Das geheime Turmzimmer - Laura Andersen - E-Book
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Das geheime Turmzimmer E-Book

Laura Andersen

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Beschreibung

Drei starke Frauen dreier Generationen und ihr unausweichliches Schicksal ... Als die bücherliebende Carragh den Auftrag erhält, die Bibliothek einer alten irischen Burg zu archivieren, kann sie ihr Glück kaum fassen. Und als sie dort dem jungen Lord Aidan Gallagher begegnet, schlägt ihr Herz noch schneller ... Doch etwas stimmt nicht mit Deeprath Castle und seinen Bewohnern. Ist es wahr, dass ein Geist im Turmzimmer umherirrt? Und was hat es mit dem mysteriösen Tod von Aidans Eltern auf sich, die vor zwanzig Jahren ermordet in der Bibliothek aufgefunden wurden? Carragh stößt auf ein altes Tagebuch, das ihr Hinweise liefert, die sie der Wahrheit immer näherbringen. Dabei ahnt sie noch nicht, dass ihr eigenes Schicksal mit dem der Gallaghers eng verwoben ist …

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Für Mom und Dad Die richtigsten Eltern, die man sich vorstellen kann

Aus dem Englischen von Susanne Keller

© Laura Andersen 2018 Titel der englischen Originalausgabe: »The Darkling Bride«, Ballantine Books, a division of Penguin Random House LLC, New York 2018 © der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2019 Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover Redaktion: Friedel Wahren Covergestaltung und -abbildung: Johannes Wiebel | punchdesign unter Verwendung von shutterstock.com Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

Cover & Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2 – 2015

Kapitel 3 – 1992

Kapitel 4 – September 1879

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7 – Oktober 1879

Kapitel 8

Kapitel 9 – Juni 1972

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12 – Oktober 1879

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15 – Dezember 1879

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18 – Juni 1982

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21 – Mai 1880

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24 – Juni 1880

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27 – September 1991

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30 – Herbst 1880

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33 – Mai 1881

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36 – August 1992

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39 – Juli 1881

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42 – September 1992

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Dank

Guide

Kapitel 1

 

 

DUBLIN WEEKLY NATION

Mai 1880

Eheschließungen: Donnerstag, den 20. v. M., Saint Patrick’s Cathedral, Dublin, Mr Evan Chase, London, und Lady Jenny Gallagher, County Wicklow, einziges Kind von Michael Gallagher, 13. Viscount Gallagher, und Ehefrau Lady Aiofe Gallagher. Mr Chase wird den Namen der Ehefrau zusätzlich annehmen, da sie Alleinerbin der Gallagher Estates ist.

DUBLIN WEEKLY NATION

Mai 1881

Geburten: Mittwoch, den 11. v. M., James Michael Gallagher auf Deeprath Castle, County Wicklow. Erstgeborenes Kind von Lady Jenny Gallagher und Mr Evan Chase-Gallagher

DUBLIN WEEKLY NATION

Januar 1882

Todesfälle: Sonntag, den 8. v. M., verstarb Lady Jenny Gallagher plötzlich und unerwartet im Alter von zweiundzwanzig Jahren. Sie hinterlässt einen Ehemann und einen kleinen Sohn. Aufgrund der unklaren Todesursache wird die Polizei in Rathdrum Untersuchungen aufnehmen.

THE ILLUSTRATED LONDON NEWS

4. März 1882

Wie aus verlässlicher Quelle bekannt wurde, ist der bekannte Volkskundler und Schriftsteller Mr Evan Chase-Gallagher nach einem zweieinhalbjährigen Aufenthalt in Irland zu den heimischen Gestaden Englands zurückgekehrt. Als er zuletzt die Irische See querte, hätte er sich wohl kaum träumen lassen, wie strahlend das Glück und wie tief die Verzweiflung sein würden, die ihn erwarteten. Liebe, Heirat, Vaterfreuden … indes in kürzester Zeit gefolgt von einem solchen Ausmaß an Trauer, das nur jene zu ermessen vermögen, die schon einmal ein geliebtes Wesen unter ungeklärten Umständen verloren haben.

Wer sie kannte, beschreibt Lady Jenny Gallagher als dunkle Schönheit, geistreich und voller Witz, mit der für Iren so typischen Ausstrahlung. Doch wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten. Es war ein offenes Geheimnis, dass Lady Gallagher nach der Geburt ihres Sohnes an nervösen Zuständen litt. Es lässt sich nur vermuten, welchen seelischen Strapazen ihr Mann ausgesetzt gewesen sein muss, noch dazu in der Einsamkeit der Berge, weitab von seinen Londoner Kreisen. Dass er seit seiner Heirat nichts mehr veröffentlicht hat, sagt womöglich mehr als tausend Worte.

Wie verlautet, geht die Polizei recht hochherzig von einem Unfall aus und hat die Ermittlungen geschlossen. Nun, da seine Ehefrau ein christliches Begräbnis erhalten kann, ist zu hoffen, dass Mr Chase leichter Frieden findet. Allzu lange haben wir die fesselnde Prosa dieses gebildeten Schriftstellers vermisst, dessen Talent den Vergleich mit Mr Dickens und Mr Trollope nicht zu scheuen braucht.

Knapp vierzig Kilometer südlich von Dublin brütete Deeprath Castle in einem flachen Tal, das sich in die Wicklow Mountains gegraben hatte. Vor dreizehnhundert Jahren suchte der heilige Kevin hier die Einsamkeit. Vor achthundert Jahren wurde Tomas Ó Gallchobair hier zu Thomas Gallagher, indem er die Tochter eines normannischen Fürsten heiratete – was nur seinen Namen, doch nicht sein Herz verwandelte –, und erbaute knappe vier Kilometer südlich der damaligen Klosterstadt Glendalough einen steinernen Bergfried. Seit jener Zeit hatte ungefähr alle hundert Jahre ein Nachfahre dem Land und der Burg seinen Stempel aufgedrückt, bis Deeprath eine so unverwechselbare englisch-irische Mischung geworden war wie die Familie, die dort wohnte. Rath bedeutet im Altnorwegischen wohl so viel wie Bauernhof, doch die Bewohner der Wicklow Mountains raunten sich zu, man solle es wie das englische wrath – Zorn – aussprechen.

Ob die Gallaghers nun solchen Zorn verursachten oder vielmehr dessen Opfer waren, hing ganz von Person und Laune des Erzählers ab.

Lachen, Tränen, Freude, Leid, Liebe, Hass, Geburt und Tod – der Herzschlag eines jeden Gallaghers hallte in den Steinen und dem Holz der Burg wider, und wer empfindsam genug war, spürte das Pochen der Jahrhunderte in seinem Körper. Jedes Tier, das hier ein Zuhause finden wollte, musste mit dem Echo leben, sonst wurde es fortgejagt. Die Burg erkannte, wer zu ihr gehörte, und bewahrte ihre Geheimnisse voller Eifersucht.

Geheimnisse, die im normannischen Bergfried verborgen lagen, in den Stufen seiner spiralförmigen Treppe, die unzählige Füße in vielen Jahrhunderten ausgetreten hatten. Geheimnisse im großen Saal aus der Tudorzeit mit seinem Spinett, seiner Laute und Harfe. Geheimnisse auch in dem Studierzimmer aus der Regencyepoche, das durchdrungen war vom Patriarchat und seinen Privilegien.

Vor allem aber die Geheimnisse in der Bibliothek mit ihren emporstrebenden Wänden, den bleiverglasten bunten Fenstern, dem gotischen Fächergewölbe, das hoch über den Abertausenden von Büchern schwebte. Bücher in Vitrinen, Bücher in offenen Regalen, Bücher, Manuskripte, Journale und Karten, verstaut in großen Truhen aus der Renaissancezeit.

In der Bibliothek gab es eine Fülle von Geheimnissen zu lüften … Man musste nur wissen, wo man suchen sollte.

Kapitel 2

2015

Carragh Ryan saß kerzengerade auf der Nachbildung eines Stuhls aus dem neunzehnten Jahrhundert, den ihr die Gesprächspartnerin angeboten hatte. Sie war heilfroh, dass ihre Kleiderwahl für das Bewerbungsgespräch auf ihr allerseriösestes Tweedensemble in nüchternem Graugrün gefallen war. Die Frau ihr gegenüber war mindestens achtzig und gekleidet, als wäre sie auf dem Weg zu einer Beerdigung bei Downton Abbey. Wer trug heutzutage noch Bombasin? In ihrem Kopf jagten sich die Gedanken in wildem Galopp wie immer, wenn sie nervös war. Und was genau ist Bombasin eigentlich? Will ich den Job überhaupt, wenn ich dann für sie arbeiten muss?

Konnte die Frau Gedanken lesen? Sie hatte ihren Namen nicht preisgegeben, nachdem Carragh die ebenso exklusive wie gesichtslose Hotelsuite betreten hatte. Sie stellte nämlich genau diese Frage: »Weshalb bewerben Sie sich auf diese Stelle ohne zu wissen, worum es sich dabei handelt?«

Weil die Stellen, bei denen ich es weiß, so sterbenslangweilig sind, dass ich mir schon bei der Bewerbung am liebsten die Kugel gäbe … Carragh lächelte, auch wenn sie bezweifelte, dass die Frau für Schmeicheleien empfänglich war. »Die Stelle hat mit Büchern zu tun, mehr interessiert mich nicht.«

»Sind Sie sich im Klaren darüber, dass die Anstellung befristet ist? Auf allerhöchstens drei Wochen?«

»Durchaus.«

»Ihr Arbeitsplatz ist außerdem etwas … isoliert. Sie müssten bei uns Logis beziehen, und wir verfügen weder über nennenswerten Mobilfunkempfang noch über Internetanschluss.«

Wenn sich literarische Anspielungen anboten, konnte sich Carragh nicht beherrschen. »Das klingt ganz nach Victoria Holt oder Daphne du Maurier.«

Die Frau blickte sie ausdruckslos an, und Carragh plapperte drauflos.

