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Laura und Simon, zwei Jugendliche, sind eigentlich Kids wie alle anderen – mit Flausen im Kopf und ihren Träumen. Aber alles ändert sich, als ihnen ein kleines dunkelrotes Buch voller Geschichten in die Hände fällt. Das Merkwürdigste dabei: Es blättert sich wie von selbst auf, als hätte der Wind mit den Seiten gespielt. Ihnen wird schnell klar, dass sie ein Rätsel zu lösen haben: die Symbolik der Zahlen von 0 bis 10. Und damit betreten sie eine völlig neue und fremde Welt, in die sie wie von einem Sog hineingezogen werden. Unaufhaltsam und immer tiefer ...
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Seitenzahl: 314
Veröffentlichungsjahr: 2024
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 2024 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-99146-615-4
ISBN e-book: 978-3-99146-616-1
Lektorat: Volker Wieckhorst
Umschlagabbildungen: Jedsadabodin Wichai, Alexandra Barbu | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Einleitung
In den schottischen Hügeln grüßt der Herbst mit heftigen Winden, die den kalten peitschenden Regen vom Ozean herkommend auf das Festland befördern. Der durch die feuchte Kälte entstandene Nebel schleicht sich leise um die Häuser herum, und das Laub, das sich in seinen schönsten Farben präsentiert, fliegt durch die Lüfte und häuft sich bereits überall auf den Gehwegen der kleinen Städte und Dörfer an.
In dieser gespenstigen Atmosphäre sind die Einwohner einer kleinen Stadt in der Grafschaft Inverness-shire gespannt auf die neuen, ihnen bis dahin unbekannten Neuzuzügler. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich das Gerücht in der Gegend, dass das seit Langem leer stehende Haus auf dem Hügel neue Bewohner bekommt.
Herr Akiak
Der ältere Herr Akiak, der früher im Haus lebte und ursprünglich aus dem Norden Kanadas war, stammte aus einer kleinen traditionellen Volksgruppe, die vom Fischen und Jagen lebte, deshalb nutzte er häufig die Gelegenheit, den Dorfbewohnern Geschichten über seine Vorfahren zu erzählen. Wenn die Einwohner ihn irgendwo auf ihrem Weg begegneten, wussten sie, dass es etwas länger dauern könnte, wenn Herr Akiak aus Gewohnheit anfangen würde, über seine abenteuerliche Vergangenheit und die Geschichte seiner Familie zu berichten. Allerdings waren viele spannende Begebenheiten dabei, die von seinen Ahnen von Generation zur Generation weitererzählt wurden, und die Leute im Quartier konnten sich oft aus Neugier nicht verkneifen, bei ihm stehen zu bleiben, um den alten Geschichten zum xten Mal lauschen zu können.
Herr Akiak berichtete gern über einen Herrscher Namens Gobor, der vor Hunderten von Jahren im Norden gelebt haben soll. Den Überlieferungen nach war er ein großer Abenteurer, der seine Freiheit liebte und seine Beliebtheit bei den Frauen in vollen Zügen genoss, und deshalb wurde häufig über seine wechselnden Begleiterinnen getuschelt.
Der Grund, warum Herr Akiak sich in Schottland niedergelassen hatte, war bei ihm ebenfalls ein beliebtes Thema und ließ ihn besonders heiter werden. Seine Geschichten begannen immer in Grönland, als sein Vater beim Fischen mit seinem Kajak weit aufs Meer abgetrieben worden war. Sein Vater war hinter einem Fischschwarm her gerudert und hatte den Wetterumschwung nicht wahrgenommen, der auf einmal das Meer in einen sprudelnden Sog von immer höher werdenden Wellen verwandelte. Während er verzweifelt aus dieser misslichen Lage herauszukommen versuchte, tauchte zwischen den hohen Wellen plötzlich ein unbekanntes havariertes Schiff auf.
Sein Vater konnte auf den ersten Blick nicht erkennen, woher das Schiff stammte, sah aber, wie ein paar Seemänner mit ihren Armen hin und her winkten, um seine Aufmerksamkeit zu erwecken. Als er mit Mühe und Not in der Nähe des Schiffes angelangt war, gaben sie ihm zu verstehen, dass er zu ihnen auf das Deck kommen sollte. Nach mehreren Versuchen, seinen Vater mit einem Seil aus dem Wasser zu holen, gelang es doch noch den Seeleuten, erzählte ihm damals sein Vater, kurz bevor er am Ende seiner Kräfte in den Wellen verschwunden wäre, ihn an Bord zu ziehen. Erschöpft auf Deck angekommen, schaute sein Vater erleichtert in die Augen der sieben Matrosen und in die eines sehr ermatteten Kapitäns, die genauso wie er mehrere Stunden gegen die hohen Wellen gekämpft hatten und nun ebenfalls am Ende ihre Kräfte waren.
Der Sturm ließ bald nach, und sein Vater half den Seeleuten, das havarierte Schiffs Richtung Küste zu navigieren. Als sie die letzte Meile durch die hohen Wellen gemeinsam geschafft hatten und ans Ziel kamen, lud der Vater alle zu sich nach Hause ein, und seine Mutter ging in die Küche und kochte für alle eine warme Mahlzeit. Sie verständigten sich so gut es ging über Zeichensprache, und dabei bat der Kapitän seinen Vater um Hilfe für die Instandstellung seines Schiffes. Als das Schiff dann endlich nach vielen Hürden und Hindernissen sowie langer Suche nach passendem Holz und brauchbaren Beschlägen flott- gemacht werden konnte, bedankte sich der Kapitän bei seinem Vater, indem er ihm sein Haus, das in den Hügeln eingebettet in der schottischen Grafschaft Inverness-shire lag, vererbte.
