Das Geheimnis im alten Park: Die Töchter Englands - Band 15 - Philippa Carr - E-Book
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Das Geheimnis im alten Park: Die Töchter Englands - Band 15 E-Book

Philippa Carr

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Beschreibung

Liebe, Missgunst und Gefahr: Tauchen Sie ein in vergangene Zeiten! „Das Geheimnis im alten Park“ von Philippa Carr jetzt als eBook bei dotbooks. Noch sitzt Königin Victoria auf dem britischen Thron, aber das 19. Jahrhundert neigt sich bereits dem Ende zu. Die kleine Rebecca Mandeville wächst zwar ohne Vater auf, führt aber auf dem idyllischen Familiensitz Cador in Cornwall das sorglose Leben eines Kindes. Doch dann ziehen dunkle Wolken am Horizont auf: Rebeccas Mutter beschließt, zum zweiten Mal zu heiraten – ausgerechnet den aufstrebenden Politiker Benedict Lansdon, den Rebecca aus tiefstem Herzen verabscheut. Und während das Mädchen zur schönen jungen Frau erblüht, fällt ein Schatten auf die Familie Mandeville … ein Schatten, der große Gefahr mit sich bringt! Die Saga „Die Töchter Englands“ von Philippa Carr: Ein Hauch von „Downtown Abbey“ durchweht diesen fesselnden Roman über das Leben einer jungen Frau aus besseren Kreisen. Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Das Geheimnis im alten Park“ von Philippa Carr, auch bekannt als Jean Plaidy und Victoria Holt. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Noch sitzt Königin Victoria auf dem britischen Thron, aber das 19. Jahrhundert neigt sich bereits dem Ende zu. Die kleine Rebecca Mandeville wächst zwar ohne Vater auf, führt aber auf dem idyllischen Familiensitz Cador in Cornwall das sorglose Leben eines Kindes. Doch dann ziehen dunkle Wolken am Horizont auf: Rebeccas Mutter beschließt, zum zweiten Mal zu heiraten – ausgerechnet den aufstrebenden Politiker Benedict Lansdon, den Rebecca aus tiefstem Herzen verabscheut. Und während das Mädchen zur schönen jungen Frau erblüht, fällt ein Schatten auf die Familie Mandeville … ein Schatten, der große Gefahr mit sich bringt!

Die Saga »Die Töchter Englands« von Philippa Carr: Ein Hauch von „Downtown Abbey“ durchweht diesen fesselnden Roman über das Leben einer jungen Frau aus besseren Kreisen.

Über die Autorin:

Philippa Carr ist – wie auch Jean Plaidy und Victoria Holt – ein Pseudonym der britischen Autorin Eleanor Alice Burford (1906–1993). Schon in ihrer Jugend begann sie, sich für Geschichte zu begeistern: »Ich besuchte Hampton Court Palace mit seiner beeindruckenden Atmosphäre, ging durch dasselbe Tor wie Anne Boleyn und sah die Räume, durch die Katherine Howard gelaufen war. Das hat mich inspiriert, damit begann für mich alles.« 1941 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, dem in den nächsten 50 Jahren zahlreiche folgten, die sich schon zu ihren Lebzeiten über 90 Millionen Mal verkauften. 1989 wurde Eleanor Alice Burford mit dem »Golden Treasure Award« der Romance Writers of America ausgezeichnet.

Eine Übersicht über den Romanzyklus »Die Töchter Englands« finden Sie am Ende dieses eBooks.

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eBook-Neuausgabe April 2017

Copyright © der Originalausgabe 1989 by Philippa Carr

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Changeling«.

Copyright © der ursprünglichen deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co.KG, München; die Hardcoverausgabe erschien im Paul Neff Verlag KG, Wien

Copyright © der Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Linda George und faestock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-95824-940-0

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Philippa Carr

Das Geheimnis im alten Park

Roman

Aus dem Englischen von Dagmar Roth

dotbooks.

Kapitel 1 Der letzte Sommer

Als ich zehn Jahre alt war, endete mein ruhiges, beschauliches Leben mit einem Schlag, denn meine Mutter heiratete Benedict Lansdon. Wäre ich älter und lebenserfahrener gewesen, hätte ich das Unvermeidliche kommen sehen. Doch ich lebte glücklich und geborgen in meiner kleinen Welt. Meine Mutter bildete den Mittelpunkt meines Lebens – und ich war überzeugt, ihr ein und alles zu sein. Es kam mir gar nicht in den Sinn, daß jemand dieses Idyll zerstören könnte.

Dabei war er kein Fremder für mich. Solange ich mich erinnern kann, begleitete er unser Leben – eine schemenhafte Gestalt im Hintergrund. Und dort gehörte er meiner Meinung nach auch hin.

Geboren wurde ich in einer australischen Goldgräbersiedlung. Auch er hielt sich damals dort auf. Um genau zu sein, ich erblickte in seinem Haus das Licht der Welt.

»Mr. Lansdon«, erklärte meine Mutter, »war nicht wie die anderen Goldgräber. Er besaß eine recht gewinneinbringende Mine und beschäftigte Männer, die ihre Hoffnung, ihr Glück auf den Goldfeldern zu machen, aufgegeben hatten. Wir wohnten alle in Schuppen. Du kannst dir das nicht vorstellen. Unsere Behausung sah aus wie die Hütte im Wald, in der dieser alte Landstreicher den letzten Winter verbracht hat. Einem Baby konnte man das bestimmt nicht zumuten. Deshalb beschlossen wir, daß du in seinem Haus geboren werden solltest. Auch Pedrek kam dort zur Welt.«

Pedrek Cartwright war mein bester Freund. Seine Eltern wohnten in London, aber seinem Großvater gehörte die Pencarron-Mine in der Nähe von Cador, dem Haus meiner Großeltern in Cornwall. Folglich waren wir sowohl in London als auch in Cornwall häufig zusammen. Wenn wir zu meinen Großeltern nach Cornwall verreisten und seine Eltern in London blieben, fuhr er mit uns. Meine Mutter verband eine enge Freundschaft mit den Cartwrights. Wir fühlten uns fast wie eine richtige Familie.

Als wir noch kleiner waren, spielten Pedrek und ich oft Goldgräber. Ein starkes Band verknüpfte uns, weil wir beide in den Goldfeldern auf der anderen Seite der Welt geboren worden waren – und beide in Mr. Benedict Lansdons Haus.

Eigentlich hätte ich merken müssen, was vorging. Denn jedesmal, wenn meine Mutter von Benedict Lansdon sprach, veränderte sich ihre Stimme, strahlten ihre Augen und umspielte ein Lächeln ihren Mund. Aber damals maß ich dem keinerlei Bedeutung bei.