»Schriftstellerinnen, die Schauerromane verfasst haben. Geheimnisvolle Herrenhäuser, altbackene Gouvernanten, schwermütige adlige Herren … das ganze Paket. Nicht so wichtig.«

»Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie mich da in der Rolle der Missis Danvers sehen?«

Carraghs Augenbrauen schossen in die Höhe, als der Name der unheimlichen Hausdame aus du Mauriers Rebecca fiel. Ihr Gegenüber musste lächeln. »Ich bin dreimal so alt wie Sie, meine Liebe. Es ist also durchaus denkbar, dass ich ebenso viele Bücher gelesen habe wie Sie.«

Die alte Dame überflog Carraghs Lebenslauf und nahm die Brille ab, die ihr an einer Kette um den Hals hing. Ohne Brillengläser wirkte ihr Blick noch stechender. »Ihr Familienname lässt auf irische Wurzeln schließen. Was ja wohl kaum der Fall sein kann.«

Die Lady kam ohne große Umschweife auf den Punkt, was Carragh irgendwie erfrischend fand.

»Ich wurde adoptiert.«

»In China?«

»Boston.«

Einen unbehaglichen Moment lang schwiegen beide, dann kam die Lady auf den eigentlichen Grund des Treffens zu sprechen. »Sie sind also in den USA geboren, in Boston aufgewachsen, haben am Boston College Ihren Abschluss in Englischer Literatur erworben und sich danach für Hibernistik am Trinity College eingeschrieben.«

»Ja.«

»Und nach Ihrer Zeit am Trinity sind Sie in Dublin geblieben und versuchen sich seither als freiberufliche Redakteurin oder schlagen sich mit Sekretariatsjobs durch.«

»Ja.« Carragh fragte sich, ob im Verlauf des Interviews jemals eine echte Frage kommen würde. Oder wenigstens ein klitzekleiner Hinweis auf die Natur des mysteriösen Jobs.

Erneut bewies die namenlose Frau bemerkenswertes Geschick im Erraten von Carraghs Gedanken und ging augenblicklich dazu über, sie konzentriert und gezielt zu ihren Kenntnissen auf dem Gebiet irischer Balladen und Erfahrungen im Bibliothekswesen zu befragen. Als Carragh zwanzig Minuten später leicht benommen entlassen wurde, wusste sie nicht, ob ihre Antworten zufriedenstellend gewesen waren. Und sie hatte auch noch immer keine Ahnung, um welche Arbeit es sich überhaupt handelte.

Immerhin hatte sie den Namen erfahren. Bei der Verabschiedung hatte die Lady ihn ihr genannt. Nessa Gallagher. Der Nachname klang vage vertraut. Sie zwang sich, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Kein Grund, sich unnötigen Illusionen hinzugeben. Doch nach fünfminütiger Onlinerecherche wurde sie für ihre Selbstbeherrschung belohnt. Es handelte sich um Lady Nessa Gallagher, geboren und aufgewachsen auf Deeprath Castle im County Wicklow.

Deeprath, so viel wusste Carragh, war eine ursprünglich von den Normannen erbaute Burg und seit über achthundert Jahren im Besitz der Gallaghers. Hier befand sich eine der wichtigsten Bibliotheken Irlands in Privatbesitz.

Die Burg, die der viktorianische Schriftsteller Evan Chase 1879 besuchte, um für ein neues Buch zu recherchieren. Drei Jahre später verließ er sie als gebrochener Mann und veröffentlichte nie wieder auch nur ein Wort.

Chase war der Grund, weshalb Carragh schon von Deeprath gehört hatte. Einer ihrer Schwerpunkte an der Uni waren Schriftsteller der viktorianischen Zeit gewesen, und sie besaß Regale voller Bücher von Dickens und Trollope, Gaskell, den Brontë-Schwestern, Thackeray, Eliot und Hardy. Eine besondere Vorliebe hatte immer Evan Chase gegolten, mit dem ihre Großmutter sie schon vor ihrem zehnten Lebensjahr vertraut gemacht hatte. War es Ironie des Schicksals, Zufall oder ein kleines Wunder, dass sich ihr diese Gelegenheit gerade jetzt bot, so kurz nach dem Tod ihrer Großmutter? In praktisch genau dem Augenblick, als sie sich einen Ruck gegeben und beschlossen hatte, sich wieder aus der Niedergeschlagenheit herauszukämpfen, in die sie nach dem Verlust von Eileen verfallen war. Sie glaubte nicht an Zeichen. Oder vielleicht doch. In den vergangenen drei Monaten hatte sie zumindest etwas dazugelernt – dass sie sich nicht so gut kannte, wie sie immer angenommen hatte. Ein Lernprozess, der alles andere als ein Spaziergang gewesen war.

Und nun: Evan Chase.

Der Schriftsteller war halb Waliser, halb Engländer gewesen und gehörte zu den Vertretern der fantastischen Literatur. Seine Schauerromane trieften förmlich von nervenzerrender Beklemmung und übernatürlichen Erscheinungen. Und das zwanzig Jahre bevor Bram Stoker die Szene betrat. Mit dreißig blickte Chase bereits auf fünf erfolgreiche Romane zurück und konnte sich eines Platzes im Pantheon der englischsprachigen Lieblingsschriftsteller sicher sein.

Dann war er nach Irland gereist. Er wollte der Legende der Dunklen Braut nachspüren, einer rachsüchtigen Geistergestalt, und hatte sich stattdessen verliebt. In kurzer Folge heiratete er eine Gallaghertochter, wurde Vater eines Sohnes und verlor seine Frau – vermutlich durch Selbstmord. Danach kehrte er Irland ebenso den Rücken wie seinem Sohn, dem Erben der gesamten Besitztümer und des Titels der Gallaghers. Sechs Jahre später starb er, ohne je wieder eine einzige Zeile veröffentlicht zu haben. Von dem Buch, das er nach seiner Ankunft in Irland hatte schreiben wollen, existierte nur eine Seite mit einem groben Entwurf, den er an seinen Verleger geschickt hatte. Falls er mehr als dieses Konzept in Deeprath zurückgelassen hatte, war darüber Stillschweigen bewahrt worden.

Wenn Nessa Gallagher nun eine Person suchte, die sich mit Büchern auskannte, dann musste das etwas mit der Bibliothek auf Deeprath Castle zu tun haben. Fachleute schätzten, dass sich über die Jahrhunderte von Generation zu Generation fünf- bis sechstausend Bände angesammelt hatten. Carragh war nur auf der Suche nach einem Job gewesen, doch inzwischen war sie bereit, die Wicklow Mountains barfuß zu überqueren, um zu dieser Bibliothek zu gelangen. Immer wieder rief sie sich jede einzelne Frage des bizarren Interviews ins Gedächtnis. Sosehr sie sich aber das Hirn zermarterte, konnte sie doch nicht einschätzen, was Nessa Gallagher von ihr hielt.

Als sie am Abend mit dem jüngsten ihrer drei Brüder telefonierte, machte sie ihrem Herzen Luft. »Wie kann jemand nur so hinter dem Berg halten? Mir kam’s so vor, als würde ich von der Polizei vernommen. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, ob es noch andere Bewerber gibt, und wenn ja, wie viele. Und worum geht es bei dem Job überhaupt? Das war so, als hätte mich die Regierung geladen und nicht eine alte Frau, die mich die ganze Zeit nur angestarrt hat.«

Francis war wie immer ein Quell des Optimismus. »Wer kann dir schon widerstehen, Carragh?«

»Nessa Gallagher«, erwiderte sie düster. »Die würde sich wahrscheinlich sogar der Wiederkunft Christi widersetzen, wenn ihr daran irgendetwas gegen den Strich ginge.«

»Deeprath Castle«, grübelte ihr Bruder. Sie sah ihn förmlich vor sich, wie er seine irisch grünen Augen nachdenklich zusammenkniff. »Woher kenne ich den Namen?«

»Von Gran. Sie hat uns Bücher von Evan Chase vorgelesen, erinnerst du dich?«

»Verschwommen. Geister, Hexen und Vampire …«

»Das mit den Vampiren war Bram Stoker. Chase interessierte sich für Sagen und Legenden. Für Loreley, die ins Kloster verbannt wurde und sich aus Protest einen Felsen hinunterstürzte, für die Wasserfee Melusine, für die Ritter von Brocéliande. Alles Vorlagen für seine hochromantischen Romane, die er in viktorianischer Zeit verfasste.«

»Ich fürchte, du bist die Einzige, die Grans Leidenschaft für alte Romane geerbt hat.« Eine reichlich abgenutzte Familienstichelei, aus der Carragh aber immer wieder folgerte, dass sie genauso geliebt wurde wie die leiblichen Kinder ihrer Adoptiveltern. Wer geneckt wurde, gehörte dazu.

