Das Geheimnis des Augenblicks - Maud Ankaoua - E-Book

Das Geheimnis des Augenblicks E-Book

Maud Ankaoua

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine magische Reise zu sich selbst Maëlle, die Finanzchefin eines Start-ups, hat keine Zeit für Träume. Doch ihr durchgetaktetes Leben wird jäh unterbrochen, als ihre beste Freundin sie um einen riesigen Gefallen bittet, eine Angelegenheit von Leben und Tod. Widerwillig nimmt Maëlle den Auftrag an. Die Reise führt sie nach Nepal, wo die Besteigung der Annapurna zu einer wahren Initiation wird. Angeleitet durch einen spirituellen Mentor, gelingt es Maëlle, sich auf die Situation einzulassen und ihre Perspektive zu verändern. Sie findet einen neuen Zugang zu ihren eigenen Bedürfnissen und lernt, eine tiefe Verbindung zu der Welt herzustellen, in der sie sich wieder geerdet und mit sich selbst im Einklang fühlt. Und sie erkennt, worum ihre Freundin sie wirklich bat.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 412

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Maëlle, die Finanzchefin eines schnell wachsenden Start-ups, lebt für die Arbeit. Doch als ihre beste Freundin schwer erkrankt und sie um einen großen Dienst bittet, fühlt sie sich verpflichtet. Skeptisch nimmt sie den Auftrag an und reist in den Himalaja. Mühsam lernt Maëlle hier, die Kontrolle abzugeben. Angeleitet durch den weisen Sherpa Shanti, der ein spiritueller Mentor für sie wird, gelingt es ihr, eine neue Perspektive auf das Leben zu gewinnen. Während sie körperlich und mental an ihre Grenzen geht, besteht ihr größter Kampf darin, ihre Ängste sowie Gefühle der Wut und Leere zu überwinden und ihre vorgefassten Meinungen zu hinterfragen. Mehr und mehr interessiert sie sich für die Lehren der östlichen Weisheit, für Meditation und Achtsamkeit und lernt so, sich mit dem Augenblick zu verbinden. Innerlich gestärkt, erkennt Maëlle, worauf es wirklich ankommt und ist offen für den Weg zum Glück.

Maud Ankaoua

Das Geheimnis des Augenblicks

Aus dem Französischen von Brigitte Große

Euch, die ihr mich jeden Tag Neues lehrt,

euch, die ihr dieses Buch in Händen haltet,

schenke ich das bisschen,

das ich nach fünfundvierzig Jahren verstanden habe,

in der Hoffnung, dass ein Wort, ein Satz daraus

aus eurem Leben ein besseres Jetzt machen möge.

Gute Reise

Reue oder Gewissensbisse?

Den Gegner zu verstehen erfordert mehr Charakterstärke, als ihn abzulehnen.

Sébastien Provost

 

Ich rief mir ein Taxi und fuhr quer durch Paris zum Panthéon. Seit meiner letzten Präsentation an der Hochschule École normale supérieure (ENS) vor fünf Jahren war ich nicht mehr in diesem Viertel gewesen. Aus finanziellen Gründen hatten wir nämlich unser Direktmarketing seither auf die Top-Ingenieursschulen beschränkt, um Überflieger für unser Technologie-Start-up zu gewinnen. Seit acht Jahren verbrachte ich jede wache Minute in dieser Firma und hoffte auf ein Wunder. Neben meiner Rolle als Finanzchefin war ich im Lauf der Zeit auch noch Personalchefin, Verantwortliche für die Rechtsabteilung und Filialleiterin geworden, ständig lernte ich etwas Neues und ackerte wie verrückt.

Mir blieb kaum Zeit, all meine Aufgaben zu erfüllen, geschweige denn, mir einmal ein paar Tage freizunehmen. Wie jeden Mittwoch war ich gestern etwas früher gegangen, weil ich ins Fitnessstudio wollte. Neunzig Minuten Laufband standen auf dem Programm … Dabei träumte ich die halbe Zeit vor mich hin oder sah anderen gleichgültig bei ihrem Geräteparcours zu. Und dann, fiel mir ein, musste ich noch meine letzten Einkäufe im Internet bestätigen.

Was war denn so wichtig, dass Romane mich unbedingt sprechen wollte, nachdem wir uns seit einem Jahr nicht mehr gesehen hatten?

»Ich muss mit dir reden, Maëlle, morgen um zehn in der Rue d’Ulm 26!«

»Was gibt’s? Kann das nicht bis zum Wochenende warten?«

»Nein, es ist wirklich dringend. Komm bitte!«, wiederholte sie, mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Zum Schluss verabschiedete sie sich leise, wie es ihre Art war, und legte auf.

Eine Weile lang war ich wie vor den Kopf geschlagen. Dann versuchte ich sie zurückzurufen, erreichte aber nur ihren Anrufbeantworter. Schließlich schickte ich ihr eine SMS: Morgen ist schwierig. Sonntag Brunch bei Angélina? In diesem legendären Teesalon unter den Arkaden der Tuilerien erzählten wir uns bei einem späten Frühstück immer gern die neuesten Ereignisse in unserem Leben: Notfälle, Enttäuschungen, Liebeskummer, ja, vor allem Liebeskummer! Die Antwort kam prompt: Ich muss unbedingt mir dir reden, ich brauche dich!

Romane war Libanesin, 34 Jahre alt und von beeindruckender Größe und Statur. Es war untypisch für sie, um Hilfe zu bitten. Ihr war nie etwas geschenkt worden, und jedes Problem hatte sie stärker gemacht, so wie sich ein Knochen an der Bruchstelle verdickt.

Kennengelernt hatten wir uns an der Uni, wo wir beide Politikwissenschaft studierten. Irgendwann beschloss sie, Ärztin zu werden. Sie wusste alles von mir und hatte mir viel über sich erzählt. Wir waren unzertrennlich. Zwischen uns gab es kein Tabu – außer ihrer Kindheit in Beirut, von der sie nur ein einziges Mal sprach, als wir wieder einmal nachts um die Häuser zogen. Dabei hörte ich von Dingen, die mir wie aus einem früheren Jahrhundert erschienen: Krieg, Bomben, Terror … Danach kam sie nie wieder auf ihre Vergangenheit zurück. Mich faszinierte ihre Ausstrahlung von Kraft und Mut. Sie hatte jung geheiratet, wohl aus Respekt vor der Tradition. Dann bekam sie kurz hintereinander drei Kinder und stürzte sich in die Arbeit, als wollte sie die verlorene Zeit nachholen, die sie den Ansprüchen ihrer Kultur geopfert hatte. Und das in einem atemberaubenden Tempo! Nach fünf Jahren hatte sie eine verantwortungsvolle Position in einem weltbekannten Pharmaunternehmen. Ich sah sie nur noch selten und erfuhr das Wichtigste über sie aus der Zeitung. In den letzten Monaten hatte sie immer wieder vorgeschlagen, mittags gemeinsam essen zu gehen, und ich hatte jedes Mal abgelehnt, da ich ziemlich viel um die Ohren hatte. Inzwischen waren mir aber die Argumente ausgegangen, also schrieb ich zurück: Ok, Romane, bis morgen!

Es war nicht allzu viel Verkehr, nach kaum zwanzig Minuten fuhr das Taxi am Konservatorium für Kunst und Gewerbe vorbei und setzte mich eine Viertelstunde zu früh an der Ecke Rue Claude Bernard/Rue d’Ulm ab. Die Zeit nutzte ich für einen schnellen Kaffee. Hinter mir lag eine unruhige Nacht, in der ich wenig geschlafen und viel herumgerätselt hatte über das bevorstehende Treffen.

Außer mir war in der Brasserie nur noch ein weiterer Gast. Er lehnte mit einem Glas Weißwein in der Hand am Tresen und schwadronierte über die Unfähigkeit unseres Präsidenten, eine Lösung für die Krise zu finden. Der große, dürre Kellner, ein junger Mann in klassischer Dienstkleidung, lauschte mit bestürzendem Interesse. Der Kaffeeduft aus der Maschine und die Küchendünste, durchsetzt mit dem Chlorgeruch des frisch gewischten Fußbodens, konkurrierten mit dem Tagesgericht – an der Schiefertafel stand für Donnerstag Frikassee. Der Kellner brachte mir unverzüglich meinen Kaffee, legte den Kassenbon auf den Tisch und kehrte zu dem Gast an der Bar zurück.