Nicht, daß mein Wissen um die Vorgänge etwas geändert hätte – die Hochzeit wäre mir nicht weniger verhaßt gewesen –, aber ich hätte mich darauf vorbereiten können und keinen Schock erlitten.

Erst nach der Heirat wurde mir bewußt, was für ein schönes Leben ich bis dahin geführt hatte. So viele Annehmlichkeiten hatte ich als selbstverständlich hingenommen.

In London führte ich ein unbeschwertes Leben. Wir wohnten in der Nähe des Parks. Jeden Morgen ging ich mit meiner Gouvernante Miß Brown im Park spazieren. Während ich mit den Kindern spielte, plauderte Miß Brown mit den anderen Kindermädchen.

Die vielen Geschäfte gefielen mir besonders gut; nicht weit von unserem Haus gab es einen Markt, und manchmal nahm mich Miß Brown an den Winternachmittagen mit dorthin. Ich fand es aufregend, mich durch das Menschengewühl zu schieben und die Leute in den Buden zu beobachten. Am schönsten war der Markt bei Einbruch der Dunkelheit, wenn die Petroleumlampen angezündet wurden. Einmal aßen wir an einem der Verkaufsstände Aale in Aspik. Miß Brown fühlte sich dabei ein wenig unbehaglich, denn sie meinte, es gehöre sich nicht. Aber ich bettelte so lange, bis sie nachgab. Hingerissen betrachtete ich die Damen in den herrlichen Kleidern und die Männer mit den Zylinderhüten und eleganten Cuts. Auch die langen Winterabende am Kamin genoß ich sehr. Gespannt warteten wir auf das Läuten der Glocke, das den Muffins-Verkäufer ankündigte. Sobald er klingelte, lief Ann, unser Dienstmädchen, mit einem Teller hinaus und kaufte ein paar Muffins, die meine Mutter und ich am Feuer rösteten.

Ich war überzeugt, diese schöne Zeit würde nie zu Ende gehen, denn ich ahnte nichts von dem im Hintergrund lauernden Benedict Lansdon, der nur darauf wartete, in dies Idyll einbrechen zu können.

Sobald die Bäume im Park zu knospen begannen und die ersten Triebe der Birnbäume in unserem kleinen Garten ein paar ungenießbare Früchte verhießen, pflegte meine Mutter zu sagen: »Zeit für unsere Reise nach Cornwall. Ich werde mit Tante Morwenna reden und mich nach ihren Plänen für dieses Jahr erkundigen.«

Tante Morwenna war Pedreks Mutter. Meine Mutter und ich besuchten sie in ihrem Haus, das nicht sehr weit von unserem entfernt lag. Pedrek und ich liefen die Treppe hinauf in sein Zimmer. Wir spielten mit seinem kleinen Hund oder einem neuen Spielzeug und machten Pläne für unseren bevorstehenden Aufenthalt bei den Großeltern.

Dann kam die aufregende Bahnfahrt. Pedrek und ich gaben uns sie größte Mühe, einen Fensterplatz zu ergattern. Während der Zug durch die Wiesen, Flußniederungen und Wälder von Bahnhof zu Bahnhof ratterte, machten wir uns mit lautem Gekreisch auf die draußen vorbeiziehenden Herrlichkeiten aufmerksam.

Und am Ende dieser Reise erwarteten uns die Großeltern, die uns jedesmal freudig begrüßten und uns das Gefühl gaben, daß es für sie nichts Schöneres gäbe, als uns bei sich zu haben. Pedrek machte sich mit seiner Familie auf den Weg nach Pencarron, und meine Mutter und ich fuhren nach Cador.

Cador, das herrlichste und aufregendste Haus der Welt, war viele Jahrhunderte lang Stammsitz der Cadorsons gewesen. Mein Urgroßvater Jake Cadorson war der letzte Träger dieses Namens, sein Sohn Jacco ertrank in Australien.

Nach seinem Tod fiel das Haus an meine Großmutter, die einen Rolf Hanson heiratete. Ich fand es sehr schade, daß es keine Familie Cadorson mehr gab, denn dieser Name gehörte meiner Meinung nach unbedingt zu Cador.

Aber zu meiner großen Freude befand sich das Haus noch im Familienbesitz. Obwohl mein Großvater nur eingeheiratet hatte, hing er ganz offenbar mehr daran als jedes andere Familienmitglied.

Ich verstand seine Gefühle nur zu gut. Das Gebäude erinnerte mit seinen grauen Steinwänden, den vielen Türen und Zinnen an eine mittelalterliche Festung. Befand ich mich allein in den riesigen, hohen Räumen, fühlte ich mich um Jahrhunderte zurückversetzt. Als ich noch sehr klein war, fürchtete ich mich in diesen hallenartigen Zimmern. Aber stets gab es die beruhigende Gegenwart meiner Mutter und meiner Großeltern. Mein Großvater erzählte mir spannende Geschichten aus der Vergangenheit, von den Kämpfen zwischen Cromwells Roundheads und den Royalisten, von Stürmen und gestrandeten Schiffen und Abenteuern, die die Welt entdecken wollten.

Ich liebte Cador. Dort erschienen mir die Tage länger, denn die Sonne stand oft tagelang am Himmel. Doch selbst bei Regenwetter konnte man eine Menge aufregender Dinge unternehmen. Auch das Meer faszinierte mich. Manchmal machten wir eine kleine Bootsfahrt, aber meine Großmutter mochte so etwas nicht, weil sie sich stets daran erinnerte, daß ihre Eltern und ihr Bruder ertrunken waren.

Häufig besuchte ich mit Mutter und Großmutter East oder West Poldorey. Wir bummelten an den niedrigen Häusern am Kai entlang, beobachteten die Fischer beim Netzeflicken oder hörten ihren Gesprächen über den Fang zu. Ab und zu durfte ich mit Mr. Yeo, dem Butler, auf den Fischmarkt gehen. Die Fische, die sich auf der mit silbrigen Schuppen gesprenkelten Waage wanden, faszinierten mich. Die meisten Fischer kannte ich namentlich – Tom, Ted, Harry. Seit der Zeit, als John und Charles Wesley durch Cornwall gezogen waren und dem Volk die rechtschaffene Lehre des Methodismus gepredigt hatten, zählten die meisten Familien zu den glühenden Anhängern der Wesleys.

Cador lag ungefähr eine Viertelmeile von den beiden durch den Fluß Poldor getrennten Städten East und West Poldorey entfernt. Eine alte Brücke verband die beiden Städte miteinander. Mir gefielen die steilen Straßen, die sich bis ganz hinauf auf die Klippe wanden. Von dort oben hatte man einen herrlichen Ausblick auf das Meer. Auf einer Holzbank konnte man sich nach dem anstrengenden Aufstieg ausruhen. Oft saß ich mit meinem Großvater auf dieser Bank und ließ ihm keine Ruhe, bis er mir Geschichten von Schmugglern und Strandräubern erzählte, die den Schiffen an dieser Küste auflauerten. Ich suchte am Strand nach den Halbedelsteinen, die hier angeblich zu finden waren. Aber die einzigen, die ich je zu Gesicht bekam, entdeckte ich im Schaufenster von Mr. Banders Laden, der mit einem Schild mit der Aufschrift »Fundstücke vom Strand von Poldorey« versehen war.

