte so treibt …
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Seitenzahl: 251
Veröffentlichungsjahr: 2021
Zum Buch:
Ein Stück Holz erzählt seine Geschichte: Einst gehörte es zu einem alten Olivenbaum in Palästina, der dem Propheten Jeschua und seinen Freunden Schatten spendete, dann aber gefällt und zu einem Kreuz verarbeitet wurde, an dem der Prophet endet. Magische Kräfte scheinen dem Holz daraus zu erwachsen, wer es berührt, wird von einem eigenartigen Schauer erfasst. Und als der Direktor eines Wandertheaters ein Stück des Holzes mitnimmt und in seine Bühnenkonstruktion verbaut, beginnt eine abenteuerliche Reise. Das Holz trifft auf den römischen Kaiser Nero, auf orthodoxe Mönche, die es zur rätselhaften Ikone machen, auf den russischen Zaren, islamische Gelehrte, den Papst, Faschisten und Kommunisten, Maler und Philosophen, Erfinder und Terroristen.
Mit Ironie und Skepsis verfolgt dieser ungewöhnliche Erzähler, was der Mensch durch die Jahrhunderte so treibt, sieht seinen Fortschritt wie seine Grausamkeit, den Gegensatz zwischen Wissenschaft und Glauben und das Ineinander von Geschichte und Gewalt und hegt doch stets die größte Hoffnung für dieses begnadete Geschöpf, das sich selbst der größte Feind ist. Wie nebenbei, leichtfüßig und augenzwinkernd, führt das Fluchholz durch die letzten zweitausend Jahre Menschheitsgeschichte.
Zum Autor:
JOHAN DE BOOSE wurde 1962 in Gent geboren, hat Slawistik studiert und sich intensiv mit Osteuropa beschäftigt. Er hat Romane, Sachbücher, Gedichte und Theaterstücke verfasst. Für sein bisheriges Werk wurde er mit mehreren Preisen ausgezeichnet, u. a dem Halewijn-Preis, dem Henriette-Roland-Holst-Preis und dem Cutting Edge Award. »Das Fluchholz« kam auf die Shortlist des Libris-Literaturpreises und erhielt den Preis für das beste spirituelle Buch.
Zum Übersetzer:
RAINER KERSTEN, geb. 1964 in Bebra, ist der Übersetzer von u. a. Arnon Grünberg, Tom Lanoye und Dimitri Verhulst. 2014 wurde er mit dem Else-Otten-Übersetzerpreis ausgezeichnet.
JOHAN DE BOOSE
DAS FLUCHHOLZ
Roman
Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten
PROLOG
KAPITEL EINS
von einer geschändeten Mutter, dem Haus des Brotes, der Schädelstätte und einem kleinen Holzklotz
KAPITEL ZWEI
von Speeren homerischer Helden, einem unsichtbaren Markthändler, einem eitlen Leichentuch, dem Tempelschlaf, dem Konstrukteur des Todes und dem Spiegel des Gewissens
KAPITEL DREI
von Gottszuckerschneckchen und Gutgeboren, einer irren Tätowierung, einem heiligen Toren, dem Spiegel des Todes, Hyänen, Zeitreisen, einer Belohnung, um die einen keiner beneidet, und einer missgünstigen Vorhaut
KAPITEL VIER
von islamischen Schülern, Geschichten, die die Gottheit mehr interessieren als Gebete, einem ungeladenen Gast und der unerreichbaren Versöhnung
KAPITEL FÜNF
von einem Traumlaboratorium, dem Museum der Zukunft, einem selbstgebauten Himmel und einer fliegenden Kutsche
KAPITEL SECHS
vom Keller der kleinen Herzogin, einem Seelenhirten, der Jules Verne liest, einem alten Fetzen, der Höhle des Löwen, der Unversöhnlichkeit von Wissenschaft und Religion und von verkommener Moral
KAPITEL SIEBEN
eine Parabel
KAPITEL ACHT
von einem Paradepferd, einer Schießscheibe, Schmalzstullenschmierern und dem Embryo aller Möglichkeiten
KAPITEL NEUN
von einem Göttersohn, einem tragischen Tausch und einem überfüllten, aber leeren Palast
KAPITEL ZEHN
von einer Küchenschublade, Bewohner Numero einunddreißig, einem Erreichten, das niemals genug ist, und einem verstohlenen Blinzeln
KAPITEL ELF
Mahmud erzählt
KAPITEL ZWÖLF
vom gelobten Land, kleinen Füßen und einem einfachen Wunsch
Am ersten Tag des Frühlings komme ich in der sibirischen Stadt Jekaterinburg an, im Herzen des Urals, wo fast ein Jahrhundert zuvor, im Jahr 1918, der letzte russische Zar und seine Familie erschossen wurden.
Ich höre das Eis auf den Flüssen brechen wie Kristall.