Viele Jahre später, als sein Vater auf seinem Sterbebett lag und Herr Akiak nicht von seiner Seite wich, war der Moment gekommen, als er seinem Sohn seinen einzigen Besitz überreichen sollte. Der Vater bat seinen Sohn, das zusammengefaltete Robbenfell, das er in einem kleinen Geheimfach aufbewahrte, herzuholen. Herr Akiak übergab ihm das Bündel, und sein Vater nahm vorsichtig das kleine dunkelrote Buch heraus und bat ihn, das kostbare Buch, das sich seit Generationen im Familienbesitz befunden hatte, den Rest seines Lebens genauso sorgfältig aufzubewahren, wie er es getan hatte. Herr Akiak wusste von der Existenz des Buches und dass das kleine dunkelrote Buch wertvolle Lebensweisheiten in sich trug, weil sein Vater ihm in seiner Kindheit davon erzählt hatte.
Dann holte sein Vater ein kleines Schnipsel braunes Papier hervor, worauf Herr Akiak nur eine gekritzelte Notiz erkennen konnte, und er begann, seinem Sohn erneut von seinen Abenteuern mit den Schotten und das Erbe vom Kapitän zu erzählen.
Am nächsten Morgen starb sein Vater in seinen Armen, und Herr Akiak blieb allein zurück, seine Mutter war einige Jahre davor, nach einem Unfall mit dem Hundeschlitten, ihren schweren Verletzungen erlegen.
Nach dem Verlust seines Vaters wurde er sehr nachdenklich und kam ins Grübeln über sein Leben und wie es für ihn weiter gehen sollte. Bisher hatte er kein Glück bei der Suche nach einer Lebenspartnerin gehabt, und die Zeit war für ihn deshalb gekommen, nach Schottland aufzubrechen und das geerbte Haus in Augenschein zu nehmen. Herr Akiak machte sich mit dem Schnipsel des braunen Papiers, einem Kompass in der Tasche und dem kleinen dunkelroten Buch auf den langen Weg in einem stabilen Boot über den Atlantik. Bei der langen abenteuerlichen Reise über das Meer musste er mehrmals mit dem rauen Wetter und den hohen Wellen kämpfen. Darüber berichtete er besonders gern, weil es ihn zum Helden werden ließ.
Als Herr Akiak nach seiner langen und gefährlichen Reise über das Meer endlich in Schottland ankam und nach energischer Suche das verlassene Haus gefunden hatte, war er sehr erstaunt über die schöne Natur und den guten Zustand des Hauses und wurde überraschend schnell ansässig.
Herr Akiak lebte danach viele Jahre bis zu seinem Tod in dem Haus, das sein Vater auf abenteuerliche Weise von einem schottischen Kapitän geerbt hatte.
Laura
Ich halte inne und setze mich nachdenklich auf den obersten Treppenabsatz. Ich bin gerade dabei, alle meine Kleider, mein Schuhwerk und meine liebsten Bücher einzupacken, weil ich mit meiner Mutter in die schottische Grafschaft Inverness-shire ziehe.
Es macht mich traurig, dass meine Eltern sich nicht mehr gut verstanden haben und mein Vater deswegen aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen ist. Meine Gedanken schweifen auf einmal in die Zeit zurück als ich klein war und ich oft mit meinem Vater herumtollte, viel lachte und mich geborgen fühlte. Bei schönem Wetter gingen wir alle drei häufig zum Picknicken in den Park, und ich erinnere mich gerne daran zurück, wie ich mich ganz besonders darüber freute, wenn mein Vater dabei war. Ich fragte ihn manchmal den Bauch voll über das Leben, und er war immer sehr geduldig und antwortete gerne mit: „Weißt du, Laura, ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich meine Sicht auf einige Dinge im Laufe meines Lebens verändert hat.“
„Laura“, ruft meine Mutter aus der Küche. „Bist du fertig mit dem Packen?“
„Ich brauche noch einen Koffer für meine Winterkleider und Fellstiefel“, erwidere ich.
Erneut versinke ich in meinen Gedanken über die vergangenen Jahre und erinnere mich, als mein Vater vor drei Jahren befördert wurde. Es war zuerst eine große Sache, und meine Mutter sagte zu mir, er hat es endlich geschafft, und von nun an können wir uns jedes Jahr erlauben, an einem besonderen Ort zu verreisen. Zuerst war ich von der Idee begeistert, in die Ferne zu verreisen und an wunderbaren Sandstränden meine Ferien zu verbringen, durch die Städte mit ihren gut besuchten Märkten zu flanieren und exotisches Essen zu kosten. Als sich aber herausstellte, dass ich meinen Vater kaum mehr zu Gesicht bekam, wurde mir langsam klar, wie hoch der Preis war.
In dieser Zeit ging meine Mutter häufig mit ihrer Freundin Rebecca ins Café Royal, wo sich beide regelmäßig einen Gin Tonic bestellten. Aus dem ersten Drink wurde gern ein Zweiter, und danach begannen die beiden Freundinnen, mit den anwesenden Herren zu flirten. Sie lernte an einem dieser Abende Jacob kennen, er war äußerst charmant und trug einen gepflegten Bart. Er konnte rasch die Frauen für sich gewinnen, hatte Humor und übertrieb maßlos mit allem, was er in seinem Leben erreicht hatte.
Meine Mutter war fasziniert von dem charmanten Lebemann und traf ihn ein paar mal zu einem Cocktail im Café Royal. Sie freundeten sich an, und es wurde ihnen sehr schnell eine Affäre nachgesagt. Dieses Gerücht fand auch irgendwann den Weg zu meinem Vater, der zuerst das Gerücht gar nicht glauben konnte und deshalb so tat, als wäre nichts passiert. Aber Freunde fingen an, offen darüber zu tuscheln, und mein Vater sprach meine Mutter schließlich darauf an.