»Wie auch immer«, fuhr sie ungeduldig fort. »Evan Chase verbrachte vier Jahre auf Deeprath Castle. Er hat sogar die Tochter der Familie geheiratet. Daher kennst du den Namen der Burg. Gran hat immer viel von Chase geredet.«

»Gran hat immer viel über alles Mögliche geredet.«

Carragh musste lachen. »Stimmt. Jedenfalls musst du bei der heiligen Ceara um Unterstützung für mich bitten. Wenn ich den Job nicht kriege, heißt es zurück zur Zeitarbeit. Die Handwerkerrechnungen wachsen mir über den Kopf.«

»Oh. Was macht das Haus?«

»Alles noch so, wie Gran es hinterlassen hat.«

»Dunkel, kalt, mit Möbeln aus den Sechzigerjahren?«

»Ein paar Möbel weniger. Aber die Böden müssen dringend geschliffen und neu lackiert werden, die Tapeten bereiten mir ernsthaft Kopfschmerzen, und die Küchenschränke haben seit ewigen Zeiten keinen Wischlappen mehr gesehen. Was soll’s?« Carragh betrachtete das Empfangszimmer mit den hohen Decken und der fein gearbeiteten Holzvertäfelung. »Gran hat mir ein komplett abbezahltes Stadthaus am Merrion Square hinterlassen. Was will ich mehr?«

»Ganz genau, Schwesterherz. Mit der Zeit wird’s schon werden, Carr.«

Aber niemand aus ihrer Familie ahnte, wie schwierig die Situation tatsächlich war. Eileen Ryan war zwar als wohlhabende Frau gestorben, wie man an den hohen Geldbeträgen ablesen konnte, die sie Carraghs Vater und ihren drei Brüdern hinterlassen hatte. Andererseits hatte sie mindestens dreißig Jahre lang keinen Penny in das Haus gesteckt, nicht einmal für Reparaturen. Die Deckenleisten im georgianischen Stil waren wurmstichig, beim Betätigen der Lichtschalter bestand Brandgefahr, und wenn sie Wasser in die Badewanne einließ, spielte sie mit dem Leben.

Das Stadthaus war eins der wenigen im Zentrum von Dublin, das nicht in ein Mehrfamilienhaus umgewandelt worden war, und selbst im derzeitigen Zustand ein kleines Vermögen wert. Carragh wusste, dass sie es vernünftigerweise mit möglichst hohem Gewinn verkaufen sollte.

Sie dachte aber gar nicht daran, vernünftig zu sein.

»Vielleicht soll mich die Stelle auf Deeprath Castle ja damit trösten, dass normannische Wehrtürme und Säle aus der Tudorzeit im Winter noch schlechter heizbar sind als Grans Haus.«

»Das ist nicht der wirkliche Grund, Carr. Im Vergleich zu einer echten normannischen Burg ist selbst ein georgianisches Haus ein Neubau. Sei ehrlich – je älter ein Gebäude, desto mehr reizt es dich. Und wenn es dann noch geheimnisvoll wird, kannst du endgültig nicht widerstehen.«

Francis’ Tonfall änderte sich und wurde eine Spur zu beiläufig.

»Ach, übrigens …« Auf diese Worte folgte zwangsläufig etwas Unangenehmes. »Mom will dich sprechen.«

»Ich weiß.«

»Du, ich bin nämlich gerade hier bei Mom und Dad. Ich reiche den Hörer mal weiter …«

»Ich muss auflegen, Francis. Da kommt gerade ein anderer Anruf.«

Carraghs schlechtes Gewissen wegen dieser Lüge hielt sich in Grenzen, als sie das Gespräch beendete. Sie liebte ihre Mutter. Sie achtete und bewunderte sie. Sie mochte sie sogar, was zwischen Mutter und Tochter gar nicht so selbstverständlich war. Aber sie wollte nicht mit ihr sprechen. Jedenfalls nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Genau genommen seit sie Carragh einen Brief gegeben hatte, den sie nicht wollte. Seither verfolgte sie dieser Brief, legte ihr seine tintenschwarzen Finger um den Hals und flüsterte: Lies mich, lies mich …

Zum Teufel damit! Nach dem Telefonat mit Francis zog sie eine Weile ruhelose Kreise durch das Haus. Schließlich trat sie an die IKEA-Bücherregale, in denen die Großmutter ihre Romansammlung aufbewahrt hatte, und zog Evan Chases erstes Buch heraus. Ritter auf Wanderschaft. Sie öffnete es nicht, sondern drückte es an sich, schloss wie eine Zehnjährige die Augen und schickte ihren flammenden Wunsch gen Himmel. Wer wollte nicht herausfinden, was Evan und seiner wunderschönen geisteskranken Frau auf Deeprath Castle zugestoßen war? Welcher Büchernarr hätte nicht zugegriffen, wenn ihm die Möglichkeit geboten wurde, sich auf die Suche nach einem verlorenen Roman zu machen?

Ihr unausgesprochenes Stoßgebet musste auf offene Ohren gestoßen sein, denn zwanzig Minuten später klingelte das Telefon, und Nessa Gallaghers unverwechselbare Stimme drang herrisch durch den Hörer.

»Miss Ryan, Sie können die Stelle antreten.«

Diese Frau hielt offensichtlich nichts von überflüssigen Höflichkeitsfloskeln. Zum Glück konnte Nessa nicht sehen, wie Carragh der Mund offen stand. Rasch schloss sie ihn wieder und antwortete mit einem schlichten »Danke«, das wohl leider nicht annähernd so gleichmütig klang, wie sie es eigentlich beabsichtigte.

»Ich lasse Ihnen eine Zugfahrkarte sowie alle notwendigen Informationen zu Ihrem Aufenthalt auf Deeprath Castle zukommen. Sie sollten sich darüber im Klaren sein, dass die Burg seit über zwei Jahrzehnten nicht mehr bewohnt ist. Dieser Umstand, verbunden mit der Lage des Anwesens, bedeutet mithin, dass Sie weder eine verlässliche Internetverbindung noch Zugang zum Mobilfunknetz erwarten können. Ich gehe davon aus, dass sich jemand, der sich für Bibliotheken interessiert, auch ohne derlei Dinge zu beschäftigen weiß.«

»Kein Problem.« Carragh war bereit, für eine solche Chance auf alles Mögliche zu verzichten. Allerdings hätte sie eine reelle Aussicht auf warmes Wasser durchaus begrüßt.

»Streng genommen unterstehen Sie meinem Großneffen Lord Gallagher, obwohl es möglich ist, dass Aidan während Ihrer Zeit auf Deeprath Castle gar nicht anwesend ist. Für den Fall, dass er sich vorher mit Ihnen in Kontakt zu setzen wünscht, habe ich ihm dennoch Ihre Daten weitergeleitet. Wahrscheinlich wird er sich aber nicht melden. Aidan hat stets volles Vertrauen in meine Entscheidungen.«

Carragh stieß einen Laut aus, der hoffentlich Zustimmung oder Interesse signalisierte – zumindest einen Kommentar, den Nessa verdammt noch mal hören wollte.

»Darüber hinaus hoffe ich, dass Sie keine Angst vor Gespenstern haben«, fügte Nessa ohne Übergang hinzu.

Betretene Stille. »Wie bitte?«

Zu ihrer Überraschung lag ein Hauch Humor – oder zumindest eine Spur von Belustigung – in der Antwort der alten Dame. »Deeprath Castle ist über siebenhundert Jahre alt. Eine Örtlichkeit mit einer derart langen Geschichte ist ohne Gespenster kaum denkbar. Die unseren sind durchaus umgänglich, zumindest solange man sie nicht reizt.«

Carragh versicherte ihr eilig, dass sie keinerlei Absichten habe, während ihres Aufenthalts auf Deeprath Castle irgendjemanden zu reizen – ob es sich um Lebende oder Tote handeln mochte. Als sie aufgelegt hatte, starrte sie eine Weile ungläubig auf das Telefon, bis der Inhalt des Gesprächs allmählich zu ihr durchdrang.

Sie hatte die Stelle. Sie würde drei Wochen auf Deeprath Castle wohnen. Sie durfte den lieben langen Tag damit verbringen, eine Bibliothek zu erforschen, die über viele Jahrhunderte hinweg entstanden war. Dieselbe Bibliothek, in der Evan Chase während seines kurzen Aufenthalts wahrscheinlich gelesen, recherchiert und geschrieben hatte. Einem Impuls folgend, kehrte sie zu den Regalen zurück und nahm die übrigen Chase-Romane heraus.

»Ihr kehrt nach Deeprath zurück«, informierte sie sie stellvertretend für den Schriftsteller.

Vielleicht finde ich tatsächlich heraus, weshalb du nie wieder etwas geschrieben hast, fügte sie in Gedanken hinzu.

Und so etwas wie ein instinktiver Aberglaube hielt sie davon ab, den Wunsch zu äußern, den sie im Innersten hegte – in den Tiefen der alten Bibliothek ein Fragment der verloren gegangenen Erzählung Die Dunkle Braut zu finden.

Es gab nur zwei denkbare Anlässe, die Aidan Gallagher zur Rückkehr nach Irland hätten bewegen können. Da einer dieser Anlässe die Wiederauferstehung der Menschen von den Toten gewesen wäre, lebte er im Allgemeinen ohne besondere Befürchtung, dass es so weit kommen könne.

Er hätte es besser wissen sollen.

»Nein.« Aidan hatte das nun schon dreimal gesagt, allerdings ohne besonderen Eindruck auf seine Schwester zu machen. Sie redete weiter.

»Die Urkunden müssen noch vor dem dreißigsten April unterzeichnet werden«, wiederholte sie abermals. »Der Irish National Trust besteht ausdrücklich auf deiner Unterschrift. Wahrscheinlich sind es eher zwanzig Unterschriften, wenn ich bedenke, wie viele Dokumente für die Schenkung eines Anwesens wie Deeprath nötig sind.«

»Schick sie mir einfach! Ich unterschreibe und lasse sie hier in London notariell beurkunden.«

»Ich dachte, du könntest es gar nicht erwarten, dein Erbe loszuwerden«, bemerkte Kyla ungerührt. »Sag bloß, du willst die Burg auf einmal behalten! Dich hat doch nicht plötzlich ein Anflug von Verantwortungsgefühl für die Familie erwischt.«

»Ich habe nicht das geringste Problem mit der Schenkung.«

»Wenn du es dir noch einmal überlegen willst … Es ist immer noch Zeit, zum Beispiel eine Stiftung für lebendiges Kulturerbe zu gründen. Ich könnte aus der Burg ein Besucherzentrum machen.«

Viermal hatte er den Vorschlag seiner Schwester schon abgelehnt. Aidan hatte weder ein Interesse daran, Deeprath in ein Gästehaus noch in ein Zentrum für historische Studien zu verwandeln. Sollten die vom National Trust damit anfangen, was sie wollten. Er trug gerade noch so viel Familienstolz in sich, beim Gedanken an die Touristenhorden zu erschaudern, die dann durch das Castle trampeln würden.