Zar Nikolaus war ein weltfremder Sonderling. Seine Frau war aufgrund ihrer deutschen Abstammung bei seinem xenophoben Volk alles andere als beliebt. Ihre vier Töchter waren elegante Exzentrikerinnen. Der einzige Sohn und Thronfolger war ein kränklicher Knabe, der stets Matrosenanzüge trug. Er litt an Hämophilie: Schon an einer kleinen Verletzung konnte er verbluten. Ein halbirrer Mönch namens Rasputin versuchte, den Jungen mit magischen Mitteln zu heilen. Zum Zeitpunkt der Exekution der Familie hatte man auch Rasputin längst zur Strecke gebracht. Es war die Zeit des großen Mordens.
Im Auftrag des bolschewistischen Revolutionsführers Lenin wurde die Zarenfamilie mitten in der Nacht von betrunkenen Soldaten ermordet, weil eine neue Zeit angebrochen war, die Zeit der Sowjets, in der es keinen Platz für Aristokraten mehr gab.
Über einen Waldweg fahre ich zu dem Ort, wo die Leichen der Zarenfamilie in einen alten Bergwerksschacht geworfen wurden. Den Schacht gibt es noch immer, die sterblichen Überreste jedoch – oder was von ihnen übrig blieb, nachdem man sie mit Salpetersäure übergossen hatte – wurden exhumiert und in eine Kirche nach Sankt Petersburg überführt. Russen sind verrückt auf Neubestattungen. In der Umgebung des Schachts, der Senkgrube von fast tausend Jahren europäischer Geschichte, ist ein Klosterkomplex mit hölzernen Kirchen und gepflegten Pilgerherbergen entstanden. Am Eingang des Schachts stehen sieben Bäume, für jedes Mitglied der Zarenfamilie einer.
Ich glaube schon lange nicht mehr an Götter. Vielmehr schafft der Mensch sich seinen Gott oder seine Götter selbst, nicht umgekehrt, aber hier, fast zweitausend Kilometer von Moskau entfernt, mehr als viertausend von meinem Zuhause und meinen Lieben, an der Grenze von Europa und Asien, gerät mein Skeptizismus ins Wanken. Die Luft flirrt in der frühen, aber schon brennenden Sonne. Der bereifte Boden knirscht unter meinen Sohlen. Ich betrete die hölzerne Hauptkirche. Es ist, als stiege ich in eine Gruft. Ich weiß: Hier herrscht der Tod. Niemand wird mir auf die Schulter tippen, trotzdem stockt mir der Atem.
Vater Fjodor – vom Alter her könnte er mein Sohn sein, doch russische Mönche heißen nun einmal Vater – ist ein hübscher junger Mann mit der Taille eines Tänzers und dem Gesicht eines Models. Er hat blühende Wangen. Auf seinem Kinn sprießt rötlicher Flaum.
»Christos woskrese«, sagt er, wörtlich: »Christus ist auferstanden« auf Altrussisch. Das sagen die Mönche statt »Guten Tag«. Er trägt das rabenschwarze Gewand seines Ordens und hüstelt nervös. Wie ich höre, ist er studierter Historiker.
Ich folge ihm mit zitternden Knien, während ich mir die stümperhafte Exekution der Zarenfamilie vorzustellen versuche, in der Nacht vom 16. auf den 17. Juli (nach Gregorianischem Kalender). Die Soldaten waren so betrunken, dass sie nicht richtig trafen und ihre Arbeit mit Bajonetten zu Ende bringen mussten. Im Keller, in dem dies geschehen war, watete man in Blut. Unterdessen glaubte das Volk, die Zarenfamilie sei ins Ausland geflohen, weit weg von der Revolution, vom Krieg und vom Typhus. In seinem letzten schriftlichen Zeugnis spricht Zar Nikolaus vom überwältigenden Duft der Obstgärten in der Umgebung. Ich nehme ihn auch jetzt wahr, fast ein Jahrhundert später, im Geruch der auftauenden Erde.
»Mögen Sie Ikonen?«, fragt Vater Fjodor.
Ich antworte, für mich seien sie die schönsten überhaupt denkbaren Gemälde, und ich könne sie stundenlang ansehen.
»Sie irren sich«, erwidert Vater Fjodor, »Ikonen sind keine Gemälde, keine Objekte der Kunst. Sie sind nicht die Abbildung einer Person, sie sind die Person selbst.«
Ich nicke.
»Und zweitens sieht der Mensch eine Ikone nicht an. Die Ikone sieht ihn an. Kommen Sie.«
Er führt mich zur Ikonostase, der Wand zwischen Kirchenschiff und Altarraum, die für den gläubigen Russen das Tor zwischen Himmel und Erde darstellt, die Tür zur anderen Welt.
Vater Fjodor berührt mich an der Schulter. »Ich habe etwas für Sie, etwas sehr Interessantes«, sagt er. Er führt mich zu einer Nische neben dem Haupteingang. Auf einem Lesepult steht eine Ikone, die ich zuerst nur mit Mühe erkenne.