Von diesem Tag an war nichts mehr wie vorher, die Stimmung kippte, und Spannungen lagen ständig in der Luft. Das Vertrauen war nicht mehr da, und deswegen entwickelten sich die Gespräche zwischen ihnen zu gegenseitigen Vorwürfen und Verletzungen.
Meine Mutter war verzweifelt, sie konnte meinen Vater nicht davon überzeugen, dass zwischen ihr und Jacob nichts gelaufen ist, außer, dass sie sich ein paar mal getroffen hatten.
Mein Vater hatte während dieser Zeit sehr viele Überstunden gemacht, und dieser Zustand, an dem er nichts ändern konnte, plagte ihn durchaus, er wusste, dass das für die Beziehung nicht günstig war. Es belastete ihn zusehends, und er war deswegen genervt.
Meine Mutter litt unter seiner miesen Laune und wusste, dass sie sehr rasch etwas ändern musste und begann, die Zeitung morgens nach einem Job zu durchstöbern.
Ich sah sie oft mit ihre großen grün bemalten Kaffeetasse, die sie vermutlich bereits das dritte Mal mit ihrem Lieblingskaffee gefüllt hatte, auf der Eckbank in der Küche sitzen und mit ihrer runden, blauen Lesebrille, die jeweils etwas tiefer auf ihrer Nase heruntergerutscht war und durch den Lichteinfall vom Fenster ihrem Gesicht einen selten schönen Glanz verlieh, die Inserate studieren.
Es verging nicht viel Zeit, bis meine Mutter auf ein Inserat aufmerksam wurde, das auffällig bunt und humorvoll gestaltet worden war und einen Job in einer kleinen Bankfiliale in den schottischen Highlands in der Stadt Inverness anbot. Sie fühlte sich unmittelbar angesprochen und sagte, das musste Vorsehung sein, und auf einmal konnte sie sich vorstellen, dort oben wohnen zu können.
Meine Mutter und ich führten sehr viele Gespräche über diesen möglichen Umzug, und ich malte mir bereits die verrücktesten Szenarien aus, wie das Leben in den Highlands aussehen könnte. Ich wusste, dass sich der See Loch Ness in der Umgebung befand, und die Geschichte über das Ungeheuer Nessie faszinierte mich, weil es nicht bewiesen war, dass es wirklich existierte. Immer wieder kursierten Geschichten über das Ungeheuer, und ich finde diese Fantasie von einem Wesen, das nicht von dieser Welt ist, sehr spannend.
Ich bin gerade 17 Jahre alt geworden und liebe es, mich in die Lektüre über exotische Kulturen und Völker zu vertiefen. Und wenn ich mich mit der Geschichte über die Vergangenheit und Entstehung der Kultur eines Volkes auseinandersetze, entdecke ich wiederholt, dass Erzählungen über geheimnisvolle Phänomene und mystische Legenden fast immer dazu gehören. Diese Geheimnisse in jeder fremden Kultur faszinieren mich in zunehmendem Maße, und genau deshalb hat meine Mutter mich überreden können, den Wohnort in diese fesselnde Gegend zu verlegen.
Nicht zuletzt hat mein Vater mir vor Jahren aus unserer Familienchronik vorgelesen, und dabei erfuhr ich, dass die Familie Hansen ihre Wurzeln in Dänemark hatte. Infolgedessen ließen sich ihre Wurzeln bis zu den Wikingern zurückverfolgen, die sich auf ihren recht abenteuerlichen Reisen ebenfalls für längere Zeit in Schottland aufgehalten hatten, und jetzt sollten sich unsere Wege auf diese Weise kreuzen.
Ich bin ein blondes, meist fröhliches Mädchen mit kleinen Sommersprossen auf der Nase, die manchmal ihre Farbe verändern, wenn ich mein schüchternes Lächeln hervorzaubere. Mit diesem Lächeln habe ich schon einige Menschen in meinen Bann ziehen können – dies mag wohl mit meiner inneren Unbeschwertheit zusammenhängen. Gerne mache ich hier und da Faxen und freue mich, wenn ich andere zum Lachen bringen kann.
Trotzdem ziehe ich mich gerne öfter in mein Zimmer zurück, um in einer Parallelwelt zu versinken, und ich bin beim Lesen in meinem Lieblingssessel so tief in meinen Büchern versunken, dass meine blühende Fantasie mich in die Welt der Protagonisten hineingezogen hat.
Dieses Abenteuer habe ich bis vor einem Jahr mit meinem besten Freund Oskar geteilt, wir saßen oft nach der Schule bei mir im Zimmer und philosophierten stundenlang über Telepathie und Geistererscheinungen. Oskar hat mir von einem Erlebnis erzählt: dass er Jahre zuvor, als er ein paar Tage bei seinen Großeltern in ihrem alten Haus am Meer nördlich von London verbracht hatte, in der ersten Nacht seltsame Geräusche gehört hat. In der zweiten Nacht stand er auf und ging dem Geräusch bis in den Keller hinunter nach, bis er realisierte, dass er im Dunkeln stand und aus Angst zitterte, als dann auf einmal ein rätselhafter Schatten an ihm vorbeihuschte. Er konnte fast hören, aber vor allem fühlen, wie sein Herz galoppierte und sprang die Treppe hoch, schlug die Türe zur Seite und stand dann wieder in der Küche, wo seine Großmutter im Nachthemd ihn überrascht und fragend anschaute. Oskar erklärte ihr, was geschehen war und warum er in den Keller gegangen war, sie schmunzelte und erzählte ihm von ihrem Hausgeist, der sie seit Jahren nachts regelmäßig besuchte.