»Kyla, schick mir doch einfach die Unterlagen …«

»Nessa will, dass die Sache hier erledigt wird.«

»Nessa hat mir gar nichts zu sagen«, gab Aidan knapp zurück. Egal, wie alt er war, seine Großtante würde ihn immer wie einen kleinen Jungen behandeln und ihm vorschreiben, was er zu tun hatte. Seit achtundachtzig Jahren betrachtete sich Nessa Gallagher als eisernes Rückgrat der Familie. Wer es freundlich ausdrücken wollte, hätte ihr Wesen als beharrlich beschrieben. Die treffendere Bezeichnung war starrköpfig.

Es wurde still am anderen Ende der Leitung, und Aidan hoffte, dass Kyla seine Ablehnung endlich akzeptiert hatte.

Und dann erwähnte sie den zweiten Anlass, der ihn zum Nachgeben bewegen konnte. »Die Bibliothek wird der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, sobald der Trust übernommen hat. Nessa engagiert eine Kraft, die den Bestand vorher in groben Zügen katalogisiert. Bist du sicher, dass du das ganz und gar einem Fremden überlassen willst?«

O verdammt, verdammt, verdammt! Schließlich hatte er gewusst, dass die Bestände der Bibliothek durchgesehen werden würden. Um die Schenkung durchzuführen, mussten sie Leute hereinlassen, die sich durch die Büchersammlung, die Dokumente und Familiengeschichte arbeiteten. Aber diese Tatsache hatte er völlig verdrängt wie so vieles Unangenehme in seinem Leben.

»Also, der Notartermin ist für den neunundzwanzigsten April angesetzt, kleiner Bruder. Das heißt, uns bleibt noch fast ein Monat. Ich fahre nächste Woche hin. Du solltest so bald wie möglich kommen.«

Mit gespielter Fröhlichkeit, aber unbarmherzig sprach sie weiter. »Ellie und Kate werden auch für einige Tage kommen. Da könntest du doch einmal so tun, als seist du ein normaler Onkel, der nicht jedes andere Mitglied der Familie auf diesem Planeten hasst.«

Er war wütend und erschöpft. Die erdrückende Vorstellung, nach Hause zurückkehren zu müssen, reizte ihn zu einem seiner beißenden Kommentare. »Aber Ellie und Kate sind keine echten Gallaghers. Sie sind Grants wie ihr Vater.«

Die Antwort seiner Schwester war scharf und eiskalt kontrolliert wie ein Degenstoß. »Ein Grund mehr, nach Deeprath zu fahren und dafür zu sorgen, dass sie dein kostbares Gallagher-Erbe nicht besudeln und so tun, als würden sie dazugehören. Du kannst ja deine herrschaftliche Stimme einsetzen, Viscount Gallagher … Ich bin hier der Herr im Haus. Ich zeige mich dann angemessen eingeschüchtert.«

Vor zwanzig, dreißig Jahren hätten beide den Hörer auf die Gabel geknallt, um sich abzureagieren. Aidan war kurz versucht, sein Handy durch den Raum zu schleudern, scheute aber dann den Aufwand, ein neues kaufen zu müssen. Stattdessen widmete er sich den Akten auf seinem Tisch und machte sich eine Notiz, den Superintendent am nächsten Morgen um ein Gespräch zu bitten.

Unter normalen Umständen wäre es für einen Detective Inspector bei Scotland Yard kaum möglich gewesen, so kurzfristig einen längeren Urlaub zu nehmen. Aidan stand jedoch kurz vor seiner Versetzung von der Abteilung für Kunstdelikte, die verkleinert werden sollte, zum Sittendezernat. Er sollte den Posten eines Beamten übernehmen, der noch nicht ganz im Ruhestand war. Zwei Wochen konnte er sich während dieser zeitlichen Überlappung sicher für Irland freinehmen.

Das bedeutete allerdings, dass er die letzten Akten auf seinem Schreibtisch schneller als geplant abarbeiten musste. Äußerlich wirkte Aidan gewohnt tatkräftig und konzentriert. In seinem Inneren jedoch nahm er ein dumpfes Brausen wahr, das aus der Tiefe seines Schädels kam und in den Augen und Ohren vibrierte. Deeprath, wallte es wie ein unerbittlicher Zapfenstreich, Deeprath, Deeprath.

Und darunter das Echo, Tod, Tod, Tod.

Seine Stimmung war tiefschwarz, als er nach Hause kam und Pen in der Küche antraf, die sich gerade die Reste eines Currys warm machte. Für eine Frau, die fünf Jahre lang als Profimodel gearbeitet hatte, bevor sie ihren Abschluss in Psychologie erwarb, konnte sie erstaunliche Mengen an Essen verdrücken. Ab und zu nahm sie immer noch Gelegenheitsjobs in der Modewelt an. Wie genau ihre Aufgaben dann aussahen, wusste Aidan nicht, außer dass sie an Events teilnahm, bei denen sie schick und mondän auftreten musste. Ein Leichtes für eine Londonerin, deren Wurzeln in Spanien und Jamaika lagen, die mit der gleichen Selbstverständlichkeit Bikini oder Ballkleid trug und drei Sprachen fließend beherrschte.

Sie warf einen Blick auf seinen Gesichtsausdruck und seufzte. »So viel zum Thema ein gemütlicherAbend zu Hause.«

Zu Hause traf es nicht so ganz, denn Penelope wohnte nicht bei Aidan in seinem Stadthaus. Er hatte noch nie mit einer Frau zusammengelebt und hatte nicht die Absicht, dies in naher Zukunft zu ändern. Sie war aber die Erste, der er einen Schlüssel und damit die stillschweigende Erlaubnis gegeben hatte, nach Belieben zu kommen und zu gehen.

»Ich muss nach Irland«, stieß er unvermittelt hervor, zerrte die Krawatte vom Hals und schenkte sich ein Glas aus der Flasche mit dem Weißwein ein, die auf der Marmorarbeitsfläche stand.

»Irland?«, fragte Penelope und mimte übertriebene Überraschung. »Deine Familie wird im Grab rotieren.«

»Blöd von mir, verzeih!«, fügte sie hinzu, nachdem sie gemerkt hatte, was ihr da herausgerutscht war.

Ihre Entschuldigung war knapp, aber ernst gemeint, sodass Aidan einfach darüber hinweggehen konnte, wenn er wollte.

Und er wollte. »Deeprath geht an den Irish Trust, den Inhalt der Bibliothek übernimmt die National Library. Aber da sind noch jede Menge persönliche Unterlagen und Bücher, und ich will nicht, dass sie in die Hände von Fremden gelangen. Die richtige Archivierung erledigen dann die Profis, aber vorher brauche ich einen allgemeinen Überblick über den Bestand.«

Pen blieb stehen, als Aidan sich an die Küchentheke setzte. Ihr Gesicht war besonders schön, wenn der gewohnte ironische Ausdruck fehlte – so wie jetzt.

»Dann wird es wohl Zeit, dir den hier zurückzugeben.« Sie zog den Hausschlüssel aus der Jackentasche und legte ihn auf die Theke.

Aidan starrte erst den Schlüssel, dann sie an. »Warum?«

»Weil ich von Anfang an wusste, dass Irland uns auseinanderbringt. Jetzt, da der Moment gekommen ist, hat es keinen Sinn, das Unausweichliche hinauszuzögern.«

»Ich verstehe nicht … bist du gekränkt, weil ich dich nicht einlade, mitzukommen? Das wird kein Höflichkeitsbesuch, Pen. Außerdem würdest du meine Familie ohnehin nicht mögen.«

Sie bedachte ihn mit einem zärtlichen Blick. »Ich mag dich, Aidan. Ich werde dich immer mögen. Aber ich habe es vermieden, mich in dich zu verlieben. Du lebst zwar in London, aber du gehörst nicht hierher. Dein Herz ist in Irland geblieben.«

Die Kopfschmerzen, die ihn schon den ganzen Tag lang quälten, trieben ihm fast Tränen in die Augen. Er biss die Zähne zusammen. »Da täuschst du dich vollkommen.«

Mit einer eleganten Bewegung hob Pen die Schultern – alles, was Pen tat, war elegant. Dann ging sie um die Theke herum und legte ihm eine kühle Hand an die Wange. »Du bist ein wundervoller Mann, Aidan Gallagher. Das heißt, du wirst es sein, wenn du dich eines Tages deinen Dämonen gestellt hast. Es kommt der Tag, an dem du mit einer Frau in deinen irischen Bergen spazieren gehst, und diese Frau wird die Frau sein, die du liebst. Ich glaube, ich mag sie schon jetzt.«

Er drehte den Kopf und berührte ihre Hand mit den Lippen. »Bleibst du?«, fragte er. »Eine letzte Nacht?«

Sie lachte. »Lieber nicht. Warum sollte ich dir den Abschied noch schwerer machen als nötig?«

Doch sie küsste ihn, bevor sie ging, und Aidan blieb mit dem trostlosen Gefühl zurück, wieder einmal versagt zu haben.

Kapitel 3

1992

IRISH TIMES

6. September 1992

Eilnachricht: Der irische Geschäftsmann Cillian Gallagher (16. Viscount Gallagher) und seine Ehefrau Lily wurden in ihrem Anwesen in Wicklow County tot aufgefunden. Laut Informationen der Polizei handelt es sich um keinen natürlichen Tod.

