Das geheime Leben der Tiere (Arktis) - Das Erbe der Polarfüchse - Anna Lisa Kiesel - E-Book

Das geheime Leben der Tiere (Arktis) - Das Erbe der Polarfüchse E-Book

Anna Lisa Kiesel

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Beschreibung

Die Arktis ist wunderschön und voller Geheimnisse. Doch das Leben der Tiere dort ist auch gefährlich. Komm mit auf eine Reise ins endlose Eis! Blauwurm nennen die Geschwister den Polarfuchs, der als einziger von ihnen im Winter kein schneeweißes Fell bekommen wird. Sie lassen ihn glauben, dass er weniger wert sei. Voller Entschlossenheit verlässt der blaue Fuchs seine Familie und läuft los. Auf seiner Reise über das zugefrorene Polarmeer erhält er von einer Eisbärin den Namen Grischa, derWachsame. Bald schon erwartet er mit seiner Partnerin Junge. Doch zwischen den blauen Welpen tummelt sich auch eine weiße Füchsin. Grischa nimmt sich vor, ihr niemals das Gefühl zu geben, anders zu sein. Kann ihm das gelingen? Die Arktis ruft Erlebe erstaunliche Wunder der Natur und das aufregende Leben der Tiere – diese Kinderbuch-Reihe entführt Jungen und Mädchen ab 8 Jahren in die verschiedenen Lebensräume der Erde. Ob im tiefen Meer, im dichten Wald oder im grünen Dschungel: In diesen Geschichten erleben Tiere wunderschöne und zugleich bewegende Abenteuer. Die Kinder tauchen in die Welt der Tiere ein, werden für die Vielfalt der Natur begeistert und lernen viel Neues auf den Wissensseiten. Mit berührenden und coolen Schwarz-Weiß-Illustrationen. Lehrreich wie ein Sachbuch und berührend wie ein Disney-Klassiker! Für Fans von Peter Wohlleben und Karsten Brensing. Die Titel sind auf Antolin.de gelistet.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 169

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Für meine Meute. Lasst uns für immer Füchse bleiben!Denn wer will schon ein Pelikan sein?

Für alle, die manchmal das Gefühl haben, nicht dazuzugehören.Für alle, die schon einmal ausgegrenzt wurden.Ihr seid nicht allein!

Inhalt

Der blaue Polarfuchs

Lauf, Blauwurm! Lauf!

Auf leisen Pfoten

Die Eisbärin

Ein Name

Auf und davon

Neuland

Sakari

Der Pingo

Die Höhle

Neun

Alba

Vorräte

Erste Schritte

Lemmingjahr

Am Strand

Acht

Abschied

Tod in der Tundra

Wiedersehen

Familie

Und wie ist es wirklich?

Der blaue Polarfuchs

Polarfüchse sind im Sommer braun, während ihr Fell im Winter weiß wird. Auf diese Weise sind sie in einer Welt aus Eis und Schnee kaum zu entdecken. Aber so ist es nicht immer. Es gibt nämlich zwei Arten von Polarfüchsen: die weißen und die blauen. Jene, die im Winter ein weißes Fell tragen, und die anderen, die auch während der kalten Jahreszeit grau, dunkelblau oder schwarz sind. Die Gene dieser Blaufüchse, also das, was sie ihren Kindern vererben, sind viel stärker als die Gene der weißen Füchse. Und trotzdem gibt es in den meisten Regionen mehr Weißfüchse, weil sie im Winter besser getarnt sind. Blaufüchse haben es schwer zwischen all dem Weiß, in dem sie für Angreifer leicht zu erkennen sind. Sie müssen ein bisschen schlauer, schneller und mutiger sein, um zu überleben. Je näher sie an den Küsten der Meere leben, desto leichter wird es für sie. Denn dort, wo die Felsen grau und die Sandkörner dunkelbraun sind, fällt selbst ein Blaufuchs nicht so schnell auf …

Lauf, Blauwurm! Lauf!

Er rannte. Der blaue Fuchs rannte, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen. Über das Eis und hinaus auf ein Meer, das sich in den letzten Wochen zu festem Boden verwandelt hatte. „Blauwurm!”, hallte die Stimme unaufhörlich durch seinen Kopf.

