Das geheime Versprechen - Annette Dutton - E-Book
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Das geheime Versprechen E-Book

Annette Dutton

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Beschreibung

Die »vergessenen Kinder« in Australien und ein bewegendes Familien-Geheimnis: Mit viel Herz und Gespür für die historischen Hintergründe erzählt Annette Dutton in ihrem Australien-Roman eine Familiengeschichte, die bis in die 30er-Jahre zurückreicht. Erschüttert liest die Australierin Sarah einen Artikel über die »vergessenen Kinder«: Bis in die 1960er Jahre wurden englische Kinder aus armen Familien gegen den Willen ihrer Eltern nach Australien verschifft, um England kostspielige Sozialfälle zu ersparen und Australien unkomplizierte Einwanderer zu verschaffen. Hat auch Sarahs Vater dieses Schicksal erlitten? Immerhin wuchs er in einem der Waisenhäuser auf, die im Artikel genannt werden. Sarah beginnt zu recherchieren – und erkennt überrascht, dass die Spuren bis in die 30er Jahre nach Deutschland führen. Sie kann nicht ahnen, dass am Anfang aller Geheimnisse ein Versprechen zwischen zwei verzweifelten Jugendlichen steht, gebrochen und doch für immer bewahrt. Eine Tochter, die ihren Vater glücklich sehen will. Eine Mutter, der man den Sohn gestohlen hat. Eine Liebe, die alles überwinden kann: Die Australierin Sarah kommt einem ergreifenden Familien-Geheimnis auf die Spur, das auf historisch belegten Ereignissen rund um die Kinder-Transporte aus Nazi-Deutschland und die Deportation von Kindern aus England nach Australien beruht. Entdecken Sie weitere spannende Familiengeschichten von Annette Dutton rund um Geheimnisse der Vergangenheit: • »Die verbotene Geschichte« • »Der geheimnisvolle Garten« • »Das verbotene Haus«

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Seitenzahl: 464

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Annette Dutton

Das geheime Versprechen

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

MottoPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Isle of Man, 29. April 1940Camp Hay, New South Wales, Australien, 15. September 1940Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Aufmacher des Canterbury Bulletin vom 7. Oktober 1946Tragischer Jagdunfall auf Broadhearst Hall: Abgeordneter Gordon Dinsdale (46) erschossenFrankfurt, Juli 1945Die Deportation der Familie Winterstein am 19. Oktober 1941 in FrankfurtMelbourne, 2002Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Haifa im Dezember 1946Codierter Bericht von Sam an die Mitstreiter in DeutschlandKapitel 21Kapitel 22EpilogMelbourne, Dezember 2013DankNachwortHistorischer HintergrundLiteraturhinweiseLESETIPP: »Die Achse meiner Welt«Vorbemerkung1. Kapitel
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Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände (…)?

Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen?

Der Jude Shylock

in William Shakespeares Der Kaufmann von Venedig

 

(in einer Übersetzung von August Wilhelm von Schlegel, Diogenes Verlag, Zürich 1979)

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Prolog

David

Kein Wunder, dass es Tage dauerte, ehe ich begriff, wohin mich das Schiff gebracht hatte. Ich war ein kleiner Junge, fünf Jahre alt, und alles, was ich bis zu jenem Tag gekannt hatte, war England, wo es grün, kalt und nass war. Aber dies hier war Australien: braun, heiß und trocken. Eine fremde Landschaft voller unbekannter Geräusche. Das Lachen der Kookaburras, der seltsame Ruf der Magpies. Es roch auch anders. Gerüche hatten schon immer eine starke Wirkung auf mich, und noch heute spüre ich diese unbestimmte Haltlosigkeit, die der Duft von verbrannter Erde und Eukalyptus bei mir auslöste. Und das lag nicht etwa daran, dass der Boden unter meinen Füßen zu schwanken schien. Der Grund war eher in der scheinbar endlosen Weite zu suchen, die sich vor mir auftat. Darüber prangte der weite Himmel, viel größer als daheim, mit Sicherheit jedoch blauer, und ich fragte mich, ob das mit der unglaublich grellen Sonne zusammenhing, die mich blinzeln ließ, während ich mich umschaute. Kein Berg, kein See, nichts, an dem sich meine müden Augen für einen Moment hätten ausruhen können. Ich bildete mir ein, Orangen zu riechen, und ich weiß noch, wie mir das Wasser im Mund zusammenlief. Schuld daran waren die Schwestern in England. Sie hatten uns vor unserer Abreise erzählt, in Australien würden wir jeden Morgen Orangen vom Baum pflücken und auf einem Pony am Strand entlang zur Schule reiten. Ich wusste damals zwar nicht, wie Orangenbäume aussehen, aber in dieser kargen Landschaft wären sie mir bestimmt aufgefallen. Pferde konnte ich übrigens auch keine entdecken.

Gleich nach der Ankunft wurden wir auf drei Busse verteilt. Meiner ging nach Bindoon, in ein von Ordensbrüdern geleitetes Waisenhaus, wo uns die Mönche in den Speisesaal führten und dickflüssigen kalten Eintopf zu essen gaben. Die Fliegen waren entsetzlich. Es war praktisch unmöglich, die graue Suppe zu löffeln, ohne ein paar der Viecher zu verspeisen. Ich habe jedoch schnell gelernt, den Ekel zu überwinden und meinen Teller niemals unberührt in die Küche zurückzutragen. Was wir nicht aufaßen, kam am nächsten Tag wieder auf den Tisch. Wie ein Marmeladentopf oder ein Salzstreuer. Später machte ich mal einen Witz über das Freitagsporridge, in dem so viele Maden schwammen, dass es nicht den Hauch einer Chance auf ein fleischloses Mahl gab, wie es sich für uns als Katholiken an jenem Wochentag eigentlich gehörte. Maden statt Zucker oder Honig. Nie bekamen wir etwas Süßes oder überhaupt etwas Schmackhaftes, und irgendwann begann ich, von Bonbons und Schokolade zu träumen, wie sie mir meine Mutter immer mitgebracht hatte, wenn sie mich in England im Heim besuchte. Der Gedanke an Süßes fühlte sich an wie eine Umarmung oder ein Kuss von ihr, und eigentlich ist es immer so geblieben.

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Kapitel 1

Frankfurt, 6. Januar 1939

Als Leah die Bahnhofshalle betrat, stellte sie enttäuscht fest, dass es auf dem Bahnsteig von Eltern nur so wimmelte. Der Zug war noch nicht da. Fest umfasste sie den harten Ledergriff ihres neuen Koffers und steuerte eine Bank an. Sie setzte sich, hob den Koffer auf ihren Schoß und legte ihre Hände auf seine glatte Hülle. Die Pappkarte um ihren Hals schlug leicht gegen das glänzende Messingschloss, als sie sich vorbeugte, um die Abschiedsszenen zu beobachten. Männer und Frauen, die ihre Kinder an sich drückten oder auf den Arm nahmen. Sie lachten, strichen ihnen über den Kopf oder kniffen sie aufmunternd in die Wange. Leah wurde plötzlich wütend auf ihre Familie. So viele Eltern, die sich über das Verbot, ihre Kinder bis zum Zug zu begleiten, hinweggesetzt hatten! Wieso wagten das ausgerechnet ihre Eltern nicht? Die Traurigkeit schnürte ihr die Kehle zu, und sie war froh, als endlich der Zug in den Bahnhof einfuhr. Da sie eine der Ersten war, die einstiegen, ergatterte sie einen Fensterplatz und schaute den Abschiednehmenden zu, deren Bewegungen nun hastiger, verzweifelter wurden. Eine Mutter, die wie unter Zwang am aufgestellten Mantelkragen ihres Sohnes zupfte, während sie pausenlos auf ihn einredete. Eine große Familie, die ihre Tochter umstellt hatte und sie fast erdrückte, weil jeder sie noch einmal in den Arm nehmen wollte. Als die Lautsprecheransage die Reisenden zum Einsteigen aufforderte, brachte ein junges Paar ein kleines Mädchen zu Leah ins Abteil. Tränen liefen dem Mann über die Wangen, als er sein Kind auf den Platz neben Leah setzte. Er wischte sich mit der flachen Hand übers Gesicht und setzte ein gequältes Lächeln auf.

»Das ist Klara. Und wie heißt du?«

»Leah Winterstein.«

»Leah. Was für ein schöner Name. Leah, würdest du so gut sein und dich während der Reise um unsere Klara kümmern? Sie ist ein braves Mädchen, aber sie war noch nie allein. Und sie ist erst vier.«

Die Mutter verbarg sich bei diesen Worten hinter dem Rücken ihres Mannes und gab nun einen erstickten Schluchzer von sich. Als er sich hinkniete, um seine Tochter bei den Händen zu halten, raubte er damit seiner Frau die Deckung; schnell drehte sie den Kopf weg und schneuzte geräuschvoll in ein Taschentuch.