IRISH TIMES

7. September 1992

Die Nationalpolizei in Rathdrum veröffentlichte heute eine Stellungnahme, die bestätigt, dass Cillian und Lily Gallagher eines gewaltsamen Todes gestorben sind:

Lord Gallagher erlagschweren Kopfverletzungen. Sein Leichnam wurdein der Familienbibliothek aufgefunden. LadyGallagher verstarb aufgrund von Verletzungen,die auf einen Sturz hinweisen. Es wird in alle Richtungen ermittelt.

Wie aus Polizeikreisen verlautet, befanden sich in der Bibliothek von Deeprath Castle zum Zeitpunkt der Todesfälle wertvolle Gegenstände, die nicht mehr auffindbar sind. Die Polizei untersucht, ob an dem fraglichen Nachmittag Unbekannte in der Nähe von Laragh oder Glendalough gesehen wurden.

IRISH TIMES

14. September 1992

Eine für heute in Rathdrum angesetzte gerichtliche Untersuchung der Todesfälle von Lord und Lady Gallagher hat eine richterliche Feststellung auf unbekannte Todesursache ergeben. Weitere Untersuchungen wurden auf unbestimmte Zeit vertagt. Lady Nessa Gallagher, Tante des verstorbenen Viscounts, hat durch den Familienanwalt folgende Erklärung abgeben lassen:

Mein Neffe und seine Frau hinterlassen einegroße Lücke. Mein einziges Bestreben für die nächste Zeit gilt der Fürsorge und dem Schutz ihrer Kinder. Ich bitte die Öffentlichkeit, dies zu respektieren und ihnenRaum und Zeit zu geben, sich von dem schwerenSchicksalsschlag erholen zu können.

Der Titel des Viscounts geht auf den einzigen Sohn Aidan Gallagher über. Lord und Lady Gallagher hinterlassen außerdem die fünfzehnjährige Tochter Kyla.

Kapitel 4

September 1879

Die Wicklow Mountains waren eine göttliche Offenbarung aus Fels und Himmel. Nebel und Regen gaben einander die Hand, und es wäre zweifellos klüger gewesen, eine Kutsche zu mieten. Evan Chase indes war nicht ohne Grund ein populärer Autor von Schauerromanen geworden und besaß ein untrügliches Gespür für den richtigen Auftritt. Wie romantisch, sich einer uralten Burg mit flatterndem Umhang auf dem Rücken eines Pferdes zu nähern! Noch romantischer wäre es allerdings gewesen, wenn sich kein kaltes Regenwasser den Weg über den Rücken des Reiters gebahnt hätte. Nun denn, Vernunft war vielleicht nicht seine Stärke, doch er verfügte über die Fähigkeit, über sich selbst lachen zu können.

Achtzig Jahre zuvor hatten englische Soldaten hoch in den Wicklow Mountains eine Militärstraße angelegt, über die sie der irischen Rebellion das Rückgrat brechen wollten. Doch an diesem Tag bot sich Evan nur das Bild einer ursprünglichen Landschaft und des Hochmoors um Featherland Peak, bis er schließlich den Ort Glencree erreichte. Von dort aus wandte er sich nach Süden, wo ihn sein Weg an alten Militärbaracken vorbeiführte, die nun der Beherbergung einiger Hundert junger Straftäter dienten. Der Anblick erfüllte ihn mit Mitleid, denn wäre seine Mutter nicht gewesen, hätte es auch für ihn womöglich ein böses Ende genommen.

Von Glencree aus ritt Evan an sanft geschwungenen Hügeln und hoch aufragenden Bergen vorbei. Nie hätte er gedacht, dass die Farbe Braun so vielfältig sein konnte und eine solche Augenweide war. Schwarzbraune Wasserläufe wanden sich durch Torf, der an dunkle Schokolade erinnerte, im lichten braunen Gras hingen schwer die Regentropfen. Nach der höchsten Stelle bei Sally Gap ging die Straße steil bergab und führte zurück in das satte Grün, das für gewöhnlich mit Irland verbunden wird. Gut zehn Kilometer hinter der Wegkreuzung bei Sally Gap gelangte er auf einen Bergkamm, von dem aus er in einem kesselförmigen flachen Tal Deeprath liegen sah, wo Thomas Gallagher im Jahre 1196 einen normannischen Bergfried errichtet hatte.

Evan betrachtete die im Herbstlicht scharf hervortretenden Umrisse des kantigen Turms, der am rückwärtigen Ende der Burg emporragte. Viele Generationen lang war der rechteckige Turm das Herz der Anlage gewesen und hatte gleichzeitig als Lager, Wohnhaus und Wehrturm gedient, in dem alle Bewohner sich im Fall eines Angriffs in Sicherheit bringen konnten. Normannische Wehrtürme dieser Art waren noch in ganz Irland und auf den anderen Britischen Inseln zu finden. Nur wenige besaßen allerdings noch Dächer und waren bewohnbar – so wie der Turm von Deeprath Castle. Der übrige Teil der Burg bestand aus einem Flickenteppich aus massivem Fels, Ziegelsteinen und Dachfirsten, Dachzinnen und Wehrgängen. Außerdem gab es zwei runde Türme, die die Fassade des Gebäudes flankierten, das aus der Tudorzeit stammte und in dem die Gallaghers nun ihre Wohnräume hatten.

Die Straße zur Burganlage war durch ein halb verfallenes Steintor zu erreichen, dessen eiserne Gittertür weit offen stand und nicht mehr schloss. Evan versuchte, dem Muster der kunstvoll geschmiedeten Kreise und Bogen zu folgen, die sich zu Wildtiergestalten verjüngten, bis sich ihre Formen gänzlich auflösten. Hohes Gras und Wildblumen wuchsen an dem Tor empor und überwucherten es zum Teil. Vielleicht war es die vibrierende Lebendigkeit der von silbrigem Regen überzogenen Pflanzen, die Evan das Gefühl verliehen, er werde erwartet.

Die Auffahrt schlängelte sich durch einen uralten Wald. Inmitten von Birken, Pappeln und Kiefern standen altersschwache knorrige Bäume aus einer anderen Zeit. Evan fragte sich, ob wohl einige von ihnen schon gestanden hatten, als sich die ersten Gallaghers hier niederließen. Waren manche von ihnen vielleicht sogar Zeitzeugen jener ungestümen, grausamen Frau gewesen, die vor vielen Jahrhunderten hier gelebt hatte und zur Legende geworden war? War die Dunkle Braut auf ihrer verzweifelten Flucht womöglich durch diesen Wald gelaufen? Es war richtig gewesen, sich hierher auf die Reise zu machen, befand Evan. Zweifellos konnte er der Legende hier auf die Spur kommen.

Nach knapp zwei Kilometern bog der Weg scharf nach links ab. Unvermittelt gelangte er an den Waldrand und sah die Burg vor sich aufragen. Deeprath Castle schien den Himmel völlig zu verdecken. Die Melodie, die er gerade gepfiffen hatte, erstarb ihm auf den Lippen, und er zügelte sein Pferd, um den Anblick in sich aufzunehmen.

Deeprath ließ es ungerührt geschehen und starrte zurück. Aus der Nähe betrachtet wirkte die Burg trotz der Aneinanderreihung von Baustilen und Materialien wie eine geschlossene Einheit – als hätte sie in den Jahrhunderten, als sie bewohnt gewesen war, eine eigene Persönlichkeit entwickelt. Unnahbar, nicht leicht zu beeindrucken … wachsam vielleicht?

Während Evan diese Gedanken noch durch den Kopf gingen, erschien ein Stallbursche, der sein Pferd wegführte. Schon im nächsten Moment eilte die Wirtschafterin wie ein Wirbelwind herbei. Sie empfing ihn freundlich und wortreich, sodass er nur nicken und lächeln musste, während er ihr folgte und das Innere der Burg in Augenschein nahm.

»Lord Gallagher und der Verwalter … in Rathdrum … erst nach Einbruch der Dunkelheit zurück … Schlafzimmer die Treppe hoch, zweite Tür rechts … werfen Sie erst einen Blick in die Bibliothek.«

In der Bibliothek vergaß Evan alles, was er bisher an bunt gemischter Architektur gesehen hatte. Bewundernd hielt er den Atem an. Ursprünglich als Privatkapelle erbaut und hundert Jahre zuvor weltlichen Zwecken zugeführt, verlieh die Vergangenheit der Bibliothek eine ganz besondere Atmosphäre. Selbst auf einen Protestanten wie Evan verfehlte sie ihre Wirkung nicht. Obwohl der Himmel an diesem späten Nachmittag bewölkt war, fielen Licht und Helligkeit durch die großen Fenster auf beiden Seiten des lang gestreckten Raumes. Zusätzliche Beleuchtung kam von einer einzelnen Lampe, die auf dem runden Tisch unweit der Eingangstür stand. Evan überlegte gerade, ob es klug war, eine brennende Lampe in einer Bibliothek voller unersetzlicher Bücherschätze unbeaufsichtigt zu lassen, als sich ein Schatten von einem der Regale löste und im Näherkommen als weibliche Gestalt entpuppte.

Das Gesicht der Frau war ein vollkommenes Oval mit geschwungenen Brauen über tief liegenden Augen, umrandet von tiefschwarzem Haar. Im schwindenden Licht, in dem Kleidung und Frisur nicht genau zu erkennen waren, wirkte sie zeitlos und alles überdauernd. Evan hatte eine seiner Romanfiguren einmal als unvergänglich beschrieben: ohne Anfang, ohne Ende, ewig während. Vor ihm stand nun ohne jegliche Vorwarnung die leibhaftige Verkörperung dieses Wortes.