»Das hier«, sagt Vater Fjodor, »wird Sie zweifellos interessieren.«
Meine Augen müssen sich erst an das Dunkel gewöhnen. Zu guter Letzt erkenne ich die Darstellung: eine herrliche junge Frau, zweifellos Maria, die Mutter Jesu, in jeder Hinsicht vollkommen, greifbar, sinnlich. Ich betrachte sie genauer. Der erste Eindruck stimmt: Marias Augen sind geschlossen.
»Warum schließt Maria die Augen?« Schon während ich die Frage stelle, bin ich mir nicht mehr so sicher. Hält sie die Augen geschlossen, oder senkt sie einfach den Blick?
Er grinst, als glaube er seine Antwort selbst nicht: »Nur der wahrhaft Gläubige sieht, wie ihre Augen sich öffnen.«
Ich zeige mit dem Kopf auf die Frau, dann auf den Mönch. »Haben Sie je …?«
Vater Fjodor legt sein Gesicht in Falten. »Nein«, antwortet er. »Aber vielleicht in hundert Jahren, vielleicht in tausend, eines Tages …«
Minutenlang starren wir auf die Ikone, bis meine Lider anfangen zu zucken. Will sie mich nicht ansehen? Oder wagt sie es nicht? Ist sie in sich gekehrt, oder hält Schamgefühl sie davon ab? In dem Fall gibt es noch Hoffnung. Für einen Moment berühre ich die Ikone. Meine Fingerspitzen glühen.
Wir verlassen die Kirche. Ich rieche die Obstgärten. Den Wald. Die Herbstblätter, die nach sieben Wintermonaten auftauen. Das unbändige Grün. Den ersten Fisch draußen im See. Das mythische Sibirien.
Mit einem Händedruck bedanke ich mich bei Fjodor.
»Rendezvous in hundert Jahren«, sagt er, »oder in tausend.«
Er könnte Tänzer sein, von allen bejubelt, vergöttert, doch er kehrt in sein Studierzimmer zurück, seine Mönchszelle, wo er Ikonen malt und zur Entspannung auf seinem Smartphone Rockmusik hört. Ich habe vergessen, ein Foto von der Ikone zu machen, fällt mir hinterher ein.
Ich betrachte meine Hände und kehre in meine Kammer in einem Bauernhaus zurück.
Auch habe ich vergessen, meinen hippen Mönch zu fragen, wie eine Ikone einen Menschen ansehen kann, wenn die Augen der abgebildeten Person, die eigentlich keine Abbildung ist, sondern die Person selbst, geschlossen sind. Oder fast geschlossen.
Irgendwann einmal werde ich zurückkehren und ihn fragen.
In der Nacht bricht ein gewaltiges Unwetter los. Durch einschlagende Blitze entstehen zahllose Brände. Ein morgendlicher Regenschauer löscht alle Feuer.
von einer geschändeten Mutter,dem Haus des Brotes,der Schädelstätteund einem kleinen Holzklotz
SOLANGE die Vergewaltigung dauert, betrachte ich unentwegt ihre Augen. Sie haben sie den Berg hinaufgejagt, den Berg, auf dem ich schon mein Leben lang stehe, im Herzen der Wüste. Sie ziehen ihre Uniformtuniken hoch und stürzen sich auf sie, einer nach dem anderen. Ihre Helme verrutschen dabei.
Sie heißt Maryam, erfahre ich später. Ihr Mund steht weit offen, aber ich höre ihr Schreien nicht, denn meine ganze Aufmerksamkeit gilt ihrem Blick, ist von ihm gefesselt, ihren brechenden Pupillen, all der Jugend und Unschuld, die da mit einem Mal pulverisiert werden. In den Rissen ihrer zerborstenen Schönheit quellen Tränen empor, als bräche das Eis eines zugefrorenen Tümpels, und das darunter verborgene Wasser stiege nach oben.
Sie kommen mit spastischen Zuckungen. Wackere Krieger auf Urlaub, Kinder im Körper eines Mannes. Sie pissen den Namen, den ihre Mutter ihnen gegeben hat, in den Sand. Sie pissen auf mich, denn dazu sind Bäume ja da, und sie pissen auf Maryam. Sie spucken sie an und kehren in ihr Feldlager zurück, zu ihren Pritschen und erbärmlichen Kriegen.
Seit jenem Tag hat Maryam den Blick einer alten Frau. Haare können in einer Nacht grau werden. Von einem Moment auf den anderen kann der Spiegel der Seele ein Menschenleben überspringen. Sie ist kaum dreizehn. Junge Mutter und schon altes Weib.
Immer wieder kehrt sie unter meine Krone zurück. Zurück an den Ort, wohin die Soldaten sie an den Haaren geschleift haben, sie, die »kleine jüdische Ratte«, wie sie sie nannten. Hier auf dem Berg, zwischen Himmel und Erde, kann sie ungestört trauern. Und ich tue das Einzige, was ich kann: Ich spende ihr Schatten.
