Das Flüstern des Himmels - Julia Benkert - E-Book

Das Flüstern des Himmels E-Book

Julia Benkert

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Beschreibung

Daya muss miterleben, wie ihre Eltern zu Beginn des nepalesischen Bürgerkriegs grausam ermordet werden. Von ihrer Schwester Leela fehlt seitdem jede Spur. Daya verstummt. Erst in einem buddhistischen Kloster findet sie ihre Stimme wieder und entdeckt ihre Gabe: Wenn sie singt, berührt sie die Herzen der Menschen. Bald erobert sie mit ihren Liedern die Welt . Doch ihr steht der Sinn nicht nach Ruhm und Reichtum, sie will der Welt das Schicksal ihres Landes vor Augen führen - und sie will ihre Schwester wiederfinden. Doch als sie Leela endlich gegenübersteht, wird Daya mit einer bitteren Wahrheit konfrontiert....

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Seitenzahl: 392

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Julia Benkert

Das Flüstern des Himmels

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Über dieses Buch

Daya muss miterleben, wie ihre Eltern zu Beginn des nepalesischen Bürgerkriegs grausam ermordet werden. Von ihrer Schwester Leela fehlt seitdem jede Spur. Daya verstummt. Erst in einem buddhistischen Kloster findet sie ihre Stimme wieder und entdeckt ihre Gabe: Wenn sie singt, berührt sie die Herzen der Menschen. Bald erobert sie mit ihren Liedern die Welt . Doch ihr steht der Sinn nicht nach Ruhm und Reichtum, sie will der Welt das Schicksal ihres Landes vor Augen führen – und sie will ihre Schwester wiederfinden. Doch als sie Leela endlich gegenübersteht, wird Daya mit einer bitteren Wahrheit konfrontiert....

Inhaltsübersicht

WidmungNepalkarte1. Kapitel2. KapitelJahre im Kloster3. Kapitel4. KapitelErwachen5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. KapitelDas Vermächtnis20. KapitelDanksagung
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Für meinen Meister

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1

München, Juni 2005

Die Musiker hörten auf zu spielen. Bis auf den Spot in der Bühnenmitte wurde es dunkel im Saal. Gebannt wartete das Publikum auf die Zugabe. Ein kurzes Räuspern. Dann trat Ani Dayan, die junge Sängerin, in den Lichtkegel und schloss die Augen. Schimmernde Staubpartikel umtanzten sie. Etwas Geheimnisvolles ging von ihr aus, Entrücktes. Leise fing sie an zu singen – ein altes tibetisches Mantra. Ihr bodenlanges rotes Gewand ließ nur die nackten Arme frei, mit denen sie anmutig den Gesang untermalte. Alles an ihr war Musik – die Art, wie sie den Kopf neigte, ihr Lächeln. Bloß das kahlgeschorene Haupt irritierte. Denn unübersehbar stand da vorne auf der Bühne eine Nonne, rasiert nach dem Ritus buddhistischer Klöster. Niemand im Publikum verstand den Wortlaut des Gebetes. Es war allein der Klang von Ani Dayans Stimme, der berührte. Noch nie hatten sie etwas so Außergewöhnliches gehört. Über dem dunklen, melancholischen Grundton schwebte nämlich noch eine weitere Stimme – hell und sphärisch, als würde ein himmlisches Wesen singen. Dieses Zusammenspiel von irdischem Schmerz und göttlicher Reinheit brachte die Seelen der Menschen zum Klingen. Es rührte an alten, verborgenen Gefühlen, öffnete ihre Herzen.

Auch Frederik lauschte bewegt. Er stand so dicht an der Bühne, dass er die junge Sängerin genau beobachten konnte. Er studierte ihre geschmeidigen Bewegungen, wie sich ihr Brustkorb hob und senkte. Ab und zu wurde die Unterlippe der Sängerin von einem zarten Beben erfasst, was er besonders anziehend fand. Vielleicht, weil es eine diffuse Erinnerung in ihm wachrief. Wie ein Déjà-vu war dieses Beben.

Ani Dayans Gesang wirkte vollkommen unangestrengt. Die helle und die dunkle Stimme schienen zusammenzugehören wie Licht und Schatten. Frederik konnte sich das Phänomen nur als eine außergewöhnliche Variante jenes Gesangs erklären, den man Obertongesang nannte.

Gern hätte er gewusst, wie alt die Sängerin war. Er schätzte sie auf siebzehn, höchstens achtzehn. Immer wieder wanderten seine Augen zu dem kahlgeschorenen Schädel. Die Rasur verlieh ihr etwas Androgynes, gleichzeitig betonte sie ihre Augen, von denen eine aufregende Schönheit ausging. Etwas Ungezähmtes loderte darin, beinahe Kämpferisches.

Es verwunderte ihn, wie sehr er sich von ihr angezogen fühlte. Schließlich sang dort auf der Bühne keine weltliche Sängerin, sondern eine Nonne.

Auch seine Freundin schien sich zu wundern. Argwöhnisch musterte ihn Liz von der Seite. Sie wirkte eifersüchtig, als könnte sie seine Gedanken lesen.

Eigentlich hatte sie gar nicht zu dem Konzert mitgehen wollen. Tibetischer Gesang war ihr suspekt – scheinheiliges Gutmenschen-Getue. Nur die Aussicht, im Anschluss daran gemeinsam in eine Bar zu gehen, hatte sie bewogen, doch mitzukommen.

Er tat, als würde er ihren vorwurfsvollen Blick nicht bemerken. Liz’ Ignoranz verdross ihn, denn dieser Gesang war alles andere als banale Meditationsmusik. Diese geteilte Stimme, diese Dualität, war etwas völlig Neues, Einzigartiges. Hier brach sich eine Persönlichkeit Bahn mit all ihren Widersprüchen, Ängsten und Hoffnungen.

Frederik überließ sich wieder Ani Dayans Gesang. Was für eine Kraft, aber auch Melancholie darin lag. Die ganze Tragik ihres Volks meinte er zu hören. Und plötzlich übermannte ihn Fernweh, so intensiv, dass er selbst erschrak. Fernweh nach Nepal, dem Land seiner Kindheit, wo er so viele Sommer verbracht hatte. Ani Dayans Gesang ließ das kleine Königreich am Fuße des Himalajas vor seinem Inneren wieder auferstehen. Dieses geheimnisvolle Land mit seinen kunstvoll geschnitzten Hindu-Tempeln, mit seinen Urwäldern und reißenden Strömen. Ein Land mit einem bunt gemischten Volk, das er bewunderte, weil es so ausgelassen tanzen und feiern konnte. Das letzte Mal, als er seinen Vater in Nepal besucht hatte, war er siebzehn gewesen. Von Kathmandu aus waren sie gemeinsam durchs Land gereist. An den Feldrändern sah er wieder die schwer bepackten Frauen in leuchtenden Saris vor sich, die lachenden Münder, aus denen schiefe Zähne blitzten. Die Greisinnen, deren Ohrläppchen vom schweren Gold ganz ausgeleiert waren. Aber am meisten hatten ihn die jungen Mädchen fasziniert. Wie kleine Prinzessinnen sahen sie aus, wenn sie sich an Festtagen herausputzten und auf ihrer Stirn das rote Tika-Zeichen leuchtete.