Verwandeln. Ja, das Meer hatte eine neue Gestalt angenommen und aus Wasser war Eis geworden. Der blaue Fuchs aber hatte sich kaum verändert. Er war gleich geblieben, während sich über die Welt um ihn herum ein weißer Schleier gelegt hatte. Alles war weiß geworden. Jeder war weiß geworden. Nur er nicht.

„Blauwurm!”, rief es erneut.

„Halt die Klappe!”, fauchte der blaue Fuchs, obwohl er wusste, dass er die Stimme in seinem Kopf nicht verscheuchen konnte. Zu laut war sie. Zu oft hatte er sie in den ersten Monaten seines jungen Lebens gehört. So schnell der blaue Fuchs auch lief, vor Fedor und seinen Worten konnte er nicht flüchten. Erschöpft ließ er sich in eine Kuhle im Schnee fallen. Pause. Nur eine kleine Pause wollte er machen, auch wenn sich der Hunger wie tausend Nadeln durch seinen Magen bohrte. Sollte er nicht bald etwas zu fressen finden, dann … Er schloss die Augen, obwohl um ihn herum ohnehin völlige Dunkelheit herrschte. Nur kurz wollte er sich ausruhen. Nur ganz kurz …

Dunkel war es um ihn herum. Dunkel und wunderbar warm. Der süße Geruch von Milch strömte in seine Nase und der winzige blaue Fuchs spürte die ungeduldigen Tritte seiner Brüder und Schwestern. Er öffnete das Mäulchen und stieß ein erbostes Keckern aus.

„Lasst mich in Ruhe! Seid vorsichtig! Au!”

Verwundert hielt er inne. Was war das? War das etwa seine eigene Stimme? Ja! Er hörte! Jetzt erst fiel dem blauen Fuchs auf, dass er auch die kläglichen Laute seiner Geschwister vernahm. Das heisere Krächzen, das verzweifelte Rufen nach der köstlichen Milch. Plötzlich stach ihn etwas in die Nase. Er hatte es schon oft gerochen und der blaue Fuchs wusste, dass die Welpen nicht mehr allein im hintersten Winkel der Wurfhöhle waren. Er war zurück. Der Stinkefuchs, der schon während der ersten Tage so grob gewesen war und dessen scharfer Körpergeruch nichts als Ekel hervorrief. Warum unternahm Mama nichts, um die Welpen zu beschützen? Ein Gesicht tauchte vor ihm auf, viel größer als sein eigenes. Und obwohl der blaue Fuchs seine Umgebung nur verschwommen wahrnehmen konnte, sah er die Ablehnung in diesen Augen ganz deutlich.

„Blauwurm”, hörte er den anderen wispern. „Du siehst mich, das weiß ich. Aber hörst du mich auch endlich?” Erwartungsvoll blickten ihn die Augen an und der blaue Fuchs versuchte, mit ungelenken Bewegungen weiter nach hinten zu rutschen, um zwischen seinen anderen Geschwistern Schutz zu suchen.

„Du bist ein elender blauer Polarfuchs, der in unserer Familie nichts verloren hat. Ein Blauwurm.” Es waren die ersten Worte eines anderen, die der winzige blaue Fuchs in seinem Leben hörte. Und so tief er seinen Kopf auch im weichen Fell seiner Geschwister vergrub, vor der Boshaftigkeit dieser Stimme konnte er sich nicht verstecken.

„Blauwürmer müssen weg. Blauwürmer bekommen keinen richtigen Namen geschenkt. Dafür werde ich sorgen, solange ich dein großer Bruder Fedor bin.”

Da verstand der blaue Fuchs, dass er anders war. Oder schlimmer noch: dass er falsch war. Und er begriff, dass der Hass seines älteren Bruders sich nur gegen ihn richtete, nicht aber gegen die anderen flauschigen Bündel, die vor zwei Wochen in der Höhle geboren worden waren. Und er verstand, dass er kämpfen musste, wenn er überleben wollte.