Die Wüste ist meine Mutter. Seit Jahren stehe ich, tief verwurzelt in ihrem Bauch, unabänderlich im versengenden Wind, dazu bestimmt, auf immer hier stehen zu bleiben, denn das ist meine Natur. Ich lebe vom Regen, der einige gnädige Male pro Jahr fällt, und von den Mineralien, die tief im Sand schlummern. Ich bin zum Schweigen verurteilt, auch das ist meine Natur, aber ich rede unausgesetzt mit mir selbst, obwohl ich weiß, dass niemand mich hört. Auch zu Maryam spreche ich pausenlos in der herzzerreißenden Stille.
Nach dem Vorfall zu meinen Füßen bin auch ich verändert. Oft fühle ich mich gefangen, in meiner Rinde, im Boden. Weil ich meinen Platz nicht verlassen kann, recke ich die Äste zum Himmel, als Olivenbaum bin ich nicht groß, aber ich strecke mich aus, ganz weit, bis es in all meinen Zweigen wehtut, in der Hoffnung, Maryam so ein wenig zu trösten. Ich habe das sogar Menschen schon tun sehen: Sie recken sich in die Höhe, imaginäre Flügel ausbreitend. Seltsam, denn sie können sich doch von der Stelle bewegen. Für welchen Schmerz suchen sie Tröstung? Für ihr kurzes Leben, ihre Unfähigkeit, etwas daraus zu machen, und wenn sie etwas daraus gemacht haben, für ihre Angst vor dem Tod.
Ich weiß noch nicht, dass Maryams Schwangerschaft nicht nur für mich, sondern für den Lauf der gesamten Welt eine Veränderung bedeuten wird.
Sie kann mit niemandem über das Geschehene sprechen, nicht mit ihren Eltern, der alten Hanna und dem greisen Jojakim, die lange kinderlos blieben und ihre einzige Tochter vergöttern, genauso wenig mit ihrem Verlobten Josef, der offenbar (ich habe ihn nie gesehen, aber ich weiß es von ihr) mit einem Bein schon im Grab steht.
Wenn Maryam bei mir ist, liegt sie auf dem Rücken, die Augen geschlossen. Ihre Haut ist rein wie die eines Kindes und glänzt wie nasse, rote Erde. Ihre Nase ist wie eine Schanze, eine steile, jubelnde Linie. Ihre Augenbrauen bilden einen einzigen, ununterbrochenen Bogen. Ihre Lippen beben häufig, unentwegt scheint sie zu lächeln, auch wenn sie trauert, und sie trauert immer.
Einmal, als ihr Bauch sich schon wölbt, sagt sie, dass sie es nicht will.
Was will sie nicht?
Sie schmollt: »Aber mein Herr hat es so befohlen.«
»Wo ist denn dein Herr?«, frage ich. »Was hat er befohlen? Immer wollt ihr Menschen unbedingt einen Herrn haben. Ihr denkt ihn euch aus. Ihr nennt euer Schicksal euren Herrn.«
Sie richtet sich auf und schaut sich um mit ihren alten Augen, als habe jemand soeben ihre sündigsten Gedanken ausgesprochen, Gedanken, für die sie am Abend die Engel auf Knien um Vergebung wird bitten müssen, die Engel, die ihre Träume bevölkern und ihr obskure Aufgaben einflüstern.
»Man darf seinen Herrn nicht verleugnen«, sagt sie. »Ihn leugnen ist genauso schlimm wie ihn töten. Und wer ihn tötet, tötet sich selbst.« Sie denkt lange nach. »Er ist der Ast, auf dem du sitzt. Sägst du ihn ab, fällst du.«
Sie hat ein helles Köpfchen, diese unselige, geschändete Kind-Mutter. Jetzt ist sie wütend. Schlägt mit den Fäusten um sich, als kämpfte sie mit einem Engel.
Hat sie schon vergessen, was geschehen ist? Sie stinkt nach dem niederträchtigsten Verbrechen, begangen im Auftrag ihres Herrn, noch dazu, »um die Menschheit zu retten«! Sie will es nicht, aber sie fügt sich.
»Ich habe einen schrecklichen Auftrag bekommen«, sagt sie, während sie sich den Bauch drückt, »einen Auftrag, der niemals mehr endet«, sie boxt auf den hervorquellenden Nabel, »nicht mal mit meinem Tod.«
Sie stolpert ihrem Schicksal entgegen.
Wenn ihre Fruchtblase platzt, was bald der Fall ist, wird sie sich »Auserkorene« nennen und sagen, sie sei »stolz«.
Die Jahre vergehen.
Ich verdränge die Langeweile und versuche zu vergessen, dass ich lebe. Am Fuß meines Berges sehe ich Könige aus fernen Ländern vorüberziehen, beladen mit stilvollen Geschenken für andere Könige. Sie regieren die Welt. Später ziehen Hirten vorbei, Händler, Propheten, Flüchtlinge, vor allem Glücksritter, einer ungewissen Zukunft entgegen.