Ich versank wieder in Grübeleien. Romane hatte so seltsam geklungen. Und dass sie ein Vormittagstreffen unter der Woche vorschlug, war sehr ungewöhnlich. Was hatte sie mir so Wichtiges zu sagen? Und warum unbedingt heute?

Um 9.55 Uhr verließ ich die Brasserie, überquerte die Straße und stapfte durch das herbstliche Laub. Die Platanenblätter forderten mich zum Walzer auf: Im Dreivierteltakt ließen sie sich von meinem rechten Fuß aufscheuchen, vom linken herumwirbeln und dann vom Wind forttragen, um gleich darauf wieder bei mir einzutrudeln. Trotz blauem Himmel ließ die morgendliche Kühle keinen Zweifel an der Jahreszeit zu.

Ich ging die Rue d’Ulm entlang bis zur École normale supérieure und blieb vor dem Eingang stehen. Als wir noch Studentinnen waren, hatte ich uns dank einer Eroberung eine Zutrittsberechtigung besorgt, die uns beiden ein Jahr lang die Nutzung aller Archive und unveröffentlichten Manuskripte erlaubte und daneben allerlei interessante Begegnungen bereithielt. Trotzdem erstaunlich, dass Romane mich ausgerechnet hier treffen wollte, wo wir danach nie mehr gemeinsam waren.

Vor dem schmiedeeisernen Gitter kamen zahllose Erinnerungen hoch. Plötzlich fiel mein Blick auf die Hausnummer: 45. Hatte Romane nicht 26 gesagt? Ich wartete noch fünf Minuten, und da ich sie nirgends sah, ging ich ein Stück weiter. Romane kam nie zu spät und konnte das auch bei anderen nicht ausstehen. Als ich sie in der Ferne winken sah, beschleunigte ich meinen Schritt. Aber was hatte sie denn an? Mit dem schimmernden schwarzen Parka, engen Jeans und hohen Sneakers war sie eher für eine Wanderung durch den Wald gerüstet. So einen sportlichen Look hatte ich noch nie an ihr gesehen. Die graue, halb über die Augen gezogene Wollmütze machte meine Verwunderung komplett. Ich fiel ihr um den Hals, sie drückte mich fest, wie jedes Mal. »Na gut, also, was soll die Geheimniskrämerei? Was gibt’s denn so Wichtiges zu erzählen? Ich bin da, habe heute aber wenig Zeit, du weißt ja, wie das ist … die Arbeit ruft!«

Romane hörte mir zu, ohne mich zu unterbrechen. Ihr fein geschnittenes Gesicht mit der glatten olivfarbenen Haut und die sanften Augen mit dem entschlossenen Blick berührten mich mehr als sonst. Trotz der Kraft, die sie ausstrahlte, wirkte sie an diesem Morgen zerbrechlich. Außerdem hatte sie ihre Augenbrauen durch einen Strich ersetzt. Das fand ich schade, sagte es ihr aber lieber nicht. Statt einer Antwort hob sie den Kopf Richtung Hausnummer. Ich folgte ihrem Blick. Über dem Eingang war zwischen der 26 und dem erhabenen dreieckigen Logo des »Institut Curie« ein großes graues Schild angebracht, auf dem in weißen Lettern das Wort »Krankenhaus« stand. Ich hatte dieses riesige Gebäude, das ein Drittel der Straße einnahm, nie zuvor wahrgenommen.

»Was machen wir … hier …?« Wie ein Stromschlag durchzuckte mich die Erkenntnis, das Blut gefror mir in den Adern, ich war sprachlos und starr. Um mich zu beruhigen, versuchte ich, durch die groben Maschen der Mütze ihre wunderbaren schwarzen Locken zu erspähen, aber da war nichts. Ich schlug die Hände vor den Mund, um mein Erschrecken zu verbergen. Tränen rannen mir über die Wangen, und die Worte blieben mir im Hals stecken. Ich konnte meinen Blick nicht von ihrem Gesicht lösen. »Immer noch so schnell von Begriff!«, murmelte sie und nahm mich in die Arme.

Das Institut Curie kämpfte seit Jahrzehnten gegen Krebs, da war es nicht schwer, die Verbindung herzustellen. Um nicht von meinen Gefühlen überwältigt zu werden, schöpfte ich Kraft aus meinem tiefsten Inneren. Meine Beine gaben nach, aber ich riss mich zusammen. »Scheiße, Romane … du doch nicht!« Resigniert sah sie mich an. »Doch, Maëlle, ich genauso wie alle anderen.«

Dann fuhr sie mit fester Stimme fort:

»Aber ich habe dich nicht herbestellt, um mein Schicksal zu beklagen. Ich weiß, dass du es eilig hast, und ich muss gleich zur Chemo. Wenn du mich begleitest, erkläre ich dir, worum es geht.«

»Zur Chemo?«

»Ja, aber keine Angst, das ist nicht ansteckend! Los, komm, sonst verspäte ich mich noch!«

Niedergeschlagen folgte ich ihr. Ohne anzuhalten, ging sie am Empfangstresen vorbei. Der Krankenhausgeruch setzte mir zu. Diese Mischung aus Leid und Desinfektionsmitteln ließ mich meinen Ausflug ins Café bedauern. Ich wusste nicht mehr, wer von uns die Kranke war, in diesem Moment jedenfalls ich!

Nach einem endlosen dunklen Flur erreichten wir eine Art Schleuse, eine etwa zwanzig Meter lange Verbindung zwischen zwei Gebäuden. Romane machte kurz halt. Obwohl der Gang mit Plexiglas verkleidet war und das Tageslicht hereinließ, kam er mir vor wie ein Korridor des Todes. Meine ohnehin schwachen Beine begannen zu zittern, mein Herz klopfte immer stärker, und mein Magen fühlte sich an wie ein Stein. Wir trafen eine erste Kranke mit kahlem Schädel, ohne Wimpern und Augenbrauen. Dann eine zweite, schwer atmend, den Tropf in der Hand. Romane erwiderte ihr schwaches Lächeln. Ich dagegen wagte kaum, den Kopf zu heben, und versuchte ein kieksendes »Bonjour«, das mir im Hals stecken blieb.

Am Ende des Korridors kehrten zwei Reihen von je vier freien Sitzen einander den Rücken zu. Ich ließ mich auf den erstbesten fallen, um mich wieder zu fangen, während meine Freundin sich bei einer Sekretärin namens Carole anmeldete. »Guten Tag, ich drucke Ihnen gleich die Aufkleber aus«, sagte Carole freundlich. Wie offen und voller Vertrauen Romane war! Sie wirkte vollkommen furchtlos und sprach mit der Mitarbeiterin wie mit einer Verkäuferin, die ihr gerade den Weg zur Umkleidekabine gezeigt hatte. »Alles Gute, Madame.«

Romane verabschiedete sich und wandte sich mir zu: »Kommst du? Es geht noch ein bisschen weiter.« Sie eilte zum Flur gegenüber. Wie sollte ich nur aufstehen? Wie die Kraft finden, mich diesem Leid auszusetzen? Auf so etwas war ich nicht vorbereitet, meine Muskeln versagten mir den Dienst. Wie gelähmt, fast ohnmächtig saß ich in der Plastikschale. Romane drehte sich nach mir um und machte erschrocken kehrt.

»Geht’s dir nicht gut? Du bist ja ganz blass! Willst du ein Glas Wasser?«

»Nein … äh … ja … das ist ein bisschen viel, ich habe mir das nicht so vorgestellt …«

Ich konnte nicht mehr klar denken. Und jetzt verschlimmerten auch noch Kopfschmerzen meinen kläglichen Zustand. »Wenn du lieber draußen warten willst, können wir uns auch nachher treffen. Oder hast du dann keine Zeit mehr?« Ohne eine Antwort abzuwarten, sprang sie auf. »Ich hol dir ein Glas Wasser, bin gleich wieder da!«

Carole kam hinter ihrem Tresen hervor und setzte sich zu mir.