Auf ein kleines Mädchen aufzupassen, gehörte nicht unbedingt zu den Dingen, die Leah sich zutraute. Sie wusste ja nicht einmal, was sie selbst erwartete, und war entsprechend nervös. Gab es keine erwachsenen Begleiter im Zug? Wieso wandten sich die Eltern der Kleinen nicht an die? Klara schaute Leah mit großen Augen an und streckte ihr die Stoffpuppe hin, die sie die ganze Zeit über an ihre Brust gedrückt hatte. Leah hätte ein Herz aus Stein haben müssen, um nein zu sagen. Sie seufzte kaum hörbar. Ein Blick auf den angespannten Vater ließ sie zögerlich nicken. Der atmete erleichtert auf und legte das Köfferchen seiner Tochter ab. Eine Trillerpfeife schrillte. Ein älterer Junge riss die Abteiltür auf und drückte sich zielstrebig an dem Paar vorbei. Erst warf er seinen abgewetzten Koffer ins Gepäcknetz, dann ließ er sich selbst auf den freien Fensterplatz gegenüber Leah fallen. Er schnalzte mit der Zunge, reckte siegreich die Faust in die Luft und zwinkerte Leah verschwörerisch zu. Die Kinder, die nach ihm ins Abteil strömten, erfüllten den engen Raum mit ohrenbetäubendem Lärm, als sie um die besten Plätze rangelten und dabei auf die Sitzbänke kletterten, um hastig ihr Gepäck in den Netzen zu verstauen. Der Junge ihr gegenüber öffnete mit einer kraftvollen Bewegung das Fenster und steckte den Kopf weit hinaus.

»Mutti, Vati, hier bin ich!«, rief er. Die anderen folgten seinem Beispiel, und wenig später zwängte sich ein Dutzend Kinderköpfe durch die Öffnung. Alle riefen gleichzeitig nach ihren Eltern, nur Leah nicht. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals trauriger gewesen zu sein.

»Bitte verlassen Sie jetzt den Zug! Wir fahren ab«, sagte der Schaffner mit der Trillerpfeife zu dem Elternpaar. »Nun kommen Sie schon!« Er zog den Mann, der noch immer vor seiner Tochter kniete, zu sich hoch und fasste die Frau am Ellbogen. Sachte schob er beide aus dem Abteil.

»Klara!« Der Vater lächelte unter Tränen. Leah zog die Kleine auf den Schoß und hob ihre Hand, um den Eltern zuzuwinken, die wenig später wie verloren auf dem Bahnsteig standen. Klara genoss es offenbar, im Mittelpunkt zu stehen, und lachte abwechselnd ihre neue Freundin und die Eltern an. Die schweren Türen wurden von außen mit einem dumpfen Schlag geschlossen. Erneut ertönte der schrille Pfeifton, und der Zug setzte sich in Bewegung. Leah hielt Klara hoch, damit sie einen letzten Blick auf ihre Eltern erhaschen konnte. Sie selbst sah fast nichts, so eng drückten sich die Kinder in den Fensterrahmen.

Klaras Vater begann, neben dem Zug herzulaufen.

»Leah!«, rief er plötzlich. »Leah! Gib mir Klara zurück!«

Leah zwängte ihren Kopf nach draußen. »Wie bitte?«

»Ich kann sie nicht gehen lassen. Reich sie mir durchs Fenster. Schnell!« Leahs Herz begann zu rasen. Der Zug hatte fast das Ende des Bahnsteigs erreicht. Sie musste sich beeilen.

»Weg da!«, rief der Junge auf der anderen Seite und verscheuchte die Kinder vom Fensterplatz. Er winkte Leah heran. Zusammen hoben sie die Kleine durchs offene Fenster, hielten sie jeweils an einem Arm fest. Der Zug hatte an Fahrt aufgenommen, und der Vater, der keuchend mit dem Zug um die Wette rannte, war leicht zurückgefallen. »Jetzt oder nie!«, schrie der Junge. Der Vater nickte und rannte, so schnell er konnte. Mit einer Hand griff er nach den baumelnden Beinchen. »Ich hab sie.«

»Lass sie los!«, befahl der Junge Leah. Die anderen Kinder hatten sich hinter sie geschart und beobachteten wie gebannt das Geschehen. »Mach schon!«, schrie er Leah an und trat sie gegen das Schienbein.

»Aua!« Leah ließ los. Klara schrie. Die Kinder hielten die Luft an und quetschten sich wieder in die Öffnung.

»Ihr Koffer«, rief ein Mädchen und kletterte schon auf die Sitzbank, um ihn aus dem Gepäcknetz zu holen. Leah riss ihn an sich und warf ihn aus dem Fenster, mit so viel Schwung, wie sie aufbringen konnte. Er landete auf dem Bahnsteig – nicht weit von dort, wo Klaras Vater mit dem Rücken auf dem Boden lag, seine Tochter fest an sich gepresst. Klaras Mutter holte zu ihnen auf und beugte sich über Mann und Tochter. Während sich der Zug immer schneller entfernte, sah Leah noch, wie der Vater aufstand und sein Kind zu sich hochhob, um Klaras Gesicht mit Küssen zu bedecken. Ein feines Lächeln zeichnete sich auf Leahs Gesicht ab, und sie schaute der kleinen Familie nach, bis sie nur noch Punkte ausmachen konnte.

Die Kinder im Abteil setzten sich auf ihre Plätze. Nach all dem Lärm auf dem Bahnhof wurde es auf einmal merkwürdig ruhig. Jedes der Kinder schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Auf der Heizung lag Klaras Puppe. Sie musste ihr bei dem Gerangel runtergefallen sein. Leah hob sie auf, ordnete die wirren Wollfäden auf dem Puppenschopf in zwei Stränge und begann, sie zu Zöpfen zu flechten, wie sie selbst sie trug.

»Michael.« Erschrocken fuhr Leah zusammen, und als sie aufblickte, sah sie eine ausgestreckte Hand vor sich.

»Ich heiße Michael. Und du bist Leah, nicht wahr?« Michael erkundigte sich nach ihrem Knie, ging aber nicht so weit, sich für den schmerzhaften Tritt zu entschuldigen.

»Tut noch ganz schön weh«, Leah rieb sich übers Bein. »Wieso hast du das getan? Ich hätte Klara auch so losgelassen.«

»Es hat aber nicht danach ausgesehen.« Er lachte kurz auf, verstummte jedoch, als Leah die Augenbrauen wütend zusammenzog.

»So ein Blödsinn. Natürlich hätte ich sie losgelassen.«

Michael winkte großmütig ab. »Wenn du es sagst.«

Leah verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. Sie hatte heute weiß Gott andere Sorgen, als sich mit diesem Kerl zu streiten. Draußen wurde es langsam dunkel. Beklommen schaute sie auf die eisigen Felder hinaus. Kaum zu glauben, dass sie die Stadt schon hinter sich gelassen hatten. Plötzlich fühlte sie sich schrecklich allein; sie wünschte sich, ihre ältere Schwester Sissi wäre bei ihr. Im Abteil brannte gedimmtes Licht. Zwei der jüngeren Mädchen waren vor Erschöpfung eingenickt, ihre Köpfe lehnten an den Schultern der neben ihnen sitzenden Kinder. Leah schloss ebenfalls die Augen, obwohl sie wusste, dass sie viel zu aufgewühlt war, um einzuschlafen. Nur ein wenig ausruhen, dachte sie. Einen winzigen Moment lang nicht darüber nachdenken, was nun mit ihnen allen geschehen würde.

»Ich glaub ja nicht, dass die Eltern der Kleinen die richtige Entscheidung getroffen haben. Was meinst du?«, schreckte Michaels Stimme sie auf.

Leah öffnete widerwillig die Lider und zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das denn wissen?« Ihre Stimme klang trotzig, kein bisschen weinerlich. Mutiger geworden, schaute sie ihn sich nun genauer an. Der Junge sah sie ernst an, sie zwang sich, seinem Blick standzuhalten. Seine ebenmäßigen Züge hatten etwas Kantiges, das ihn erwachsener wirken ließ. Doch das Auffälligste an dem Burschen war der buschige Schopf, den selbst das offensichtlich reichlich angewendete Zuckerwasser kaum zu bändigen vermochte. Das Haar fiel ihm in dichten Wellen bis über die Ohren und zitterte jedes Mal, wenn der Zug in eine Kurve bog oder abbremste.