Dann sehe ich lange Zeit niemanden mehr.
»Der Sand der Zeit ist beinah verronnen«, höre ich einen Hirten sagen. »Die Welt ist geschaffen, schnell unterzugehen, damit man abrechnen kann und das künftige Leben kommt.« Er flüstert es seinen Schafen zu, die den Kopf schief halten, voll Verständnis für das Geschehen der Welt.
Das Kind aus Maryams verwüstetem Schoß ist ein hübscher junger Mann geworden. Er hat ihre Schönheit geerbt, ihr Lächeln, ihr rabenschwarzes Haar, ihre ununterbrochenen Brauen, doch sein Blick ist anders, in ihm blitzt der Samen des Vergewaltigers.
Er macht es sich zu meinen Füßen bequem, wie seine Mutter mit ihrem durchbohrten Leib das einst tat, dem Bauch, in dem er schon herumschwamm.
Er reißt sich das Hemd vom Leib. Ich sehe seine perlenübersäte Haut. Seine Männlichkeit liegt in seinen Lenden wie eine junge, sandbestäubte Eidechse. Ich habe in meinem Schatten schon andere Dinge gesehen, Soldaten mit Schwänzen wie Kobras. Auch die, die ihn zeugte.
Der Junge sagt, er wisse es nicht. Dass er nicht will.
Alles geht wieder von vorn los. Der Bengel träumt von denselben Engeln wie seine Mutter.
»Was willst du nicht, hübscher, nackter Junge?«
Er führt Selbstgespräche, wie alle gequälten Seelen.
»Ich habe eine seltsame Mission«, sagt er ein paarmal hintereinander, wie um sich zu überzeugen, »eine Mission, die ich nicht ablehnen darf, aber wenn ich meinem Herzen folge«, hier bricht er fast in Tränen aus, »würde ich viel lieber Zimmermann werden – oder Schauspieler.«
Wer hat ihm diese seltsame Mission auferlegt? Die Engel seiner Mutter. Er riecht noch nach ihrer Brust. Er spielt noch mit Holzfiguren. Beobachtet verstohlen die Mädchen im Fluss, doch gleichzeitig ist er ein Verdammter, ein Sklave der Angst. Er zeichnet einen Baum in die Luft und klammert sich daran fest.
»Jedes Zeitalter bringt Menschen hervor«, sagt er mit hoher, sanfter Stimme, »die fähig sind, die Welt zu verändern.«
Ich mache mich darauf gefasst, dass jetzt er von seinem Herrn anfängt oder von flehentlichen Bitten am Fußende seines Betts oder von Urmutter Maryam.
»Aber ich will Bildhauer werden … oder Weinhändler.«
Ich sage: »Menschen brauchen einen Herrn, vor dem sie Angst haben können. Sie müssen jemanden fürchten.«
»Nein«, erwidert er mit einer Geste, als verjage er eine Wespe, »ich darf es nicht ablehnen. Sie wollen, dass ich ihr Herr werde, ihr König.«
Ach, unglückseliger Junge! Kaum dem Mutterschoß entkommen, setzt er sich schon auf einen Thron.
Er weint sich in den Schlaf. Bleibt stundenlang auf der Seite liegen.
Ich bedecke ihn mit meinem Schatten, wie ich es einst bei seiner Mutter getan habe. Er riecht nach Sauerteig, er ist in der Stadt Bet Lehem geboren, dem »Haus des Brotes«.
Wenn ich später an ihn denke, und das tue ich oft, werde ich jedes Mal Brot riechen.
Sein Name, Jeschua, bedeutet Erlösung.
Der Berg, auf dem ich stehe, ist nicht wirklich hoch, trotzdem dauert es einige Stunden, bis man bei mir ist, wegen des wegrutschenden Sands und der Unmengen steinharten Gestrüpps. Auf meinem Berg habe ich einen erhabenen Standpunkt über der Welt. Ich kann alles sehen. So denke ich jedenfalls, obwohl ich weiß, dass die Welt am Horizont nicht aufhört. In Wirklichkeit – entnehme ich Gesprächen von Reisenden – beginnt die Welt dort erst richtig.
Jeschua kommt oft zu mir. Es tut ihm gut, wenn er den Menschen, die allerlei Tricks von ihm erwarten, Tricks, die sie Wunder nennen, hin und wieder entwischen kann.
Eines Tags gegen Abend bringt er drei Freunde mit. Der erste heißt Jochanan, ein junger Mann mit spitzem Gesicht und Kraushaar, durch das Jeschua gern mit den Fingern fährt. Der zweite heißt Kefa, ein Mann mit Ringbart und abschätzigem Blick. Der dritte, Ja’akov, ist ein runzliger Fischer mit abgebrochenen Zähnen und durchdringenden Augen.
Jochanan, Kefa und Ja’akov suchen sofort meinen Schatten, doch Jeschua, an dem Tag besonders mürrisch, stellt sich nackt in die brennende Sonne.