»Keine Sorge, das ist beim ersten Mal immer so, später gewöhnt man sich dran.«

»Woran?«

»An die Gerüche, den körperlichen Zustand der Patienten … und dass man ihnen das Leiden nicht abnehmen kann. Von Äußerlichkeiten abgesehen, bleibt nur eine Wahrheit: der Kampf gegen die Krankheit. Sie helfen Ihrer Freundin am meisten, indem Sie an sie glauben und ihr die Kraft geben, die sie braucht.«

»Das würde ich gern, bin mir aber nicht sicher, ob meine Energie ausreicht.«

»Bestimmt, sonst hätte sie sich nicht für Sie entschieden. Seit sechs Monaten kommt sie jede Woche mit demselben unerschütterlichen Kampfgeist und einem Lächeln auf den Lippen hierher. Aus Erfahrung kann ich Ihnen sagen, dass solche wie sie es am besten überstehen. Wir heilen mehr als achtzig Prozent der Brustkrebsfälle. Und Ihre Freundin ist auf dem besten Weg dahin.«

»Das glaube ich gern, aber …«

»Ihre Freundin ist krank, nicht Sie! Es ist das erste Mal, dass sie in Begleitung kommt, also müssen Sie auf der Höhe sein und ihr ein positives Bild spiegeln.«

Sie tätschelte mein Bein. »Los, reißen Sie sich zusammen, sie wird gleich wiederkommen, seien Sie stark, sie braucht Sie!« Damit kehrte Carole in ihr Büro zurück. Ihre Worte hatten mich zur Vernunft gebracht. Ich richtete mich in meinem Sitz auf. Romane musste sich auf mich verlassen können, schließlich war sie die Kranke. Nur, warum wollte sie mich heute dabeihaben, wo sie doch sonst immer allein hier war?

Mit einem Glas Wasser in der Hand kam sie zurück.

»Ich hätte dich warnen sollen.«

»Nein, nein, mir war nur ein bisschen zu warm. Du weißt doch, Krankenhäuser sind nichts für mich!«

Ich stürzte das Glas hinunter und stand auf. Romane ging es offenbar nicht gut. Schweiß rann ihr übers Gesicht. Sie zog den Mantel aus und legte ihn sich über den Arm.

»Was ist mit dir? Du bist ja ganz verschwitzt!«

»Ich ersticke gerade! Weiß aber nicht, ob du mich so sehen willst, wie ich bin.«

»Soll das ein Scherz sein? Ich sehe dich genau so, wie du bist: eine Kämpferin auf dem Weg zum Sieg. Nimm deine Mütze ab und dann los. Zu zweit sind wir noch stärker.«

Ich wappnete mich innerlich vor dem Anblick ihres kahlen Schädels. Sie entfernte die Mütze und senkte die Augen, um meinen Blick nicht ertragen zu müssen. Ich berührte ihr Kinn und hob ihr Gesicht an. »Was für ein Glück, dass du so einen wohlgeformten Hinterkopf hast. Du siehst aus wie Natalie Portman in ›V wie Vendetta‹. Genauso sinnlich, genauso strahlend, genauso sexy!« Dann legte ich ihr den Arm um die Schultern und flüsterte ihr ins Ohr: »Von so einem blöden Krebs lassen wir uns doch nicht das Leben vermiesen!« Carole zwinkerte mir diskret zu, und ich zwinkerte zurück. »Komm, Romane, auf in den Kampf. Und dann erklärst du mir alles!« Lächelnd nahm Romane mich am Arm. Nachdem sie einer Krankenschwester Bescheid gesagt hatte, setzte sie sich neben mich, um zu warten.

»Erzähl … Wann hast du es bemerkt? Und wie lange geht das schon?« Romane schilderte ausführlich den Verlauf, vom ersten Verdacht über die Untersuchungen, die Angst vor den Ergebnissen, dann das Urteil, den Kampf, den Schmerz, die Folgen, die Furcht … Ich hörte ihr zu und versuchte mir vorzustellen, was sie durchgemacht hatte. Dann kam eine junge Frau im weißen Kittel, Pascale, und verkündete, dass es nun losgehe mit der Chemo.

»Heute in Begleitung?«

»Ja, wir wollten endlich mal wieder zusammen ausgehen …«, sagte Romane und zwinkerte ihr zu.

Wir betraten einen großen Saal, in dem Stellwände kleine separate Räume abtrennten. In einem davon nahmen wir unsere Plätze ein: Romane legte sich hin und entblößte Schultern und Brustansatz, um den Port freizulegen, Pascale bereitete die Infusion vor, und ich saß in meinem Sessel, kurz davor, ohnmächtig zu werden …

»Letzte Woche hatten Sie Taxol, heute gibt es nur Avastin, das wird nicht so schlimm.« Mit einer großen Nadel in der Hand kam Pascale auf meine Freundin zu.

»Bereit?«

»Ja«, sagte Romane, biss die Zähne zusammen und holte tief Luft.

Ich tat es ihr nach, pumpte meine Lunge voll, bis sie fast platzte. Pascale stach die Nadel beherzt in den Port, hängte den Infusionsbeutel an den Tropf, stellte den Tropfenzähler ein und verband ihn mit dem Monitor. »Jetzt geht’s los, Mädels, ihr könnt eine halbe Stunde lang quatschen! Wenn ihr mich braucht, sagt Bescheid!«

Romane schien keine Schmerzen zu haben. Mit der elektrischen Fernbedienung richtete sie das Oberteil der Liege auf und lächelte mitfühlend.

»Ich weiß, was du auf dich nimmst. Was ich dir zumute, ist schwer auszuhalten, aber ich möchte dich um einen großen Gefallen bitten.«

»Ja, natürlich, alles, was du willst!«

Ich zog meinen Sessel zur Liege hin und setzte mich ganz vorn auf die Kante, um meiner Freundin näher zu sein. Sie senkte den Kopf. »Wen sollte ich sonst danach fragen?« Ich hing an ihren Lippen, um nur ja nichts von dem zu verpassen, was sie mir sagen wollte.

»Erinnerst du dich an unser Treffen letztes Jahr? Danach bin ich mit einer Forschungsgruppe nach Kathmandu aufgebrochen. Ich sollte zwei Monate dort bleiben, aber nach drei Wochen meldete sich mein Gynäkologe. Ich hatte vor meiner Abreise ein paar Untersuchungen machen lassen, und die Ergebnisse ließen keinen Zweifel zu.«

»Krebs?«

»Ja. In meiner Verzweiflung habe ich mich an einen amerikanischen Professor gewandt, Jason, der seit fünf Jahren in Kathmandu lebt. Er berichtete von einer traditionellen nepalesischen Methode, bei der es um Bewusstmachung geht und darum, die eigene innere Haltung zu verändern, um gesund zu werden.«

Ich runzelte die Stirn, aber Romane fuhr fort: »Dieser Ansatz wird in mehreren Büchern erwähnt, aber nirgends genauer beschrieben. Die Spuren sind dürftig, wie Jason zugeben musste, aber er ist davon überzeugt, dass diese Methode die Welt verändern kann. Deshalb ist er übrigens selbst nach Nepal gekommen.« Romane holte tief Luft und zog ihre Bluse hoch. »Beim Abendessen hat er mir die paar verwirrenden Beweise vorgelegt, die er bis dahin zusammengetragen hatte. Offenbar haben sich Menschen in sehr weit auseinanderliegenden Ländern und zu ganz unterschiedlichen Zeiten immer wieder mit dieser Frage beschäftigt.«

Voller Skepsis rutschte ich in meinem Sessel zurück und schlug die Beine übereinander.