Es machte mich stolz, zur Herrschaft von Cador zu gehören, wie die Leute von Poldorey die Familie respektvoll nannten.

All das gehörte zu meiner Welt – und natürlich das Haus in London, ein hohes, schmalbrüstiges Gebäude, das meine Mutter und ich mit dem wenigen Personal teilten. Dazu zählte meine Gouvernante Miß Brown, die allerdings entsetzt gewesen wäre, hätte man sie zur Dienerschaft gerechnet; dann Mr. und Mrs. Emery – sie führte das Regiment als Köchin und Haushälterin, während er, das Faktotum des Hauses, sich auch um den winzigen Garten kümmerte; und schließlich beschäftigten wir noch ein Hausmädchen, Ann, und ein Stubenmädchen, Jane.

In unserem Haushalt ging es familiär zu. Meine Mutter hielt nicht viel von Förmlichkeiten, und ich glaube, die Bediensteten hingen sehr an ihr. Alle hatten das Gefühl, zur Familie zu gehören. Die unüberwindliche Kluft zwischen Herrschaft und Hauspersonal, wie sie in den großen Häusern wie dem von Mr. Benedict Lansdon und Onkel Peter und Tante Amaryllis bestand, gab es bei uns nicht. Übrigens waren die beiden nicht wirklich mein Onkel und meine Tante. Noch nicht einmal die meiner Mutter. Sie waren sehr alt, und die Verwandtschaft reichte Generationen zurück. Sogar mit Benedict Lansdon, dem Enkel von Onkel Peter, verband uns, wenn auch über viele Ecken, eine verwandtschaftliche Beziehung.

Trotz seines hohen Alters war Onkel Peter eine beeindruckende Persönlichkeit. Er besaß ein beträchtliches Vermögen und hatte zahlreiche, mir zuweilen recht merkwürdig erscheinende Interessen. Dennoch verehrte ich ihn sehr. Seine Frau, Tante Amaryllis, gehörte zu diesen ausgesprochen zarten, femininen Frauen, die einen liebenswert hilflosen Eindruck machen, es aber irgendwie fertigbringen, die Familie zusammenzuhalten. Jedermann liebte sie – ich eingeschlossen.

Sie führten ein großzügiges Haus. Meist übernahmen Onkel Peters Tochter Helena und sein Schwiegersohn Martin Hume, der bekannte Politiker, bei gesellschaftlichen Anlässen die Rolle der Gastgeber. Ich fand es richtig aufregend, einer solchen Familie anzugehören.

Deutlich kann ich mich an Vorfälle aus jener Zeit erinnern. Diese Wochen bezeichnete ich später als den letzten Sommer, denn nach dem Weihnachtsfest in jenem Jahr begann ich zum erstenmal zu ahnen, was mir bevorstand.

Meine Mutter und ich waren nach Cornwall gefahren. Pedrek begleitete uns, und wir beide wollten uns abwechselnd in Cador und Pencarron Manor besuchen. Jeden Tag mußten Pedrek und ich eine bestimmte Anzahl von Unterrichtsstunden über uns ergehen lassen. Zum Glück hatten aber Miß Brown und Mr. Clenham, Pedreks Hauslehrer, vereinbart, unsere Schulstunden zur selben Zeit abzuhalten. Pedreks Eltern wollten ihn nächstes Jahr auf die Schule schicken. Dann konnte er nur noch in den Ferien nach Cornwall kommen. Wir ritten sehr oft, aber man erlaubte uns nicht, allein das Gelände zu verlassen. Immer mußte uns ein Erwachsener begleiten. Das schränkte unseren Tatendrang natürlich ziemlich ein. Aus diesem Grund verbrachten wir die meiste Zeit auf der Koppel und trainierten Hindernisspringen, wobei jeder vor dem anderen mit seinen Reitkünsten prahlte.

Einmal begleitete uns meine Mutter auf einem Ausritt und, wie so oft, kamen wir wie zufällig zum Teich St. Branok.

Dieser unheimliche Ort übte auf mich und Pedrek eine gewaltige Anziehungskraft aus. Die Zweige der Trauerweiden reichten bis ins Wasser. Die Leute behaupteten, der Teich wäre unergründlich tief. Niemand wagte sich bei Dunkelheit an diesen Ort. Vermutlich faszinierte mich gerade das Geheimnisvolle und Gespenstische, das diesem Platz nachgesagt wurde, und auch meine Mutter konnte sich von diesen Gefühlen nicht freimachen.

Wie immer banden wir unsere Pferde an die Bäume und streckten uns im Gras aus. Mit dem Rücken lehnten wir uns an die großen Steine, die hier in Mengen herumlagen.

»Das könnten die Mauerreste des alten Klosters sein«, vermutete meine Mutter.

Die Geschichte von den im Teich versunkenen Glocken hatten wir schon oft gehört. Angeblich läuteten sie bei einer drohenden Gefahr.

Der überaus logische Pedrek warf ein, der Teich könne gar nicht unergründlich tief sein, wenn sich die Glocken auf seinem Grund befänden. Meine Mutter ging nicht näher auf seinen Einwand ein und meinte nur, bei den meisten alten Legenden könne man Widersprüchlichkeiten finden, wenn man nur lange genug danach suchen würde.

»Ich will nichts mehr davon hören«, entgegnete ich. »Ich möchte einfach glauben, daß die Glocken auf dem Grund liegen.«

»Die Mönche kamen vom Pfad der Tugend ab, und zur Strafe zerstörte die Flut dieses Kloster«, erklärte meine Mutter.