Von diesem Moment an war Oskar fasziniert von dieser Ebene der Geister und begann, sich mit dem Thema durch Fachliteratur und spannende Gespräche auseinanderzusetzen. Wir haben zusammen viel und oft gelacht, und umso trauriger war ich, als ich von seinem Wegzug nach Amerika erfuhr, es ging plötzlich ganz schnell, er schaute kurz bei mir vorbei, um sich zu verabschieden und sprang anschließend draußen ins Auto, das die ganze Familie zum Flughafen bringen sollte. Sein Vater war durch Umstrukturierung in dem Konzern, in dem er seit Jahren arbeitete, kurzfristig nach Boston versetzt worden und musste deshalb mit seiner Familie Hals über Kopf den Wohnsitz in London verlassen und nach Boston übersiedeln.
Ich war sehr traurig über diesen Verlust und vergrub mich danach gern in meinem Zimmer, um allein mit meinem Schmerz fertig zu werden. Anfangs rief ich an solchen Tagen Oskar an, aber er war mit seiner neuen Schule und dem Einleben in der neuen Umgebung so sehr beschäftigt, dass er für mich keine Zeit finden konnte. Ich schmollte vor mich hin und war von der ganzen Welt enttäuscht, es fühlte sich nicht gut an, und es schien mir, als hätte sich das Leben momentan gegen mich verschworen.
Es regnet Bindfäden, und ich schaue eine Weile den Regentropfen zu, wie sie das Fensterglas hinunterrollen, und ich tauche allmählich wieder in meiner Fantasiewelt ein, in der ich mich glücklich fühle. In dieser Ebene bin ich die Regisseurin und genieße die Leichtigkeit, mit der ich mich darin grenzenlos bewegen kann.
Nach diesen beiden schmerzhaften Erfahrungen zog ich mich zusehends zurück und grübelte manchmal bis tief in die Nacht über die Vergangenheit nach. Ich blieb gerne bei den schönen Erlebnissen hängen, die mich jeden Tag so sehr getragen hatten und glücklich machten, aber nun hatte ich Angst vor der Zukunft und wusste nicht, was auf mich zukommen würde.
Es ist Herbstanfang, und wir sind bereits seit Stunden unterwegs, als ich mit meiner Mutter durch die wunderschöne Landschaft fahre und wir uns schnell einig sind, dass wir es nicht bereuen, London verlassen zu haben.
Wir fahren durch kleine Dörfer, die aussehen, als wäre die Zeit vor Hunderten von Jahren stehen geblieben: Die Schafe weiden auf den grünen Wiesen in gewohnter Gelassenheit, und nur das Motorengeräusch unseres Wagens durchbricht die Stille. Ich erspähe auf einmal ein scheues Reh, das gerade aus dem Wald huscht und blitzschnell das Feld überquert, als es das Auto erblickt.
Die Straße führt uns an ein paar Schlösser vorbei, die mit ihren alten, dicken Mauern aussehen, als würde jeden Moment ein Ritter hoch zu Ross im Galopp daherkommen, und die Bewohner sind in ihren einfachen Kleidern, die zum Teil gerade noch ihren Körper verhüllen, mit dem Alltäglichen beschäftigt. Die Kinder spielen mit Steinen oder Holzstücken, die sie mit viel Fantasie für diverse Spiele einsetzen, um vergnügt Zeit zu verbringen.
Es ist spät geworden, als wir die Straße hochfahren, die zu unserem neuen Zuhause führt. Die Sonne steht tief und färbt den Himmel orangefarben, ich habe so etwas Stimmiges nur einmal zuvor gesehen. Die Natur, die sich vor uns ausbreitet, ist von einer erregenden Schönheit und erinnert mich exakt an dieses Erlebnis. Es war bei einem Ausflug mitten im Sommer vor vielen Jahren, als ich mit meinen Eltern nach Wales gefahren bin. Der Glanz der Sonne war an dem Tag ganz anders als sonst, und ich entdeckte zum ersten Mal auf diese Weise die Schönheit und fühlte mich unbeschwert und glücklich. Wir gingen abends auf einen Hügel, von wo aus wir einen besonderen Ausblick hatten und einen unvergleichbar schönen Sonnenuntergang erlebten, und dieser Tag hat sich deshalb auf eine besondere Weise in meinem Gedächtnis eingeprägt.
Und nun darf ich erneut diese besondere Stimmung des Sonnenuntergangs erleben, wo sich der Glanz in einem warmen Goldton verwandelt hat und dadurch wie entrückt aussieht.
Das Haus, das laut meiner Mutter für ein paar Jahre unser neues Zuhause werden soll, ist umgeben von einem großen Garten mit vielen alten Bäumen und Sträuchern, die zusammen einen kleinen zugewachsenen Park bilden, der mehrheitlich die Sicht zum Haus versperrt.
Schrittweise bewege ich mich langsam voran, als ich nach der langen Fahrt die Beine vertreten will, und ich muss aufpassen, dass ich nicht über verwachsene Wurzeln oder herunter gefallene Äste stolpere, bis ich plötzlich auf einer rustikalen Veranda stehe. Auf der Veranda entdecke ich eine alte Holzbank, die schwer in die Jahre gekommen ist und aussieht, als könnte sie sogar unter meinen wenigen Pfunden zusammenkrachen, und da ich nichts riskieren will, bleibe ich lieber stehen. Das Herbstlaub kräuselt sich bereits, und einige Blätter tanzen im Kreis mit dem Wind, andere liegen überall auf den Platten und in den Ecken herum. Und in den vielen alten und kaputten Töpfen kann ich noch einzelne verwelkte Blüten erspähen, die bald vom ersten Schnee überrascht werden können, um sich dann endgültig zu verabschieden. Die Aussicht von dort oben bietet durch die vielen verschiedenen Farbschattierungen der Herbstblätter hindurch einen fesselnden Anblick.