Blauwurm schreckte hoch. Für einen Moment glaubte er, den süßlichen Duft der Wurfhöhle zu vernehmen und Fedors beißenden Atem in seinem Nacken zu spüren. Dann wurde ihm schlagartig bewusst, was passiert war. „Nur ein Traum.” Blauwurm stieß ein leises Seufzen aus. „Ich habe nur geträumt, was damals passiert ist.” Er war nicht mehr in der Höhle, nicht länger bei seiner Familie. Er war allein, weit draußen auf dem Packeis, das ihn mit seinem lauten Knacken zu sich gerufen hatte. Trotzdem ließen ihn die Erinnerungen an seine Familie und an all die Dinge, die passiert waren und von denen eins schlimmer als das andere gewesen war, nicht los. Wie viele Tage war er jetzt schon unterwegs? Blauwurm wusste es nicht, aber die Müdigkeit in seinen Beinen sagte ihm, dass es vermutlich schon zu lange war. Ob die anderen an ihn dachten? Vermutlich nicht. Sie waren bestimmt froh gewesen, als er von seinem Streifzug nicht zurückgekehrt war. Fedor. Der Name brannte auf der Zunge, deswegen sprach Blauwurm ihn niemals aus. Fedor, der Ältere. Fedor, der dachte, er sei etwas Besseres, nur weil sein Fell im Winter schneeweiß wurde. Den Mama und Papa damit beauftragt hatten, den neugeborenen Welpen Namen zu geben. Natürlich nur dann, wenn sie sich dessen würdig erwiesen. Nicht jeder Polarfuchs kann schließlich einen Namen verliehen bekommen.

„Den müsst ihr euch schon verdienen”, hatte Fedor gesagt und dabei so laut gekeckert, dass Blauwurm die Ohren eng an seinen Kopf gelegt hatte. „Zeigt mir, wie stark ihr seid. Zeigt mir, wie geschickt ihr jagen könnt. Dann schenke ich euch eines Tages vielleicht einen Namen.” Er hatte die Welpen der Reihe nach angesehen, nur Blauwurm nicht. Natürlich nicht. Blauwurm war nicht einmal eines Blicks würdig, geschweige denn eines richtigen Namens.

„Denkt immer daran”, war Fedor fortgefahren, „nur mit einem Namen dürft ihr hierbleiben. Nur mit einem Namen habt ihr die Chance, dass euch diese Höhle eines Tages selbst gehört und ihr sie mit euren eigenen Jungen bewohnen dürft. Ein so kostbares Erbe dürfen nur die Stärksten antreten.” Plötzlich war sein Blick zu Blauwurm geschwenkt. „Und vergesst nicht: Manche werden leer ausgehen und fortziehen müssen. Und das ist gut so. Es gibt nicht genug Platz für alle und auch der Tod muss etwas zu fressen bekommen, nicht wahr?”

„Ja!”, hatten die Welpen voller Inbrunst im Chor gerufen. „Der Tod muss fressen, aber uns bekommt er nicht.”

Blauwurm aber war stumm geblieben. Er wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis der Tod ihn holen würde. Ein blauer Fuchs in einer weißen Welt. Er würde keine Chance haben, das hatte Fedor ihm so oft gesagt, dass er selbst keinen Zweifel daran hatte. Spätestens bei Einbruch des Winters würde er sterben. Das hatte er wirklich geglaubt.