»Und in all den Jahren hat keiner etwas Konkretes gefunden?«

»Nein, ein paar Wissenschaftler waren schon nahe dran, aber niemand hat die Schriften entdeckt. Die wahrscheinlichste Hypothese ist, dass die Regierung sie wegen der Konflikte mit China irgendwo versteckt hat.«

Ich hörte zu, ohne zu begreifen, worauf sie hinauswollte und was sie von mir erwartete.

»Ich habe in unserer Botschaft und in ein paar Ministerien in Kathmandu nachgefragt, aber niemand will davon gehört haben. Manche wurden allerdings nervös, sobald ich das Thema ansprach. Und dann hat mein Arzt mich nach Frankreich zurückbeordert, um mit der Behandlung zu beginnen.«

»Du hast getan, was du konntest!«

»Warte, das ist noch nicht alles! Am Tag vor meiner Abreise hat ein Mann im Hotel einen Brief für mich hinterlegt und ist danach verschwunden.«

»Allmählich klingt es ein bisschen nach Schnitzeljagd …«

»Es ist mir ernst, Maëlle!«

»Sorry, ich hör dir ja zu. Aber du musst schon zugeben …«

Ihr Blick wurde hart, und ich verkniff mir von da an jede spöttische Bemerkung. Romane nahm einen Umschlag aus ihrer Tasche, zog ein zerknittertes Blatt heraus und reichte es mir. Darauf stand in perfektem Englisch: Vergessen Sie Ihre Nachforschungen, sie werden Ihnen nichts als Ärger einbringen.

Die Sache lag ihr anscheinend sehr am Herzen, aber ich fragte mich, ob die starken Medikamente, die sie bekam, sich nicht auf ihren Geisteszustand ausgewirkt hatten. Offenbar konnte sie Gedanken lesen.

»Ich weiß, das klingt total verrückt. Ich hatte auch ein paar Wochen lang meine Zweifel.«

»Das kann ich, ehrlich gesagt, verstehen.«

»Ich bin mit Jason in Verbindung geblieben, und er hat weitergemacht, obwohl er immer wieder gewarnt wurde. Aber jeder dieser anonymen Briefe hat doch im Grunde genommen bestätigt, dass an der Geschichte was dran ist. Und die Ereignisse gaben ihm recht. Vorgestern hat er mich angerufen, um mir zu sagen, dass er eine Kopie des Manuskripts in Händen hält, die er mir zukommen lassen will. Wie wir schon vermuteten, hat er herausgefunden, dass die Regierung die Schriften versteckt hält. Da stand finanziell einfach zu viel auf dem Spiel. Womöglich würden weniger Medikamente verkauft, wenn diese traditionellen Techniken der Vorsorge und Heilung bekannt geworden wären. Und das hätte das profitable Gleichgewicht in diesem Sektor empfindlich gestört.«

»Warte mal! Bevor sich das auf die Konjunktur auswirkt, würden ja noch ein paar Jahre vergehen. Vor Kurzem habe ich gelesen, dass der globale Pharmamarkt über 850 Milliarden Dollar Umsatz macht, viermal mehr als noch vor zwanzig Jahren. Und er wächst weiter, wie du wahrscheinlich besser weißt als ich …«

»Ja, aber stell dir mal vor, es gibt einen Ansatz, der dieser Tendenz entgegenwirkt! Davon wäre die gesamte Weltwirtschaft betroffen.«

»Komm schon, Romane, mach mal langsam. Mentale Techniken, Visualisierung und Schulung des eigenen Bewusstseins sind ja keine neuen Ideen, darüber wurden schon zahlreiche Bücher geschrieben. Glaubst du wirklich, dass ein einziges Manuskript alles verändern könnte?«

»Ja, wenn es zu einer globalen Einsicht führt, natürlich! Es fehlt eben nur die richtige Methode.«

»Gut, nehmen wir mal an, es wäre so«, seufzte ich. »Und was erwartest du von mir?«

»Dass du mir dieses Werk bringst, Maëlle. Es ist vielleicht meine Rettung, verstehst du?«

»Du kannst doch nicht solche Märchen glauben, Romane! Vertrau auf die Medizin und kämpfe! Heutzutage ist Brustkrebs in den meisten Fällen heilbar, und du bist auf dem besten Weg dazu. Außerdem bin ich jetzt da. Und wir beide schaffen das doch mit links!«

»Ich möchte alle Chancen haben, die es gibt. Wenn es mir nicht so wichtig wäre, hätte ich dich gar nicht gefragt.«

»Ich weiß. Aber meinst du nicht, du hast dir da eine unsinnige Geschichte aufschwatzen lassen, weil es dir guttut, daran zu glauben? Das kann ich verstehen. Aber sei realistisch! Du musst jetzt all deine Kräfte auf das Wesentliche konzentrieren, das heißt Chemo und schlafen und die Ärzte ihre Arbeit machen lassen.«

»Du fährst doch für mich dorthin?«, bettelte sie nun in kindlichem Ton.

»Natürlich nicht!«

»Wann habe ich dich das letzte Mal um einen Gefallen gebeten?«

Ihr Tonfall war schärfer geworden. Und sie hatte ja recht, ich konnte mich nicht erinnern, dass sie mich jemals um etwas gebeten hätte. Ich senkte den Blick, sie antwortete an meiner Stelle. So kannte ich sie, eine Löwin, die ihre Beute in die Enge trieb und sie mit einem gezielten Schlag erledigte.

»Noch nie, Maëlle, in den sechzehn Jahren unserer Freundschaft habe ich dich noch nie um das Geringste gebeten.«

»Stimmt, du hast recht. Aber um mitzumachen, müsste ich auch an diese Geschichte glauben, und ich habe keine Lust, dich anzulügen, das verstehst du doch, Romane, oder?«

Sie wandte den Blick ab. Ich nahm ihre Hand.

»Ich überlege es mir, und wir sprechen nach meinem Urlaub darüber.«

»Wenn du nicht bald losfährst, ist es zu spät. Es geht um Leben und Tod.«

»Ich kann das nicht!«

»Das Leben ist kein Wunschkonzert.«

»Hör auf, Romane, ich erkenne dich nicht wieder, du machst mir Angst. Du kennst den Kerl doch kaum.«

»Die Entscheidung liegt bei dir!«

In dem Moment begann der Tropfenzähler zu piepsen. Und Pascale war im Handumdrehen da. Sie stoppte den Alarm, notierte die Informationen auf dem Monitor und befreite Romane vom Tropf. »Tut mir leid, meine Damen, Sie müssen Ihren Platz jetzt anderen überlassen.« Zu Romane: »Wir sehen uns nächste Woche.« Zu mir: »Auf bald?« Bis zum Ausgang fiel zwischen uns kein Wort.

Romane bestand darauf, mich mitzunehmen. Auch in ihrem Wagen schwiegen wir lange. »Ich würde lieber selbst hinfliegen«, sagte sie schließlich, »aber das lässt meine Behandlung nicht zu.« Sie verstummte eine Weile, anscheinend wartete sie auf meine Antwort. Da ich nichts sagte, fuhr sie fort: »Ich versuche mich darauf einzustellen, dass die Methode bei mir nicht funktionieren könnte, aber wenigstens will ich alles versucht haben.« Sie hielt an, um mich abzusetzen, und gab mir einen Umschlag, den sie aus ihrer Tasche gezogen hatte.

»Öffne ihn, wenn du dich entschieden hast. Aber bitte nicht vorher, das musst du mir versprechen.«

»Für heute hab ich genug von Rätseln, glaub ich! Sag mir einfach, was drin ist.«

»Versprich es!«

»Na gut, einverstanden.«

Ich umarmte Romane, die mich lange drückte und mir ein leises Danke ins Ohr hauchte. »Ich hab dich lieb!« Dieser Gefühlsausbruch meiner sonst so beherrschten Freundin verblüffte mich dermaßen, dass ich nicht wusste, wie ich darauf antworten sollte. Dann ging ich Richtung Louvre, den Brief in der Hand, und winkte ihr mit der anderen. Eine Zeit lang spürte ich ihren Blick in meinem Rücken.