Das Dorf, das mitten in dieser idyllischen Landschaft liegt, sieht geradezu unwirklich aus. Als ich dann kurz darauf das Haus betrete, erblicke ich als Erstes unsere Umzugskisten, aber dass ich und meine Mutter nach der langen Reise nichts auszuräumen vermögen und in dem Moment sehr froh sind, dass alles fertig eingerichtet ist und wir direkt zu Bett gehen wollen, ist uns, als unsere Blicke sich kreuzen, sofort klar. Ich ziehe mich danach rasch aus, falle wie ein Stein auf mein Bett und schlafe sofort ein.
Mitten in der Nacht werde ich plötzlich von einem seltsamen Geräusch aus meinem Tiefschlaf geholt und setzte mich in meinem Bett auf, reibe mir die Augen, weil mich ein Licht in meinem Zimmer blendet, aber bis ich realisiere, was es ist, ist es bereits wieder dunkel geworden, und ich bin zu müde, um der Sache auf den Grund zu gehen und schlafe rasch wieder ein.
Als ich am nächsten Morgen langsam wach werde, fällt mir als Erstes die Stille auf. Ich höre nur meine Mutter in der Küche und meinen Magen, der vor Hunger schön laut knurrt. Diese Stille ist mir komplett fremd, weil ich in London konstant einer Geräuschlawine ausgesetzt war, die ich als solche nicht mehr wahrgenommen habe und erst hier durch die absolute Stille realisiere.
Das Auspacken nach dem Frühstück fällt mir sehr schwer, und ich werde immer wieder abgelenkt, weil es so viel Neues zu entdecken gibt. Ich habe mir, wegen der besonderen Atmosphäre, im oberen Stock ein großes Eckzimmer ausgesucht, das sicher zum Teil durch die fantastische Aussicht und dem speziellen Lichteinfall meine Aufmerksamkeit angezogen hat. In den großen Spiegel mit dem goldenen Rahmen habe ich mich gleich, wo oben goldene Engel als Krönung den Rand zieren, verliebt. Der Spiegel fasziniert mich, und ich stehe da und schaue mich eine Weile im Spiegel an, dann kommt mir dieses Licht aus der letzten Nacht wieder in den Sinn, und dabei spüre ich erneut diese unerklärliche Aura, die sich in dem Zimmer ausbreitet.
Als ich den Deckel von meinem Koffer mit meinen Kleidern öffne, fällt mir eines auf, das ich schon lange nicht mehr getragen habe, und gehe damit spontan zum großen Spiegel hin. Während ich dastehe und überlege, ob ich das Kleid noch gut finde und behalten will, entdecke ich, dass sich eine kleine Tür hinter dem Spiegel befindet.
Meine Neugierde ist geweckt, und ich schiebe vorsichtig den Spiegel zur Seite und schaue mir die Tür zuerst genau an, dann drücke ich die Türklinke nach unten, und sie ist zum Glück nicht verschlossen. Die Tür klemmt, und ich muss meinen ganzen Körper dagegenstemmen, um sie einen Spalt aufzubringen. Dahinter verbirgt sich eine Treppe, und es scheint mir, als würde sie zum Dachboden hinaufführen.
Ich gehe vorsichtig die verstaubte und zum Teil kaputte Treppe hoch und betrete den Dachboden. Im Halbdunkeln sehe ich, dass viele verschiedene Utensilien verstreut auf dem Boden herumliegen, die wahrscheinlich von einem früheren Mieter vergessen worden sind. Mein Interesse ist geweckt worden, und ich setzte meine Entdeckungsreise fort. Mein Blick streift über die Gegenstände, die ziemlich unordentlich verteilt auf dem Boden liegen, ich erkenne aber auf Anhieb nichts Wertvolles und entschließe mich deshalb, die knarrende Treppe hinunterzusteigen.
Während des Auspackens muss ich trotzdem wiederholt an die Utensilien auf dem Dachboden denken und kann es mir nicht verkneifen, zwischendurch nochmals hinaufzugehen, um erneut einen Blick zu wagen. Beim genaueren Hinsehen entdecke ich eine alte Kommode mit drei großen Schubladen, die mit kleinen goldenen Griffen versehen sind. Alle drei Schubladen sind halbwegs herausgezogen und bieten eine kleine Einsicht. Das Holz ist über die vergangenen Jahre sehr brüchig geworden, und eine dicke Staubschicht hat sich darauf gebildet. Ich erblicke zuerst die vielen vergilbten und total verstaubten Zeitschriften, die sich in der obersten Schublade befinden. Aber als ich einige von ihnen berühre und auf die Seite schieben will, muss ich ganz plötzlich laut schreien beim Anblick einer großen fetten Spinne, die meiner Hand entgegenkrabbelt und werfe sofort alles zurück und renne wieder in mein Zimmer hinunter.
Ich denke mit sehr viel Wehmut an meinen Vater, der in London zurückgeblieben ist und rufe ihn sogleich an. Er hat aber leider, wie fast immer, keine Zeit zum Reden, und ich lege enttäuscht und traurig kurz darauf wieder den Hörer auf. Ich liebe meinen Vater und denke oft an ihn, dann krame ich, aus dem Versteck in der Seitentasche meines Lieblingssessels, den ich zu meinem Glück mitnehmen durfte, mein heimliches Notizbuch hervor, worin ich alles niederschreibe, was mich gefühlsmäßig besonders bewegt. Der Verlust, mit meinem Vater nicht mehr jeden Tag reden zu können, tut weh, und deshalb schreibe ich auf, was ich ihm gerne sagen möchte, und dies hilft mir über den Schmerz hinweg.