„Ich lebe!”, rief Blauwurm in die Dunkelheit hinaus. Es war Winter. Tiefster Winter und er lief immer noch über das Packeis. Der Tod hatte ihn nicht geholt. Blauwurm war den Wölfen entkommen, obwohl er mit seinem dunklen Fell nicht annähernd so gut getarnt war wie seine Geschwister und seine Eltern. Er, der einzige blaue Fuchs, der seit Jahren in diese Familie von Weißfüchsen hineingeboren worden war, klammerte sich an sein Leben. Fedor hatte ihm keinen Namen geschenkt und er hatte keine Anstalten gemacht, seine Meinung darüber zu ändern. Ganz egal, ob er im Spiel seine Geschwister zu Boden gedrückt hatte, bis sie um Gnade gewinselt hatten, oder ob er schnell genug gewesen war, um eine Möwe am Hals zu packen. Es war sinnlos gewesen. Blauwurm war stets leer ausgegangen. Irgendwann hatte er also einen Entschluss gefasst. Müde war er geworden vom Warten und von all der Ablehnung, die ihm seine Familie entgegenbrachte. Sterben würde er sowieso. Ob es in der Nähe der Wurfhöhle oder weit, weit weg passierte, das spielte keine Rolle. Also hatte Blauwurm beschlossen, früher zu gehen als die anderen. Er wollte Fedor nicht die Genugtuung gönnen, Zeuge seines Todes zu werden. Wie weit er kommen würde, das konnte Blauwurm selbst kaum glauben. Aber hier war er nun. Hier draußen und so lebendig wie noch nie zuvor. Wenn nur der verdammte Hunger nicht wäre … Er nagte an ihm, so wie Blauwurm noch vor wenigen Wochen an den Knochen eines Lemmings genagt hatte. Dünner und dünner wurde die Speckschicht auf seinen Rippen und es war ein großes Glück, dass er ein so dichtes Fell hatte wie kein anderes Tier dieser Erde. Auf sein Fell war Verlass. Es hatte zwar die falsche Farbe, wie Fedor und die anderen ihm so unmissverständlich und hartnäckig erklärt hatten, aber es wärmte ihn zuverlässig. Und anders als seine Speckschicht, würde es erst dünner werden, wenn der Frühling anbrach.

Da lagen sie. Ein paar braune Kugeln im Schnee. Eisbärenkacke. Blauwurm aber erschienen sie in diesem Moment wie die größte Kostbarkeit. Hastig schlang er den ersten Bissen hinunter. Wer mit dem Tod kämpft, darf nicht wählerisch sein.

Und diese Mahlzeit hätte durchaus schlechter sein können. Blauwurm konnte das Robbenfett herausschmecken, von dem sich der Eisbär ernährt haben musste. Diese Kugeln waren also nichts weiter als verdautes Robbenfett, das durch einen riesigen Bären hindurchgewandert war, um jetzt einen winzigen Fuchs satt zu machen. Daran war nichts verwerflich, fand Blauwurm. Und weil es seit einigen Tagen nicht geschneit hatte, folgte er den Spuren. Riesige Bärentatzen hatten sie im Schnee hinterlassen. Blauwurm schnupperte daran und er ahnte, dass sie einem Weibchen gehörten. Ein älteres Weibchen, das sich nur langsam, aber beständig über das Eis fortbewegte. Blauwurm malte sich ihre Gestalt aus. Den großen Körper, den verhältnismäßig kleinen Kopf und die Zähne. Vielleicht hatte die Bärin irgendwo auf ihrem Weg Beute geschlagen und vielleicht … Ja vielleicht hatte sie ein Stückchen Fleisch übrig gelassen für all die armen Kreaturen, die selbst zu schwach waren, um an einen solchen Leckerbissen zu kommen. Blauwurm jagte den Spuren hinterher, bis er vor Erschöpfung nicht mehr konnte. Nur ein wenig ausruhen, sagte er sich, rollte sich zusammen und schob die Nase unter den Schwanz. Nur für eine Weile die Augen schließen.

„Du stinkst!” Olga schüttelte sich. Fedor hatte ihr am Tag zuvor einen Namen geschenkt, weil sie eine junge Möwe in ihrem Nest erbeutet hatte. Seitdem hatte sie nicht aufgehört, auf Blauwurm herumzuhacken. „Du stinkst nach immerblauem Fell”, fuhr sie fort und sprang auf ihren Bruder zu. Ein Fehler, wie sie schnell feststellen sollte, denn Blauwurm war stark. Der stärkste Welpe, den der Wurf hervorgebracht hatte.

„Eine üble Laune der Natur”, hatte es der Vater eines Tages genannt. „Ein so starker Fuchs und ausgerechnet er muss blau sein. Was für eine Verschwendung …”

Blauwurm wehrte sich. Er biss seiner Schwester in die Lefze und zog mit aller Kraft daran, während seine Pfoten gegen ihren Brustkorb trommelten.

„Olga! Olga! Olga!”, feuerten die anderen sie im Chor an. Blauwurm spürte die Wut in seinem Bauch anschwellen. Größer und größer wurde sie, bis sie ihn fast zu zerreißen drohte.

„Mach ihn fertig, Olga!”, hörte er auch Fedor jaulen.