Das alles hatte mich ziemlich mitgenommen. Es war kurz nach Mittag, aber ich hatte keinen Hunger. Also folgte ich einem Sonnenstrahl bis zum Alten Louvre, ging durch die Einkaufspassage an der umgekehrten Pyramide vorbei und anschließend durch den Triumphbogen bis zum Großen Brunnen im Jardin des Tuileries. Wahrscheinlich war ich an diesem Tag die Einzige, die diesen wunderbaren Ort nicht genießen konnte. Ein niedriger Stuhl, der zur Sonne hin gedreht war, lud zum Verweilen ein. Ich kämpfte nicht dagegen an, sondern fiel erschöpft auf die Sitzfläche, schloss die Augen und überließ mein Gesicht den Sonnenstrahlen, die immer noch ein wenig wärmten. Der Wind hatte nachgelassen und streichelte sanft meine Wangen. Ich nickte kurz ein, bis mich das Lachen von vier jungen Touristen aus meiner Benommenheit riss. Ich richtete mich auf und suchte nach dem Handy, das ich stummgeschaltet in meiner Manteltasche fand. Fünfunddreißig Anrufe, achtundvierzig E-Mails, zwölf SMS und drei Termineinladungen waren in der Zwischenzeit eingegangen. Ich sprang auf und verließ den Park in Richtung Büro. Die Blätter der hundertjährigen Bäume forderten mich wieder zum Walzer auf, aber mir war nicht mehr nach Tanzen. Gereizt verjagte ich sie mit einem Fußtritt. Während ich die Rue Royale entlangging, hörte ich meine Nachrichten ab.

Als die Aufzugtür sich öffnete, stürzte die Empfangsdame auf mich zu.

»Der Präsident sucht Sie, Maëlle, und ich habe mehrfach versucht, Sie zu erreichen!«

»Hab ich gesehen. Sagen Sie ihm, dass ich jetzt da bin.«

Im ersten Open Space kam mir der kaufmännische Leiter entgegen. »Wie geht’s? Gibt’s ein Problem? Pierre sucht dich.«

Seit acht Jahren war ich nie länger als zwei Stunden außer Haus gewesen, ohne mich abzumelden. Und ich hatte mir angewöhnt, jede Nachricht binnen einer Viertelstunde zu beantworten, das Mobiltelefon war quasi an meiner Hand festgewachsen.

Nachdem mich noch drei weitere besorgte Mitarbeiter aufgehalten hatten, stieß ich endlich die Tür zu meinem Büro auf und schaltete meinen Computer ein, dessen leuchtender Bildschirm meine Kopfschmerzen noch verstärkte. Keine zwei Minuten danach stürmte Pierre herein. »Bist du von allen guten Geistern verlassen, Maëlle? Wir sollten heute Vormittag die Präsentation für die Investoren vorbereiten! Darf ich dich daran erinnern, dass am Montag das Meeting ist?«

Ich hatte mir gerade mal einen halben Tag freigenommen, und schon hing der Haussegen schief? War das sein Ernst? Ausgerechnet Pierre, mit dem ich während der letzten hundert Monate Tag für Tag an einer Strategie für unsere Firma getüftelt hatte, eine Tätigkeit, die mein ganzes Leben in Anspruch nahm, fragte mich, was ich machte? Er konnte natürlich nicht wissen, dass die letzten Stunden all meine Prioritäten über den Haufen geworfen hatten. Ich sah das Gewusel dieses Ameisenhaufens, in dem ich eine wichtige Rolle spielte, aber es fühlte sich anders an als vorher. Romane beherrschte meine Gedanken in einem Maße, dass ich kaum mehr wusste, welche von uns beiden eigentlich krank war.

Ich brach weinend zusammen. Verunsichert wechselte Pierre den Ton. »Ist ja gut, Maëlle, steigere dich da nicht so rein, du kennst mich doch, ich gehe schnell in die Luft, das solltest du inzwischen gewohnt sein.« Es gelang mir nicht, meine Tränen zu stoppen. Der Dreiundvierzigjährige wirkte peinlich berührt.

»Was ist denn?«

»Ich bin müde und muss nach Hause. Mach dir keine Sorgen, morgen bin ich wieder da, und alles wird fristgerecht fertig.«

»Um das Meeting mach ich mir keine Sorgen, sondern um dich. Was hat dich heute so umgehauen?«

»Ein Tsunami, aber darüber kann ich jetzt nicht reden.«

»Du weißt, dass ich für dich da bin. Ruf mich an, wann immer du willst, und nimm dir die Zeit, die du brauchst. Ich schaff das schon mit den Investoren.«

Ich beruhigte mich wieder und bedankte mich, packte meine Sachen und machte mich auf den Heimweg.

Der Himmel hatte sich drohend verdunkelt und kündigte ein Gewitter an, das nicht lange auf sich warten ließ. Ich stürzte ins Haus, rannte die Treppe in den ersten Stock hinauf und warf mich aufs Sofa.

Wie war das möglich? Diese zwei Stunden hatten meinen Alltag völlig durcheinandergebracht. Romanes Worte hallten in meinem Kopf wider. Was hatte sie gemeint, als sie sagte, es gehe um Leben und Tod? Tatsächlich hatte sie mich in all den Jahren nie um etwas gebeten. Und war in guten wie in schlechten Zeiten verlässlich für mich da gewesen. Trotzdem konnte ich doch nicht alles stehen und liegen lassen, um nach Nepal zu reisen. Lag das Land überhaupt im Himalaja? Außerdem konnte ich mir eine Abwesenheit von der Arbeit im Moment gar nicht leisten. Nur wie sollte ich meiner besten Freundin diesen Herzenswunsch abschlagen? Allerdings konnte ich dieser irrwitzigen Geschichte so gar nichts abgewinnen. Aber an Romanes Stelle hätte ich mich natürlich genauso an jeden Strohhalm geklammert.

In den nächsten drei Stunden überschlugen sich Fragen, auf die ich keine Antworten hatte, in meinem Kopf. Im Grunde meines Herzens wusste ich: Wenn meiner Freundin etwas zustoßen sollte, würde ich es mein Leben lang bereuen, diese Chance nicht ergriffen zu haben. Dem stellte ich die dringenden Angelegenheiten der nächsten Tage gegenüber. Aber wie Pierre sagte, ein paar Tage käme er schon ohne mich zurecht, und ich könnte ja auch meinen Urlaub canceln. Und sonst? Gab es nichts.

Einerseits war ich davon überzeugt, dass Romane die Zauberkraft dieser Methode überschätzte, andererseits konnte ich mir nicht vorstellen, ihr diese Bitte abzuschlagen. Eine Stunde lang grübelte ich, dann fiel meine Entscheidung: Ich konnte mich nicht drücken.

Mein Magen knurrte – ein Zeichen der Erleichterung! Ich toastete zwei Scheiben Brot, bestrich sie mit Tarama und beträufelte sie mit ein wenig Zitronensaft, dann schenkte ich mir ein Glas Weißwein ein und trank es in einem Zug aus. Mit dem nächsten Glas legte ich mich aufs Bett und ließ mir meinen kleinen Imbiss schmecken. Der Alkohol löste meine Gedanken auf und machte meinen Körper leicht. Plötzlich sprang ich auf: Mir war der Brief eingefallen, den Romane mir zum Abschied gegeben hatte. Ich hatte ihn eingesteckt und vergessen. Sie hatte mir das Versprechen abgenommen, ihn erst zu öffnen, wenn ich mich entschieden hatte. Hatte ich das? Und war das nicht ein wenig übereilt?

Sollte ich nicht doch lieber noch eine Nacht darüber schlafen? Ich legte das Kuvert vor mich auf die Küchentheke, setzte mich auf den Barhocker und dachte nach. Nachdem ich zum x-ten Mal dieselben Fragen durchgekaut hatte, fasste ich meinen endgültigen Entschluss: Ich musste einmal hin- und zurückfliegen, wenn ich nicht bis in alle Ewigkeit Gewissensbisse haben wollte. Jetzt riss ich den Umschlag auf, der ein auf meinen Namen ausgestelltes Flugticket nach Kathmandu und ein Schreiben von Romane enthielt.