»In dieser Gegend gibt es allerdings noch reichlich tugendhafte Leute«, bemerkte ich. »Zum Beispiel die alte Mrs. Fenny, die am Kai wohnt und alles beobachtet, was vor sich geht. Sie ist felsenfest davon überzeugt, außer ihr selbst würden alle geradewegs ins Fegefeuer wandern. Oder Mrs. Polhenny. Jeden Sonntag geht sie zweimal in die Kirche. Außerdem versucht sie, aus ihrer Tochter Leah eine Heilige zu machen, wie sie selbst eine ist. Sie gönnt dem armen Mädchen nicht das kleinste bißchen Spaß.«

»Manche Menschen sind sehr seltsam«, sagte meine Mutter. »Aber du mußt nachsichtig mit ihnen sein. Du kennst doch die Geschichte mit den Balken im eigenen Auge, oder?«

»Jetzt hörst du dich an wie Mrs. Polhenny, Mama«, unterbrach ich sie. »Sie zitiert ständig aus der Bibel. Bestimmt ist sie sich absolut sicher, nicht einmal den kleinsten Splitter in ihrem Auge zu haben.«

Träumerisch blickte ich über den Teich und bat sie, mir noch einmal die Geschichte meiner Entführung durch Jenny Stubbs zu erzählen. Jenny wohnte noch immer in ihrem kleinen Häuschen in der Nähe des Teiches. Alle dachten damals, ich wäre im Teich ertrunken, weil mein Spielzeug am Ufer lag und ich nirgendwo zu sehen war.

»Die Männer suchten den ganzen Teich ab«, berichtete meine Mutter mit weit geöffneten Augen, als blicke sie direkt in die Vergangenheit. »Das vergesse ich niemals. Ich glaubte, ich hätte dich für immer verloren.«

Ihre Gefühle überwältigten sie, und sie konnte nicht weitersprechen. Aber ich liebte diese Geschichte und wollte sie immer wieder hören. Jenny Stubbs hielt mich in ihrem Cottage versteckt. Als sie die Leute nach mir suchen hörte, läutete sie mit Spielzeugglocken und hoffte, sie mit diesen Tönen zu vertreiben. Sie sorgte zärtlich für mich, denn sie war davon überzeugt, ich wäre ihr eigenes kleines Mädchen, das sie verloren hatte.

Auch Pedrek gefiel die Geschichte, und er wurde niemals ungeduldig, wenn er sie wieder und wieder anhören mußte. Er wußte genau, daß ich nicht genug davon bekommen konnte, und er achtete stets darauf, die Gefühle anderer Menschen nicht zu verletzen.

Ich erinnere mich sehr gut an jenes Gespräch am Teich, denn in dem Augenblick, als wir über Jenny Stubbs sprachen, trat die Hauptperson dieser Geschichte aus ihrem Cottage und ging auf das Teichufer zu.

Sie sah uns nicht gleich und blieb singend am Ufer stehen. Ihre hohe, dünne Stimme zerriß die Stille auf unheimliche Weise.

Meine Mutter rief: »Guten Tag, Jenny.«

Erstaunt drehte sie sich um. »Wünsche Ihnen auch einen guten Tag, Madam«, erwiderte sie. Nun stand sie mit dem Rücken zum Wasser und blickte uns an. Der leichte Wind zerzauste ihr feines blondes Haar. Sie sah aus, als wäre sie nicht von dieser Welt.

»Geht es dir gut, Jenny?« fragte meine Mutter.

»O ja, danke, Madam. Mir geht’s gut.«

Langsam bewegte sie sich auf uns zu. Prüfend betrachtete sie Pedrek und mich. Ich erwartete, bei meinem Anblick ein gewisses Interesse in ihren Augen aufblitzen zu sehen. Immerhin war ich das Kind, das sie gestohlen und umsorgt hatte. Aber nichts dergleichen geschah. Später meinte meine Mutter, sie hätte den damaligen Vorfall bestimmt vollkommen vergessen. Wir müßten stets daran denken, daß Jenny ein wenig merkwürdig sei … nicht wie andere Leute. Sie lebe in ihrer eigenen Welt.

Dicht vor uns blieb sie stehen und sah meine Mutter fest an.

»Am Erntefest bekomme ich mein Baby«, sagte sie.

»Oh, Jenny …« antwortete meine Mutter und fügte rasch hinzu: »Bestimmt freust du dich sehr.«

»Es wird ein kleines Mädchen, da bin ich ganz sicher.«

Meine Mutter nickte. Jenny wandte sich um und ging zurück zu ihrem Cottage. Wieder sang sie mit ihrer merkwürdigen, fast überirdischen Stimme.

»Das ist wirklich sehr traurig«, sagte meine Mutter, als sich Jenny außer Hörweite befand. »Nach all den Jahren kann sie ihr Baby noch immer nicht vergessen.«

»Das Kind müßte heute ungefähr so alt sein wie ich«, warf ich ein. »Immerhin hat sie mich damals mit ihm verwechselt.«

Meine Mutter nickte. »Und jetzt glaubt sie, sie wäre wieder in anderen Umständen. Und nicht zum erstenmal. Immer wieder bildet sie sich eine Schwangerschaft ein.«

»Was passiert, wenn sie merkt, daß sie sich getäuscht hat?« wollte ich wissen.

»Wer weiß schon, was in diesem armen, verwirrten Kopf vorgeht. Aber sie kann hervorragend mit Kindern umgehen. In den paar Tagen, die du damals bei ihr verbracht hast, kümmerte sie sich rührend um dich.«

»Trotzdem wollte ich mit dir nach Hause gehen, oder? Als du mich in ihrem Häuschen entdeckt hattest, rannte ich zur Tür und schrie, weil ich Angst hatte, du würdest mich nicht mitnehmen.«

Wieder nickte meine Mutter. »Die arme, arme Jenny. Sie tut mir unendlich leid. Wir müssen zu ihr so nett sein, wie wir nur können.«

Schweigend blickten wir über den Teich. Ich dachte an die Tage in Jennys Cottage zurück und wünschte, ich könnte mich an Einzelheiten erinnern.

Ständig fallen mir kleine Vorkommnisse aus diesem letzten Sommer ein. Häufig habe ich Jenny auf dem Weg vom Teich zu ihrem Häuschen beobachtet. Stets sang sie dieselbe seltsam faszinierende Melodie.

Sie machte einen glücklichen Eindruck. Doch ihr Glück beruhte auf reiner Selbsttäuschung. Ihr schlichtes Gemüt sagte ihr, ihr sehnlichster Wunsch, wieder ein Kind zu haben, müsse einfach in Erfüllung gehen. Ich empfand grenzenloses Mitleid mit ihr.

Meine Großmutter kümmerte sich sehr viel um mich, und oft unternahmen wir zusammen etwas. Wir waren die besten Freundinnen. Eigentlich wirkte sie viel zu jung für eine Großmutter, und ich sah eher eine Tante in ihr.