»Hitler will alle Juden für immer aus Deutschland vertreiben. Das weißt du doch hoffentlich, oder etwa nicht?«

Leah horchte auf. Ihr Herz krampfte sich zusammen. »Diesen Unsinn glaub ich nicht«, antwortete sie und hoffte, schnoddrig zu klingen. »Ich werde meine Familie jedenfalls wiedersehen. Da kannst du Gift drauf nehmen.« Sie knetete die Puppe in ihrer Hand. Als ihr bewusst wurde, dass Michael sie dabei beobachtete, legte sie die Puppe neben sich auf die Bank und schaute aus dem Fenster.

Michael betrachtete sie einen Moment lang, dann starrte auch er gedankenverloren nach draußen, wo das letzte fahle Licht der Dunkelheit gewichen war.

 

Der Zug ratterte weiter Richtung Norden, bis er etliche Stunden später die niederländische Grenze erreichte. Ein Transportbegleiter riss die Tür auf und weckte die schlafenden Kinder, die erst nicht wussten, wo sie waren, und sich, verwirrt und übermüdet, die Augen rieben. Er ermahnte jedes Einzelne, seinen Pass bereitzuhalten und sich gut zu benehmen, wenn die deutsche Zollkontrolle durch den Zug kam. Leah wurde plötzlich vor Angst ganz schlecht. Sie alle durften nur das Notwendigste mit sich führen. Unterwäsche, Socken, ein Kleid. Ein Familienfoto, ein Spielzeug und zehn Reichsmark. Mehr war nicht erlaubt. Leah warf einen besorgten Blick auf ihren Koffer, der über ihr im Netz lag. Ihre Mutter hatte fünfzig Mark in den alten Teddybären eingenäht, als Notgroschen, und Leah eingeschärft, ihn im Arm zu halten, wenn die Kontrolleure den Zug passierten. Leah kletterte auf die Bank und griff nach ihrem Koffer. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, öffnete ihn und fand den Teddy unter dem neuen Kleid, das ihre Mutter eigens für diese Reise genäht hatte. Sie nahm ihn heraus, schloss den Koffer und setzte sich wieder. Ihr Blick fiel auf Klaras Puppe. Was sollte sie damit tun? Sie durfte keinesfalls riskieren, dass man ihr den Teddy wegnahm, aber schon die Vorstellung, die Puppe aus dem Fenster zu werfen, zerriss ihr das Herz.

Plötzlich hatte sie eine Idee.

»Kannst du nicht Klaras Puppe nehmen?«, fragte sie Michael geradeheraus. »Wir dürfen doch nur ein Spielzeug mitnehmen, und ich hab schon Bärchen.« Sie hielt den Teddy hoch.

Michael setzte sich gerade hin und schüttelte dann den Kopf. »So dumm kann nicht einmal ein Nazi sein, dass er mir eine Puppe als Spielzeug abkauft. Was willst du überhaupt damit? Klara siehst du bestimmt nicht wieder, und dir bedeutet sie doch nichts. Schmeiß sie weg, oder willst du wegen diesem Stofflumpen Ärger kriegen?«

»Nein, aber ich kann sie doch nicht einfach so aus dem Fenster werfen. Bitte nimm sie! Oder hast du etwa selbst ein Spielzeug dabei?«

Plötzlich verlangsamte der Zug seine Fahrt. Leah sah Michael eindringlich an. Mit einem Seufzer erhob er sich.

»Also gut. Ich nehme deinen Teddy. Die Puppe behältst du.« Ein Lächeln huschte über Leahs Gesicht, als sie Michael das Stofftier in die Hand drückte. Michael kletterte auf die Sitzbank und legte ihren alten Teddy in seinen abgewetzten Koffer. Er war gerade im Begriff, ihn zu schließen, als der Zug quietschend zum Halten kam. Schnell ließ er sich auf seinen Platz fallen. Sie hörten, wie Männer in schweren Stiefeln durch den Zug marschierten. Eine Tür nach der anderen wurde aufgerissen. Als die Reihe an ihnen war, hielt Leah die Luft an. Zwei uniformierte Zollbeamte stürmten ins Abteil.

»Los! Aufstehen, Pässe zeigen und Koffer öffnen, zack, zack!« Die Kinder zeigten ihre Dokumente vor, die auf der ersten Seite ein großes rotes J trugen. Die Namen der Mädchen waren um das jüdische »Sara« ergänzt worden. Da Leah den Namen schon immer gemocht hatte, empfand sie diesen Zusatz eher als Bereicherung. Mit klopfenden Herzen rückten die Kinder dicht zusammen. Verängstigt und eingeschüchtert beobachteten sie, wie die Soldaten mit geübten Handgriffen achtlos ihre Köfferchen leerten, auf doppelte Böden untersuchten und anschließend einfach fallen ließen. Die ganze Aktion dauerte nicht länger als zwei, drei Minuten, dann verließen die Männer das Abteil, ohne noch einmal das Wort an die Kinder zu richten. Die Tür fiel knallend zu, und für einen Moment herrschte eine geradezu unheimliche Stille. Die Kinder sahen einander ungläubig an. War das schon alles? Hatten sie es geschafft? Der Zug begann zu ruckeln, ein Mädchen fiel hin und fing an zu weinen. Leah half ihr auf, zog sie neben sich auf die Bank und legte tröstend den Arm um sie. Der Zug fuhr wieder, und die Älteren unter ihnen wussten, was dies bedeutete: Sie waren in Holland!

Michael lachte, Leah klatschte in die Hände, und mit einem Mal fiel von der ganzen Gruppe der Druck ab; die Kinder brachen in lauten Jubel aus. Ein englischer Reporter kam zu ihnen herein und bat sie, zusammenzurücken und in die Kamera zu lächeln. Er drückte auf den Auslöser. Der grelle Blitz ließ Leah rote Sternchen sehen. Der junge Mann bedankte sich und verschwand. Gleich darauf erschienen freundliche Nonnen mit weißen Hauben und brachten heißen Kakao und belegte Brote.

Noch in der Nacht erreichte der Zug Hoeke van Holland. Dort gingen die Kinder an Bord eines Fährschiffes, das sie nach Harwich an der Ostküste Englands bringen sollte, von wo aus es weiter nach London ging. Die Begleiter verteilten sie, nach Geschlechtern getrennt, auf die engen Fährkabinen und verabschiedeten sich in aller Eile. Sie mussten mit dem Zug zurück nach Deutschland, wünschten den Kindern viel Glück und eine gute Nacht. Dann löschten sie das Licht.

Mit Klaras Puppe im Arm schlief Leah erschöpft ein, wachte jedoch kurze Zeit später wieder auf, weil ihr schrecklich übel war. Ihre Finger suchten nach der Papiertüte, die man ihnen unters Kopfkissen gelegt hatte. Die See war stürmisch und hielt das Schiff in ständiger Bewegung. Leah bekam die Tüte zu fassen, setzte sich auf und erbrach sich. Ein Mädchen weinte und rief nach seiner Mutter. Leah hielt die Tüte fest umklammert, sie kämpfte noch immer mit dem Würgereiz. Irgendwann musste sie eingeschlafen sein, denn energisches Klopfen und eine englische Stimme weckten auch sie in der Morgendämmerung.

Die Kinder eilten mit ihrem Gepäck an Deck. Leah spülte sich am Waschbecken den Mund aus. Dann folgte sie den anderen nach draußen. Im Frühnebel zeichneten sich unscharf erste Umrisse der englischen Küste ab. Wie die anderen stand Leah mit ihrem Koffer an Deck. Der Wind zerrte an ihren Zöpfen, deren Enden ihr ins Gesicht schlugen. Sie war noch nie zuvor am Meer gewesen. Tief sog sie den ungewohnten Geruch von Salz und Tang ein, schloss die Lider, um sich ganz auf die neue Empfindung zu konzentrieren.

»Good morning!«, brüllte ihr jemand ins Ohr.

Leah öffnete erschrocken die Augen. Neben ihr stand Michael und zeigte mit dem Finger auf den flachen Küstenstrich vor ihnen, über dem der Tag anbrach. »Siehst du das? Die Häuser hier sind alle rot, nicht weiß verputzt wie bei uns.« Leah zuckte mit den Schultern. Die Farbe der Häuser war so ziemlich das Letzte, was sie im Augenblick interessierte. Sie war viel zu aufgeregt, um Heimweh zu haben oder traurig zu sein. Vor ihr lag nicht nur ein unbekanntes Land, sondern ein neuer Lebensabschnitt.