Liebe Maëlle,

ich wusste, dass du mich nicht im Stich lässt. Ich hätte mir nie erlaubt, dich um diesen Gefallen zu bitten, wenn es nicht lebenswichtig wäre. Wie du aus dem Flugticket ersehen kannst, musst du morgen fliegen, wenn du eine Chance haben willst, Jason zu treffen.

Morgen? Die spinnt doch!

Ich griff zum Telefon. »Romane, ruf mich bitte zurück, wenn du diese Nachricht hörst! Ich bin bereit, aber nicht morgen!« Abflug um 15.40 Uhr vom Flughafen Roissy-Charles-de-Gaulle. Ausgeschlossen!

Jason erwartet dich in Kathmandu, kann aber nicht lange bleiben. Er will dir persönlich eine Kopie des Werks übergeben. Ich habe dir ein Zimmer bei meiner Freundin Maya reserviert, der das Hotel »Mandala« in Bodnath, nahe dem Flughafen, gehört. Du musst nur den Namen des Hotels nennen, jeder Taxifahrer kennt es.

Nutze das Wochenende, um durch die alte Stadt zu flanieren. Maya wird es ein Vergnügen sein, dir ein paar Tipps zu geben.

Wie nach jeder Chemositzung melde ich mich ab, bevor die Nebenwirkungen eintreten, und fahre ins Grüne. Ich bin also erst wieder zu erreichen, wenn du angekommen bist, und rufe dich dann an. Deine Entscheidung macht mich glücklich. Ich bin stolz, eine Freundin wie dich zu haben.

Ich hab dich lieb.

Romane

P.S. Pass auf dich auf und … nimm warme Sachen mit, abends wird es (sehr) kalt 😉

In ein paar Stunden ging der Flieger, nach einer Zwischenlandung in Doha würde ich übermorgen um elf in Kathmandu landen. Panisch versuchte ich Romane zu erreichen, aber ihr Anrufbeantworter übernahm schon beim ersten Klingeln. Wie betäubt las ich den Brief ein zweites Mal. Was für ein Albtraum! Schon bereute ich meinen Entschluss. Was hatte ich mir da nur eingebrockt!

Von den Ereignissen des Tages überwältigt, kam ich lange nicht zur Ruhe. Um vier Uhr morgens störten Romanes Worte meinen Schlaf: »Ich möchte dich um einen großen Gefallen bitten!« »In den sechzehn Jahren unserer Freundschaft habe ich dich noch nie um das Geringste gebeten.« »Ich möchte alle Chancen haben, die es gibt.« »Ich hab dich lieb!« Auch was Carole gesagt hatte, fiel mir wieder ein: »Sie hat sich für Sie entschieden.« »Seien Sie stark, sie braucht Sie!«

Da ich ohnehin nicht mehr schlafen konnte, stand ich auf. Ich musste allmählich anfangen zu packen. Es waren nur noch ein paar Stunden bis zum Abflug.

Aus dem Taxi, das mich zum Flughafen brachte, schickte ich Pierre eine SMS, in der ich ihm meine baldige Rückkehr versprach.

*

Als das Flugzeug die dichte Wolkendecke durchstieß, blieben der Nieselregen und meine Verwirrung in Paris zurück.

Mit Kinderaugen

Unser Leben kann das Paradies oder die Hölle sein – alles hängt von unserer Wahrnehmung ab.

Pema Chödrön

 

»Visum?«, fragte ein gedrungener, untersetzter Zöllner in einer viel zu großen Militäruniform. Was er in seinem ungefähren Englisch zu mir sagte, war nicht leicht zu entschlüsseln, aber ich verstand, dass er mich ohne Visum nicht ins Land lassen würde. Und natürlich hatte ich keins. Da half alles Fragen nicht, was ich denn machen solle, er gab mir meine Papiere zurück und winkte den nächsten Reisenden heran. Glücklicherweise gab es in der Reihe eine Französin, die mir weiterhalf: »Wenn Sie vor Ihrer Abreise kein Visum beantragt haben, gehen Sie da rechts ins Büro. Dort bekommen Sie eins für fünfzig Dollar.«

Meine Begeisterung verflog, als ich die lange Schlange sah, die hinter dem Schalter noch weiterging. Es dauerte fast zwei Stunden, bis ich den Flughafen verlassen konnte.

Als ich hinaustrat und nach einem Taxi suchte, wurde ich von jungen Tibetern eingekreist, die sich anboten, mein Gepäck zu tragen, das ich aber nicht losließ. Eine Gruppe Kinder, die mir alle möglichen Sachen andrehen wollten, wies ich mit einer schlichten Handbewegung zurück. Das reichte, um sie zu verscheuchen. Umso besser! Länder, in denen man zehn Minuten verhandeln muss, damit man vorbeigelassen wird, konnte ich noch nie leiden.

Rechts standen rund zwanzig gleiche weiße Autos in Dreierreihen, gleich daneben offenbar die Fahrer. Ich wandte mich auf Englisch an den Erstbesten, der einen Kollegen heranwinkte. Der schnappte sich meinen Koffer und legte ihn auf den Dachgepäckträger, ohne ihn irgendwie zu befestigen. Vor lauter Verblüffung protestierte ich nicht einmal, ich war zu müde für Diskussionen.

Dann hielt er mir die hintere Tür auf, deren Quietschen das kanonische Alter des Fahrzeugs verriet. Ich ließ mich auf die Rückbank fallen. Eine fadenscheinige Wolldecke in Rot und Gelb schützte den Kunstlederbezug. Der Fahrer ging um das Auto herum, setzte sich auf der rechten Seite ans Steuer, drehte sich lächelnd zu mir um und radebrechte auf Englisch:

»Hallo, Madam, wohin Sie wollen?«

»Nach Bodnath, bitte!«

»Stupa?«

»Nein, Hotel Mandala.«

»Kenne nicht, aber ist bestimmt bei Stupa, da sind viele. Wollen wir, Madam?«

Verblüfft sah ich ihn an. Damit hatte ich nicht gerechnet. Romane hatte doch behauptet, jeder kenne das Hotel … Das Taxi raste los wie der Blitz, umkurvte Autos, Räder, Lastwagen und zog eine Staubwolke hinter sich her, die uns für den Rest der Fahrt begleitete. Was für ein Pech, dass ich beim einzigen Taxifahrer gelandet war, der mein Hotel nicht kannte! Von seinen Fahrkünsten wurde mir schlecht, ich lächelte, aber mir wurde immer flauer im Magen. Um mich abzulenken, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf die Straße und entdeckte die unwahrscheinlichsten Szenen: Rechts hatte ein Motorradfahrer eine Doppelbettmatratze irgendwie auf seinem Rücken festgezurrt; links fuhr eine ganze Familie auf einem Mofa, der Kleinste saß auf dem Lenker, ein zweites Kind zwischen ihm und dem Fahrer, ein drittes dahinter, die Arme um die Taille des Vaters geschlungen, um nicht bei der geringsten Beschleunigung vom Sitz zu fallen. Fußgänger riskierten mit jedem Schritt ihr Leben, was sie aber nicht sonderlich zu beunruhigen schien. Eine Kuh rupfte ein paar Grashalme aus, die aus der Fahrbahn wuchsen, und reihte sich dann in den Verkehr ein. Ein alter Mann beschimpfte einen unachtsamen jungen Fahrradfahrer, der ihn beiseitegestoßen hatte, und schwang wütend seinen Stock hinter ihm.

Einige Stunden und wenige Worte hatten genügt, um meine aseptische Welt auf eine gigantische Müllhalde zu kippen, ein staubiges Schlachtfeld. Aber was sollte ich da? Unsere wilde Fahrt war nach zehn Minuten abrupt zu Ende, und wir standen vor dem berühmten buddhistischen Heiligtum.