Häufig sprach sie über meine Mutter. »Du mußt auf sie aufpassen. Sie hat eine schwere Zeit durchgemacht. Sie war mit einem wundervollen Mann verheiratet – deinem Vater. Aber er starb vor deiner Geburt, und sie blieb ganz allein zurück.«

Schon oft hatte sie mir erklärt, daß mein Vater nach Australien gegangen war, weil er ein Vermögen machen wollte, um der Familie nach der Rückkehr ein sorgenfreies und behagliches Leben in England zu ermöglichen. Ihn trieb die Hoffnung, Gold zu finden. Pedreks Eltern schlossen sich ihm und meiner Mutter an. Sie ließen sich in einer Goldgräbersiedlung nieder. Ein mutiges Unterfangen, denn keiner von ihnen hatte jemals zuvor Not und Elend erlebt. Großmutter erzählte mir von der lebensgefährlichen Arbeit in diesen Minen. Um die Gruben gegen Einsturz zu sichern, stützte man sie mit Holzpfählen ab. Trotzdem geschah das verhängnisvolle Unglück. Pedreks Vater hielt sich noch unten im Stollen auf, als es passierte. Mein Vater konnte ihn gerade noch retten. Er schob ihn über den Rand der Grube zu den Helfern. In diesem Augenblick geriet die Erde ins Rutschen, und die Erdmassen rissen meinen Vater in die Tiefe.

»Er hat sein Leben für seinen Freund geopfert«, schloß sie ihren Bericht.

»Das weiß ich«, gab ich zur Antwort. »Pedreks Mutter hat es mir erzählt. Sie sagte, Pedrek und ich dürften das nie vergessen. Wir müßten für immer Freunde bleiben.«

Sie nickte. »Ja, das wäre schön. Und du mußt deine Mutter zärtlich lieben, denn nach seinem Tod gab sie dir all die Liebe, die sie für ihn empfunden hat.«

Ich begriff, was sie meinte. Es war genau das, was ich von meiner Mutter erwartete.

Besonders gut erinnere ich mich an ein bestimmtes Erlebnis mit meiner Großmutter. An jenem Tag gingen wir nach West Poldorey zu der alten Kirche am Meer. Die kleine Kirche, erbaut zur Zeit der Normannen, erfüllte die Einwohner von West Poldorey mit gewaltigem Stolz, und die Leute von East Poldorey empfanden ein wenig Neid, weil die Kirche nicht auf ihrer Seite des Flusses stand. Schließlich kamen Menschen von überallher, um sie zu besichtigen. Man versuchte alles Erdenkliche, um ihren Verfall aufzuhalten. Unzählige Bazare und Gartenfeste wurden veranstaltet, auf denen Geld für die Instandsetzung des andauernd reparaturbedürftigen Daches gesammelt wurde. Man munkelte auch unheilvoll von Holzwürmern und irgendwelchen schädlichen Käfern.

Ich schlich mich gerne hinein, wenn niemand da war, und stellte mir all die Leute vor, die in dieser Kirche Trost gesucht hatten. Aus den Erzählungen meines Großvaters wußte ich, daß die Menschen sich hier zum Gebet versammelten, als die spanische Armada vor unserer Küste kreuzte, und auch später, als Napoleon das Land mit einer Invasion bedrohte. Wie in Cador, gelang es mir auch in dieser alten Kirche mühelos, mich in die Vergangenheit zurückzuversetzen.

Durch die geöffnete Kirchentür drangen Stimmen aus dem Innern des Gebäudes.

»Heute arrangieren sie den Blumenschmuck für die Hochzeit von John Polgarth«, meinte meine Großmutter.

John Polgarth, ein angesehenes Gemeindemitglied, besaß ein Lebensmittelgeschäft in East Poldorey. Seine Braut, Molly Agar, war die Tochter des Metzgers.

Die Hochzeit sollte am nächsten Tag stattfinden.

Wir traten durch die Tür, und sofort schlug mir Mrs. Polhennys befehlsgewohnte Stimme entgegen. Als Hebamme war sie in dieser Gegend eine wichtige Persönlichkeit. Die meisten der jüngeren Gemeindemitglieder hatten mit ihrer Hilfe das Licht der Welt erblickt. Offenbar leitete sie daraus das Recht ab, sich ein Urteil über das Verhalten und das geistliche Wohlergehen »ihrer« Kinder anzumaßen, denn sie mischte sich mit unnachsichtiger Strenge in deren ureigenste Angelegenheiten ein.

Natürlich machte sie das bei ihren Schützlingen nicht gerade sehr beliebt. Doch daran störte sie sich nicht. Ihr lag nichts an der Zuneigung anderer Menschen, für sie zählte nur, sie auf den tugendhaften Pfad des Heils zu führen.

Mrs. Polhenny war eine gute Frau, sofern man darunter eine Frau verstand, die jeden Sonntag zweimal und unter der Woche mehrmals zur Kirche ging, die ihre guten Taten ausschließlich zum Heil der Kirche vollbrachte, und die sich bei jeder Gelegenheit auf die Heilige Schrift berief. Selbstverständlich handelte sie stets aus der tiefsten Überzeugung ihrer eigenen Rechtschaffenheit und spürte sehr schnell und mit sicherem Instinkt die Sünden anderer auf.

Es gab fast niemanden in ihrer Umgebung, der nicht schon ihr Mißfallen erregt hätte. Nicht einmal der Vikar blieb von ihrer unnachsichtigen Kritik verschont. Ihrer Meinung nach legte er die Bibel zu wörtlich aus, indem er uneinsichtige Halunken und Sünder zu bekehren versuchte, anstatt sich mit ganzer Kraft seinen Schäfchen zu widmen, die sich durch ihre Frömmigkeit und Tugend bereits von allen Sünden reingewaschen hatten.

Ich mochte Mrs. Polhenny nicht, sondern hielt sie für eine ausgesprochen unangenehme Person. Mit ihrer damals sechzehnjährigen Tochter Leah hatte ich wenig Kontakt, dennoch empfand ich ein gewisses Mitleid mit ihr. Mrs. Polhenny war Witwe. Von einem Mr. Polhenny hatte ich nie etwas gehört. Zweifellos mußte sie verheiratet gewesen sein, sonst gäbe es keine Leah.

»Anscheinend hat sie ihn sehr schnell unter den Boden gebracht«, lautete der Kommentar von Mrs. Garnett, der Köchin in Cador, über Mr. Polhenny. »Der arme Kerl. Ich kann mir kaum vorstellen, daß er viele schöne Stunden mit ihr verlebt hat.«

Die auffallend hübsche Leah wirkte sehr verschüchtert. Sie machte den Eindruck, ständig über die Schulter zu blicken in der Befürchtung, gleich könnte der Teufel aus seinem Versteck auftauchen, um sie in Versuchung zu führen.

Leah war Näherin und fertigte auch wundervolle Stickereien an, die sie und ihre Mutter einmal im Monat an ein Geschäft in Plymouth verkauften. Ihre Arbeiten waren von auserlesener Schönheit, aber das arme Mädchen mußte auch unentwegt sticheln.

An jenem Tag half sie ihrer Mutter beim Schmücken der Kirche. Gemäß den genauen Anweisungen ihrer Mutter arrangierte sie die Blumen.