 

Von Harwich aus ging es mit dem Zug weiter nach London. An der Liverpool Street Station endete die Fahrt, und die gleichermaßen erschöpften wie aufgedrehten Jungen und Mädchen wurden von freundlichen Bobbys in Helm und Regencape zu einer großen Halle neben dem Bahnhof geführt. Dort wiesen die englischen Polizisten sie mit unmissverständlichen Gesten an, auf den langen Holzbänken Platz zu nehmen. Michael, den Leah seit dem frühen Morgen an Deck der Fähre nicht mehr gesehen hatte, ließ sich mit einem Ächzen neben sie plumpsen. Er griff nach der Karte, die ihr, wie allen anderen Kindern auch, an einer Kordel um den Hals baumelte.

»Nr. 128. Leah Winterstein aus Frankfurt. Vierzehn Jahre«, las er, bevor Leah ihm die Pappe aus der Hand reißen konnte.

»Hast du keine Manieren, oder warum kannst du nicht fragen?« Michael tat, als hätte er sie nicht gehört.

»Ist doch kein Geheimnis, was da steht. Hier!« Er hielt ihr seine Karte hin. »Ich bin fünfzehn. Michael Korczik aus Frankfurt. Weißt du schon, wo du unterkommst?« Die Frage traf Leah wie ein Stoß in den Magen, obwohl sie zu der glücklicheren Gruppe von Kindern gehörte, die immerhin eine vage Vorstellung von ihrer englischen Pflegefamilie hatten. Die Leute, die sie aufnehmen würden, waren mit irgendwem bekannt, der zum Freundeskreis ihrer Eltern gehörte. Für die meisten ihrer Reisegenossen war es eine Fahrt ins gänzlich Ungewisse, denn sie hatten keine Ahnung, wo sie am Ende landen würden. Sie waren darauf angewiesen, einer jener Familien zu gefallen, die nach London gereist waren, um sich eines der deutschen Kinder auszusuchen. Wie ausgesetzte Hunde, die im Gemeindezwinger darauf warteten, ein neues Zuhause zu finden.

»Hey, hast du mich nicht gehört? Ob du schon jemanden hast, wollte ich wissen«, sagte Michael. Leah schrak aus ihren Gedanken hoch.

»Ja, die Familie heißt Dinsdale.«

»Leben die in London?«

»Nein. Irgendwo auf dem Land in Kent. Ich fürchte, ich kann den Ort gar nicht richtig aussprechen.«

Sie buchstabierte Chilham.

»Sagt mir nichts, aber von Kent habe ich schon gehört. Das ist im Süden, gar nicht so weit von hier. Hast du schon Pläne, was du dort tun willst?«

Leah schüttelte irritiert den Kopf. Komischer Vogel! Welche Pläne sollte sie schon haben, außer dass sie irgendwie die Zeit überbrücken musste, bis sie endlich ihre Familie wiedersehen konnte.

»Ich habe meinen Eltern versprochen, ihnen von England aus Ausreisevisa zu besorgen«, sagte sie. »Dazu muss ich aber erst jemanden finden, der bereit ist, sie im Haushalt anzustellen.«

»Ja, genau das will ich auch probieren. Meine Eltern haben versucht, nach Palästina auszuwandern, aber die Briten lassen sie nicht.«

»Was haben die Briten denn mit Palästina zu tun?«, fragte Leah.

Michael sah sie ungläubig an.

»Du hast wohl gar keinen Durchblick, was? Seit drei Jahren steht Palästina unter britischem Protektorat, und seither gelten strenge Einreisebestimmungen.« Leah ließ sich nicht anmerken, wie sehr er sie beleidigt hatte.

»Das ergibt doch keinen Sinn. Was sollten die Engländer denn dagegen haben, wenn wir Juden nach Palästina auswandern, um uns in Sicherheit zu bringen? Sind sie denn nicht auf unserer Seite?«

Michael lachte auf. »Feige, das sind sie! Haben Angst, dass ein Strom jüdischer Einwanderer den Arabern nicht gefallen könnte.« Offenbar war er in Gedanken längst woanders, denn er wechselte unvermittelt das Thema. »Sag mal, deine Dinsdales … können die nicht deine Eltern herholen?«

»Das sind nicht meine Dinsdales, aber natürlich hoffe ich, dass sie mir bei der Ausreise meiner Eltern helfen. Sobald ich sie etwas besser kenne, frage ich sie.«

»Denkst du, die könnten außerdem zwei weitere Haushaltshilfen gebrauchen? Mein Vater ist Schneider, der kann ihnen im Nu alles flicken, und meine Mutter kocht hervorragend. Ihre Piroggen und ihr Apfelkuchen – hmm … Was kocht deine Mutter denn am besten?«

Leah zog die Augenbrauen zusammen. Kochen? Dafür hatten sie daheim in Frankfurt eine Köchin, und wenn ihre Strümpfe Löcher hatten, wurden sie von Irmchen ausgebessert, ihrem Mädchen. Michael wartete auf eine Antwort.

»Was ist?«, drängelte er.

Eigentlich ging es diesen vorlauten Burschen überhaupt nichts an, aber weil er ihr mit Bärchen und Klaras Puppe aus der Patsche geholfen hatte, wollte sie nicht undankbar erscheinen. Leah musterte Michael etwas genauer. Es sah erbärmlich aus, wie er in seinem fast schon fadenscheinigen Mantel zitterte.

»Meine Mutter geht mit meiner Schwester und mir in die Stadt zum Einkaufen. Oft liest sie uns etwas vor, wenn wir aus der Schule kommen. Zweimal in der Woche hilft sie Vati mit dem Papierkram in der Kanzlei, und danach geht sie manchmal mit ihm ins Restaurant oder ins Theater.«

»Mit anderen Worten: Sie kann nicht kochen.« Leah überhörte den letzten Satz, doch ihr entging nicht, wie Michael verächtlich einen Mundwinkel nach oben verzog. Mit einem Mal veränderte sich sein Gesichtsausdruck. »Dein Vater ist Anwalt, sagst du?«

Leah schluckte. Man hatte Vati Ende September, wie allen jüdischen Rechtsanwälten, Berufsverbot erteilt. Seither lebte ihre Familie von den Ersparnissen.

»Ja, wieso?«, fragte sie.

»Oha. Das sieht gar nicht gut aus.« Michael strich sich wie ein alter Mann nachdenklich übers Kinn.

»Was meinst du damit?« Leah klang alarmiert. Michael seufzte.

»Als Anwalt wird er es schwer haben, die Domestic Permit zu kriegen. Und wenn deine Mutter noch nicht einmal kochen kann, ja dann …«

»Dann was? Was soll das heißen?« Leah hatte vor Schreck die Augen weit aufgerissen, doch Michael ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Haben die Dinsdales Geld?«, fragte er.

»Ich glaube schon. Weshalb fragst du?«

»Gut. Das ist doch schon mal was. Hör zu!« Er nahm ihre Hände. Verwirrt ließ Leah es geschehen, doch sie rückte unwillkürlich ein Stück von ihm ab. »Lass uns eine Art Pakt schließen.«

»Einen Pakt?«

Michael nickte und sah sie eindringlich an. »Ja, eine Art Vertrag oder ein Schwur, wenn dir das lieber ist.«

Leah zog die Stirn kraus.

»Ich verstehe nicht. Worum soll es in diesem Pakt denn gehen?«

»Wir wollen doch beide, dass unsere Familien so bald wie möglich aus Deutschland rauskommen. Es gibt aber kaum noch Länder, die Juden aufnehmen, und die wenigen, die es tun, verlangen Unsummen an Geld oder machen unmögliche Auflagen.«

Leah schüttelte sich. »Lass mich los!«

Michael zog seine Hände zurück. Seine Worte hatten Leah in Unruhe versetzt. Doch dann atmete sie tief durch und kam zu dem Schluss, dass er ganz sicher nicht die Wahrheit erzählte. Woher sollte er sein Wissen schon haben? Wahrscheinlich hatte er nur hier und da ein paar Worte in der Schneiderstube seines Vaters aufgeschnappt. Anders als ihre Familie verfolgten seine Eltern wohl kaum täglich die internationale Presse.

»Das glaub ich dir nicht«, sagte sie deshalb selbstbewusst und hob das Kinn. »Meine Eltern hätten mir schon gesagt, wenn es unmöglich wäre, an diese Permits ranzukommen.«

»Wahrscheinlich wollten sie nur nicht, dass du dir Sorgen um sie machst.« Leahs kurzfristiges Überlegenheitsgefühl war mit einem Mal wie weggeblasen. Michael musste ihr die Bestürzung angesehen haben, denn er setzte gleich beschwichtigend nach: »Keine Angst, ich sage ja nicht, dass es ausgeschlossen ist. Man muss eben ein wenig tricksen, um zu bekommen, was man will.«

»Wie denn?« Ihre Stimme hatte einen panischen Unterton angenommen.

»Vielleicht kann ich dir helfen. Zumindest weiß ich, was eine gute Köchin so auf der Pfanne haben muss.« Michael grinste über sein Wortspiel, doch Leah verzog keine Miene.