»Ich bin Jenny«, sagte sie. »Jenny Gallagher. Und Sie müssen der Schriftsteller sein, der sich auf die Suche nach der Dunklen Braut gemacht hat.«

Er schluckte. Seine Kehle war staubtrocken. »So ist es. Und Sie werden mir zeigen, wie ich sie finden kann.«

TAGEBUCH VON JENNY GALLAGHER

12. September 1879

Ein Mann ist nach Deeprath gekommen, ein wunderbarer Mann. Er hat braunes Haar, so fein wie Florettseide, und längere Wimpern als ich. Vater hatte erwähnt, dass wir einen Schriftsteller erwarten, der Näheres über die Dunkle Braut erfahren will. Aber nie hätte ich mir träumen lassen, dass er jung ist. Und freundlich.

Ich wusste gleich, dass er freundlich ist. In den letzten Jahren habe ich nicht viele Männer getroffen, aber die wenigen betrachteten mich alle auf die gleiche Weise – wie einen Kuchen, den sie am liebsten verschlungen hätten. Obwohl ich natürlich bemerkt habe, dass ihm mein Aussehen gefällt, denn ich bin weder blind noch dumm, sieht mich Mr Chase an, als … als sei ich ein echter Mensch. Ich habe ihn nach seinen Romanen gefragt, und er gab mir eins seiner Bücher. Auch wenn ich erst zwanzig Seiten gelesen habe, kann ich doch schon sagen, dass er ein Mann ist, der die Welt und jedes Lebewesen behutsam behandelt.

Ich sagte, ich würde ihm bei seiner Suche nach der Dunklen Braut helfen. Somit ist er auf dem besten Weg, mehr als nur eine gute Geschichte zu finden.

Kapitel 5

 

Willkommen auf Deeprath Castle, Miss Ryan.«

Nessa Gallagher machte keinerlei Anstalten, ihr die Hand zu reichen. Wäre sie dazu geneigt gewesen, hätte sie zweifellos erwartet, dass Carragh ihr den schweren Silberring küsste. Der Ring war Nessas einziger Schmuck. Gekleidet war sie in neutrales Tweed und trug einen blauvioletten Seidenschal um den Hals, der großartig zu ihrem weißen Haar passte.

Carragh bereute ihren ketzerischen Gedanken, als sie den Gehstock bemerkte, auf den sich die alte Dame mit der linken Hand stützte. Selbstverständlich gab sich Lady Nessa Gallagher nicht mit modernem Metall und Kunststoff ab. Der vergoldete Griff war aufwendig mit Schnörkeln verziert und verjüngte sich zu einem Perlmuttschaft, der wiederum auf einem wunderschönen Stock aus dunkel poliertem Holz aufsetzte. Der Gummifuß am Ende des Stockes war ein kleines Zugeständnis an die Zweckmäßigkeit, der Gehstock selbst aber war mindestens hundert Jahre alt.

Genau genommen wirkte Nessa gebrechlicher als an jenem Tag in der Hotelsuite, als sie der Bewerberin so überaus souverän gegenübergesessen hatte. Sie mochte allen Stolz der Welt in sich tragen, aber auch der stärkste Wille hatte keine Macht über das Alter. Carragh gelobte im Stillen, nicht zu rasch über andere zu urteilen.

Während Nessa dem Fahrer Anweisungen bezüglich des Koffers gab, nutzte Carragh die Gelegenheit, um die Eingangshalle aus der Tudorzeit näher zu betrachten. Sie erinnerte an die Miniaturausgabe eines königlichen Rittersaales – ein dunkler Holzboden und Wände, die bis in Schulterhöhe getäfelt waren, darüber weiß verputzte Wände, die sich bis zur eindrucksvollen hohen Stuckbalkendecke erstreckten. Aufgrund der Zwischenräume zwischen den antiken Balken wirkte der Raum ausgesprochen luftig. In den Stein des riesigen Tudorkamins waren das Familienwappen und das Motto der Gallaghers eingehauen: drei Bergspitzen (für Wicklow), ein irischer Rundturm (für Glendalough), und in der Mitte stach ein purpurroter Greif hervor, halb Adler, halb Löwe. Das lateinische Motto? Non Nobis Solum. Wir leben nicht allein für uns.

Carragh schüttelte den Kopf, um sicherzugehen, dass sie nicht träumte. Vor zwei Stunden war sie im hektischen Dublin in den Zug gestiegen, und sogar Rathdrum, wo sie ausgestiegen war, ließ sich eindeutig dem einundzwanzigsten Jahrhundert zuordnen. Aber irgendwo auf der Fahrt musste sie in eine andere Zeit, an einen anderen Ort und in ein anderes Klima gelangt sein. In Dublin war es nasskalt gewesen, in Rathdrum hatte sie hier und da einige Sonnenstrahlen gesehen. Deeprath aber lag unter einem stahlgrauen Himmel und wirkte … nun ja, nicht gerade feindselig. Aber eindeutig zurückhaltend. Vorsichtig abwartend, bis der Gast als zu leicht oder zu schwer befunden worden wäre.

»Ich dachte, Sie möchten vielleicht einen Rundgang machen, bevor Sie Ihr Zimmer aufsuchen«, sagte Nessa höflich. »Falls Sie nicht zu erschöpft sind.«

Klar, weil eine Achtundzwanzigjährige einer Achtundachtzigjährigen gegenüber dann zugegeben hätte, dass sie müde war. »Vielen Dank, das ist sehr freundlich.«

Die Frau, die die Tür geöffnet hatte, trat einen Schritt auf sie zu, aber Nessa wehrte ab. »Das erledige ich selbst, Missis Bell.«

»Sind Sie sicher? Sie sollten sich wirklich mehr schonen, Lady Nessa.«

Carragh fand, dass Mrs Bell sympathisch aussah – vermutlich in etwa so alt wie ihre Mutter, wenn sie das allmählich verbleichende Naturblond ihres Haars und die feinen Fältchen um Mund und Augen in Betracht zog. Offenbar hatte sie Sinn für Humor. Sie sprach respektvoll mit Nessa Gallagher, aber in ihren Worten schwang auch eine gewisse Vertrautheit mit. Carragh schloss daraus, dass sie das Haus und die Familie gut kannte.

Nessa bestätigte ihre Vermutung. »Miss Ryan, wenn Sie irgendetwas brauchen, finden Sie Missis Bell gleich in dem Raum neben der Küche. Sie ist seit fünfundvierzig Jahren auf Deeprath, und außer der Familie kennt sich hier niemand besser aus als sie. Sie wird sich in allen Belangen um Ihr Wohl kümmern.«

Carragh lächelte sie an. »Ich will versuchen, Ihnen möglichst wenig Mühe zu machen, Missis Bell.«

»Das ist doch keine Mühe! Wie schön, wieder Leben im Haus zu haben! Hier in der Burg war es viel zu lange viel zu still.«

Vielleicht lag hierin auch der Grund, weshalb Nessa die Führung durch Deeprath Castle übernehmen wollte – weil Cillian und Lily Gallagher hier vor dreiundzwanzig Jahren eines gewaltsamen Todes gestorben waren. Nach dem schrecklichen Ereignis hatte Nessa die zwei Kinder ihres Neffen mitgenommen und sie in ihrem Haus in Kilkenny großgezogen. Seitdem hatte Deeprath leer gestanden.

Kaum hatte Carragh die Zusage zu der Stelle bekommen, hatte sie alles recherchiert, was es außer zu Evan Chase und seiner viktorianischen Tragödie zu wissen gab. Der Mord an dem sechzehnten Viscount Gallagher und seiner reichen amerikanischen Frau Lily im Jahr 1992 hatte für ähnliches Aufsehen gesorgt wie Prinzessin Dianas Tod oder das Verschwinden von Lord Lucan in den Siebzigerjahren. Die Ergebnisse der Gerichtsmedizin waren damals nicht öffentlich gemacht worden. Zwischen den Zeilen (und in den Boulevardblättern, für die dies ein gefundenes Fressen war) hatte Carragh herausgefunden, dass viele vermuteten, Lily habe erst ihren Mann und dann sich selbst getötet. Offiziell galt der Fall als ungelöst.

Kurz hatte Carragh gegen aufkeimende Panik zu kämpfen gehabt. Dieses Haus und seine Familie trugen tiefe Narben eines schrecklichen Traumas. Ihre eigenen Dämonen ließen sie seit Jahren endlich in Ruhe. Sie hatte nicht die Absicht, sie wieder aufzuscheuchen. Genau das hatte sie auch ihrer Mutter gesagt, als sie wieder mit diesem dummen, unerwünschten, ungelesenen Brief anfing.

Doch dann hatte sie einmal tief durchgeatmet und sich daran erinnert, dass ihr Aufenthalt der Bibliothek und ihrer Geschichte galt und nicht den heutigen Gallaghers. Wahrscheinlich bekam sie die meisten von ihnen nicht einmal zu Gesicht.

Kaum hatte Nessa mit ihr die Eingangshalle verlassen, erzählte sie ihr auch schon Geschichten von der Familie der Gallaghers und deren jeweiligen Vermächtnissen auf den Gebieten der Architektur und Innenarchitektur. Sie war eine kenntnisreiche Fremdenführerin, wenn auch etwas nüchtern. Carragh hätte sich gewünscht, mehr über die Bewohner der Burg und ihre Lebensgeschichten zu erfahren, bekam aber mehr oder weniger nur trockene Zahlen und Fakten.

Diese Damasttapete importierte die französische Frau des elften Viscounts … 1801 ließ Henry Gallagher sein Schlafzimmer schwarz streichen, weil der Act of Union in Kraft trat … William Gallagher ließ 1745 Steinmetze eigens aus Italien kommen, um die Zinnen wieder instand zu setzen …

Von der Eingangshalle im Tudorstil mit ihrem riesigen Kamin aus verziertem Naturstein und einer hoch aufragenden, kunstvollen Balkendecke ging es in den Regencyflügel. Auch hier gab es herrliche Stuckarbeiten und geschnitzte Holztäfelungen zu bewundern, obwohl Feuchtigkeit und der Zahn der Zeit deutliche Spuren hinterlassen hatten. Der 1920 renovierte Flügel beherbergte einen Frühstücksraum, einen Salon und ein vor Maskulinität nur so strotzendes Arbeitszimmer mit viktorianischem Schreibtisch und Bücherregalen.