»Guten Morgen, Mrs. Polhenny«, grüßte meine Großmutter freundlich. »Was für herrliche Rosen.«

Mrs. Polhenny sah geschmeichelt aus. »Diese Rosen sind gewiß ein würdiger Rahmen für die Trauung, Mrs. Hanson.«

»O ja, ganz bestimmt … John Polgarth und Molly Agar.«

»Die ganze Stadt wird bei dieser Hochzeit in der Kirche sein«, fuhr Mrs. Polhenny fort und fügte betont hinzu: »Für die beiden wird es höchste Zeit.«

»Ich finde, Molly und John passen gut zueinander. Ein nettes Mädchen, die Molly.«

»Hm«, brummte Mrs. Polhenny. »Ein bißchen von der flatterhaften Sorte.«

»Sie hat eben viel Temperament.«

»Agar ist gut beraten, sie rasch zu verheiraten. Sie gehört nicht zu den Mädchen, die mit der Ehe warten können.« Mrs. Polhenny schürzte die Lippen und deutete damit ein geheimnisvolles Wissen an.

»Na, dann ist ja alles bestens«, antwortete Großmutter.

Im hinteren Teil der Kirche nahm ich eine Bewegung wahr. Mrs. Polhenny konzentrierte sich auf die Blumen und bemerkte nichts. Ich blickte mich um. Ein junges, mir unbekanntes Mädchen war hereingekommen, huschte in eine Bankreihe und kniete nieder.

Mrs. Polhenny befahl: »Bring mir den Wasserzerstäuber, Leah. Ich muß hier …« Jäh verstummte sie. Starr richtete sie ihren Blick auf das kniende Mädchen.

»Ich traue meinen Augen nicht«, verkündete sie laut und mit unüberhörbarer Entrüstung.

Wir schwiegen, weil wir nicht begriffen, was sie meinte. Sie ließ ihren Blumenschmuck im Stich, durchquerte mit energischen Schritten das Kirchenschiff und marschierte auf das Mädchen zu.

»Hinaus!« schrie sie. »Du Schlampe! Wie kannst du es wagen, diesen heiligen Ort zu betreten? Deinesgleichen hat hier nichts zu suchen.«

Das Mädchen erhob sich. Es schien, als würde es im nächsten Moment in Tränen ausbrechen.

»Ich wollte nur …« begann sie.

»Hinaus!« brüllte Mrs. Polhenny. »Hinaus, sage ich!«

Meiner Großmutter ging das entschieden zu weit, und sie griff ein. »Warten Sie. Was soll das? Was geht hier eigentlich vor?«

Das Mädchen warf uns einen ängstlichen Blick zu und rannte zur Kirche hinaus.

»Das fragen Sie noch?« schimpfte Mrs. Polhenny. »Das ist eine von den Huren aus Bays Cottages.« Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, und ihr Mund verzog sich zu einem dünnen Strich. »Aber obwohl ich es kaum über die Lippen bringe, sage ich Ihnen, daß sie im sechsten Monat schwanger ist.«

»Ihr Mann …«

Mrs. Polhenny lachte freudlos. »Ihr Ehemann? Diese Sorte wartet nicht auf einen Ehemann. Und sie ist nicht die erste aus dieser Sippschaft, das sage ich Ihnen. Die sind alle durch und durch verdorben. Mich wundert nur, daß unser Herrgott sie nicht auf der Stelle straft.«

»Vielleicht ist er Sündern gegenüber nachsichtiger als mancher Sterbliche.«

»Die kommen alle vor das Jüngste Gericht, machen Sie sich da mal keine Sorgen.« Mrs. Polhennys Augen funkelten, als sähe sie das Mädchen bereits im Fegefeuer.

»Immerhin kam sie in die Kirche«, entgegnete meine Großmutter, »und jeder wirklich fromme Mensch nimmt einen reuigen Sünder in die Gemeinschaft der Kirche auf.«

»Wenn ich der Herrgott wäre«, schnaubte Mrs. Polhenny, »unternähme ich etwas gegen Bays Cottages.«

»Glücklicherweise sind Sie nicht der Herrgott«, sagte meine Großmutter. »Erzählen Sie mir von dem Mädchen. Wer ist sie?«

»Daisy Martin. Die ganze Familie ist verdorben. Die Großmutter des Mädchens hat mit mir gesprochen. Sie bereut ihr lasterhaftes Leben. Nun ja, jetzt ist sie alt und fürchtet sich vor dem Tod. Und das wundert mich gar nicht. Wegen ihrer Enkelin habe ich zu ihr gesagt: ›Sie ist im sechsten Monat schwanger, und wo ist der Mann?‹ Sie hat behauptet, der Vater sei einer von den Erntearbeitern. Das Mädchen ist erst sechzehn. Schändlich, kann ich da nur sagen.«

»Aber Sie werden der Mutter natürlich als Hebamme beistehen.«

»Was bleibt mir denn anderes übrig? Auch wenn ein Baby in Sünde gezeugt worden ist, ist es meine Pflicht, ihm auf die Welt zu helfen. Gott hat mich zu dieser Arbeit berufen, und nichts hält mich davon ab.«

»Das freut mich«, meinte meine Großmutter. »Wir dürfen die Kinder nicht für die Sünden der Eltern büßen lassen.«

»Wir sind alle Gottes Kinder, gleichgültig, von wem wir abstammen. Aber was dieses verdorbene Geschöpf betrifft … Ich hoffe, sie werfen sie gleich nach der Geburt des Kindes hinaus. Es schadet den Nachbarn, wenn sie mit einer wie der Zusammenleben müssen.«

»Sie ist doch erst sechzehn.«

»Alt genug, um zu wissen, was sie tut.«

»Sie ist nicht die erste, der das passiert.«

»Das beweist nur, wie lasterhaft es auf dieser Welt zugeht. Aber der Herrgott wird Vergeltung üben«, versicherte uns Mrs. Polhenny. Sie blickte zu den Dachbalken hinauf, als könne sie direkt in den Himmel sehen. Jetzt fordert sie den lieben Gott auf, endlich seine Pflichten zu erfüllen, dachte ich.