Mein Schulanfang in Inverness rückt immer näher, und in den letzten Tagen muss ich viel daran denken, wie der Unterricht hier in Schottland sein wird. Als ich mich dann morgens für die Schule parat mache, ertappe ich mich dabei, dass ich zum dritten Mal zu meinem Kleiderschrank hinüberrenne, um erneut ein anderes Kleid hervorzuholen. Schnell über den Kopf gezogen, wage ich einen kurzen Blick in den Spiegel und bin überhaupt nicht damit zufrieden, aber ich muss mich beeilen.
Meine Mutter spürt meine Nervosität und hat mir einen Bananenshake gemacht, den ich so gerne mag, und sie sagt beim Frühstück zu meiner Beruhigung: „Hier sind die Leute sehr freundlich und locker.“
Ich erwidere: „Es ist genau das, was ich brauche.“
Mit Pausenbrot und neuem Schulsack mache ich mich, obwohl durch die Worte meiner Mutter meine Unsicherheit etwas verflogen ist, mit einem mulmigen Gefühl im Bauch auf den Weg. Als ich dann unten an der Straßenecke einen kurzen Halt mache, um auf die Uhr zu sehen, stelle ich fest, dass ich viel zu früh bin, und zerstreut, wie ich es manchmal bin, habe ich mich wegen der Hektik wieder dazu verleiten lassen, nicht richtig hinzuschauen.
Simon
Augenblicklich schalte ich einen Gang zurück, als ich den Postboten erblicke, der dabei ist, die Briefe und Pakete an die Dorfbewohner zu verteilen. Meine Augen bleiben bei seinen etwas zu kurzen Hosen und dem komplett zugeknöpften roten Hemd hängen. Seine bunten Mickey-Mouse-Socken erwecken kurz danach meine Aufmerksamkeit, wobei die groben schwarzen Lederschnürschuhe das Bild abrunden. Unsere Blicke treffen sich, als er mein Interesse spürt und sich zu mir dreht und verlegen lächelt. In dem Moment realisiere ich, wie süß er aussieht.
Ich begrüße ihn freundlich und sage: „Ich heiße Laura“, und er entgegnet charmant: „Ich bin Simon.“
Ich spüre, wie mir das Blut in den Kopf steigt und bemerke, wie er meine Schüchternheit mit einem Lächeln erwidert. Ich entspanne mich sogleich und spüre, wie ich mich sofort in seiner Gesellschaft wohl fühle.
Dann fragt er: „Bist du neu hier im Dorf?“
Ich antworte daraufhin: „Ja, meine Mutter und ich sind vor Kurzem von London hierhergezogen und wohnen im alten Haus auf dem Hügel.“
Simon erwidert: „Das Haus, das sehr viele Jahre nicht bewohnt war?“
Ich antworte: „Korrekt.“
Simon meint dazu: „In dem Haus hat viele Jahre ein älterer Herr aus Kanada gewohnt, und man redet darüber, dass nach seinem Tod hier und da merkwürdige Geräusche aus dem Haus kamen.“
Ich sprang sofort darauf an und sagte: „Dieses Thema interessiert mich, ich befasse mich seit einiger Zeit mit mystischen Phänomenen.“
Simon nickt freundlich: „Dann bist du hier bei uns in der Gegend richtig.“
Vertieft im Gespräch mit Simon, habe ich komplett vergessen, dass ich mich auf dem Weg zur Schule befinde und halte plötzlich inne: „Ich muss zur Schule, aber wir können uns danach im Park treffen, du kannst mir sicher einige spannende Geschichten erzählen.“
Simon antwortet: „Ja, ich weiß einiges über die Leute hier zu erzählen und freue mich, dich am Nachmittag auf der Parkbank unter der großen Eiche wiederzusehen.“
Plötzlich muss ich mich doch sehr beeilen, damit ich mich nicht an meinem ersten Schultag verspäte, und ich renne rasch die Straße hinunter.
Elizabeth
Als ich dann anschließend außer Puste die Schule betrete, kommt mir ein Mädchen, das ebenfalls im letzten Augenblick eintrifft, auf dem Gang entgegen, und ich kann nicht mehr ausweichen, und wir prallen aufeinander. Das Mädchen schaut mich verdutzt an und sagt: „Du bist neu hier.“
„Entschuldigung, ich wollte dich nicht anrempeln, aber ich bin spät dran“, sage ich immer noch außer Atmen.
Dann erwidert das Mädchen: „Ist nichts passiert, ich heiße Elizabeth oder Liza, wer bist du?“ Und ich antworte, während sie weitergeht: „Ich heiße Laura, und Elizabeth ist übrigens ein sehr schöner Name.“
Als wir uns beide ins Klassenzimmer beeilen, fällt mir auf, dass Elizabeth hinkt und schwer mit mir Schritt halten kann. Aber zuerst freuen wir uns darüber, dass wir dieselbe Klasse besuchen, und ich setze mich direkt neben Elizabeth.
Ich werde sehr herzlich empfangen und spüre sehr rasch, dass meine Mutter mit ihrer Aussage recht behalten sollte, hier herrscht eine sehr lockere Atmosphäre, und ich bin sehr erleichtert. Und außerdem habe ich am ersten Tag das Glück, neben einer sehr netten Schulkameradin sitzen zu dürfen.
Während des Unterrichts beobachte ich die anderen Schüler, und mein Blick bleibt bei einem Jungen mit braunen Hosen, grünem Hemd und bunten Hosenträgern hängen. Seine Haare sind kurz geschnitten, und auf seiner Nase sitzt eine braune Brille mit sehr dicken Gläsern. Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen und werde den Eindruck nicht los, dass es sich hier um einen sehr intelligenten jungen Mann handelt.