Frederik horchte auf. Die tiefe Grundstimme von Ani Dayan hatte sich verändert. Ganz rauh und brüchig klang sie auf einmal, als hätte sie Risse bekommen. Schlagartig verfinsterten sich seine Bilder. Die ganze Zeit hatte er vermieden, an seinen Vater, den Botschafter, zu denken, doch jetzt holte ihn die Sorge um ihn mit aller Macht ein. Seit drei Monaten hatte er nichts mehr von ihm gehört. Alle Nachforschungen in Kathmandu waren versandet. Niemand konnte ihm sagen, wo der Botschafter abgeblieben war, ob er noch lebte oder nicht. Denn das war die andere Seite von Nepal, die dunkle. Menschen verschwanden dort einfach, und niemand scherte sich drum.

Frederik massierte sich die Stirn, um die düsteren Gedanken zu verscheuchen. Aus dem Augenwinkeln registrierte er, wie seine Freundin ihr Handy aus der Tasche holte und auf das Display schaute. Liz’ Nasenflügel waren aufgebläht. Sie schien das Ende des Konzerts kaum noch erwarten zu können.

Lange würde es ohnehin nicht mehr dauern. Ani Dayan hatte bereits die Augen geschlossen und stimmte die letzte Strophe an. Ihre Stimme war jetzt nur noch ein Hauch.

Die Menschen im Saal hielten den Atem an. Die Hingabe und Wehmut, mit der die junge Frau sang, rührte das Publikum zu Tränen. Auch Frederik wischte sich verstohlen die Augen. Die Einzige, die gänzlich unberührt davon schien, war seine Freundin.

Im Stillen fasste Frederik den Plan, die Sängerin nach dem Konzert um ein Autogramm zu bitten. Er musste herausfinden, an wen sie ihn erinnerte.

Aufmerksam lauschte er, wie sich die Himmelsstimme ein letztes Mal aufschwang, um dann langsam zu verhallen.

Graziös verneigte sich Ani Dayan vor dem Publikum. Tiefe Stille trat ein.

Es dauerte eine Weile, bis sich die Menschen im Saal wieder gefangen hatten, bis ihre Tränen abgetupft und die Taschentücher verstaut waren. Doch dann, wie auf ein geheimes Zeichen, brandete Applaus auf. Tosender Applaus. Das Publikum war schier außer sich vor Begeisterung. Es johlte, rief lauthals »Bravo«.

Ani Dayan, die singende Nonne, hatte es wieder einmal geschafft. Wie schon in London, Brüssel und Hamburg, lagen ihr jetzt auch die Münchner zu Füßen, die den Ruf hatten, ein verwöhntes und anspruchsvolles Publikum zu sein.

Die Sängerin spürte die Welle der Zuneigung nur. Geblendet vom Scheinwerferlicht, sah sie vor sich nichts als eine dunkle, wogende Menschenmenge. An die tausend Besucher drängten sich in der Halle des alten Heizkraftwerks und jubelten ihr zu. Menschen, von denen sie weder die Götter noch die Gebete kannte.

Ani Dayan tat, was sie am Ende eines jeden Konzerts zu tun pflegte. Sie hob die Arme und lächelte. Sie lächelte ein beseeltes, buddhistisches Lächeln. Ein Lächeln, das sie lange im Kloster geübt hatte und hinter dem sich ihre eigentlichen Gefühle gut verbergen ließen, denn in Wahrheit hätte sie heulen mögen. Sie haderte mit sich, haderte mit dem, was Brian, ihr Produzent, aus ihr gemacht hatte, auch wenn der Erfolg des Abends ihm wieder einmal recht gab.

Der Saal war ausverkauft, die Leute tobten. Sie, Ani Dayan, war auf dem besten Weg, ein Weltstar zu werden. Eigentlich hätte sie stolz darauf sein müssen, aber mit welchem Verrat, welcher Lüge war dieser Erfolg erkauft?

 

In der Garderobe ließ sie sich auf den Schminkstuhl fallen und wischte erschöpft mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn.

In dem weiß gekachelten Raum mit dem überdimensionalen Spiegel roch es nach fremdem Parfum, Puder und Haarspray. Ani Dayan versuchte sich all die Stars vorzustellen, die hier vor ihr Platz genommen hatten – ihr Lampenfieber, ihren Glückstaumel, ihre Selbstverliebtheit. In Europa, das hatte sie mittlerweile gelernt, wurde der Sänger auf der Bühne wie ein Gott angehimmelt. Ein großes Missverständnis, zumindest, was ihre Person anbelangte, denn wenn sie Mantras auf der Bühne sang, dann betete sie. Und ein betender Gott, das war in ihren Augen absurd. Beim Singen war Demut verlangt, so zumindest hatte es sie der Meister gelehrt. Zugegeben, das mit der Demut fiel ihr nicht immer leicht, besonders wenn sie wütend war wie jetzt.

Ani Dayan griff nach der Wasserflasche und nahm einen großen Schluck. Sie füllte die Backen mit Wasser, presste die Flüssigkeit von einer Seite zur anderen und betrachtete sich im Spiegel. Was für eine groteske Fratze. Wie Hanuman, der Affengott, sah sie mit ihren aufgeplusterten Backen aus. Es klopfte. Ohne eine Antwort abzuwarten, wurde die Tür aufgerissen. Brian platzte in die Garderobe. In der Hand hielt er einen üppigen Strauß Pfingstrosen.

Ani Dayan beeilte sich, das Wasser hinunterzuschlucken.

»Du warst umwerfend!« Brian drückte sie an sich. »Gratuliere!«

Ani Dayan bemühte sich erst gar nicht, die Umarmung zu erwidern. Mit hängenden Armen stand sie da.

»Was ist los?«, fragte Brian erstaunt.

Trotzig starrte sie zu Boden.

Er trat einen Schritt zurück und musterte sie. Aller Zauber, aller Glanz, den sie eben noch auf der Bühne ausgestrahlt hatte, war verschwunden. Wie ein schmollendes Kind starrte sie auf den gescheckten Linoleumboden und schwieg. Wie konnte sie nach solch einem grandiosen Konzert nur so schlecht gelaunt sein?

Brian ignorierte das Schweigen und hielt ihr aufmunternd den Strauß hin.

»Hier, Miss Superstar!«

Ani Dayan hob den Blick. Stille Verachtung lag darin. Noch immer machte sie keine Anstalten, die Blumen entgegenzunehmen. Sie bohrte die Fingernägel in die Handflächen und rang um Kontrolle.

»Du hast es versprochen!«

Brian ließ den Strauß sinken. Seine Augen verengten sich.

»Wovon redest du?«

»Hier in München würdest du aufhören, mich als Tibeterin anzukündigen.« Ihre Stimme klang gepresst. »Hier hätten sie selbst Berge vor der Tür, hast du gesagt. Und Bergmenschen wüssten sehr wohl, Tibet von Nepal zu unterscheiden.«

»Verdammt noch mal, Ani Dayan«, Brian holte tief Luft, »ich konnte doch nicht ahnen, dass wir diese riesige Halle vollkriegen. Wären nur so ein paar Himalaja-Freaks aufgekreuzt, von mir aus, aber das heute war Großstadtpublikum. Wenn die auf ein tibetisches Konzert gehen, erwarten sie eine Tibeterin auf der Bühne. Die wollen was Erbauliches, Spirituelles, doch keine Politikveranstaltung.«

Ani Dayans Unterlippe begann zu beben.