»Sie gehen durch Tor und sehen rechts Hotel.«

»Sind Sie sicher?«

»Oh ja! Glaube schon!«

Er klopfte auf den Taxameter, der unterwegs aufgehört hatte zu zählen, und verlangte schließlich 300 Rupien, etwa 2,50 Euro, die ich ohne Diskussion bezahlte. Dann nahm ich meinen Koffer vom Dach, der wie durch ein Wunder noch da war. Der Fahrer winkte und raste wieder los. Mit dem Koffer im Schlepptau bahnte ich mir einen Weg durch das Gedrängel. Eine riesige Menschenmenge ging im Uhrzeigersinn um das imposante Bauwerk herum, manche murmelten Mantras, drehten Gebetsmühlen oder bimmelten mit Glöckchen. Verstört schaute ich eine Weile zu, dann marschierte ich beherzt gegen den Strom, den Koffer immer hinter mir. Aus winzigen Souvenirläden, die alles rund um den Stupa verkauften, waberten Düfte von Räucherstäbchen. Zahllose Händler saßen am Rand des Platzes. Unter den Augen des Buddhas warteten sie auf Mönche, die nach neuen Gebetsketten suchten, oder Touristen, die sich für diese einzigartige Stätte interessierten. Irgendwann entdeckte ich schließlich ein Hinweisschild auf mein Hotel, dem ich durch eine Sackgasse bis zu einem Tor folgte. Dahinter öffnete sich ein üppiger Garten. Augenblicklich verstummte der Lärm. Ein Dutzend runder Eisentische verteilte sich auf dem sonnenbeschienenen Rasen.

»Namasté!«, begrüßte mich eine junge Frau mit gefalteten Händen und geneigter Stirn. »Bonjour!«, fuhr sie in Schulfranzösisch mit starkem Akzent fort. »Hatten Sie eine gute Reise?«

In der schlichten Eingangshalle umrahmten zwei abgewetzte Lederfauteuils ein ebensolches dreisitziges Sofa, die Bar diente als Empfangstresen, rechts daneben häuften sich diverse Gepäckstücke. »Maëlle Garnier, eine Freundin hat ein Zimmer auf meinen Namen reserviert«, sagte ich schnell, um jeder Art von Gespräch vorzubeugen. Ich wollte einfach nur duschen und mich ausruhen.

Die Empfangsdame durchsuchte das Gästeregister und fuhr auf Englisch fort: »Ja, im ersten Stock, es ist fertig, Madam. Der Koch kommt in einer Stunde. Wenn Sie ein Mittagessen wünschen, kann ich es Ihnen im Garten servieren.«

Ich nickte zustimmend.

»Warmes Wasser gibt es ab 17 Uhr.«

»Wie, ab 17 Uhr?«

»Ja, wir heizen das Wasser mit Sonnenenergie. Und wir sind gut ausgestattet, daher können wir die Speicher früher freigeben als alle anderen.«

Früher als alle anderen? Ob es dort je warmes Wasser gab?

»Unsere Gäste sind begeistert, wir haben letztes Jahr viel Geld in dieses moderne System investiert.«

»Sehr gut, vielen Dank«, seufzte ich müde.

Dann nahm ich ihr den Schlüssel, den sie mir hinhielt, aus der Hand.

»Und noch etwas: Wir haben pro Tag mehrere Stromausfälle.«

Na, das klang ja super!

»Aber keine Sorge, sie sind im Voraus geplant.«

Ach so, na dann!

»Heute Abend wird der Strom zwischen 19 und 22 Uhr abgestellt. Kerzen finden Sie auf dem Nachttisch.«

Fassungslos sah ich sie an. Ich wusste zwar nicht, in welcher Welt ich da gelandet war, aber eins war sicher: Ich würde hier nicht lange bleiben.

Grollend ging ich zur Treppe, ohne Hilfe beim Koffertragen zu erwarten.

»Noch eine letzte Information, Madam!« Was wollte sie denn jetzt schon wieder? Das war ja wie in meinen schlimmsten Albträumen! Ich drehte mich zu ihr um. »Ich habe Post für Sie!« Mit schnellem Schritt kam sie hinter dem Schalter hervor und reichte mir einen Brief. Was für eine aufmerksame Geste, liebe Romane!

Mühsam schleppte ich mein Gepäck über die grauweiß gefliesten Stufen in den ersten Stock. Durch einen zum Garten hin offenen Gang gelangte ich zu meinem Zimmer. Ein Vorhängeschloss hielt zwei notdürftig befestigte Ringe zusammen. Um diese Tür zu öffnen, hätte ich keinen Schlüssel gebraucht, ein leichter Fußtritt hätte gereicht.

Das Zimmer hatte etwa zehn Quadratmeter. Ein großes Bett nahm den meisten Raum ein; daneben ein Nachttisch aus lackiertem Holz, darauf drei Kerzen in einer Schale; an der Wand ein Sessel aus Weidengeflecht; eine dreibeinige Garderobe, schief wie der Turm von Pisa; ganz hinten befand sich ein Badezimmer, das anscheinend seit seinem Einbau noch nie renoviert worden war. Ich wagte mich bis zu der Nische vor: eine begehbare Dusche, deren Armaturen nur mit Eisendraht an der Wand hielten; ein emailliertes Waschbecken, auf dem ein gerettetes Seifenstückchen döste, und eine Kloschüssel, aus deren Kalkschichten jeder Archäologiepraktikant das Jahr der Hoteleröffnung hätte bestimmen können. Als ich das Wasser aufdrehte, begannen die Rohre zu beben, bevor sie hustend eine gelbliche Flüssigkeit ins Waschbecken spuckten. Es dauerte ein paar Sekunden, bevor der Hahn einen regelmäßigen Strahl von sich gab. Ich hob den Kopf und sah mein enttäuschtes Gesicht im Spiegel, was das ganze Elend noch verstärkte. Schönen Dank auch, Romane! Für diese Unterkunft hast du dich nicht gerade verausgabt, dabei war ich Besseres von dir gewohnt.

Erschöpft legte ich mich aufs Bett, riss den Umschlag auf und las den auf Englisch verfassten Brief.

Liebe Maëlle,

ich kann Ihnen das Handbuch nicht ins Hotel bringen, weil ich heute wegen eines medizinischen Notfalls in einem Kloster, das einige Tagesmärsche entfernt liegt, in den Himalaja aufbrechen muss.

Ich nehme es mit. Shanti, ein nepalesischer Guide, wird Sie zu mir führen. Er ist ein Freund, ich habe ihn darum gebeten, die Tour für Sie zu organisieren und für Ihre Sicherheit zu sorgen. Am Tag Ihrer Ankunft wird er zu Ihnen ins Hotel kommen, um die Details zu klären.

Tut mir leid wegen der Umstände, aber ich bin sicher, dass Sie das verstehen.

Mit freundlichen Grüßen

Jason

Das war doch ein Scherz, oder? Hätte er das Buch nicht dem Guide übergeben können? Der Kerl machte sich über mich lustig! Mein Zorn wuchs, ich sprang auf und versuchte Romane zu erreichen. Wieder einmal sprang nur der Anrufbeantworter an. Zu allem Überfluss warnte mich mein Mobiltelefon, dass mich der Akku bald im Stich lassen würde. Ich suchte nach einer Steckdose und wurde hinter dem Sessel fündig. Sie funktionierte sogar! Ich brauchte eine gute Viertelstunde, um mich zu beruhigen. Dann überwältigte mich die Müdigkeit, und ich schlief in der Hoffnung ein, nach dem Aufwachen klarere Gedanken fassen zu können.

Mehr als zwei Stunden dauerte es, bevor ich mir wieder meiner Lage bewusst wurde. Eins nach dem anderen: Erst einmal wollte ich duschen und mich stärken. Unter dem heißen Wasserstrahl kam meine Energie zurück. Ich zog frische Sachen an und ging hinunter. Die junge Frau war verschwunden, an ihrer Stelle stand eine hochgewachsene, elegante Dame von etwa sechzig Jahren mit prächtigem langem Haar am Empfang.