Die Freunde rufen, er sei nicht ganz bei Trost, die Sonne sei tödlich, aber er rührt sich nicht von der Stelle. Sie wagen es nicht, ihn mit Gewalt zu sich zu holen, weil er sie vor einer großen Macht gewarnt hat, die in ihm wohne.
Ich belausche sie. Sie sagen, so gehe es nicht weiter, um nichts in der Welt wollten sie seine Freundschaft missen, seine politischen Ideen – exakt diese Worte – teilten sie ja, obwohl sie sie immer gefährlicher fänden, aber … Was sagen sie jetzt? Ich spitze die Ohren, denn sie flüstern, und höre: »… wir müssen uns ernsthaft fragen … ist er wirklich der große Zampano, für den er sich ausgibt … oder … oder ist er ein Schwindler …« So Ja’akov, der vierschrötige Fischer. Er zittert nervös.
»Schäm dich, so was zu sagen«, erwidert der verzweifelte Lockenkopf Jochanan, der meiner Meinung nach in Jeschua verliebt ist. »Er ist unser Meister, wir müssen ihm seine Launen vergeben, hinter allem steckt ein geheimer Sinn …«
»Letztens«, sagt Kefa, »fragte er mich, was ich über das Leben nach dem Tod denke … Ich hatte nicht gleich eine Antwort parat … Und er … er lachte …«
»Ich habe ihn noch nie lachen hören«, sagt Jochanan.
In dem Moment stößt Jeschua einen hohen Schrei aus. »Ich weiß es nicht«, ruft er, als antworte er jemandem, aber nicht seinen Freunden. »Ich weiß es nicht … Ich weiß es nicht …«
Er steht schon so lange in der Sonne, dass seine Haut rot ist wie der Sand. Sein Körper reflektiert das Licht und fängt an zu leuchten, als wäre er selbst eine Sonne. Der Mann, der »Ich weiß es nicht« ruft, macht jeden, der ihn ansieht, stockblind.
Kurz darauf steht dort kein nackter Mann im blendenden Licht mehr. Sein Bild dehnt sich, wird auseinandergezogen und aufgespalten, so dass er erst breiter und heller zu werden scheint und dann in drei Teile zerfällt. Als stünden dort nicht ein Jeschua, sondern gleich drei, die einander spiegeln.
Ich versuche zu hören, was die drei Jeschuas untereinander sagen. Einige Male schnappe ich das Wort »Tod« auf, aber ansonsten wird das Gespräch von den Stimmen der Freunde übertönt.
Jochanan, der verliebte Jünger, sagt: »Jeschua, was machst du, um Himmels willen? Bald hast du einen Sonnenbrand! Hast du dir wenigstens Öl auf die Schultern geschmiert?«
Ja’akov sagt: »Ist das wieder einer deiner Tricks, oder gaukelt mir die Natur etwas vor? Stehen da drei Männer, oder bist du das allein, und ich bin besoffen vom Licht?«
Kefa sagt: »Jeschua, bald wird es dunkel, und wir müssen den ganzen Weg bis nach Hause. Bauen wir uns schnell noch ein Zelt, dann können wir, du und deine Geister schon mal ein wenig ausruhen, denn morgen will ich früh raus und fischen. Oder bauen wir besser gleich drei Zelte.«
Ich habe schon mehr Fata Morganas erlebt, aber diese ist wirklich ein physikalisches Wunder.
Jeschua klappt zusammen. Seine Spiegelbilder, Geister, Zwillingsbrüder oder wie man sie nennen möchte, sind verschwunden. Ich spüre, dass sich eine Wolke vor die Sonne schiebt, Vorbotin eines kurzen, aber heftigen Gewitters. Jeschua kehrt zu seinen Freunden zurück. Er fiebert. Jochanan nimmt ihn in die Arme und küsst ihn. Ja’akov gibt ihm Wasser aus einem Krug. Kefa sagt: »Vergib uns, dass wir gelegentlich an dir zweifeln, aber eins steht auch fest: Du läufst nicht ganz rund.«
Jeschua sagt: »Ich habe in die Vergangenheit geblickt, um die Zukunft zu sehen.«
Kefa flüstert: »Du bist total meschugge, Meister.«
Jochanan fragt: »Hast du da allein gestanden, oder waren wirklich noch zwei andere Männer bei dir? Wer war das? Hättest du sie uns nicht vorstellen können? Und wo sind sie jetzt?«
»Ich könnte ein ruhiges Leben führen«, antwortet Jeschua, »ohne Risiko und zweifelhafte Ideale, zufrieden mit mir, ohne mich um andere zu kümmern, von ihnen abgewandt und doch glücklich.«
»Dann lass uns nach Hause gehen«, sagt Ja’akov. »Gleich geht die Sonne unter, und wir müssen noch ein ganzes Stück laufen.«
»Wir gehen nicht nach Hause zurück«, sagt Jeschua.