»Du weißt genau, ich wäre nie nach Europa gekommen, um einfach nur schöne Konzerte zu geben!« Sie spuckte ihm die Konzerte förmlich vor die Füße. »Immer reden alle nur von Tibet und dem Dalai-Lama. Nie redet jemand von Nepal. Dabei herrscht bei uns genauso Krieg! Schon seit Jahren. Täglich ermorden die Maobadi unschuldige Menschen. Irgendwer muss ihnen doch Einhalt gebieten. Die Welt kann doch nicht tatenlos zusehen, wie die Rebellen in Nepal die Macht übernehmen.«

Brian versuchte sie zu beruhigen. »Ich weiß, das ist grauenvoll. Und ich finde es sehr ehrenwert, dass du dich so für dein Land einsetzt.« Er fasste sie am Arm. »Aber bitte begreif auch: Du bist eine Künstlerin. Eine ganz herausragende sogar. Nach dieser Tournee steht dir die Welt offen. Dann kannst du Vorträge über den Bürgerkrieg halten, so viel du willst.«

Ani Dayan schüttelte seine Hand ab und verschränkte die Arme vor der Brust. Künstlerin sein, das interessierte sie doch überhaupt nicht. Sie wollte, dass endlich die Mörder ihrer Eltern zur Rechenschaft gezogen wurden. Und sie wollte Leela wiederfinden, ihre Zwillingsschwester, ohne die sie sich nur wie ein halber Mensch fühlte.

Kopfschüttelnd drehte sich Brian von ihr weg. Er ließ Wasser ins Waschbecken laufen und legte die Blumen hinein. Morgen, auf der Fahrt nach Berlin, würde er noch mal mit ihr reden. Irgendwie würde er ihr schon begreiflich machen, dass sich eine singende Nepalesin nicht halb so gut verkaufte wie eine singende Tibeterin, ganz gleich, wie einmalig ihre Stimme war. Tibet, das war ein Land, um das sich Mythen rankten. Tibet war Projektionsfläche für Sinnsucher und Träumer. Doch Nepal? Für Nepal interessierten sich doch nur Extrembergsteiger. Aber egal, für diese Diskussion war jetzt keine Zeit, denn es gab Dringlicheres zu tun.

»Beeil dich!«, ermahnte er Ani Dayan. »Die Leute draußen warten schon auf dich, sie wollen Autogramme.«

Sie tat, als würde sie ihn nicht hören. Mit größter Ruhe brachte sie ihr Gewand in Ordnung. Sie legte ein ockerfarbenes Tuch um die Schultern, zupfte die Falten zurecht und fixierte das Ganze mit einer Ziernadel.

 

Vor dem Signiertisch im Foyer hatte sich bereits eine lange Schlange gebildet. Während die Konzertbesucher geduldig auf ein Autogramm warteten, kamen sie miteinander ins Gespräch. Sie schwärmten von der Heiterkeit des Buddhismus und der Weisheit des Dalai-Lama, sprachen über Ayurveda-Diäten und Feng-Shui, über Trekkingtouren und Meditationskurse, auch darüber, ob man den nächsten Urlaub lieber im Schweigekloster oder bei einem Yoga-Workshop verbringen sollte. Wohin man auch hörte, den Konzertbesuchern war die Zunge gelöst. Einzig der junge Mann ganz vorne in der Reihe ließ sich in kein Gespräch verwickeln. Er hatte nur Augen für Ani Dayan.

Die Schlange kam nur langsam voran, denn die Nonne ließ sich Zeit. Sie schien ihren Namen zu malen, wie jemand, der gerade erst schreiben gelernt hatte. Nicht nur, dass sie jeden Buchstaben mit großer Sorgfalt vollendete, sie hatte auch die Angewohnheit, die Oberlängen mit einer eigenwilligen Linie zu verbinden, als würden die Lettern an einer Wäscheleine hängen.

Wer eine persönliche Widmung wollte, musste laut und deutlich seinen Namen buchstabieren. Trotzdem kam es immer wieder zu Missverständnissen, denn bayerische Namen wie Ferdl, Franz-Xaver und Vroni hatte Ani Dayan noch nie gehört, geschweige denn geschrieben.

»Mariandl«, diktierte ihr gerade eine Dame.

Ani Dayan wagte kaum hinzusehen, so tiefe Einblicke gewährte die weit aufgeknöpfte Bluse. An die Freizügigkeit, mit der im Westen die Brüste zur Schau gestellt wurden, konnte sie sich auch nach sechs Wochen Tournee nicht gewöhnen. Noch kannte sie nicht den Grund dafür, aber den Europäern fehlte es entschieden an Schamgefühl.

»Mariahh…?« Ani Dayan zögerte.

»Ist doch egal«, raunte ihr Brian ins Ohr. »So wirst du nie fertig!« Wie ein Dompteur stand er hinter ihr und dirigierte die Wartenden.

Ani Dayan fluchte leise, auf Nepali, damit sie keiner verstand. Die Schimpftiraden waren ihr heimliches Ventil, um der angestauten Wut Luft zu machen. Sie hatte sich das Fluchen von den Musikern im Tourbus abgeguckt.

Ihre Augen suchten das Ende der Schlange. Unfassbar, wie viele noch ein Autogramm von ihr wollten!

Brian klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter und verzog sich wieder.

»Idiot«, schimpfte sie ihm leise hinterher. Dann tauchte sie kurz ab, um in ihrer Tasche nach einem besseren Stift zu suchen. Über sich hörte sie eine männliche Stimme.

»Idiot – und das aus dem Mund einer Nonne?«, mokierte sich ein junger Mann, der als Nächstes an der Reihe war.

Ani Dayan verschlug es für einen Moment die Sprache. Verstand er etwa Nepali? Sie heftete den Blick auf den goldenen Edding-Stift.

»Eine Nonne ist keine Heilige«, erklärte sie trotzig.

Der junge Mann zog amüsiert die Augenbrauen hoch. »Dabei hätte ich auf der Bühne fast das Gegenteil geglaubt.« Lässig schob er ihr die CD zum Signieren hin.

Ani Dayan schüttelte den Stift. Die Kugel im Inneren flog klackernd hin und her. Sie zog die Kappe ab und wartete darauf, den nächsten unverständlichen Namen diktiert zu bekommen.

»F wie Feuer«, begann er zu buchstabieren. »R wie Raubkatze.« Jeden Buchstaben reichte er ihr dar wie ein kleines Geschenk. »E wie Eigensinn.«

Ani Dayan hob verdutzt den Kopf. Als sie jetzt in sein Gesicht sah, erschrak sie. Dieser offene Blick, die Sommersprossen, das blonde, verstrubbelte Haar – sie kannte diesen jungen Mann. Auch ihr Gegenüber zuckte kurz zusammen. Ihre Blicke verhakten sich.

Frederik konnte sich gar nicht sattsehen an diesen grünen Augen mit den kleinen Bernsteineinsprengseln. Was für ein untergründiges Verlangen darin lag. Er wusste, er hatte schon einmal in Augen wie diese gesehen. Nur wann und wo? Ihr Blick verunsicherte ihn, gleichzeitig fühlte er sich magisch davon angezogen.

Für einen Moment schien die Welt um sie herum stillzustehen. Selbst die Geräusche rückten in weite Ferne.

Ani Dayan spürte, wie sich ein pulsierender, warmer Strom in ihr ausbreitete. Ihr war, als würde ihr Gegenüber tief in ihr Inneres sehen und dort Gedanken lesen, die selbst ihr verborgen waren. Dieser junge Mann kannte ihr Wesen. Sie fühlte es genau. Er kannte ihren Herzschlag, ihre Wildheit, die auch durch die Klosterjahre nur mühsam gezähmt worden waren.

Und plötzlich wusste sie, wer da vor ihr stand. Das Blut schoss ihr ins Gesicht, und sie errötete. Es war Frederik, der Prinz ihrer Kindheit! Fast hätte sie ihn nicht wiedererkannt, so selbstbewusst und erwachsen war er inzwischen geworden.