»Dieses Zimmer wurde von Michael gestaltet, dem dreizehnten Viscount Gallagher«, erläuterte Nessa und weckte damit Carraghs Neugier. Michael Gallagher war Evan Chases Schwiegervater gewesen. In diesem Raum hatten beide bestimmt oft gesessen und sich unterhalten. Vielleicht hatte Evan Chase ja genau hier allen Mut zusammengenommen und bei dem Viscount um die Hand seiner Tochter angehalten.

Dann gingen sie zum zweiten, älteren Flügel hinüber. Hier hatte man das mittelalterliche Gemäuer nach und nach mit neuerer Architektur verbaut, also während der Epoche der Stuarts und des Elisabethanischen Zeitalters. In diesem Teil der Burg lag auch die Kapelle, in der seit zwei Jahrhunderten eine ganz andere Form der Verehrung praktiziert wurde: die Bibliothek.

Zu Carraghs großer Ernüchterung war die Bibliothek verschlossen. Offenbar bemerkte Nessa ihre Enttäuschung, denn sie hielt kurz inne.

»Das hat der Viscount so veranlasst«, bemerkte die alte Dame knapp und deutete auf das moderne Yale-Zylinderschloss, das als Fremdkörper förmlich in die Augen stach. »Seit neunzehnhundertzweiundneunzig. Es gibt zwei Schlüssel. Einer ist im Besitz meines Großneffen, den anderen hat Mister Bell, der Verwalter. Wir müssen warten, bis Aidan die Bibliothek aufschließt. Er wird für morgen erwartet.«

»Dies war früher die Familienkapelle, nicht wahr?«

»Ganz recht. Fünfzehnhundertzwölf erbaut als Ersatz für das Oratorium.«

Carragh wirkte wohl leicht verständnislos, und Nessa wurde etwas ausführlicher. »Sie haben zweifellos die alten Stallungen rechts von der Burg bemerkt. Heutzutage nutzen wir sie als Garage und für Gartengeräte. Gleich dahinter befindet sich das alte Oratorium, das aus dem dreizehnten Jahrhundert stammt. Drei seiner Wände und Reste vom Altar stehen zum Teil noch. Mehr ist aber nicht übrig.«

Carraghs Enttäuschung angesichts der verschlossenen Bibliothek verflog sofort, als ihr Blick auf die Wände dahinter fiel. Sie bestanden aus grob behauenem Stein, und ihr ungeheuer hohes Alter ließ sich fast mit Händen greifen. Auch ohne einen Hinweis von Nessa wusste sie sofort, dass es sich um den alten normannischen Wehrturm handelte. Die Wände waren ursprünglich Außenmauern gewesen, die den später angebauten Gebäuden als Stütze dienten. In die massive Turmmauer war eine bogenförmige Öffnung geschlagen worden, durch die das unterste Geschoss des Bergfrieds betreten werden konnte.

»Im Verlauf der Generationen wurde der Brautturm immer wieder modernisiert«, erklärte Nessa. Ihre Worte hallten durch den leeren Raum, den Carragh nun durchschritt und in dem einst Getreide gelagert und im Winter wahrscheinlich auch Vieh gehalten wurde.

»Der Brautturm? Seit wann wird er so genannt?«, erkundigte sich Carragh.

»Oh, seit Ewigkeiten. Mindestens seit dreihundert Jahren.«

Der Fuß einer steilen Wendeltreppe war zu sehen, deren ungleichmäßige Steinstufen in die oberen Stockwerke führten, wo die allerersten Gallaghers gelebt hatten. Ganz oben befand sich der große Saal, wo sich alle versammelt hatten. Obwohl Nessa es nicht erwähnte, wusste Carragh, dass diese Stufen zu dem Zimmer führten, in dem Evan Chases Frau Jenny die letzten Tage ihres Lebens verbracht hatte. Sie beschloss, so bald wie möglich zurückzukommen, um sich alles genauer anzusehen – ohne Nessas erdrückende Anwesenheit.

In der Mauer rechts vom Eingang befand sich eine schmale Bogentür, die offenbar direkt in die Bibliothek führte. Eigenartig. Ein praktischer Nebeneingang zur Kapelle, möglicherweise ein Relikt aus jenen Zeiten, als die Gebetszeiten noch streng eingehalten wurden. Es war zum Verrücktwerden – auch diese Tür war mit dem gleichen Yale-Schloss gesichert.

Der Rückweg führte sie wieder durch die Eingangshalle. Von dort aus gelangten sie in den lang gestreckten Westflügel (»frühes Georgianisches Zeitalter«, teilte Nessa mit) und bald darauf in einen leicht verwahrlosten Raum, der mit seinem angestaubten Charme und seinen Sprossenfenstern sehr gemütlich wirkte. Der Greif aus dem Familienwappen der Gallaghers fand sich mehrfach in dem geschnitzten dunklen Holz über dem Kamin. Die im achtzehnten Jahrhundert in strahlendem Schlüsselblumengelb gestrichenen Wände waren zu einem matten Zitronengelb verblichen. Baumwollene Toile-de-Jouy-Vorhänge umgaben das massive Himmelbett. Der perfekte Shabby-Landhaus-Look …

Bis auf das Gemälde, das einzige Kunstwerk im Raum. Der Anblick raubte Carragh fast den Atem. Eigentlich hätte sie eine Jagdszene, ein romantisches Landschaftsbild oder ein klassisches Ahnenporträt erwartet. Stattdessen war es das Bildnis einer Frau, gemalt im präraffaelitischen Stil. Die Frau hatte lockiges schwarzes Haar, das ihr bis zur Taille reichte, und trug ein mittelalterlich anmutendes weißes Kleid. Ihr scheues Lächeln hatte etwas Elfenhaftes. Sehr irisch, dachte Carragh. Ein außergewöhnlich eindrucksvolles Bild, das zugleich einen Anflug von Beklemmung ausstrahlte.

Carragh konnte zunächst nicht sagen, weshalb ihr beim Anblick des Bilds ein leichter Schauder über den Rücken lief. Dann aber bemerkte sie ein verstörendes Detail. Die Frau stand vor einem spiegelglatten Teich, doch das Abbild, das er zurückwarf, entsprach nicht der Frau, die ins Wasser starrte. Es zeigte zwar das gleiche Gesicht, auch das lange dunkle Haar, die tief liegenden Augen und die weit geschwungenen Brauen waren die gleichen … Die gespiegelte Figur trug jedoch kein weißes, sondern ein schwarzes Gewand, und der Gesichtsausdruck war erfüllt von abgrundtiefer Trauer.

Oder blankem Entsetzen?

»Dieses Bild …«

Nessa, die bereits im Gehen war, warf Carragh einen flüchtigen Blick über die Schulter zu. »Die Frau in Weiß ist Jenny Gallagher.«

Carraghs Blick wanderte von der bedauernswerten geisteskranken Jenny zu der unheimlichen schwarz gekleideten Gestalt zu ihren gemalten Füßen. »Und wer ist die Frau in dem Teich?«

Nessa hob die Brauen. »Die Dunkle Braut.«

Seit seinem zehnten Lebensjahr war Aidan Deeprath Castle nicht mehr näher als bis Kilkenny gekommen. Bevor er in den Zug nach Rathdrum gestiegen war, hatte er sich in Dublin zwei Whiskeys genehmigt und gehofft, die Drinks würden seine Nerven beruhigen. Doch der Alkohol schien eher die gegenteilige Wirkung auf sein Nervenkostüm zu haben. Schlecht gelaunt verweigerte er sich jedem Versuch des Fahrers, der ihn zur Burg brachte, ein Gespräch zu beginnen. Glücklicherweise kannte er ihn nicht. Seine über viele Jahre hinweg perfektionierte Fähigkeit, die Vergangenheit zu verdrängen, hatte er wohl in London zurückgelassen.

Deeprath schien sich kaum verändert zu haben. Wieso überraschte ihn das? Seit dem Jahr 1196 stand es in diesem flachen Talkessel, und der Zeitstrahl des Geschlechts der Gallaghers hatte sich seitdem ohne große Berührungspunkte mehr oder weniger parallel zu der Geschichte der Umgebung bewegt. Die Flügel des schmiedeeisernen Eingangstors hingen unverändert schief in den Scharnieren und öffneten sich zu der mit Schlaglöchern übersäten Auffahrt. Das Tor hatte so lange in dieser Stellung verharrt, dass es Teil der Landschaft geworden war. Aidan schickte den Fahrer zurück und warf sich seine lederne Reisetasche über die Schulter. Auf Zuschauer konnte er bei seiner Heimkehr gut verzichten.

Er hatte Nessa gegenüber absichtlich nicht erwähnt, dass er schon an diesem Tag kam. Das Getue um den Viscount Gallagher, der in den Schoß der Vorfahren zurückkehrte, wollte er sich ersparen. Auch wenn der Familiensitz bald dem National Trust gehören würde, traute er Nessa einen solchen Auftritt zu, denn im Ausklammern unangenehmer Erinnerungen war sie außerordentlich begabt. So aber konnte er den Weg bis zur Burg ungestört zurücklegen. Als Deeprath schließlich vor ihm aufragte, sah er das Anwesen als das, was es war – eine offenkundig unbewohnte alte Festung, weiter nichts.