»Sie sind Maëlle, nicht wahr?«, sprach sie mich in fließendem Englisch an. »Ich bin Maya, die Besitzerin des Hotels. Ihre Freundin Romane hat mir viel von Ihnen erzählt. Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen!«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ihre Liebenswürdigkeit nahm meinem Zorn den Wind aus den Segeln.

»Ganz meinerseits.«

»Sie haben bestimmt Hunger! Mein Koch Karras hat für heute Abend khashi ko masu zubereitet, ein traditionelles nepalesisches Lammcurry. Das ist wirklich köstlich.«

Freudig sagte ich zu. »Wollen Sie im Garten die Sonne genießen?« Was für eine schöne Idee! Maya begleitete mich in ihr grünes Wohnzimmer. Die Ruhe hier, nur wenige Meter von dem Gewusel draußen entfernt, war fast surreal.

»Shanti hat angerufen, als Sie geschlafen haben. Er wird in zwei Stunden hier sein.« Maya schien ihn also zu kennen. Mein Erstaunen war an meiner speziellen Augenbrauenkonfiguration zu erkennen.

»Shanti ist ein langjähriger Freund von mir, der mich auch schon auf humanitären Missionen in den Himalaja begleitet hat. Sein Name bedeutet auf Nepalesisch Frieden. Er stammt aus Pangboche, einem kleinen Sherpa-Dorf am Mount Everest.«

»Also kennt er die Berge?«

»Wie seine eigene Westentasche, Sie werden sehen. Es gibt keinen besseren Guide, er bringt Sie dorthin, wo Sie hinmüssen, darauf können Sie sich verlassen.«

»Wissen Sie denn, wo ich hinmuss?«

»Nein! Das können nur Sie wissen!«, gab sie amüsiert zurück.

»Ich soll einen gewissen Jason treffen, habe aber keine Ahnung, wo.«

»Ja, das hat mir Romane schon erklärt, er soll Ihnen ein Handbuch für sie übergeben.«

»Ach, Sie wissen Bescheid? Und was halten Sie davon?«

Sie überlegte eine Weile.

»Man sollte alles versuchen, um eine geliebte Person zu retten. Und zwar wirklich alles.«

»Deshalb bin ich ja hier. Mich interessiert, was Sie über Jason denken. Kennen Sie ihn?«

»Ich habe ihn einmal getroffen. Er steckt fast seine ganze Kraft und Zeit in die Krebsforschung, und den Rest widmet er den Tibetern. Sie leben in Nepal im Exil, wo sie geduldet sind, aber nicht sehr angesehen. Sein Verein hilft diesen Menschen medizinisch und bei der Integration in die Gesellschaft.«

»Und Sie glauben, so ein Handbuch könnte Wahrheiten enthalten, die wir nicht längst kennen?«

»Das weiß ich nicht, aber oft führt der eingeschlagene Weg anderswohin, als wir es uns vorgestellt haben.«

Verblüfft schaute ich sie an. »Ich habe keine Antwort auf Ihre Frage«, fuhr sie fort, »aber wenn Sie aufmerksam auf das achten, was geschieht, werden Sie Antworten auf Fragen finden, die Sie sich noch gar nicht gestellt haben!« Ich verstand kein Wort von dem, was sie sagte, war aber viel zu müde vom Jetlag, um etwas darauf zu erwidern. Eine junge Frau stellte mir einen Teller hin. Maya stand auf. »Lassen Sie es sich schmecken. Wenn Sie wollen, können wir vor Ihrem Treffen mit Shanti noch eine kleine Runde durch Bodnath machen.« Daraufhin entfernte sie sich mit der Anmut und Leichtigkeit eines Schmetterlings.

Der Duft des Currys, eine wahre Symphonie exotischer Gerüche, stieg mir in die Nase. Mein Teller sah aus wie ein Kaleidoskop aus Gelb, Braun und Gold. Schon der erste Bissen mit seinen unendlichen Geschmacksnuancen entführte mich in das orientalische Zauberreich der Gewürze. Und der Duft trug mich über die Grenze nach Indien – an den Ort meiner letzten Reise mit Thomas! Fast fünf Jahre war das her … Ein Bollywood des Glücks, das drei Monate später zum Horrorfilm mutiert war. Wir wollten gerade zusammenziehen, als Thomas per SMS mit mir Schluss machte, dieser Lappen! Nach drei Jahren Leidenschaft ließ er mich wegen irgendeines dummen Huhns sitzen. Warum stieg diese schmerzliche Erinnerung jetzt in mir auf? Ich war doch längst mit anderem beschäftigt. Bei genauerer Betrachtung stellte sich allerdings die Frage: Womit eigentlich?

Ich schaute auf mein Handy, das vergebens nach einem Netz suchte. So abgeschnitten von der Welt fühlte ich mich besonders allein. Ein Spatz hatte sich auf meinen Tisch gesetzt. Etwas scheu beobachtete er mich aus den Augenwinkeln, während er ein paar Fladenbrotkrumen vom Tisch pickte. Diese paar Gramm Federn und Flügel vor dem blühenden Garten und die Harmonie der Düfte linderten meine Einsamkeit. Als ich den letzten Bissen geschluckt hatte, kam Maya wieder. Ihre Heiterkeit ließ meine Ängste verfliegen.

»Sieht so aus, als hätte es Ihnen geschmeckt. Oder Sie hatten einen Riesenhunger«, stellte sie lachend fest.

»Es war köstlich.«

»Wollen Sie einen Rundgang durch Bodnath machen?«

»Gern, das ist bestimmt interessant.«

Bis zum Gartentor ging Maya mir auf dem schmalen Schieferplattenweg voran. Eine riesige Menschenmenge bevölkerte den Platz und umkreiste mit beschwingtem Schritt den Stupa. Bodnath, erklärte Maya, sei ein bedeutender buddhistischer Wallfahrtsort. Seit der Flucht des 14. Dalai Lama im Jahr 1959 hatten sich mehrere Tausend Tibeter in diesem Vorort niedergelassen, der an der ehemaligen Handelsroute von Kathmandu durchs Kathmandutal nach Tibet lag. Mit der Zeit waren rund fünfzig Gönpas entstanden, buddhistische Klöster, die von der religiösen Bedeutung des Ortes zeugten. Der imposante Stupa in der Mitte, dessen Errichtung im 5. Jahrhundert eng verknüpft war mit der Gründung der tibetischen Hauptstadt Lhasa, sei mit seinen fast vierzig Metern Höhe und vierzig Metern Durchmesser eines von Nepals größten und wichtigsten Heiligtümern. Ich war schwer beeindruckt.

Wie eine leidenschaftliche Fremdenführerin versuchte Maya alle Einzelheiten des Tempels genauestens zu benennen und zu erklären. Die Basis bilden drei als Mandala angeordnete zwanzigeckige Terrassen, über die man zur Kuppel schreitet. Ein Mandala ist eine geometrische Form, die das Werden und Vergehen des Universums symbolisiert. Die ganze Architektur des Bauwerks ist eine Allegorie. Gemäß der buddhistischen Lehre verkörpert die Basis die Erde, die Kuppel das Wasser, der Turm das Feuer, die Krone die Luft und die Spitze den Äther. Maya ermunterte mich, dem Rhythmus der Gläubigen zu folgen. Manchmal blieb sie vor der einen oder anderen der hundertacht Nischen stehen, die allesamt eine Buddha-Figur enthielten, und erzählte mir deren Geschichte. Sie war hinreißend in ihrer Begeisterung. Ihr Charisma überwältigte mich.

»Ganz oben siehst du auf allen vier Seiten ausdrucksvolle gemalte Augenpaare. Der Blick sucht nach den vier Kardinaltugenden und erinnert die Buddhisten an die Gegenwart Buddhas und seine Bedeutung für ihr Leben. Der oberste Teil hat die Form einer langen, schlanken Pyramide, die aus dreizehn Stufen besteht, da, siehst du? Sie trennen die Halbkugel vom Pinakel und symbolisieren die dreizehn Stufen zur Erleuchtung, dreizehn Stadien auf dem Weg zur vollkommenen Erkenntnis: ›Bodhi‹ oder ›Buddha‹, daher der Name Bodnath.«