Blauwurm verbiss sich in Olgas Ohr und riss daran, die Wut machte ihn blind. Er sah den hinterhältigen Anschlag nicht kommen und dann war es sein jüngster Bruder, der sich plötzlich auf ihn warf und mit sich riss. Blauwurm landete im Matsch. Pfoten drückten sein Gesicht in die aufgeweichte Erde. Er strampelte, doch es war vergeblich. Gegen die vereinten Kräfte von zwei Füchsen hat selbst der Stärkste des Wurfs keine Chance.

„Lasst ihn!”, fauchte die Mutter in diesem Moment. Daria war eine gütige Füchsin, die sich selbst von blauem Fell, das niemals seine Farbe ändert, nicht abschrecken ließ. Sie kannte keinen Ekel. Olga und der Jüngste ließen von Blauwurm ab.

„Ha! Da liegt er. Ein blauer Wurm im Matsch.”

„Ganz braun ist er im Gesicht. Heeee, Blauwurm! Hast du dich mit Kacke beschmiert?”

Wäre Blauwurm nicht so außer Atem gewesen, hätte er sie alle angebrüllt. „Ihr seid doch fast genauso braun wie ich“, wollte er ihnen am liebsten entgegenschmettern. „Warum glaubt ihr, etwas Besseres zu sein, nur weil ihr die Hälfte des Jahres in einem weißen Kleid herumlauft?“ Blauwurm aber schwieg.

Es war Daria, die drohend knurrte: „Es reicht, Kinder. Geht zurück in die Höhle oder macht euch nützlich und jagt.”

„Aber sie wollten doch nur spielen”, versuchte Fedor seine Mutter zu beschwichtigen.

„Manchmal wird aus Spiel Ernst. Dann ist es Zeit aufzuhören”, erwiderte Daria und verzog sich wieder. Sie hatte sich in den letzten Wochen genug um die Welpen gekümmert. Die Kleinen mussten langsam selbstständig werden, aber vor einer solchen Ungerechtigkeit konnte sie nicht die Augen verschließen. Zumindest nicht ganz. Fedor aber trat an den Jüngsten des Wurfs heran. Und während Blauwurm versuchte, sich den Schlamm aus dem Gesicht zu kratzen, verkündete Fedor voller Stolz: „Jüngster aus dem dritten Wurf von Anatol und Daria, du hast bewiesen, wie arglistig und schlau du bist … Deswegen schenke ich dir hiermit einen Namen. Von heute an sollst du Kodiak heißen.”

„Kodiak! Kodiak! Kodiak!”, jaulten die jungen Füchse im Chor. Blauwurm krümmte sich. Die Ungerechtigkeit schien sich durch seine Eingeweide zu fressen wie ein Parasit. Nicht der Jüngste des Wurfs, dieses hinterhältige Biest, hätte einen Namen bekommen sollen, sondern er. Er, den sie nur Blauwurm nannten, hatte schon mehrmals bewiesen, dass er eines richtigen Namens würdig war. Doch Fedor, der sie verteilen durfte, ignorierte ihn. Er dachte gar nicht daran, ein so kostbares Geschenk an einen blauen Fuchs zu verschwenden. Blauwurm hob den Blick. Er sah den Vater, Anatol, der hoch oben auf den Felsen hockte und alles beobachtet hatte. Blauwurm konnte seine Verachtung bis hierher spüren. Er schüttelte sich und kroch zurück in die Höhle. Die Rufe seiner Geschwister folgten ihm.

„Kodiak!” Blauwurm fuhr hoch. Er hätte schwören können, das Knurren seines jüngsten Bruders habe ihn aus dem Schlaf gerissen, doch es war etwas anderes.

„Eisbärin …”, murmelte Blauwurm. Er konnte sie riechen. Sie war ihm näher als zuvor. Aber warum hatte sie ihre Richtung geändert? Kam sie zurück? Blauwurm wurde nervös. Er wusste, wie groß diese Tiere waren, obwohl er sie bisher nur aus der Ferne beobachtet hatte.

„Passt mit den Bären auf”, hatte der Vater Anatol den Welpen eingeschärft. „Sie sind hervorragende Jäger und fressen ihre Beute selten ganz auf, aber sie können euch mit nur einem Prankenhieb töten.”