»Wir müssen, hast du den Verstand verloren?«, erwidert Kefa. Er wendet sich an die anderen: »Ich hab’s doch gesagt, er ist völlig meschugge!«
»Wir gehen nicht zurück«, sagt Jeschua, während er sich den Fieberschweiß von der Stirn wischt, »wir gehen weiter, zu der Stadt dort am Horizont.«
»Du bist nicht bei Trost«, sagt jetzt auch Jochanan, »du weißt, du bist vogelfrei, sie jagen dich wie einen Verbrecher. Du hast allen gesagt, du willst den Tempel einreißen und in drei Tagen wiederaufbauen. Du hast Terror das Wort geredet. In der Stadt, wo du hinwillst, werden sie dich zum Tode verurteilen.«
»Liebst du mich?«, fällt ihm Jeschua ins Wort.
»Mehr als irgendwen sonst auf der Welt«, antwortet Jochanan und drückt ihm einen Kuss auf die Hand.
Jeschua betrachtet den Baum, der ihm Schatten spendet. Er schaut mich an! Mit einem Lächeln. Ich sehe das Gesicht seiner Mutter.
»Wer mich wirklich liebt«, sagt er, »folgt mir.«
Er geht davon – seinem und meinem Schicksal entgegen.
Seine Freunde folgen ihm fluchend.
Die Geschichte macht eine Kehrtwende.
Die Soldaten kommen auf mich zu. Ob ich es will oder nicht.
Sie! Kommen! Auf! Mich! Zu!
Ich kenne sie nur allzu gut, diese Helden-Vergewaltiger. Rotzbengel. Sie kommen aus der Stadt, wo Jeschua unbedingt hinwollte, Jeruschalajim, der sogenannten Stadt des Friedens. Warum Jeschua sich die Stadt in den Kopf gesetzt hatte, weiß niemand. Er lief seinem Schicksal entgegen, wie in alten Büchern geschrieben und weil sein Herr das so wollte (so sagte er selbst).
Die Rotzbengel und ihre Anführer, die, wie ich hörte, im fernen Rom auf dem Thron sitzen, reißen sich alles unter den Nagel: die Wüste, die tausend Jahre alten Olivenbäume auf den Hügeln, mich inbegriffen, auch wenn ich etwas jünger bin, die Dörfer, die Schweine, die Neugeborenen, das zerbrechliche Glück der Menschen – und die Jungfrauen, vor allem die Jungfrauen.
Sie heben ihre Beile und hacken drauflos, bis mein Unterleib bricht und ich weinend umfalle. Mein heimlicher Wunsch wird erfüllt. Endlich bin ich aus dem Gefängnis der Erde befreit – doch um welchen Preis? Ich verliere alles: meine Ruhe, meine Wurzeln, Maryam, mein langweiliges, aber sorgloses Leben. Sie zerren mich auf einen Karren. Bringen mich an einen Ort, der nach totem Fisch riecht. Dort lassen sie mich liegen. Am Horizont sehe ich Berge. Auch meinen eigenen. Und das da, ist das die Stadt, die größte Stadt der Erde? Oder der Anfang einer neuen Welt?
Ich, der so gern sein Schicksal hinter sich lassen wollte, sehne mich plötzlich danach, mit meinen verstümmelten Füßen im Sand festzustecken, ausgeliefert dem Geist der Wüste. Ich, der unbedingt wegwollte, will jetzt nur noch bleiben. Ich, der nicht nur an einem Ort leben wollte, werde mich ewig an diesen Ort zurücksehnen. Was stimmt nicht mit mir?
Um mich herum liegen weiße Steine. Ich sterbe nicht. Noch nicht. Meine Metamorphose ist vollendet, vom Olivenbaum zum geschlagenen Holz. Ist der nächste Schritt das Verdorren, Verrotten, das, was die Menschen den Tod nennen? Sie benutzen das Wort ziemlich oft.
Hunde beschnüffeln mich und heben an mir ihr Beinchen. Ihr Urin spendet meinem fiebernden Körper Kühlung. Dies ist, ich bin mir sicher, meine letzte Nacht.
Früh am Morgen – ich muss träumen, ganz bestimmt – werde ich auf eine gewünschte Größe gehackt. Wieder Axtschläge, dann Hobeln und Feilen auf meiner blanken Haut, würgender Schmerz. Die zwei Balken, aus denen ich jetzt bestehe, werden kreuzweise zusammengefügt.
Es dauert lange, bis ich mich umzuschauen traue. Ich bin nicht allein. Im Laufe der Nacht kommen zahllose Artgenossen hinzu, alles umgehackte Bäume, in Stücke gesägte, schöne Körper. Wir wagen es nicht, einander anzusehen. Ich habe Angst, dass sie uns zu Stapeln aufschichten und anzünden.
Das um uns herum sind keine weißen Steine, es sind Schädel.