Sie umklammerte den Stift, damit er nicht sah, wie ihre Finger vor Aufregung zitterten. Mit jedem Buchstaben, den sie auf die CD-Hülle malte, klopfte ihr Herz mehr.

Ob er sich noch an seinen Besuch in Ghorbada erinnerte? Bestimmt, denn warum sonst wäre er zu ihrem Konzert gekommen? Womöglich scheute er sich, von der Begegnung damals zu sprechen, weil er sie nicht brüskieren wollte. Denn tatsächlich waren diese gemeinsam verbrachten Stunden alles andere als nonnenhaft gewesen.

Vor ihrem inneren Auge tauchte wieder der Waschplatz auf, wo alles angefangen hatte. Eine Art Freiluftsaal, der tief ins Erdreich eingelassen war. In ihrer Erinnerung riesengroß. Am Grund befand sich das Wasserbecken. Die Kopfseite mit den Wasserhähnen war wunderschön in Form einer Muschel geschwungen. Um ihre Mundwinkel huschte ein Lächeln. Damals hatten sie und ihre Schwester geglaubt, es sei das Bad eines indischen Maharadschas. Aber damals waren sie auch erst vierzehn gewesen.

Wie immer sangen sie gemeinsam beim Wäschewaschen. Ein Lied aus einem Bollywoodfilm, das sie aus dem Radio kannten, war ihr Vater doch seit kurzem stolzer Besitzer eines Weltempfängers. Ihr Gesang hallte von den steinernen Wänden wider. Sie und ihre Schwester träumten davon, als indische Prinzessinnen wiedergeboren zu werden. Mitten im Liebesduett legte sich plötzlich ein Schatten über das Becken. Der Schatten glitt über die Wasseroberfläche, wanderte von Leela zu ihr und wieder zurück. Beide legten den Kopf in den Nacken und sahen nach oben. Zu ihrer Überraschung stand dort ein fremder Junge. Und sofort fuhr ihnen derselbe Gedanke durch den Kopf: Das war er, ihr Prinz. Zwar stammte er nicht aus Indien, wie sie bald darauf erfahren sollten, sondern aus Deutschland, aber das störte sie nicht. Hauptsache, er kam von weit her.

Und jetzt befand sie sich selbst in diesem fernen Deutschland, und der Prinz von damals stand direkt vor ihr am Signiertisch. Ani Dayan konnte es noch immer nicht fassen. Sie räusperte sich und befeuchtete die Lippen mit der Zunge. Dann setzte sie ein geheimnisvolles Lächeln auf und stimmte das Lied vom Waschplatz an. Durch die dichten Wimpern beobachtete sie Frederiks Reaktion.

»Erinnerst du dich?«, fragte sie nach ein paar Takten. Sie summte weiter, während sie seinen Namen auf der CD-Hülle mit einem Kringel schmückte.

Noch immer lauschte Frederik konzentriert. Er schien in seinem Inneren nachzuforschen, woher er die Melodie kannte. Schon wollte sie ihm auf die Sprünge helfen und erzählen, wie sie und Leela damals sein blondes Haar bestaunt hatten und es unbedingt berühren wollten. Weich und lockig wie von einem Berglamm hatte es sich angefühlt.

In diesem Moment schien sich auch Frederik an den Waschplatz zu erinnern. Bedächtig wiegte er den Kopf.

Ani Dayan hielt die Hand vor den Mund und fing beglückt an zu kichern. Dabei hätte sie es besser wissen müssen. Das Wiegen des Kopfes bedeutete in Europa nicht ja wie bei ihr zu Hause, sondern vielleicht. Doch ihre Seele war zu aufgewühlt, um diese Feinheit zu bemerken.

Schon eilten ihre Gedanken zurück zum Waschplatz. Alles war ihr wieder gegenwärtig. Wie Frederiks Vater auf einmal am Schachtrand aufgetaucht war. Wutentbrannt hatte er zu ihnen hinuntergebrüllt. Er tobte, weil sein Sohn einfach ausgebüxt war.

Betroffen hatten sie und Leela sich angesehen. Nichts war in Nepal peinlicher, als die Fassung zu verlieren.

Irgendwann hatte sich Frederiks Vater beruhigt und rückte mit dem eigentlichen Anliegen raus. Er suchte jemanden in Ghorbada, und zwar Jag, den Messerschmied. Nachdem sie ihm versicherten, dass Jag schon eine ganze Weile nicht mehr im Dorf gesehen worden sei, erkundigte er sich nach Kishor, dem Töpfer.

Leela und sie grinsten sich an. Kishor war ihr Papa. Zu dem brachten sie den Fremden gerne. Sie ließen den Berg schmutziger Wäsche liegen und folgten Frederik die Stufen hinauf. Oberhalb des Waschplatzes, im Schatten des alten Trompetenbaums, wartete eine silberne Limousine mit einem Chauffeur. Der Anzug des Fahrers hatte dasselbe dunkle Braun wie seine Haut. Mit Staunen beobachteten sie, wie sich der Chauffeur tief vor Frederiks Vater verbeugte; sein Scheitel berührte fast den Boden.

Frederik raunte ihnen zu, dass sein Vater der deutsche Botschafter sei. Leela und sie wussten zwar nicht, was ein Botschafter war, aber in ihren Ohren klang das ebenso fabelhaft, als hätte er Maharadscha gesagt.

Bei der Töpferei angekommen, eilten sie die blaue Veranda hinauf, um ihrem Papa die vornehmen Gäste zu melden. Als dieser hörte, wen sie da angeschleppt hatten, schüttelte er ungläubig den Kopf. Er wischte sich die Hände an der Schürze sauber, trat auf die Veranda und musterte die beiden Fremden.

Leela und sie frohlockten, als ihr Papa leise durch die Zähne pfiff. Unverzüglich ließ er von Mutter den Whisky bringen. Sie selbst wurden auf den Hof gescheucht, um mit dem Botschafterjungen zu spielen.

Und da standen sie dann zu dritt auf dem Vorplatz, sahen auf ihre Füße und waren auf einmal merkwürdig verlegen.

 

»Bekomm ich denn gar keine Widmung?«, fragte Frederik mit gespieltem Vorwurf.

Erst jetzt realisierte Ani Dayan, dass sie lauter Kringel auf die CD-Hülle gemalt hatte. Schuldbewusst zog sie den Stift zurück. »Eine Widmung auf Nepali?«, fragte sie.

Er schmunzelte. »Wenn ich was verstehen soll, lieber auf Deutsch.« Denn obwohl er fließend Nepali sprach, hatte er nie die komplizierten Zeichen gelernt, die für ihn alle gleich rätselhaft aussahen.

Ani Dayan legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Ich kenn aber nur ein einziges Wort auf Deutsch.«

»Hoffentlich kein Schimpfwort?« Frederik lachte.

Fasziniert beobachtete Ani Dayan, wie seine Sommersprossen beim Lachen auf und nieder hüpften. Die unregelmäßigen hellbraunen Punkte sahen aus, als hätte jemand einen Tanzrhythmus in sein Gesicht notiert. Rasch schaute sie sich nach Brian um. Glücklicherweise war der Produzent selbst gerade in ein Gespräch vertieft. Sie senkte die Stimme und sah Frederik verschwörerisch an.

»Das Wort fängt mit K an.«

»Mit K?« Frederik legte den Kopf schief. »Kaninchen, Kloster, Kettensäge …?«, riet er aufs Geratewohl.