»Und wie soll mir das weiterhelfen?«

»Jetzt warte doch ab, und hör mir zu!« Michael schlug mit der Faust auf die Holzbank. Leah zuckte zusammen und rückte noch ein wenig mehr von ihm ab. Michael atmete hörbar aus. »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken. Wir sind wohl alle ziemlich erschöpft.«

Leah schwieg.

»Pass auf!«, fuhr Michael fort. »Ich erzähle dir, was du wissen musst, um deine Dinsdales davon zu überzeugen, dass deine Eltern die absolut perfekten Angestellten für ihren Haushalt sind.«

Leah würgte an ihrem Kloß im Hals und nickte dann.

»Und was ist mit deinen Eltern? Was soll ich für dich tun?«, fragte sie schließlich. Michael atmete erleichtert auf.

»Nicht viel, es ist ganz einfach. Rede gut über mich bei deiner Pflegefamilie, sooft es eben geht. Wenn sie Geld haben, haben sie Einfluss und können meiner Familie helfen.« Michael rieb seine kalten Hände. »Also, was ist? Schließen wir nun den Pakt? Ich sehe zu, dass ich ebenfalls in Kent unterkomme, und dann sind wir füreinander da. Ich für dich und du für mich. Na, wie klingt das? Wie die Musketiere, außer dass wir nur zu zweit sind.« Wie aus dem Nichts hielt er ihren Teddybären hoch. »Stimmt gar nicht, wir sind drei. Deinen d’Artagnan hier behalte ich, bis wir es geschafft haben.«

Leah sah ihn erschrocken an. Instinktiv griff sie nach dem Teddy, doch Michael hielt ihn unerreichbar für sie über seinen Kopf.

»Bis wir was geschafft haben?«

»Worüber reden wir hier eigentlich die ganze Zeit? Unsere Familien aus Deutschland herauszuholen, natürlich.«

Bevor Leah antworten konnte, sah sie, wie sich ein elegant gekleideter Mann aus der Menge der Wartenden löste und auf sie zutrat. Er streckte die behandschuhte Hand nach ihrem Koffer aus.

»You are Lia Vinterstien, I believe?« Erst verstand sie nicht, was er da sagte.

»Leah Winterstein«, flüsterte ihr Michael ins Ohr. Leah stand auf und reichte der vornehmen Gestalt die Hand. War das etwa ihr Pflegevater?

»Would you please be so kind and follow me?«, sagte er, nahm ihren Koffer und wandte sich zum Gehen. Unsicher schaute sie Michael an, der so viel besser zu verstehen schien, was in diesem fremden Land vor sich ging. Der nickte ihr aufmunternd zu.

»Bis bald in Chilham«, sagte er und winkte ihr mit dem Teddy hinterher.

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Kapitel 2

Leah folgte dem Mann mit der Schiebermütze und dem langen grauen Mantel. Wie sich herausstellte, handelte es sich um den Chauffeur der Dinsdales. Er führte sie zu einem schwarz glänzenden Wagen, öffnete den hinteren Wagenschlag, und sie stieg ein. Der Mann würdigte sie während der Fahrt nach Kent keines Blickes, und sie sprachen kaum ein Wort. Leah war das nur recht, sie konnte ohnehin nicht viel Englisch. Trotz der angespannten Stimmung schlief sie irgendwann ein.

 

Die Fahrt endete vor einem hohen schmiedeeisernen Tor. Als es sich öffnete und der Wagen ruckelnd anfuhr, wachte Leah auf. Es musste noch sehr früh am Morgen sein. Ein frostiges Orange schimmerte am Himmel, bevor der dünne Farbschleier gleich wieder hinter den eisig grauen Wolken verschwand. Leah setzte sich gerade hin, strich sich eine Strähne aus der Stirn und staunte. Der Wagen rollte knirschend über einen Kiesweg, der durch den Park zum Haupteingang eines efeubewachsenen Herrenhauses führte. Der dunkle Bentley kam unmittelbar vor den Treppen zum Stehen. Ein steinerner Engel, der über dem stillgelegten Brunnen auf der anderen Seite thronte, trug eine Mütze aus Schnee. Der Chauffeur stieg aus und hielt ihr die Tür auf. Er begleitete sie die breiten Stufen zum Eingang hinauf und trug ihren Koffer. Die Tür öffnete sich wie von Zauberhand, und ein Dienstmädchen erschien. Der Chauffeur begrüßte sie, nickte Leah zum Abschied knapp zu, übergab ihr den Koffer und ging zum Wagen zurück. Leah sah ihm fast bedauernd hinterher. Immerhin war er der erste Engländer, den sie kennengelernt hatte.

»Welcome to Broadhearst Hall.« Leah wandte sich zu dem Dienstmädchen um. »Please follow me to your room, Ms. Winterstein, where you can rest and refresh yourself. My name is Amy by the way. The family will meet you later for breakfast.« Leah verstand, dass sie ausruhen sollte, und diese Information genügte ihr vorerst. Sie war so müde, dass sie kaum noch wusste, wie sie hieß. Gehorsam folgte sie der jungen Frau über den kalten Steinboden durch das hallende Foyer bis zu einer mächtigen Treppe. Oben angekommen, bogen sie nach links ab und gingen einen scheinbar endlosen Flur entlang. Leahs Zimmer befand sich am anderen Ende auf der linken Seite. Amy öffnete ihr die Tür. Sie trug ein schneeweißes Baumwollhäubchen, genau wie die Bedienung in ihrer Frankfurter Konditorei. Fast meinte Leah, frisch gebackene Mandeltörtchen riechen zu können, und ihr Magen fing an zu grummeln.

»There we are. Make yourself comfortable.«

Leah verstand Amy kaum, versuchte sich aber an einem Lächeln, doch da war das emsige Dienstmädchen schon wieder auf dem Weg nach unten. Alles, was Leah von ihrem Zimmer wahrnahm, war das große Bett. Zu müde, um aufgeregt zu sein oder sich Sorgen zu machen, stellte sie ihr Köfferchen ab, legte sich angezogen auf die Tagesdecke und schlief sofort ein.

 

Ein Klopfen bahnte sich mühselig den Weg in ihr Bewusstsein, wo es mit einem Traum verschmelzen wollte, bis ein lautes »Guten Morgen« die Illusion zerplatzen ließ. Leah öffnete die Augen und ließ sie für einen Moment unsicher im Raum umherschweifen. Wo war sie? Es klopfte nun lauter, und sie drehte den Kopf zur Tür.

»Leah? Kann ich hereinkommen? Ich bin Eliza, die Tochter des Hauses«, sagte die junge Stimme auf Deutsch mit starkem englischem Akzent.

»Ich komme.« Leah erhob sich, strich über ihren noch immer zugeknöpften Mantel und ging zur Tür. Als sie die Klinke niederdrückte, wurde ihr plötzlich seltsam zumute. Jetzt erst begriff sie, dass sie ihr Zuhause hinter sich gelassen hatte. Sie war allein in einer fremden Familie. Der Gedanke ließ sie frösteln, doch dann erinnerte sie sich an ihr Versprechen, das sie ihren Lieben daheim gegeben hatte. Sie musste stark sein, auch für sie. Sie musste unbedingt auf Manieren achten, sich von ihrer besten Seite zeigen. Es war wichtig, es den Pflegeeltern leichtzumachen, sie zu mögen, hatte ihr die Mutter eingeschärft. Damit sie bleiben durfte und hoffentlich schon bald auch die Ausreise ihrer Familie erreichen konnte.

Mit einem Schlucken kämpfte Leah gegen die aufkommenden Tränen an. Sie holte tief Luft und öffnete die Tür. Vor ihr stand eine junge Frau in einem Tweedkostüm, das so kratzig aussah, als könne es ernsthafte Hautabschürfungen verursachen, wenn man es nicht vorsichtig genug trug. Ihr modischer Bob stand in seltsamem Kontrast zu ihrer eher konservativen Kleidung. Sie reichte Leah die Hand. »Herzlich willkommen!«

Leahs Herz tat einen kleinen Hüpfer vor Freude darüber, dass ihr Gegenüber Deutsch sprach, doch noch bevor sie antworten konnte, redete Eliza schon weiter. »Fürs Frühstück ist es leider schon zu spät. Wir haben es einfach nicht übers Herz gebracht, dich so früh zu wecken. Ich darf doch du sagen, wenn ich Deutsch mit dir spreche?«

»Ja, natürlich«, antwortete Leah. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch kein Mensch gesiezt.

Eliza runzelte die Stirn. »Kannst du überhaupt Englisch?«, fragte sie, diesmal auf Englisch.