Meine Großmutter empfand Mitleid mit der auf die schiefe Bahn geratenen Daisy. Mrs. Polhenny redete unbeirrt weiter: »Das sündhafte Treiben in Poldorey … also, ich bin davon überzeugt, daß Sie schockiert wären, wenn Sie wüßten, was da alles passiert.«

»Na, dann danke ich Gott für meine Unwissenheit.«

»Eines Tages übt der Herr Rache. Denken Sie an meine Worte.«

»Es fällt mir schwer, in East und West Poldorey ein Sodom und Gomorrha zu sehen.«

»Es kommt noch soweit. Wir werden es alle erleben.«

»Das hoffe ich nicht. Aber wir wollen Sie nicht weiter von der Arbeit abhalten. Auf Wiedersehen, Mrs. Polhenny.«

Draußen vor der Kirche atmete meine Großmutter tief durch. Dann wandte sie sich lachend an mich. »Eine schrecklich selbstgerechte Frau. Da ist mir jeder Sünder lieber. Wenigstens ist sie eine gute Hebamme. Weit und breit gibt es keine bessere. Meine Liebe«, sie sprach mit mir wie mit einer Erwachsenen, »wir müssen uns um das arme Mädchen kümmern. Gleich morgen gehe ich zu den Cottages hinüber und versuche, mehr zu erfahren.«

Dann erinnerte sie sich daran, daß ich noch ein Kind war und nicht mit allem konfrontiert werden durfte und wechselte das Thema. »Heute nachmittag fahren wir nach Pencarron. Ist es nicht herrlich, daß auch Pedrek seine Großeltern so oft besucht?«

Mir ging Mrs. Polhenny nicht aus dem Kopf. Ihr Cottage lag kurz hinter East Poldorey, und jedesmal, wenn ich daran vorbeiging, musterte ich es gründlich. Häufig lagen über den Sträuchern Wäschestücke zum Trocknen ausgebreitet, an den makellos sauberen Fenstern hingen Spitzenvorhänge, und die Steintreppen, die zur Vordertür hinaufführten, glänzten immer wie frisch geschrubbt. Sie glaubte wohl, Sauberkeit und Frömmigkeit seien der Inbegriff eines tugendhaften Lebens.

Ein- oder zweimal sah ich Leah am Fenster. Emsig arbeitend, saß sie über ihren Stickrahmen gebeugt. Sie sah von ihrer Arbeit auf und bemerkte mich. Ich lächelte und winkte, und sie erwiderte meinen Gruß.

Zu gerne hätte ich mich mit ihr unterhalten, um zu erfahren, wie man eine Mutter wie Mrs. Polhenny erträgt. Aber es bot sich keine Gelegenheit zu einem Gespräch, denn sie wandte sich gleich wieder ihrer Arbeit zu.

Arme Leah! Bestimmt war es nicht leicht, die Tochter einer frommen Frau zu sein, die es für ihre Pflicht hielt, über die Moral des ganzen Landes zu wachen. Wahrscheinlich vertrat sie in ihrem eigenen Haus noch engstirnigere Moralprinzipien.

Ich dankte Gott für meine Mutter, meine Großeltern und die Pencarrons. Sie orientierten sich nicht in jeder Hinsicht an den Gesetzen Gottes, weswegen es sich mit ihren entschieden angenehmer lebte.

Dieser Sommer verlief wie gewohnt. Meine Großmutter machte Besuche in Bays Cottages und schenkte dem jungen Mädchen Kleidung und Lebensmittel. Mit Mrs. Polhennys Hilfe brachte Daisy einen gesunden Jungen zur Welt, und meine Großmutter lobte die Fähigkeiten der Hebamme.

In diesem Jahr begegnete ich Jenny Stubbs häufiger als sonst. Vielleicht kam es mir auch nur so vor, weil ich bewußter auf sie achtete. Sie diente bei einer der Bäuerinnen in der Umgebung, und ich hörte, daß sie zuverlässig und gut arbeitete. Sie wurde von den anderen trotz ihrer wirren Gedanken und Reden akzeptiert. Mrs. Bullet, die Bäuerin, achtete darauf, daß niemand sie hänselte oder ihr gar die Wahrheit über ihren Zustand verriet. »Sie tut doch niemandem was zuleide«, sagte Mrs. Bullet, »so laßt der armen Seele ihre Vorfreude auf das Kind.«

Jenny, mit ihrer dünnen Stimme eigenartige Melodien singend, und Mrs. Polhenny, fortwährend Rechtschaffenheit und Tugend predigend … das sind meine deutlichsten Erinnerungen an jenen letzten Sommer.

Im Rückblick erscheint mir das irgendwie bedeutsam.

Mein Leben ging gleichförmig weiter. Ich winkte den Großeltern zum Abschied und fühlte mich gleichzeitig traurig und freudig erregt bei dem Gedanken an die Rückkehr nach London. Mühsam versuchte ich, meine Vorfreude auf die Stadt vor ihnen zu verbergen.

»Ich wünschte, wir wären alle Nachbarn«, sagte ich zu Pedrek, »dann müßten wir uns nicht ständig trennen.«

Er hatte das gleiche Problem. Seine Großmutter brach bei seiner Abreise fast in Tränen aus. Wie ich, wollte auch er zeigen, wie traurig er wegen des Abschieds war, und konnte doch die Freude über das bevorstehende Wiedersehen mit seinen Eltern nicht ganz verheimlichen. Die Übereinstimmung unserer Gefühle hatte Pedrek und mich schon immer verbunden.

In London erwarteten uns Pedreks Eltern am Bahnhof. Das übliche Ritual spielte sich ab. Wenn ich mit seinen Eltern gereist war, holte uns stets meine Mutter ab. Diese tröstlichen Alltäglichkeiten lernte ich erst zu schätzen, als sich alles geändert hatte.

Ehe wir uns von den Cartwrights und Pedrek trennten, fuhren wir alle zu uns nach Hause und tranken gemeinsam Tee.

Sie stellten uns unzählige Fragen, und Pedrek und ich erzählten begeistert von unseren Erlebnissen in Cornwall.

Während wir alle am Tisch saßen – auch Miß Brown und Pedreks Hauslehrer –, wurde ein Besucher angemeldet.

»Mr. Benedict Lansdon!« verkündete Jane. Und schon stand er im Zimmer – hoch gewachsen und schlank und all das verkörpernd, was man gemeinhin eine imponierende Erscheinung nannte.

»Benedict!« rief meine Mutter und erhob sich sofort.

Sie trat zu ihm, und er ergriff ihre Hände. Lächelnd blickten sie einander an.

Dann wandte sie sich an uns. »Ist das nicht eine schöne Überraschung?«

»Ich habe mich erkundigt, welchen Zug ihr nehmt, weil ich euch gleich heute begrüßen wollte«, erklärte Benedict Lansdon.

»Komm, setz dich und trink eine Tasse Tee mit uns«, sagte meine Mutter mit warmer Stimme.

Er schenkte uns allen ein Lächeln, und wir tauschten allgemeine Höflichkeiten aus.

Ich war enttäuscht. Durch seinen Besuch waren wir von unserer gewohnten Unterhaltung, die nach jeder Cornwallreise stattfand, abgekommen. Zu der üblichen Verabredung für den nächsten Tag kam es auch nicht.

»Wie läuft’s in den Bergwerken?« erkundigte sich Benedict lächelnd bei Pedreks Vater.