»Ganz falsch.« Amüsiert schüttelte sie den Kopf. »Du kennst das Wort, streng dich an.«

Immerhin hatte sie das Wort von ihm. Damals auf dem Vorplatz, als sie und Leela nicht wussten, was sie mit ihrem unverhofften Glück anfangen sollten, hatte ihnen Frederik ein Spiel aus seiner Heimat vorgeschlagen. Ein Spiel mit einem unaussprechlichen Namen.

Sie und ihre Schwester hatten sich grinsend angeschaut. Na klar wollten sie dieses Spiel spielen!

Frederik zählte bis zehn.

So schnell sie konnten, rannten sie davon. Doch Frederik war schneller. Er holte Leela am Schuppen ein. Mit beiden Armen drückte er sie fest gegen die Wand. Leela zappelte. Und ehe sie sich versah, hatte er sie auf den Mund geküsst.

Das also war Kussfangstus, das unaussprechliche Spiel.

Nie würde sie vergessen, wie sich die Schwester empört den Mund abgewischt hatte. Vielleicht hatte sie auch nur so angeekelt getan, um sie, Ani Dayan, zu beruhigen. Zum ersten Mal war so etwas wie Eifersucht in ihr aufgeflammt. Sie wollte auch vom Prinzen geküsst werden.

Geräuschvoll sprang sie hinter der Deckung hervor, einer alten Schubkarre, und rannte zum Flussufer. Ihr Ziel war die große Tamariske, die in voller Blüte stand. Wie ein rosa Schleier hingen die Zweige zu Boden. Frederik holte rasch auf. Seine Schritte kamen näher und näher. Schon hörte sie den fliegenden Atem hinter sich. Nur noch wenige Meter, und sie hatte das blühende Versteck erreicht. Sie robbte unter die ausladenden Zweige, legte den Kopf auf den sandigen Boden und stellte sich tot. Wie wild hatte ihr Herz damals gepocht.

Und auch jetzt hämmerte ihr Herz vor Aufregung.

»Kirche, Klavier, Kavalier?«, rätselte Frederik weiter.

»Nein! Ein Spiel mit K.« Ihre Wangen erröteten. Verschämt heftete sie den Blick auf die CD-Hülle. »Ein ganz langes Wort.« Doch bevor sie ihm weitere Hilfestellungen geben konnte, wurde sie von einer schrillen Frauenstimme unterbrochen.

»Frederik, wo bleibst du?«, kam es von weiter hinten.

»Gleich!«, rief er genervt über die Schulter.

Ani Dayan beeilte sich, fertig zu werden. Leider wusste sie nicht, wie man das komplizierte Wort schrieb. Und da sie sich nicht blamieren wollte, unterzeichnete sie einfach nur mit ihrem Ordensnamen. Sie schob Frederik die CD hin.

In diesem Moment teilte sich die Menge, und eine Brünette drängelte sich an den Signiertisch. Mit Schwung warf sie ihr Haar zurück und fuhr Frederik an: »Nun komm schon, oder willst du den ganzen Abend hier verbringen?«

Es war Liz, die allmählich die Geduld verlor.

Irritiert sah Ani Dayan von einem zum anderen. Sie spürte, dass Frederik die Szene peinlich war, denn entschuldigend verdrehte er die Augen. Da kam ihr eine Idee. Sie zog die Hülle zurück und setzte unter den Ordensnamen noch einen weiteren Namen – Daya. So, wie man sie als Kind gerufen hatte. Damit Frederik sie nicht als Nonne, sondern als das junge Mädchen aus Ghorbada im Gedächtnis behielt.

Sie reichte ihm die CD. Flüchtig berührten sich ihre Finger.

Bevor er mit der Brünetten in der Menge verschwand, drehte er sich noch einmal zu ihr um und lächelte.

Ani Dayan sah ihm nach. Und plötzlich beschlich sie ein ungutes Gefühl. Hoffentlich bedeutete sein Verschwinden kein Unheil. Denn das letzte Mal, als er fortgegangen war, hatte sich kurz darauf Entsetzliches in Ghorbada zugetragen. Ihr Zuhause und alles, was ihr wichtig war, hatte man ausgelöscht. Sie hatte ihre Familie verloren – ihren Vater, ihre Mutter, ihren Bruder, ihre geliebte Zwillingsschwester. Und ihre Stimme.

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2

Nepal, westliches Bergland, 2001

Daya ächzte, als ihr der Vater half, die Tragekiepe zu schultern. Bis zum Rand war der Korb mit Töpferware gefüllt – mit Tellern, Bechern und Schalen. Sie stand vor dem Haus und stemmte sich wie ein junger Ochse gegen den breiten Stirngurt, der half, die Last über den Nacken zu verteilen. Dann marschierte sie los.

Neben ihr im Gleichschritt ging Leela. Die Schwester gähnte. Früher als sonst hatte ihr Vater sie beide auf den Weg geschickt. Noch nicht mal die ersten Sonnenstrahlen wollte er abwarten, so eilig hatte er es.

Im Rücken spürte Daya seinen wachsamen Blick. Breitbeinig stand er auf der Veranda und sah hinterher, wie sie die Dorfstraße hinuntergingen.

Auch wenn die Zwillinge stöhnten, waren sie stolz, vom Vater in die Nachbardörfer geschickt zu werden, denn im Feilschen waren sie gut – charmant und unerbittlich. Sie wetteiferten darum, wer am Ende des Tages mehr Rupien mit nach Hause brachte. Nicht selten blieben auch ein paar Münzen für sie dabei übrig.

Als sie die Weggabelung erreichten, drehten sie sich noch mal nach ihrem Vater um und winkten.

Kishor war eine imposante Erscheinung, wie er dort an der Brüstung lehnte, groß gewachsen, mit einer kräftigen Nase. Ein echter Newar. Obwohl er den Lebensunterhalt als Töpfer verdiente, war er eigentlich Schamane, auch wenn er in letzter Zeit nur noch selten die Geister beschwor. Die Schwestern waren beinahe froh darüber, denn in Trance konnte ihr Vater so außer sich geraten, dass sie Angst vor ihm bekamen.

An der Kreuzung trennten sich ihre Wege. Wie immer zögerten sie den Moment des Abschieds noch ein wenig hinaus. Sie beide fühlten einander so nah, als wären sie eins. Sogar ihre Gedanken und Träume waren dieselben. Jedes Mal, wenn sie sich trennten, war ihnen, als ginge ein Teil ihrer selbst.

Um den Abschied leichter zu machen, hatten sie ein kleines Ritual erfunden. Schweigend sahen sie sich in die Augen. Niemand durfte blinzeln. Diejenige, die als Erste losprustete, hatte verloren.

Wie immer war es Daya, als würde sie in einen Spiegel schauen. Die schwarzen Zöpfe, der Mund, sogar die Nase war identisch mit ihrer, nur die Augen hatten eine andere Farbe. Statt grün schimmerten sie in einem hellen Grau. Das gab dem Blick etwas Hellsichtiges, beinahe Unheimliches. Leelas Wolfsaugen.

Diesmal sahen sie sich besonders lange an. Keine von ihnen lachte los. Es war, als hätten sie sich ewig so weiter anstarren können. Doch plötzlich, als würden sie einem geheimen Impuls folgen, drehten sie sich gleichzeitig um und gingen, jede in eine andere Richtung, davon.

 

Später, als Daya erwachte, war die Welt nicht mehr wie zuvor. Es gab einen Riss. Und in ihrem Kopf kreiste ein Wort. Kazan. Immer wieder Kazan. Wie ein Mantra.