Die Lehrerin kämpft erneut mit ihrer Haarlocke und wirft das Haar regelmäßig zurück, es scheint eine Macke von ihr zu sein, und sie hat einen ulkigen Dialekt, den ich nicht gut verstehe.
Meine Augen bleiben bei einem Mädchen hängen, das in seiner Schulmappe kramt und offensichtlich nicht findet, was es sucht und ganz bleich im Gesicht wird, als die Kleine es realisiert.
In der ersten Pause suche ich den Kontakt mit Elizabeth, und wir kommen rasch ins Gespräch, und ich frage sie einfach: „Was ist mit deinem Fuß passiert?“
Und Elizabeth antwortet: „Letzten Winter fuhr ich mit meinem Vater in seinem neuen Wagen zu den Großeltern nach Edinburgh, um Weihnachten zu feiern. Als wir auf der Landstraße unterwegs waren, sah mein Vater nicht gleich, dass die Fahrbahn stellenweise eisglatt war und geriet irgendwann ins Schleudern und konnte das Auto nicht mehr steuern. Die Folge daraus war, dass wir gleich darauf im Straßengraben landeten. Sein neuer Wagen war komplett demoliert, und mein Fuß war eingeklemmt. Wir standen beide unter Schock, aber waren heilfroh, dass nicht Schlimmeres mit uns passiert war. Mein Fuß schmerzte zwar, und es stellte sich dann später heraus, dass es ein komplizierter Bruch war, der nicht vollständig wiederhergestellt werden konnte. Ich muss mit dem Handicap leben, aber es hätte auch alles viel schlimmer ausgehen können.“
Danach sagt Elizabeth: „Nach meinem Abschluss möchte ich gerne mein Glück in London versuchen, ich träume häufig von der Großstadt und den vielen Möglichkeiten, die es dort gibt.“
Ich erwidere sofort: „Das kann ich gut verstehen, in einer Metropole wie London hast du ohne Zweifel gute Chancen, einen Job zu finden. Wenn du dann meine Hilfe brauchst, kann ich sicher etwas für dich tun.“
Während des Unterrichts kreisen meine Gedanken öfter um Simon, und ich freue mich auf das Wiedersehen nach der Schule mit ihm. Und als es endlich soweit ist, husche ich rasch aus dem Klassenzimmer, den Gang hinunter und stolpere sogar in der Hektik über die Schwelle zum Schulhof. Ich richte mich rasch wieder auf und hoffe, dass es niemand gesehen hat und beeile mich, zum Treffpunkt im Park unter der großen Eiche zu kommen. Simon sitzt bereits wartend auf der Bank, und als er mich sieht, wird er etwas verlegen, und diese Emotion macht ihn noch sympathischer.
Mit großer Euphorie beobachte ich, dass er sich kaum zurückhalten kann, und er beginnt gleich zu erzählen: „Mit 16 Jahren bin ich mit meinen Eltern hierhergezogen, weil meine Großeltern ihr geräumiges Haus altersbedingt nicht mehr in Schuss halten konnten. Meine Eltern zögerten damals keinen Moment, ihnen zu Hilfe zu eilen, da wir immer einen guten Zusammenhalt in unserer Familie gepflegt haben. Da ich als Kind meine Ferien häufig bei meinen Großeltern verbracht habe und ein paar Freundschaften geschlossen hatte, fiel es mir nicht schwer, den Anschluss hier wieder zu finden.“
Ich werde nachdenklich und sage: „Ich bin sehr froh, dass wir uns getroffen haben und möchte gern mit dir befreundet sein.“
Simon wird wieder leicht verlegen und gibt zur Antwort: „Du bist mir sehr sympathisch, kann ich mir mit dir ebenfalls gut vorstellen.“
Wir diskutieren weiter angeregt und offenherzig über die seltsamen und übernatürlichen Phänomene, die in dieser Gegend öfter vorkommen sollen und worüber viel berichtet wird.
Ich genieße seine Gesellschaft, und mein Interesse steigt von Minute zu Minute, und ich sage spontan: „Ich würde gerne mehr über deine Erlebnisse erfahren.“
Simon antwortet: „Es stimmt, dass wiederholt seltene Erscheinungen hier vorkommen, die keiner weder erklären noch deuten kann. Als ich einmal vor vielen Jahren mit meiner Mutter nach einem schlimmen Unwetter in der Dämmerung zu Fuß auf dem Heimweg unterwegs war, geschah etwas Unfassbares. Wir gingen auf einem schmalen Pfad durch ein kurzes Waldstück, als plötzlich ein imposantes Riesentor, das mit schönen Verzierungen geschmückt war, in einem hellen Licht vor uns erschien. Im Schlüsselloch steckte ein sehr großer Schlüssel, und auf dem Schlüsselanhänger war die Zahl 10 deutlich zu erkennen. Zuerst dachten wir, dass das Licht noch von einem Blitz herrührte, aber das extreme Unwetter hatte sich bereits eine Weile vorher verzogen. Nachdem das Riesentor verschwunden war, strahlte das Licht immer noch in der Dunkelheit weiter, und ich rieb kurz meine Augen, um sicher zu sein, dass das auch wirklich so war, und danach machten wir uns auf den Rückweg durch die hell erleuchteten Straßen.“
Ich habe fasziniert zugehört und tauche wieder in meine Fantasiewelt ein, spüre gleichzeitig das Phänomen von dem Riesentor und erinnere mich dabei an meine Erfahrung in der ersten Nacht nach meiner Ankunft.
Ich erzähle Simon dann sogleich mit erregter Stimme von meiner Erfahrung mit dem hellen Licht, und es ergibt für mich jetzt mehr Sinn und tut sehr gut, jemanden kennengelernt zu haben, der auch Ähnliches erlebt hat.