„Sind wir nicht viel schneller als sie?”, hatte Blauwurm gefragt, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass ein so riesiges Wesen wie ein Eisbär es mit seiner eigenen Wendigkeit aufnehmen konnte.

„Halt die Klappe, du Wurm!”, hatte Fedor gefaucht. „Was weißt du schon?”

„Gar nichts”, hatte Blauwurm zugegeben. „Aber im Gegensatz zu manch anderem kann ich wenigstens denken.”

Fedor hatte ausgesehen, als wollte er Blauwurm jeden Moment an die Gurgel springen. „Im Gegensatz zu manch anderem”, hatte er gezischt, „habe ich das erste Jahr meines Lebens schadlos überstanden und halte mich deswegen von Eisbären fern. Einer wie du kann ihnen gern zwischen die Pfoten laufen. Du wirst ja ohnehin nicht lange überleben. Da kannst du ein solches Risiko ruhig eingehen.”

„Fedor! Fedor! Fedor!”, hatten die Welpen gekeckert.

„Fedor!”, hatte auch der Vater gerufen. „Du bist und bleibst ein schlauer Fuchs.”

Von wegen schlau. Blauwurm knurrte leise bei dem Gedanken an dieses Gespräch, das bereits einige Monate zurücklag. Fedor war feige. Blauwurm glaubte immer noch nicht, dass ein Eisbär einem Polarfuchs etwas tun konnte. Man musste nur vorsichtig mit diesen weißen Kolossen sein. Getötet wollte Blauwurm hier und heute auf jeden Fall nicht werden. Der junge Polarfuchs sah sich hektisch um. Bis auf eine aufgeworfene Eisplatte, die vom Druck des Meeres zu einem gezackten, in den Himmel ragenden Gebilde geformt worden war, gab es weit und breit kein Versteck. Blauwurm hechtete hinter die Eisplatte und hielt die Nase in den Wind. Es gab keinen Zweifel: Die Eisbärin kam näher. Jetzt aber mischte sich in ihren unverkennbaren Geruch noch etwas anderes. Blauwurm schnupperte. Er zog die Luft ein und die unzähligen Zellen im Inneren seiner Nase begannen zu arbeiten. Sie analysierten jeden noch so zarten Duft im Umkreis vieler Hundert Meter. Und da! Blauwurm atmete noch einmal tief ein und jetzt war ihm klar, warum die Eisbärin zurückkam. Es roch nach einer Robbe. Sie musste vor Kurzem aufgetaucht sein, doch wo lag ihr Atemloch? Blauwurm streckte das Köpfchen hinter der Eisplatte hervor. Seine Nase zuckte schnüffelnd hin und her. Die Eisbärin war jetzt nicht mehr weit entfernt, aber die ewige Dunkelheit war so tief, dass Blauwurm sie nicht sehen konnte. Er duckte sich, machte sich noch kleiner, als er ohnehin schon war. Vorsichtig wollte er sein, doch die Möglichkeit auf einen vollen Magen konnte er sich nicht entgehen lassen.

„Du bist ein Dummkopf”, hörte er eine Stimme in seinem Kopf, die verdammt nach Fedor klang. „Der Bär wird dich zerfleischen.”

„Wer sagt, dass ich mich ihm nähere?”, knurrte Blauwurm in sich hinein. „Ich warte, bis die Eisbärin satt ist, und fresse, was sie übrig gelassen hat.”

„Dummer Plan”, erwiderte die Stimme. Blauwurm schüttelte sich. Er wollte sie loswerden. Alle wollte er vergessen. Seine Mutter und seinen Vater, Olga und Kodiak und am allermeisten Fedor.

Ein Schnaufen zerriss die Stille, die sonst nur vom Knacken des Eises durchbrochen wurde. Blauwurm duckte sich. Die Eisbärin war jetzt ganz in der Nähe, aber sie interessierte sich offensichtlich nicht für den kleinen Fuchs, sondern steuerte zielstrebig auf ein Loch in der dicken Eisdecke zu. Dort drüben war es also, das Atemloch der Robbe. Hoffentlich kehrte sie bald zurück. Die Eisbärin schnupperte kurz, dann legte sie sich auf den Bauch, bettete den Kopf auf ihre Pfote und begann zu warten.

Auf leisen Pfoten