Weder wusste sie, was das Wort bedeutete, noch, wo sie es aufgeschnappt hatte. Doch der Begriff hatte sich ihr so ins Gedächtnis eingebrannt, als dürfte sie ihn unter keinen Umständen vergessen.

Erst nach einer Weile nahm Daya die Geräusche aus der Umgebung wahr – ein knatterndes Moped, Fahrradklingeln, Menschenstimmen. Auch Hufgetrappel mischte sich darunter. Schnell kam es näher, wurde dröhnend laut, als würde sie gleich zertrampelt werden.

Sie versuchte, die Augenlider zu öffnen, doch ihre Wimpern waren verklebt. Sie blinzelte heftig, bis die Dinge endlich Konturen annahmen. Doch was sie sah, stimmte sie misstrauisch.

Nur wenige Armlängen entfernt verlief eine Straße. Ein schwer beladener Ochsenkarren rumpelte vorbei und wirbelte Staub auf.

Wo war sie? Warum lag sie am Rand einer Straße? Daya horchte in sich hinein. Sie musste längere Zeit das Bewusstsein verloren haben.

Vorsichtig regte sie ihre Glieder, um zu prüfen, ob sie verletzt war. Doch nur ihre Fußsohlen brannten, als wäre sie über glühende Kohlen gelaufen. Sie hob den Kopf. Sofort wurde ihr schwindlig. Sternchen tanzten vor ihren Augen. Sie ließ sich zurücksinken und atmete durch. Nach einer Weile probierte sie es noch mal. Diesmal stützte sie den Oberkörper ab.

»Ay, sie wacht auf!«, hörte sie eine gebrochene Stimme rufen.

Schritte näherten sich. Eine alte Frau mit schlohweißem Haar beugte sich über sie.

»Wie geht es dir, Kalinchen?«, fragte die Alte besorgt.

Noch ganz benommen setzte sich Daya auf und rieb sich die Augen. Sand knirschte zwischen den Zähnen. Die Kehle war ausgedörrt. Sie räusperte sich, brachte aber keinen Ton hervor.

»Warte.« Die Alte entfernte sich und verschwand in einer kleinen Bude, vor der in Körben Nüsse und Obst auslagen.

Der Geruch nach frisch gebrautem Chai stieg Daya in die Nase. Sie sah, wie die Alte Tee in einen Becher goss und damit zu ihr zurückkehrte.

»Hier«, sie nickte ihr aufmunternd zu, »trink, dann geht es dir gleich besser.«

Der Chai schmeckte nach Zimt. Daya trank und hoffte, dass die Flüssigkeit den Staub von ihren Stimmbändern spülte. Nach ein paar Schlucken versuchte sie erneut zu sprechen, doch auch jetzt war kein Ton zu hören. Sie fühlte sich wie ein Fisch, der verzweifelt nach Luft schnappte. Panik stieg in ihr auf. Hilflos öffnete und schloss sie den Mund. Noch immer kein Laut. Wo war ihre Stimme? Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie die Alte an.

Die Frau schien zu spüren, was in ihr vorging. Beruhigend strich sie dem Mädchen über den Kopf. »Ruh dich nur aus.« Dann drehte sie sich um und kehrte zu ihrem Verkaufsstand zurück.

Daya starrte auf den Boden und suchte verzweifelt nach einer Erklärung für ihr Erwachen an diesem fremden Ort. Eine unheimliche Lücke klaffte in ihrer Erinnerung, denn das Letzte, worauf sie sich besinnen konnte, war der Abschied von Leela, wie diese mit voll beladener Kiepe davonmarschiert war. Danach wurde es dunkel. Nur dieses sinnlose Wort hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt – KAZAN.

Daya nahm einen kleinen Stock vom Boden und ritzte das Wort in den Sand. Auch wenn sie und ihre Schwester als Mädchen nicht zur Schule gehen durften, hatten sie doch wenigstens von ihrem großen Bruder das Alphabet gelernt.

Kazan? Was konnte das bedeuten? Ihr war, als würde sie in dichtem Nebel stochern.

Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie die Alte einen Mönch zu ihr führte. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er trug eine braune Kutte.

Der Mönch blieb vor ihr stehen. Freundlich musterte er sie. »Keine Stimme, hm? Kannst du mich wenigstens hören?«

Daya wiegte den Kopf.

Er streckte ihr die Hand entgegen, die sie dankbar ergriff, um sich hochzuziehen. Die Beine waren schwer wie Blei, aber weh taten ihr vor allem die Füße. Vorsichtig trat sie auf.

Auch der Mönch bemerkte ihre geschwollenen, aufgeschürften Füße.

»Hast du es noch weit?«

Ratlos zuckte Daya die Schultern. Weder wusste sie, wo sie war, noch, wo sie hinwollte. Das Einzige, was sie spürte, war ein tiefes Unbehagen, wenn sie an zu Hause dachte. Dorthin wollte sie auf keinen Fall zurück.

Der Mönch entdeckte die Buchstaben, die Daya in den Sand geritzt hatte.

»Was ist das?«

Daya sah den Mönch mit großen Augen an.

»Kazan? Du bist auf dem Weg nach Kazan? Zum Kloster? Ganz schön tapfer so ganz allein.« Interessiert betrachtete er Daya. »Ich habe schon viel von den Zeremonien dort gehört. Es heißt, Najal Rinpoche könne die Seelen der Kranken heilen.« Er lächelte. »Bestimmt kann er dir helfen, deine Stimme wiederzufinden.«

Ungläubig sah ihn Daya an. Als Tochter eines Schamanen hatte sie noch nie in ihrem Leben ein Kloster betreten.

Doch der Mönch schien ihre Reserviertheit nicht zu bemerken. Der Gedanke an Kazan trieb einen eigenartigen Glanz in seine Augen.

»Wenn du dort bist, richte dem Meister bitte meine Verehrung aus. Sag ihm, dass …« Er unterbrach sich und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Wie dumm von mir. Wie sollst du armes Ding ihm etwas ausrichten, wo du nicht sprechen kannst?« Doch schon hellte sich seine Miene wieder auf. »Ich weiß, wie wir das machen. Ich schreib ein paar Zeilen, und die gibst du ihm!« Sofort verfiel er in heitere Geschäftigkeit. Er durchwühlte den Verkaufsstand der Alten, zog sämtliche Schubladen auf, bis er irgendwo einen alten Block und einen abgekauten Bleistift fand. Während er schrieb, drehte er sich noch mal zu Daya um. »Vielleicht weiß ich sogar jemanden, der dich mitnehmen kann.«

 

Willenlos wie ein Gepäckstück schaukelte Daya auf dem Rücken des Grautiers. Ständig drohte ihr Kopf vornüberzusacken vor lauter Erschöpfung und Müdigkeit.

In der Obhut zweier Brüder, die eine Herde Esel in die nächste größere Stadt trieben, um Baumaterialien zu besorgen, war sie nach Kazan aufgebrochen. Zunächst hatten sich die Brüder gesträubt, sie mitzunehmen, aber anscheinend waren sie dem Mönch noch einen Gefallen schuldig und hatten schließlich doch eingewilligt.

Schon nach den ersten Kilometern hatte es der Ältere der beiden nicht mehr mit ansehen können, wie Daya ständig vom Rücken des Tieres zu kippen drohte. Kurzerhand hatte er sie festgebunden. Und so dämmerte sie auf dem Rücken des Esels in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen vor sich hin.

Irgendwann machten sie an einem eisernen Steg Rast. Er führte über eine tiefe Schlucht, durch die sich ein reißender Fluss wälzte.