Leah gab sich einen Ruck. »A bit.«

Elizas Gesicht hellte sich auf.

»Wunderbar. Ein bisschen ist doch schon viel! Dann solltest du jetzt meine Familie kennenlernen. Wie sieht’s aus: Hast du Lust auf Lunch?« Sicherheitshalber führte Eliza ihre Hand zum Mund, so als würde sie etwas essen.

Leah nickte heftig. Sie hatte schrecklichen Hunger. Die Aussicht auf Nahrung ließ ihren Magen hörbar grummeln. Peinlich berührt, legte sie ihre Hand auf den Bauch, doch Eliza lächelte.

»Eine klare Antwort.« Eliza sah sich den deutschen Gast genauer an, ging dann näher auf Leah zu. »Aber zuerst richten wir dich ein wenig her, wenn es dir nichts ausmacht.« Ohne eine Antwort abzuwarten, knöpfte sie Leahs Mantel auf, streifte ihn ihr von den Schultern und legte das gute Stück aufs Bett. Er war wie alles, was sie trug, neu und von bester Qualität. Das war ihrer Mutter wichtig gewesen. »Amy wird später deine Sachen für dich einräumen. Komm, setz dich hierher, ich bürste dir schnell das Haar!« Eliza führte Leah zum Stuhl vor der Spiegelkommode und drückte sie sanft auf den Sitz nieder.

»Oh!« Mit Bestürzung sah Leah, dass ihre Zöpfe sich zur Hälfte aufgelöst hatten, und griff sich an den Kopf, um die wirren Strähnen zu glätten.

»Lass nur, ich mach das schon!« Geschickt löste Eliza die vielen kleinen Knoten in Leahs Haar, die ihr wohl der Wind auf See beschert hatte. Sie ging sehr vorsichtig vor, das Bürsten ziepte kaum. »Fertig!« Eliza beugte sich zufrieden lächelnd zu Leah hinunter und blickte ebenfalls in den Spiegel. »Dein Haar ist so schön. Wir lassen es offen, ja?«

Eliza zog Leah zu sich hoch, um sie zum Speiseraum im Erdgeschoss zu führen. Der Weg dorthin kam Leah endlos vor. Ihr Mund war plötzlich ganz trocken vor Aufregung, und sie konnte kaum schlucken, als sie schließlich im Salon angelangt waren und sie zum ersten Mal vor ihren Pflegeeltern stand. Gordon und Ada Dinsdale stellten ihre Teetassen auf dem Beistelltisch ab und erhoben sich aus ihren Sesseln am Fenster.

»Vater, Mutter, darf ich euch unseren Besuch aus Deutschland vorstellen?« Das Ehepaar kam auf die beiden zu. Ein zarter Duft nach Rosen und Lavendel ging von der Hausherrin aus. Ada Dinsdale trug einen dunklen Bleistiftrock, der perfekt saß. Dazu eine lachsfarbene Bluse, die den schlanken Körper zu umfließen schien. Der oberste Knopf stand offen und gab den Blick auf eine Perlenkette frei, die sich eng um ihren schmalen Hals schmiegte. Eine Welle aschblonden Haares ergoss sich über ihren Arm, als sie Leah die Hand entgegenstreckte.

»Ada Dinsdale, willkommen in Broadhearst Hall, Leah«, sagte sie mit leiser Stimme und lächelte. Leah war von ihrem Anblick wie gebannt. Ada Dinsdale sah nicht aus wie eine Frau aus dem richtigen Leben. Ada Dinsdale sah aus wie eine Filmdiva, traumhaft schön und elegant wie eine Statue. Leah fühlte sich schrecklich befangen und fehl am Platz. Am liebsten wäre sie aus dem Speisesaal gerannt. Doch das kam nicht in Frage, und wie ihre Mutter es ihr eingebleut hatte, machte sie einen artigen Knicks vor den beiden. Die Eheleute warfen einander einen amüsierten Blick zu, dann kam auch der Hausherr auf Leah zu und deutete ironisch eine altmodische Verbeugung an, was Eliza und ihre Mutter zum Lachen brachte. Leah schoss das Blut ins Gesicht.

»Gordon Dinsdale, Mylady. Stets zu Ihren Diensten.« Leah heftete den Blick auf ihre Schuhe und sah erst auf, als sie eine unbekannte Stimme im Raum hörte.

»Vater, wie kannst du das arme Mädchen nur so in Verlegenheit bringen?« Leahs Blick fiel auf den Jungen, der gerade seinen Vater zurechtgewiesen hatte. Er konnte nicht viel älter sein als sie selbst. Eliza hingegen schätzte sie auf ungefähr achtzehn Jahre.

»Du hast recht. Das war nicht sehr nett von mir.« Gordon Dinsdale war groß und feingliedrig wie offenbar alle in der Familie. Unwillkürlich sah Leah an sich herunter. Im Vergleich zu den Dinsdales kam sie sich vor wie eine pummelige Landpomeranze, völlig ohne Chic. Außerdem musste sie sich wahnsinnig konzentrieren, um die Dinsdales zu verstehen. Das Englisch ihrer Lehrerin in Frankfurt hatte jedenfalls anders geklungen. Der Hausherr fasste Leah beschwichtigend am Arm. »Entschuldigen Sie, mein Frollein. Das war gar nicht nett von mir. Wir wollen doch, dass du dich bei uns sehr wohl fühlst. Es heißt Frollein, oder nicht?« Erleichtert stellte sie fest, dass er freundlich klang.

»Ja. Frollein ist richtig«, antwortete sie, halb Deutsch, halb Englisch, so wie er zuvor, und bemühte sich, einen guten Eindruck zu machen. Gordon Dinsdale nickte zufrieden. Sein Sohn musste gerade erst von draußen hereingekommen sein, denn sein helles Haar war vom Wind ganz zerzaust, und die blassen Wangen waren vor Kälte gerötet. Er hatte Leahs Blick bemerkt und kam näher, um ihr die Hand zu schütteln.

»Ich bin Stuart. Herzlich willkommen in unserer etwas schrulligen Familie!«

Ada bat zu Tisch und wies Leah den Platz neben Eliza an. Trotz der lockeren Einführung fühlte sich Leah noch immer zutiefst unbehaglich. Auch wenn keiner der Dinsdales sie auffällig anstarrte: Sie war sich nur zu bewusst, wie sehr sie im Mittelpunkt des Interesses stand, und wenn sie nicht so hungrig gewesen wäre, hätte sie alles dafür gegeben, sich wieder auf ihr Zimmer zurückzuziehen. Der Umstand, dass sie kaum mehr als ein paar Brocken Englisch sprach, vergrößerte ihre Unsicherheit noch und ließ sie viel schüchterner wirken, als sie eigentlich war.

»Die Eiersalat-Sandwiches sind meiner Meinung nach besser als das Roastbeef, aber entscheide selbst.« Eliza hielt ihr eine kleine Silberplatte hin, auf der sich, ordentlich angeordnet, ein Haufen weißer Rechtecke stapelte. Leah bedankte sich höflich und griff zu. Sie nahm auch vom Roastbeef, das ihr von Amy angeboten wurde.

Das Rindfleisch war zwar kalt und fast noch blutig, doch Leah war zu hungrig, um darüber nachzudenken. Zu ihrer Überraschung zerging es ihr auf der Zunge. Das federleichte Weißbrot fand sie hingegen gewöhnungsbedürftig. Es schmeckte zwar, machte aber überhaupt nicht satt. Ob sie sich noch eines dieser Rechtecke von der Platte stibitzen durfte? Es blieb ihr nicht verborgen, dass die Dinsdales belustigte Blicke untereinander tauschten, als sie sich gleich zwei Schnittchen von der Platte nahm, die Amy ihr hinhielt. Leah lief wieder rot an. Als Ausgleich für ihre Gier bemühte sie sich, in kleinen Bissen zu essen. Das bewahrte sie außerdem hoffentlich vor längeren Ausführungen, die man jetzt möglicherweise von ihr erwartete.

»How was the trip, my Dear? Pleasant enough, I hope?«, fragte Ada Dinsdale sie da auch schon und tupfte sich den Mund mit einer Stoffserviette ab. Leah hob fragend die Brauen und schaute hilfesuchend Eliza an. Es war frustrierend, so wenig zu verstehen.