Nach meinem Abschied von Simon beeile ich mich, beschwingt von dieser Begegnung, nach Hause, mein Magen knurrt, und plötzlich geht es mir durch den Kopf, dass meine Mutter sich vielleicht große Sorgen darüber macht, wo ich solange bleibe.
Zu unserem Erstaunen haben wir uns bereits nach ein paar Wochen an unser Leben auf dem Lande so sehr gewöhnt, dass wir uns in unserem neuen Zuhause richtig wohlfühlen. Nur der Garten macht uns Sorgen, meine Mutter und ich streiten uns darüber, wer das Laub im Garten und um das Haus herum wegräumen soll, um immer wieder erneut feststellen zu müssen, dass weder sie noch ich Zeit dafür finden können.
Ich bin der Meinung, dass ich bereits sehr viel im Haushalt helfe, und meine Mutter stöhnt, keine Zeit dafür zu haben, deshalb gebe ich nach und schlüpfe in meinen grünen Wollmantel, ziehe die warmen Stiefel an und hole den Rechen aus dem Geräteschuppen und gehe auf Blätterfang.
Während ich so vor mich hin reche, entdecke ich plötzlich etwas Dunkles unter dem Laub, und beim näheren Hinsehen erkenne ich eine Mütze. Ich hebe sie auf, und beim Betrachten der ausgebleichten Farbe wird es mir klar, dass sie sehr lange da gelegen haben muss, und sie sieht aus wie eine dieser Mützen, die die älteren Herren jeweils tragen. Nun fange ich an zu spekulieren, wer wohl hier vorher gewohnt hat und wie lange es her ist.
Die Utensilien auf dem Dachboden könnten von diesem Herrn stammen, und angenommen, er ist hier im Hause verstorben, dann sind die Sachen bei der Räumung wohl einfach vergessen worden. Durch diesen Fund steigt meine Neugierde in hohem Masse, über die Vergangenheit dieses Herrn mehr erfahren zu wollen.
Ich gehe mit der Mütze zu meiner Mutter und erzähle ihr von meiner Entdeckung, und sie schaut mich überrascht an.
„Als ich den Vertrag mit der Maklerin abgeschlossen habe, erzählte sie mir, dass ein älterer Herr hier viele Jahre gewohnt hat, und deshalb könnte die Mütze aus dieser Zeit stammen“, sagte meine Mutter zu meinem Fund.
Ich erwiderte: „Über den ehemaligen Hausbesitzer möchte ich gerne mehr erfahren.“
Öfter hole ich die Brötchen für uns in der Bäckerei die Straße hinunter, und die freundliche Backwarenverkaufshilfe steckt mir hin und wieder gerne etwas Leckeres zu. Als ich wieder mal in den Laden gehe, frage ich die nette Verkäuferin: „Haben Sie den Herrn, der in unserem Haus früher gewohnt hat, gekannt?“
„Ja, er lebte gerne zurückgezogen und war sehr eigen, aber trotzdem immer sehr freundlich, und er liebte Donuts“, gibt sie zur Antwort.
Ich konnte mich nicht lange unterhalten, obwohl ich dies gerne getan hätte, aber die feine Pastete aus dem Feinkostladen ist in der Regel um diese Zeit bereits ausverkauft, und deshalb muss ich mich beeilen und mache einen großen Schritt über die Türschwelle auf die Straße, wo ich im letzten Moment einer feinen Dame ausweichen kann. Ich schaffe es gerade noch, in dem Feinkostladen bei dem netten Herrn mit der kleinen runden Brille, der immer viel lacht, die letzte Pastete zu ergattern.
Michael Macleod
Als ich kurz danach wieder draußen bin, schiele ich zum Antiquariat hinüber, das sich mitten auf dem Platz befindet. Bis jetzt hatte ich nicht den Mut gefunden, den Laden zu betreten, weil das Geschäft eine mystische Atmosphäre ausstrahlt und aussieht, als wäre seit hundert Jahren nichts mehr verändert worden. Allerdings übt es eine magische Anziehung auf mich aus, sodass ich mich heute zumindest in die Nähe traue.
Ich bleibe eine Weile vor dem Eingang stehen und betrachte das rote Schild über der Eingangstür, die in die Jahre gekommen ist und durch das raue Klima die Farbe fast verloren hat, sodass ich dadurch die Schrift nicht entziffern kann. Vorsichtig nehme ich die vergoldete Türklinke in die Hand, drücke sie ganz fest nach unten und betrete das Antiquariat.
Der Holzboden knarrt sehr laut, als ich über das alte Parkett schreite und in den Raum hineintrete. Der Eingang ist düster, sodass meine Augen sich zuerst daran gewöhnen müssen, etwas erkennen zu können, und das Erste, was ich sehe, ist ein altes, leicht schiefes Bücherregal, das mit hochwertigen, in Leder gebundenen Büchern vollgestopft ist. Mein Blick bleibt dann bei einem dunkelgrünen Buch hängen, und ich steuere geradewegs darauf zu und bemerke zuerst nicht den alten liebenswürdigen Mann, der langsam auf mich zukommt.
Er hat bereits von den neuen Bewohnern aus London gehört und sagt gleich: „Ich heiße Michael Macleod.“
Ich stelle mich ebenfalls vor: „Ich heiße Laura und lese gerne Bücher, die mystische Geschichten erzählen und wurde deshalb magisch von dem Antiquariat angezogen.“
Sein Gesichtsausdruck verändert sich sogleich, als er das von mir erfährt, und er fängt gleich an, gewisse Bücher zu erwähnen und rezitiert über ihre Inhalte, während er langsam an den Regalen entlang geht, um schlussendlich bei dem dunkelgrünen Buch stehen zu bleiben.