Bereitwillig teilte Daya mit ihren beiden Weggefährten die Nüsse, die ihr die Alte zugesteckt hatte. Die Brüder einigten sich darauf, dass der Jüngere von ihnen sie noch ein Stück weit durch den Hochdschungel begleiten würde. Zumindest so weit, bis sie den Weg zum Kloster allein fände.

Inzwischen hatte sich Daya mit dem Gedanken angefreundet, in einem Kloster Zuflucht zu suchen. Dort würde sie abwarten, bis sie sich wieder an alles erinnerte und ihre Stimme zurückgekehrt war.

Für den letzten Teil des Weges saß Daya auf dem Esel des jüngeren Bruders mit auf. So gut sie konnte, klammerte sie sich an dessen Rücken fest. Der Weg war schmal und ging stetig bergauf. Immer wieder blickte ihr Begleiter unruhig zur Sonne. Und tatsächlich stand diese schon bedenklich schräg.

Als ihnen schließlich eine Gruppe Frauen im Wald begegnete, die wilde Himbeeren sammelte, fragte sie der junge Eseltreiber nach dem Weg. Die Frauen versicherten ihm, man müsse immer nur dem Trampelpfad folgen, dann komme man direkt nach Kazan.

Augenblicklich hielt der Bursche den Esel an.

Daya wollte protestieren, doch ihr Mund klappte stumm auf und zu. Sie wurde vom Rücken des Esels gehoben, dann wünschte ihr der junge Kerl noch viel Glück und war fort.

Nun musste sie selbst zusehen, wie sie weiterkam. Zitternd umklammerte sie den Brief, den ihr der Mönch mitgegeben hatte – ihre letzte Anbindung an die Welt. Noch nie war ihr ein Wald so bedrohlich vorgekommen wie dieser. Die Geräusche, die sie, wenn sie mit ihrer Schwester umherstreunte, so liebte, hörten sich fremd und feindselig an. Bei jedem Rascheln zuckte sie zusammen aus Furcht vor einem Bergleoparden oder einer giftigen Schlange. Wie von selbst beschleunigte sich ihr Schritt. Sie rannte schneller und schneller, stolperte über Wurzeln und Dornen. Äste peitschten ihr ins Gesicht. Ihr Atem flog. Die Fußsohlen brannten so, dass es ihr Tränen in die Augen trieb. Trotzdem rannte sie weiter.

Es dämmerte bereits, da tauchten endlich die mächtigen Klostermauern vor ihr auf. Keuchend erreichte sie das große Tor. Die Größe des Eingangs und die Pracht der Ornamente schüchterten sie ein. Sie schämte sich, so verschwitzt und verdreckt, wie sie war, an solch ehrwürdigem Ort um Einlass zu bitten. Doch die Nacht senkte sich unaufhaltsam. Und die Schreie aus dem Urwald wurden immer gespenstischer. Daya wartete, bis sich ihr Atem beruhigt hatte. Dann nahm sie allen Mut zusammen und klopfte an das Tor.

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Jahre im Kloster

3

Kloster Kazan, Nepal, 2002

Der Meister horchte auf. Merkwürdig. Etwas hatte ihn aus der Meditation gerissen. Als hätte sich ein Klang in sein Unterbewusstsein verirrt und eine lang verschüttete Erinnerung geweckt. Er lauschte, aber da war nichts. Er legte die Hände an seine Ohren und horchte in alle Himmelsrichtungen. Irgendetwas Schönes, Verlockendes musste seine Sinne wachgekitzelt haben, denn noch immer spürte er ein diffuses Glücksgefühl. Doch das Einzige, was er hörte, waren die Blätter des Rhododendrons über ihm. Leise flüsterten sie im Wind. Nichts sonst unterbrach die Stille der Berge. Er mochte diesen Platz. Viel zu selten fand er Zeit, um hier zu meditieren.

Der Meister versuchte sich wieder zu sammeln. Er setzte sich aufrecht hin und berührte mit gefalteten Händen das Brustbein. Er schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Da wehte ihn ein Lachen aus der Ferne an. Diesmal hatte er keinen Zweifel: Es war eine Frauenstimme, hell und zart. Ein Lachen, das er so schon lange nicht mehr gehört hatte. Sein Blick glitt suchend die Treppe hinauf zum Felsplateau, dorthin, wo wie ein Spitzhelm die goldene Stupa thronte, das Wahrzeichen von Kazan.

Ob die Stimme von da oben kam? Sie klang noch ganz jung. Eigentlich konnte es nur die Stimme einer der Novizinnen sein. Kein junges Mädchen würde sonst sich hierher verirren, dafür war das Kloster viel zu einsam gelegen. Er fragte sich, welche Schülerin es wohl wagte, um diese Stunde den Unterricht zu schwänzen. Der Vormittag hatte gerade erst begonnen.

Noch zögerte Najal Rinpoche, seine Meditation zu unterbrechen. Doch als erneut eine Serie vergnügter Glückslaute zu ihm drang, siegte die Neugier. Geschmeidig, mit den Bewegungen eines geübten Yogi, erhob er sich.

Der Anstieg zur Stupa war steil. Die Stufen waren direkt in den Fels geschlagen und führten in kühnem Zickzack nach oben. Der Meister ging barfuß. Er mochte das Gefühl des glatt gewetzten Steins an den nackten Sohlen.

Über seinem Kopf ragte jetzt deutlich sichtbar die goldene Stupa hervor. Wie immer musste er bei dem Anblick des Kuppelgewölbes schmunzeln. Das kleine Heiligtum sah aus, als hätte es sich einen goldenen Wanst angefuttert. Schuld daran waren die ausländischen Klostergäste. Hartnäckig glaubten sie, es brächte Glück, wenn sie Täfelchen mit Blattgold auf die Kuppel klebten. Und so hatte sich über die Jahre in Armhöhe der Gäste ein beträchtlicher Goldwulst gebildet.

Leise nahm Najal Rinpoche die letzten Stufen. Oben auf dem Plateau angekommen, blieb er stehen und horchte. Das Juchzen war verstummt. Er betrachtete die Landschaft zu seinen Füßen. Die Aussicht von hier oben war atemberaubend. Andächtig schweifte sein Blick über Bambushaine und blühende Rhododendrenwälder, über steile Reisterrassen, über Siedlungen und Gehöfte, immer weiter, bis sich das Auge schließlich zwischen den wild zerklüfteten Bergen des Himalaja verlor. Wie Götter ragten die weißen Gipfel aus der Dunstschicht empor, majestätisch und uneinnehmbar.

Er horchte noch immer, doch alles blieb still. Womöglich hielt sich das Mädchen hinter der goldenen Stupa auf? Auf der Rückseite des Heiligtums gab es eine kleine Felsterrasse.

Bedächtig ging der Meister um die Stupa. Er tat, als würde er die Opferschalen kontrollieren, entfernte hier ein paar welke Blüten, sammelte dort verstreute Reiskörner auf, während sein Blick aufmerksam über die Seitenaltäre wanderte.

Das Rauchopfer war erloschen. An der Kette zog er das Messinggefäß zu sich heran und blies in die Glut. Rasch begann das goldgelbe Harz, zu kokeln und einen süßlichen Duft zu verströmen. Schon wollte er das Pendel wieder in Schwung versetzen, da sah er seitlich etwas aufblitzen. Ein rotes Stück Stoff. Unverkennbar das Rot der Klostertracht. Also doch eine der Schülerinnen!

Er duckte sich hinter das Häuschen mit den Gebetsmühlen. Zwischen den Walzen hindurch konnte er bequem auf die Felsterrasse sehen.