»Deine Reise, war sie …« Auf der Suche nach der richtigen deutschen Vokabel ruderte Eliza mit der Hand in der Luft. »War deine Reise gut, will Mama wissen.«

Leah nickte beflissen und deutete entschuldigend auf ihren vollen Mund. Eliza betonte Mama auf der zweiten Silbe, was sich für Leah gestelzt anhörte. Allerdings, wenn sie sich so umschaute, sah es ganz danach aus, als wäre sie in einem fürchterlich vornehmen Haus untergekommen. Darauf war sie nicht vorbereitet gewesen. Aus Kristallgläsern trank man bei ihr zu Hause jedenfalls an einem Wochentag nicht, ebenso wenig wurde das Mittagessen daheim auf silbernen Platten serviert. Für gewöhnlich ging ihr Mädchen mit dem Suppentopf herum und schenkte mit der Kelle aus; dazu gab es entweder geschnittenes Graubrot mit etwas Butter, oder es folgte ein einfaches Hauptgericht wie Senfeier in Sauce, die Leah so sehr liebte. Rindfleisch zu Mittag an einem Donnerstag? Undenkbar!

»Darf ich Leah nach dem Essen Broadhearst und das Dorf zeigen?«, fragte Stuart, der sich mit seinem Vater natürlich auf Englisch unterhielt. Nur mühsam konnte Leah ihn verstehen, obwohl es offensichtlich um sie ging.

Gordon Dinsdale hob die Schultern. »Von mir aus, das heißt, falls unser junger Gast für den kleinen Ausflug nicht zu erschöpft ist.« Er blickte Leah an und rieb sich demonstrativ die Augen. »Bist du müde?« Leah schüttelte den Kopf. »Ich würde ja selbst gerne mitkommen, aber die Pflicht ruft.« Mr. Dinsdale sah auf seine Uhr und legte die Serviette auf dem Teller ab. »Ihr seid mir doch nicht böse?« Er stand auf, ging um den Tisch herum und küsste seine Frau auf die Wange. Auch Eliza machte Anstalten zu gehen.

»Kommt nicht zu spät zurück, damit ihr den Kindern noch gute Nacht sagen könnt!«, mahnte Ada ihren Mann. Gordon lachte.

»Falls es Stuart wieder einmal einfallen sollte, den Spaziergang bis nach Canterbury auszuweiten, sind Eliza und ich bestimmt nicht die Letzten, die heimkehren.«

»Das tust du heute bitte nicht, Stuart! Versprich mir das. Es ist viel zu kalt, und das Mädchen war so lange unterwegs«, sagte Ada. Stuart winkte ab.

»Keine Sorge, Mutter. Obwohl es immer verlockend ist, der Erste zu sein, der einem Neuankömmling die Kathedrale zeigt.«

Gordon reichte Leah die Hand. »Die wirst du schon noch früh genug zu Gesicht bekommen, Leah. Wir freuen uns jedenfalls sehr, dass du bei uns bist. Leah, ein schöner Name übrigens. Später, wenn du ausgeruht bist, musst du uns alles über dich und deine Familie erzählen. Versprochen?«

»Oh ja, ich bin schon so neugierig!«, sagte Eliza und drückte ebenfalls Leahs kalte Hand. Leah nickte, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt nicht die geringste Ahnung hatte, wie sie diesem Wunsch mit ihren dürftigen Sprachkenntnissen entsprechen sollte. Eine leise Verzweiflung machte sich in ihr breit, und sie war froh, als Stuart sie zur Tür hinauszog. »Komm, hol deinen Mantel und lass uns rausgehen!«

 

Draußen war es bitterkalt. Leah zog den Schal, den ihre Schwester ihr zum Abschied gestrickt hatte, etwas fester um den Hals, obwohl er kratzte. Die Schultern fast bis zu den Ohren hochgezogen, folgte sie Stuart, dem der eisige Wind nichts auszumachen schien. Sie marschierten durch das schmiedeeiserne Tor hindurch und bogen gleich auf den Weg ein, der links den Hügel hinabführte. Vor ihnen lag eine sanft geschwungene Landschaft, die mit pudrigem Weiß überzogen war. Stuart blieb stehen und beschrieb mit einer ausladenden Geste einen Halbkreis. »Alles, was du hier sehen kannst, gehört zu Broadhearst. Das ist das Land, von dem wir leben«, sagte er mit kaum verhohlenem Stolz. Leah wollte Stuart nicht verletzen, und obwohl sie als Stadtkind von der schieren Größe Broadhearsts durchaus beeindruckt war, konnte sie sich nur schwer vorstellen, dass diese kahlen, erbärmlich wirkenden Obstbäume, an deren dünneren Zweigen der Wind zerrte, den Dinsdales ihren mondänen Lebensstil ermöglichten. »Die Bäume, die du hier vorne siehst, sind Obstplantagen. Hauptsächlich Äpfel und Birnen, aber auch Pflaumen. Die mag ich besonders. Nichts geht über einen heißen Plum Crumble direkt aus dem Ofen, wenn draußen der kalte Herbstwind bläst.« Die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, gingen sie weiter. »Jetzt kannst du es natürlich nicht sehen, aber unser Boden ist sehr fruchtbar. Neben Obst bauen wir hauptsächlich Hopfen an, den wir an mehrere Brauereien in London verkaufen. Im Herbst kommen viele ärmere Leute aus dem Londoner East End zur Ernte. Sie arbeiten gegen Kost und Logis bei uns. Das ist ihre Art von Urlaub, und dann ist ordentlich was los. Und weil es hier so schön ist, haben einige wohlhabende Londoner in unserer Nachbarschaft ihre Landsitze.« Zur Untermalung des Gesagten zeigte er mit dem Daumen auf ein großes Haus am Waldrand. Dann ließ er den Arm sinken und wandte sich Leah zu. »Na, wie gefällt dir Broadhearst?«, fragte er mit einem Unterton, der nichts anderes als schiere Begeisterung erwartete. Leah wusste nicht so recht, was sie sagen sollte. Im Augenblick fehlte ihr die notwendige Phantasie, um sich die tiefverschneite Hügellandschaft als blühende Felder vorzustellen. Auch wäre sie lieber ins warme Haus zurückgekehrt, aber sie traute sich nicht, den so offensichtlich euphorischen Jungen zu bitten umzukehren, und ließ sich von ihm bis ins Dorf führen. Den Blick auf den Boden geheftet, um sich vor dem schneidenden Wind zu schützen, und den Kratzschal nun bis über die Ohren hochgezogen, stapfte Leah stoisch an Stuarts Seite durch den knöcheltiefen Schnee. Sie schaute erst wieder auf, als ihr Begleiter sie nach ungefähr einer halben Stunde mit dem Ellbogen in die Seite stieß. Die beiden blieben stehen.

»Was sagst du nun?«, fragte er und blickte sie erwartungsvoll an. »Ist Chilham nicht märchenhaft?« Sie hatte gar nicht so recht mitbekommen, wohin sie ihr Weg führte, und stellte nun zu ihrer Überraschung fest, dass sie in einer Ortschaft angelangt waren. Rund um den kleinen Marktplatz duckten sich windschiefe Fachwerkhäuschen eng aneinander, gerade so, als wären sie einem alten Märchenbuch entsprungen. Leah blickte staunend umher; beinahe erwartete sie, dass Schneewittchen um die Ecke bog, um mit ihren sieben Zwergen auf dem Markt den Wocheneinkauf zu erledigen. Einen Wimpernschlag lang gab sie sich dieser Phantasie hin, bis die Klingel eines Fahrradfahrers sie aus ihrem Tagtraum zurückholte.

»Aus dem Weg, ihr Idioten!«, raunzte der Mann sie an. Leah tat erschrocken einen Schritt zurück.

»Selber Idiot! Schon mal was von Manieren gehört?«, erwiderte Stuart. Er fasste Leah am Arm und führte sie über die Straße. Sie hob den Blick und blinzelte die Schneeflocken weg, die ihr der Wind ins Auge trieb. Über der mittelalterlichen Dorfkulisse thronte eine romantische Burg auf einem der Hügel. Es war wirklich wie im Märchen.

»Chilham Castle«, sagte Stuart, der ihren Blick beobachtet hatte. »Beeindruckend, oder?«, ergänzte er überflüssigerweise. Leah antwortete nicht. »Sobald du gelernt hast, den kleinen Finger beim Teetrinken abzuspreizen, wirst du fürs kommende Jahr sicherlich auch zum Neujahrsempfang des Schlossherrn eingeladen. Sir Edmund Davis bittet nämlich Anfang Januar traditionell alle Dorfkinder zu Sponge Cake und Jelly auf sein Schloss. Das ist ein großer Spaß, zweihundert Jungen und Mädchen, die dort bedient werden wie erwachsene Gäste.«

Leah schnürte es den Magen zusammen. Einerseits würde sie einen solchen Empfang nur zu gerne erleben, aber deshalb ein ganzes Jahr bei den Dinsdales ausharren? Bis dahin, so hoffte sie, würde sie schon längst wieder mit ihrer Familie vereint sein.