Und doch übten die Mauern eine starke Macht auf ihn aus. Die Kehle wurde ihm eng, und vor Schmerz und Stolz pochte sein Herz wie wild. Von Kindesbeinen an war es ihm beigebracht worden und immer seine tiefste Überzeugung gewesen, dass Deeprath Castle nicht zur Gallagher-Familie gehörte. Wir leben nicht allein für uns war schließlich das Familienmotto. Nein, es waren die Gallaghers, die zu Deeprath gehörten. Die Burg wusste, wer ein Teil von ihr war, und duldete ihre Bewohner, solange sie vom richtigen Geblüt waren und dem richtigen Geschlecht angehörten. Deeprath war kein Besitz – Deeprath war ein lebendiges Vermächtnis.

Ein Vermächtnis, das er schon bald in die Hände von Fremden geben würde.

Lange stand Aidan vor den Gebäuden und betrachtete eingehend die Fenster, Türme und Zinnenkränze, als wolle er alles für immer im Gedächtnis abspeichern. Endlich ruhte sein Blick auf den unverwechselbaren Umrissen des Dachfirsts der alten Kapelle, deren einsame Turmspitze sich immer noch himmelwärts streckte, obwohl der Innenraum seit Generationen nur Bücher beherbergte. Die Bibliothek, die vor zwanzig Jahren auf Anordnung eines verängstigten Kindes verschlossen worden war. Niemand hatte die Örtlichkeit seither wieder betreten – mit Ausnahme von Bell, dem Verwalter, der einmal im Jahr einen Archivar bestellte und die Bücher auf Schäden untersuchen ließ.

Aidan ließ den Haupteingang zur Empfangshalle mit seinen riesigen Türen links liegen und ging zu der im Palladiostil geformten Tür, die zur Bibliothek führte. Die katholische Kapelle war in Zeiten errichtet worden, als Protestanten als ständige Bedrohung angesehen wurden. Daher hatte man den schmalen Einlass mit dem Rundbogen geschickt an der Stelle eingefügt, an der das Kirchlein an den Wehrturm aus dem dreizehnten Jahrhundert grenzte. Die unauffällige Fluchtmöglichkeit für verfolgte Priester bot zugleich den idealen Zugang für alle, die Begegnungen vermeiden wollten, für die sie sich nicht gewappnet fühlten.

Aidan steckte den Schlüssel ins Schloss – den einzigen, denn nicht einmal Bell hatte Zugang zur Bibliothek durch die Geheimtür. Beim Kreischen von nie geöltem Metall zuckte er zusammen und musste die schwere Tür mit der Schulter aufdrücken. Das laute Schrammen von Holz auf Steinboden ging ihm durch Mark und Bein. Er ließ seine Tasche fallen, umrundete das Eisengitter, das früher als Chorschranke gedient hatte, und betrat die eigentliche Bibliothek.

Dieser Raum war ihm unendlich vertraut, und er erinnerte sich noch genau, wie die Regale unterhalb und zwischen den Bogenfenstern unter dem Gewicht der Bücher ächzten, wie die Kirchenfenster bunte Lichtsplitter auf Holz und Stein warfen. Er kannte den ganz besonderen Geruch nach altem Papier, Leim und Leder. Tief atmete er ein und spürte, wie der Schutzpanzer um seine Erinnerungen einen gefährlichen Riss bekam.

Zuerst hatte er sich nur gewundert, warum sein Vater ausgestreckt auf dem Steinboden lag. Dann sah er den Krater an der Seite seines Kopfs, das Blut und die Knochensplitter, die an der eingedrückten Stelle hafteten …

Ab diesem Moment wurde seine Erinnerung schemenhaft. Panik, Angst und ungläubiges Entsetzen hatten ihn erfüllt, als er auch vom Tod seiner Mutter erfuhr. Zwanzig Jahre waren seitdem vergangen, und er hatte nicht mehr Antworten als damals. Nur Fragen. Und Schmerz. Und Wut.

Ein Geräusch riss Aidan aus seinen Gedanken. Es kam von rechts, wo eine zweite Tür – jetzt ebenfalls verschlossen – in die dicken Mauern des normannischen Wehrturms gehauen worden war. Die Vision einer Frau in Weiß – der Geist seiner nervenkranken Vorfahrin – kam ihm unvermittelt in den Sinn. Jenny Gallagher, deren eigenes Unglück sie dazu verurteilt hatte, auf ewig jenen Ort heimzusuchen, an dem sie gestorben war. Der Legende nach erschien sie immer dann, wenn der Tod eines Gallagher bevorstand …

Aber Aidan war kein zehnjähriger Junge mehr. Er tastete nach seinem zweiten Schlüssel, steckte ihn in das Schloss der schmalen Tür und riss sie auf.

Es war kein Geist, der vor ihm stand, es sei denn, diese Wesen trugen mittlerweile Jeans, Pulli und zusammengebundenes Haar über einem vor Schock erstarrten Gesicht. Die Frau wich einen Schritt zurück, und Aidan hatte den Eindruck, dass auch sie für einen Augenblick geglaubt hatte, ein Gespenst zu sehen.

»Wer zum Teufel sind Sie?« In seiner Stimme lagen Anspannung und Gereiztheit – Aidan war selbst überrascht von seiner Schroffheit. »Und warum brechen Sie in meine Bibliothek ein?«

»Oh, Sie müssen Aidan sein! Ich dachte, Sie kommen erst morgen …« Die Stimme der Fremden hob sich fragend.

»Ach, und das gibt Ihnen das Recht, sich auf meiner Burg herumzutreiben?« Er war entsetzt, wie wenig er sich im Griff hatte – und wie besitzergreifend er sich gab. Meine Bibliothek, meine Burg. Nessa wäre hocherfreut gewesen. »Was tun Sie hier auf Deeprath?«, fragte er und gab sich Mühe, seine Stimme zu dämpfen.

Sie war klein, hatte schwarzes Haar mit bunten Strähnchen unter dem Pferdeschwanz und wirkte nicht richtig irisch. Asiatisch, überlegte er, während er beobachtete, wie sich ihre hohen Wangenknochen rötlich färbten. Chinesisch? Koreanisch? Irgendwie war es ihm peinlich, dass er sie nicht genauer einordnen konnte.

»Man hat mich engagiert«, erklärte sie spitz. »Ich soll bei der Katalogisierung der Bibliothek helfen. Mein Name ist Carragh Ryan.«

»Ryan? Nessa hat Sie eingestellt, jetzt erinnere ich mich. Verzeihung.« Er versuchte ein Lächeln, das nicht so warm gelang, wie er es beabsichtigt hatte. Unter seiner anerzogenen Beherrschtheit klopfte sein Herz noch immer vor Schreck. »Ich hatte nicht erwartet, auf der Schwelle einer verschlossenen Tür über Sie zu stolpern.«

»Ich wollte mir nur den Wehrturm noch einmal ansehen.« Ein unerwartetes Lächeln stahl sich in ihr Gesicht. »Und ich hätte nichts dagegen gehabt, dabei einen Geheimgang in die Bibliothek zu entdecken.«

»Die Geheimgänge sind seit langer Zeit versperrt. Gerade wollte ich wieder durch die andere Tür hinaus. Aber kommen Sie nur herein!«

Sie schielte an ihm vorbei in die Bibliothek. »Sie sollten meine Neugier nicht auch noch belohnen«, sagte sie reumütig. »Ich warte bis morgen. Erfreut, Sie kennenzulernen, Mister Gallagher. Oder wollen Sie lieber … soll ich Sie mit Lord Gallagher anreden?«

»Bitte nicht. Nennen Sie mich Aidan!«

»Dann bis später, Aidan«, antwortete sie und kehrte in den Turm zurück.

Das war also die Archivarin, die Nessa ausgesucht hatte. Nicht ganz die Frau, die er erwartet hatte.

Was war bloß los mit ihr? Heilfroh, wieder in ihrem Zimmer zu sein, schloss Carragh die Tür und lehnte sich dagegen. Warum zum Teufel hatte sie nicht die Chance ergriffen, sich die Bibliothek anzusehen? Seit Wochen hatte sie von nichts anderem geträumt. Und wieso hatte sie, als Aidan Gallagher die Tür vor ihrer Nase aufriss, für einen winzigen Moment mit einer anderen Erscheinung gerechnet?

Carragh glaubte nicht an Geister, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn. Sie hatte keine Angst vor der Frau in Weiß, der Dunklen Braut oder Mönchen aus längst vergangenen Jahrhunderten, die in Scharen die Hügel von Glendalough entlangschweben mochten. Sie hatte keine Angst vor den Toten, wie unbequem auch immer sie in ihren Gräbern liegen mochten, denn der Tod gehörte zu ihren frühesten Erinnerungen.

Doch so intensiv sie auch über die Gallaghers recherchiert hatte, einen Aspekt hatte sie dabei völlig übersehen – Tragödien warfen lange Schatten. Sich mit dem Leben und dem Tod der viktorianischen Jenny zu befassen war eine Sache. In der Vergangenheit eines Mannes herumzuschnüffeln, dessen Mutter seinen Vater ermordet und sich dann vom selben Turm gestürzt haben sollte wie Jenny Gallagher … das war etwas völlig anderes.

Vor allem, wenn dieser bewusste Mann so unfassbar attraktiv war. Einfach unglaublich, dass jemand so gut aussehen konnte. Auf der Suche nach Informationen über die Gallaghers war sie beim Scrollen im Internet auf einige Fotos des Viscounts gestoßen. Die meisten zeigten Aidan mit verschiedenen topmodischen Schönheiten an seiner Seite. Als er dann aber in voller Größe und mit seinem dunklen Haar vor ihr stand und die strahlend blauen Augen misstrauisch zusammengekniffen auf sie richtete …

Carragh stieß sich von der Tür ab und starrte auf das Bild von Jenny Gallagher. »Ich bin wegen der Bibliothek gekommen«, verkündete sie laut. »Männer und Geister interessieren mich nicht.«

In der Spiegelung in dem gemalten Teich starrte die Dunkle Braut zurück und warf ihr einen warnenden Blick zu.