Die Novizin hockte am Boden. Zu seinem Bedauern wandte sie ihm den Rücken zu. Ihre Hände malten merkwürdige Kreise in die Luft, als würde sie jemandem etwas erklären.

Suchend sah sich der Meister auf der Terrasse um, aber da war niemand sonst. Auf einmal schrak er auf. Etwas Weißes wirbelte in sein Blickfeld. Ein Affenjunges. Es schlug Purzelbäume, einen nach dem anderen, in einem aberwitzigen Tempo. Allein vom Zuschauen wurde ihm ganz anders.

Mit dem letzten Purzelbaum landete das Äffchen direkt vor der Novizin, und sie lachte auf. Endlich, da war es, das Lachen!

Wieder war der Meister fasziniert von der Reinheit und Unschuld des Klangs. Zu gern hätte er das Gesicht des Mädchens gesehen, denn jetzt wusste er auch, an wen ihn das Lachen erinnerte – an Ani Chopal, die schöne Nonne mit den traurigen Augen, seine einstige Meisterschülerin. Ohne Abschied hatte sie damals das Kloster verlassen. Bald fünfzehn Jahre war das her, und noch immer rätselte er, warum sie damals bei Nacht und Nebel fortgeschlichen war.

Wehmut überkam ihn, als er jetzt zusah, wie die Novizin den kleinen Akrobaten liebkoste, wie sie ihn ausgiebig an Brust und Bauch kraulte, was sich dieser gerne gefallen ließ. Ein ungewöhnliches Tier.

Der Meister kniff die Augen zusammen, um es genauer in Augenschein zu nehmen. Das Fell des kleinen Languren war weiß wie das eines Schneehasen, nur sein Gesicht hatte eine dunkle, fast schwarze Zeichnung. Die typische Maske der Binos. Er konnte sich nicht besinnen, in der Nähe des Klosters schon mal ein Exemplar dieser Art gesehen zu haben. Normalerweise scheuten Binos die Menschen. Umso erstaunlicher, dass es dem Mädchen gelungen war, das Zutrauen des Tiers zu gewinnen.

Der Meister beobachtete, wie sie dem Äffchen jetzt etwas Weißes hinhielt. Eine Orchidee. Sie drehte die Blüte hin und her, so dass der Bino sie ausgiebig beäugen konnte. Schließlich nahm sie die Blüte fort und versteckte sie in ihrem Ärmel. Wie auf ein geheimes Signal fegte das Tier davon.

Der Meister duckte sich tiefer in den Schatten der Gebetsmühlen. Doch das Tier interessierte sich nicht für ihn. Sein Ziel waren die Opferschalen. Irgendetwas suchte es darin. Aufgeregt sprang es zwischen den Schalen hin und her, zerrte mal hier etwas heraus, mal dort. Plötzlich fing der Bino laut an zu kreischen.

Die Novizin drehte sich zu ihm um.

Da endlich sah Najal Rinpoche auch ihr Gesicht. Es war Ani Dayan. Das Mädchen mit den grünen Augen, von ihren Mitschülerinnen nur die Stumme genannt. Kein Wunder, dass er ihre Stimme noch nie gehört hatte – sie konnte nicht sprechen. Vor einem Jahr war sie überraschend im Kloster aufgetaucht, mutterseelenallein, das Haar zerzaust, die Füße wund gelaufen. Als sie vor ihm stand, brachte sie kein Wort über die Lippen, aber ihr Blick war so flehentlich, dass er keine Sekunde zögerte, sie im Kloster aufzunehmen. Er taufte sie auf den Namen Ani Dayan, weil er ähnlich wie Daya klang und ihn an Diamant erinnerte. Und genau das war sie in seinen Augen – ein ungeschliffener Diamant. Mit seiner Intuition lag er richtig. Zwar konnte die Kleine nicht sprechen, dafür aber rudimentär schreiben, was ungewöhnlich für ein Mädchen war. Aufmerksam verfolgte sie den Unterricht und hatte sich bald zu einer guten Schülerin entwickelt.

Versonnen strich der Meister über sein dünnes, bereits ergrautes Ziegenbärtchen. Während er die Gedanken sortierte, spielten seine Finger an der Perle in seiner Bartspitze. Je nach Stimmung wechselte er die Perlen. Heute war es eine aus hellgrünem Quarz.

Noch einmal führte er sich Ani Dayans Krankheit vor Augen. Acht Wochen war es her, als sie im Unterricht plötzlich umgekippt war. Sie glühte vor Fieber. Erst dachte er, sie hätte Malaria, doch ihr Fieber war anders, hartnäckiger, ohne die typischen Schwankungen. Um zu verhindern, dass sich die anderen Mädchen ansteckten, schickte er sie auf die Quarantänestation. Die Schwestern hatten wenig Hoffnung, dass sie das Ende des Monats erleben würde. Wann immer er nachfragte, hieß es, ihr Zustand sei unverändert schlecht. Und jetzt das – quicklebendig stand sie vor ihm und lachte!

Nachdenklich wiegte der Meister den Kopf. Offenbar war nicht nur ihr Fieber verschwunden, auch ihre Seele war dabei zu heilen. Das Lachen war ein hoffnungsvoller Vorbote, ließ es sich doch nicht steuern, sondern kam direkt aus dem Unterbewusstsein. Wahrscheinlich nahm sie selbst die Laute gar nicht wahr. Bald, da war er sich sicher, würde sie auch ihre Sprache wiederfinden.

Er lenkte sein Augenmerk erneut auf den kleinen Affen. Zappelig vor Aufregung hielt er der Novizin jetzt seine Blüte hin. Ani Dayan nahm ihm den Fund ab und betrachtete ihn. Sie ließ sich dabei Zeit. Ungeduldig wippte der Bino mit dem Oberkörper hin und her. Schließlich zog die Novizin aus dem Ärmel die erste Blüte hervor und hielt sie prüfend neben seine – zwei strahlend weiße Orchideen. Stolz trommelte sich der Bino auf die Brust.

Der Meister schmunzelte. Dass Languren apportieren konnten, war ihm neu.

Doch das Schauspiel war noch nicht beendet. Vorsichtig nestelte Ani Dayan an ihrem Gewand und zog etwas hervor. Ein blau geschecktes Vogelei. Die Belohnung. Blitzschnell riss ihr der Bino die Köstlichkeit aus der Hand und tanzte damit kreischend im Kreis.

Der Meister erhob sich. Er hatte genug gesehen. Jetzt wusste er, was zu tun war.

 

»Ist da jemand?« Energisch öffnete Najal Rinpoche die Tür des kleinen Blockhauses. Ungehalten ging er von einem Zimmer ins andere. »Wo seid ihr denn bloß?«

Die weiß gekalkte Quarantänestation schien von allen guten Geistern verlassen. Auf dem Herd köchelte einsam das Mittagessen. Eine Fliege taumelte durch den Raum. Nur der Hinterausgang war bewacht. Ein zottiger alter Hund lag auf der Türschwelle und döste. Als der Meister mit einem großen Schritt über ihn hinwegsteigen wollte, zuckte er nur kurz mit den Ohren, um dann seelenruhig weiterzuschlafen. Der Meister seufzte. Kein Wunder, dass sich das Mädchen unbemerkt zur Stupa stehlen konnte.

»Ani Pema, Ani Kunga, Ani Yeashi?« Seine Stimme hallte über die Gemüsebeete bis weit zu den windschiefen Hühnerverschlägen. Keiner hörte ihn. Nur die zwei mageren Ziegen hielten beim Grasen inne und hoben kurz die Köpfe. »Wo steckt ihr?«