Am nächsten Tag bringen sie mich, nur mich, auf einen staubigen Platz, wo eine sensations- und wundergierige Menge schon ungeduldig wartet. Ich werde in die Mitte des Platzes gelegt. Die Augen der Menge sind sehnsüchtig auf das Tor eines grauen Gebäudes gerichtet. Soldaten halten mit ihren Speeren wütende Männer auf Abstand. Eine Frau, die sich schluchzend auf die Knie wirft, wird geschlagen. Eine Gruppe Jugendlicher stimmt ein Klagelied an. Sehe ich Maryam? Ist sie das? Maryam, bist du da? Ein altes Mädchen, noch älter geworden, ein altes Weib, vor Schmerzen gekrümmt, die Hände vor den hängenden Brüsten, kaum noch in der Lage, auf eigenen Beinen zu stehen.
Ich flehe zum Gott der Olivenbäume – ein Herr, den ich spontan und wider besseres Wissen phantasiere –, mich von hier wegzuholen, notfalls durch Feuer, mit einem Blitz zum Beispiel, denn meine Intuition sagt mir, dass johlende Mengen nichts Gutes bedeuten. Je mehr ich meinen Gott anflehe, desto tiefer hüllt der sich in Schweigen. Eine Spezialität aller Götter.
Als das Tor sich öffnet, wird das Gejohle ohrenbetäubend. Der Mann, der so oft in meinem Schatten gelegen hat, ratlos und grübelnd, Jeschua, der Unglückliche, kommt herausgestolpert. Bis auf ein schmutziges Lendentuch ist er nackt. Er blutet. Drei Soldaten treiben ihn in die Mitte des Platzes. Ich rufe ihm zu, ich flüstere, ich singe seinen Namen, und er kommt näher. Kniet sich vor mich hin und lädt mich auf seine Schulter. Als er mich berührt, geht ein Schauder durch meinen Leib, ein Gefühl, wie ich es noch niemals gespürt habe. Was geweissagt war, ist erfüllt. Was sein Herr wollte, geschehen. Ich rieche Brot und Blut. Die alte Maryam fällt in Ohnmacht. Eine andere Frau, mit offenem Haar und vollem, stämmigem Körper, hilft ihr beim Aufstehen.
Die Soldaten stoßen Jeschua auf die steinige Straße. Kaum will die Menge zurückweichen. Einige Leute schlagen ihm auf die Wunden, andere streicheln ihm über die Wange.
Es ist ein langer Weg. Ab und zu taucht das Gesicht Maryams auf, aber das ist unmöglich, ich sehe ihren Schatten überall, wohin ich auch blicke. Ich sehe die Soldaten, die Jeschua begleiten, alberne Helden, ihr Vater war vielleicht der Erzeuger ihres Gefangenen. Was würden sie tun, wenn das wahr wäre, wenn sie es wüssten? Wie viele Kinder haben sie inzwischen gezeugt auf ihren Raubzügen durch die Dörfer, zwischen zwei Kriegsspielen, wenn sie sich langweilen und die Lust sie verzehrt?
Jeschua stürzt. Ich weiß, dass ich schwer auf ihm laste. Er bleibt einen Moment liegen und rappelt sich wieder hoch.
Ich spüre eine bekannte Hand. Das ist sie, Maryam, sie ist es wirklich, ich sehe sie ganz aus der Nähe. Tiefe Furchen durchziehen ihr Gesicht. Ihre Augen funkeln, aber es sind nicht die Augen der Jugend. Sie will mich packen, ihm mein Gewicht abnehmen. Ob sie mich erkennt? Mit zitternden Fingerspitzen streichelt sie mich. Ich schaudere. Maryam, weißt du noch, wie du in meinem Schatten …? Sie schließt die Augen. Mütter wissen alles, auch wenn ihre Augen geschlossen sind. Ich sehe, wie Jeschuas Blut ihr über die Hand rinnt. Sein Blut dringt in ihren Schoß.
Einer der Rotzbengel schiebt sie mit dem Schwert zurück.
Habe ich Jeschua gerade »Geh weg, Mutter« sagen hören? Ich höre ihn keuchen. »Tu’s nicht, Mutter. Geh.« Er sagt es wirklich.
Derselbe Soldat, der Maryam zurückstieß, zwingt einen dunkelhäutigen Mann aus der Menge, das Kreuz für Jeschua zu tragen. Der Mann will sich davonmachen, aber die Menge ist wie eine Mauer. Er holt tief Luft und nimmt mich auf seine Schulter. Wie schnell es plötzlich vorangeht! Mit verblüffender Leichtigkeit trägt mich der Mann, fast scheint er zu hüpfen. Ein Legionär sagt: »Mit ihm geht es viel schneller. Vielleicht sollten wir ihn kreuzigen und nicht diese Lusche!«
Jeden Moment kann Jeschua zusammenbrechen. Sie haben ihm auf die Knie und die Füße geschlagen. Seine Zehennägel hängen lose. Seine Haut ist verbrannt.