Als Stuart bemerkte, wie Leah zitterte, hatte er ein Einsehen, und sie machten sich auf den Rückweg, der von dichtem Schneetreiben begleitet wurde. In Broadhearst Hall angekommen, wärmten sie sich noch in ihren Mänteln am Kamin im Salon auf. Sie waren allein. Das Dienstmädchen richtete Stuart aus, die Hausherrin habe sich wegen Migräne zurückgezogen und werde nicht zum Abendessen erscheinen. Für Stuart schien dies keine Überraschung, denn er hob nur kurz die Schultern. »Arme Mama. Dann essen wir unsere Suppe eben auf meinem Zimmer, da ist es sowieso viel gemütlicher.« Leah war ganz froh darüber, dass ihr eine weitere Mahlzeit mit der Familie für heute erspart blieb. Die lange Reise, die neuen Eindrücke – sie war vollkommen erschöpft. Als das Zittern langsam nachließ, nahm sie den Schal ab und streifte sich den ebenfalls durchnässten Wollmantel von der Schulter. Es war derselbe Raum, in dem sie mit den Dinsdales zu Mittag gegessen hatte, aber erst jetzt nahm sie die Umgebung bewusst in sich auf. Der hohe Raum gab den sicherlich ungeheuer wertvollen Möbeln den rechten Rahmen. An den Wänden hingen zahlreiche Ölgemälde, die hauptsächlich Jagdszenen darstellten.

»Papa ist ein leidenschaftlicher Jäger«, erklärte Stuart, der Leahs Interesse an den alten Ölschinken bemerkt hatte. Es wurde allmählich dunkel, und Amy, das Dienstmädchen, kam herein, um die schweren Damastvorhänge zu schließen. »Wir nehmen das Dinner in meinem Zimmer ein, Amy.«

»Natürlich, Mr. Dinsdale«, sagte Amy. Sie nahm die nassen Sachen vom Sessel und schloss die Tür hinter sich. Ein paar Minuten später durchquerten Leah und Stuart die Halle und gingen die Treppe hinauf. Stuarts Zimmer lag gleich links von der Treppe.

»Zieh dich schnell zur Nacht um, und komm am besten gleich rüber. Wie ich Amy kenne, ist die Suppe in fünf Minuten da.« Er lächelte sie aufmunternd an und wandte sich um. Leah wollte etwas sagen, doch da hatte er schon die Tür hinter sich zugezogen. Unschlüssig stand sie einen Moment auf dem Flur. Sie konnte doch nicht einfach im Nachthemd zu einem wildfremden jungen Mann aufs Zimmer gehen. Das gehörte sich nicht. Andererseits würde sie eine Diskussion über dieses Thema im Augenblick völlig überfordern.

Leise seufzend setzte Leah sich in Bewegung, um sich umzuziehen. Sie würde rasch essen und sich dann aufgrund ihrer Müdigkeit entschuldigen.

Als sie kurz darauf sachte an Stuarts Tür klopfte, öffnete er gleich und bat sie mit einladender Geste herein. Im Kamin brannte ein Feuer, und auf dem runden Holztisch, der seitlich vor dem Kamin stand, dampften zwei Teller mit Kürbissuppe; daneben standen Becher mit Horlicks, einem Malzgetränk mit heißer Milch. Stuart wies ihr einen der Sessel an. Sie trugen beide karierte Pyjamas, seiner war allerdings aus gebürsteter Seide, ihrer aus Flanell. Seine Füße steckten in schmalen Hausschuhen, Leah war auf ihren dicken Haussocken über den Flur gelaufen. Vielleicht sah Stuart seiner Besucherin an, dass sie zu müde war zum Reden, vielleicht war er auch selbst vom Tag im Freien erschöpft, oder die Lust auf ein eher einseitiges Gespräch war ihm inzwischen vergangen. Schweigend löffelten sie ihre Suppe und starrten in die Flammen, deren Schein sich in ihren Augen spiegelte. Leah wollte sich gerade verabschieden, als sich nach einem kurzen Klopfen die Tür öffnete und Eliza hereinkam; ohne zu zögern, setzte sie sich auf Leahs Armlehne. Ihr kratziges Kostüm aus schottischem Harris-Tweed hatte sie inzwischen gegen einen flauschigen Bademantel vertauscht.

»Hab mir schon gedacht, dass ich euch hier finde«, sagte Eliza auf Englisch. »Hoffentlich ist mein Bruder dir nicht zu sehr auf die Nerven gefallen.« Stuart streckte ihr die Zunge raus. Eliza lachte. »Komm, Leah, du musst schrecklich müde sein. Ich bring dich auf dein Zimmer.« Sie zog Leah zu sich hoch und hakte die Jüngere schwesterlich unter. »Gute Nacht, kleiner Bruder.«

»Gute Nacht, ihr zwei«, erwiderte Stuart. Leah bedankte sich fürs Abendessen und verabschiedete sich.

»Ich schlaf heute Nacht bei dir, ja?«, flüsterte ihr Eliza ins Ohr, als sie den Flur hinuntergingen.

»Ja, gerne«, antwortete Leah erleichtert. Es war ihr mehr als recht, die erste Nacht in diesem riesigen Gebäude nicht allein verbringen zu müssen. Die Engländerin war zwar noch eine Fremde für sie, doch Leah hatte das Gefühl, dass sie mit der Zeit, wenn sie erst einmal die englische Sprache besser beherrschte, durchaus Freundinnen werden könnten.

Als die Mädchen endlich im Bett lagen, drehte Eliza sich zu ihr. »Stuart hat dich doch nicht belästigt, oder?«

»Nein, ganz und gar nicht«, antwortete Leah etwas verwundert. Hatte sie auf Eliza etwa diesen Eindruck gemacht? Eliza atmete hörbar erleichtert aus und rollte sich wieder auf den Rücken.

»Dann ist’s ja gut. Soll ich die Nachttischlampe brennen lassen?«

»Ja, bitte.«

»Gute Nacht«, flüsterte Eliza.

»Gute Nacht.«

Leah zog die Wolldecke bis unters Kinn und starrte an die Decke. Mit einem Mal war ihre Müdigkeit verschwunden. Das halb heruntergebrannte Feuer im Kamin malte flackernde Schatten an die Wand, doch im Schein der Lampe sahen sie wenigstens nicht ganz so gespenstisch aus. Sie dachte an ihre Eltern und die Schwester. In diesem Moment sehnte sie sich so sehr nach ihnen, dass es körperlich schmerzte. Bestimmt dachten sie jetzt auch an sie. Wenn sie nur nicht ihren Teddy hergegeben hätte! Mit ihren vierzehn Jahren war sie eigentlich schon zu alt, um sich an einem Stofftier festzuhalten, und daher hatte Bärchen die vergangenen zwei Jahre einsam am Fußende ihres Bettes verbringen müssen. Jetzt tat es ihr leid, und sie vermisste ihn schrecklich. Leah wartete, bis Elizas Atem regelmäßige Züge annahm, dann stand sie auf und ging auf Zehenspitzen zu ihrem Koffer, um das Familienfoto herauszunehmen. Ihr Vater hatte es für sie aus dem schweren Silberrahmen genommen, denn der war auf dem Kindertransport nicht erlaubt. Leah strich mit dem Daumen zärtlich über das Bild, aufgenommen im letzten Sommer, ein Ausflug zum Badesee. Nur wenn sie ganz genau hinsah, erkannte sie die Anspannung in den lächelnden Gesichtern; sie verriet, wie viel Anstrengung die gespielte Gelassenheit ihnen allen abverlangte. Dabei gingen sie und ihre Schwester damals schon seit einem halben Jahr nicht mehr zur Schule, weil die Schulleitung sie »als Jüdinnen ausweisen musste«, wie es in gestochen scharfer Handschrift auf ihrem letzten Zeugnis des Sankt-Anna-Lyzeums stand. Schon vorher hatten sich die nichtjüdischen Freunde der Familie einer nach dem anderen zurückgezogen; die Nachbarn wechselten die Straßenseite, wenn sie ihnen in der Stadt begegneten. Keine zwei Monate nach dieser Aufnahme verlor ihr Vater seine Arbeit. Das Berufsverbot hätte es dabei schon fast nicht mehr gebraucht. Seine Klienten hatten sich mit fadenscheinigen Begründungen ohnehin vom Vater abgewandt.

Eliza musste schlucken. Manchmal dachte sie, es war ein großer Fehler ihrer Eltern gewesen, ihren Glauben nicht zu leben. Dann wären sie und Sissi zumindest auf die jüdische Schule gegangen, wo noch unterrichtet wurde, und bestimmt hätte sie dann auch ein paar Freunde gehabt, die bereit gewesen wären, sich mit ihr abzugeben. Aber so?

Sie saßen den ganzen Tag über daheim und langweilten sich fürchterlich.