»Es geht so«, antwortete Justin Cartwright. »Aber ich glaube, Sie wissen darüber besser Bescheid als ich. Obwohl ich vermute, daß es Unterschiede zwischen einer Zinn- und einer Goldmine gibt.«

»Ganz bestimmt sogar«, versicherte ihm Benedict Lansdon. »Aber ich habe mit Minen kaum noch etwas zu tun. Ich widme mich wieder der Politik«, erklärte Benedict Lansdon und warf meiner Mutter einen vielsagenden Blick zu.

»O Benedict, das ist ja wunderbar. Ich habe immer gesagt …« begeisterte sich meine Mutter.

Er sah sie an und nickte. Sie verstanden sich auch ohne Worte. Ich fühlte mich ausgeschlossen und wußte instinktiv, daß sie beide mehr verband, als meine Mutter mich hatte wissen lassen.

»Ich weiß«, fuhr er fort. »Und genau das habe ich jetzt getan.«

»Erzählen Sie uns mehr darüber, Benedict«, bat Morwenna, Pedreks Mutter.

»Gerne, es ist kein Geheimnis«, antwortete er. »Ich bin als Kandidat für Manorleigh in die engere Wahl gekommen.«

»Das ist doch Ihr alter Wahlbezirk«, rief Justin.

Benedict nickte, ohne seinen Blick von meiner Mutter zu wenden. Ich ließ sie nicht aus den Augen.

»Im Grunde verdanke ich diese Ehre einem reinen Zufall«, sagte Benedict. »Leider ist Tom Dollis ganz plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben. Der Arme war noch gar nicht alt. Ihm war keine lange Zeit als Abgeordneter beschieden. Die Nachwahl findet schon bald statt.«

»Ist das nicht eine Hochburg der Konservativen?« fragte Justin.

Benedict nickte abermals. »Schon seit Jahren. Aber einmal wurde die konservative Vorherrschaft fast gebrochen.«

Erneut ruhte sein Blick auf meiner Mutter. »Falls ich gewählt werde, sollten wir uns bemühen, den Sitz für die Liberalen zu erobern.«

Wir? Er bezog also meine Mutter in seine Pläne mit ein.

Sie hob ihre Teetasse. »Leider habe ich gerade keinen Champagner zur Hand«, sagte sie. »Also trinke ich mit Tee auf deinen Erfolg.«

»Was spielt das Getränk für eine Rolle?« meinte er. »Nur die guten Wünsche zählen.«

»Ich bin schrecklich aufgeregt und hoffe sehr, daß du gewinnst.«

Wieder dieses Einvernehmen zwischen den beiden.

»Ich auch«, sagte er. »Und ich wußte, du würdest das sagen.«

Morwenna meldete sich zu Wort. »Soweit ich weiß, sind Sie ein glühender Anhänger von Mr. Gladstones Politik.«

»Liebe Mowenna, er ist der bedeutendste Politiker unseres Jahrhunderts.«

»Was ist mit Peel? Oder mit Palmerston?« begann Justin Cartwright.

Benedict machte nur eine verächtliche Handbewegung.

»Viele halten auch Disraeli für einen sehr befähigten Politiker«, fügte Mowenna hinzu.

»Dieser Emporkömmling! Er verdankt doch seinen Aufstieg nur seinen aalglatten Schmeicheleien bei der Königin.«

»Nun machen Sie aber einen Punkt«, fiel ihm Justin ins Wort. »Da steckt ganz bestimmt mehr dahinter. Dieser Mann ist ein Genie.«

»Mit einem Hang zur übertriebenen Selbstdarstellung.«

»Er ist Premierminister geworden.«

»Ja, vielleicht für einen Monat oder zwei …«

Meine Mutter brach in lautes Gelächter aus. »Oje, jetzt stecken wir mitten in der Tagespolitik. Wann findet die Nachwahl statt, Benedict?«

»Im Dezember.«

»Dann muß sich die Partei schon in Kürze auf einen Kandidaten einigen.«

»Auf jeden Fall bleibt mir nicht viel Zeit zur Vorbereitung. Trotzdem muß ich es schaffen.«

Weder Pedrek noch ich hatten im Verlauf dieser Unterhaltung auch nur ein Wort gesagt. Ich fragte mich, ob er wohl dasselbe dachte wie ich. Nämlich daß sie unsere Anwesenheit einfach vergessen hatten. Sonst erkundigten sie sich bei unserer Rückkehr nach unseren Reitfortschritten, fragten nach dem Befinden der Großeltern, ob wir schönes Wetter hatten und dergleichen mehr.

Aber an diesem Tag sprachen sie nur über Gladstones Reformpläne für Irland. Natürlich war Benedict Lansdon bestens informiert. Er spielte den Wortführer, und die anderen dienten ihm als Publikum. Wir erfuhren, daß Gladstone über die katastrophalen Verhältnisse und die wachsende Unzufriedenheit in Irland beunruhigt war. Er war davon überzeugt, daß die neue Regierung die Angelegenheit in den Griff bekommen würde.

Das war unsere Heimkehr.

»Dieser Benedict Lansdon hat alles verdorben«, sagte ich enttäuscht zu Pedrek.

Von nun an bestimmte dieser Mann unser Leben. Andauernd besuchte er uns. Wollte ich mit meiner Mutter im Park Spazierengehen, schloß er sich uns an. In eine angeregte Unterhaltung vertieft, schritten die beiden nebeneinanderher, ohne von mir Notiz zu nehmen. Hin und wieder richtete er eine beiläufige Bemerkung an mich oder erkundigte sich nach meinen Reitfortschritten und meinte, wir müßten endlich alle miteinander ausreiten.

Er wurde natürlich gewählt – wie es meine Mutter prophezeit hatte –, und er trug sich mit dem Gedanken, in Manorleigh ein Haus zu kaufen. Er bat meine Mutter, mit ihm dorthin zu fahren und ihm bei der Suche danach zu helfen.

Ich wünschte ihn so bald wie möglich fort. Während er sich nach einem geeigneten Kaufobjekt umsah, wohnte er in Manorleigh in einem möblierten Haus zur Miete. Leider hielt er sich auch häufig in London auf.

Inzwischen nahte schon der November. Im Park kehrten die Gärtner die Blätter zu großen Laubhaufen zusammen, und ein herrlicher Geruch nach Rauch lag in der Luft. Ein silbriger Dunst schwebte zwischen den Bäumen und ließ alles in einem geheimnisvollen Licht erscheinen. Pedrek und ich hatten den Herbst immer genossen. Wir liefen durch das raschelnde Laub und malten uns die phantastischsten Abenteuer aus.

Doch in jenem Jahr bereiteten mir diese Spiele kein Vergnügen. Ich fühlte ein merkwürdiges Unbehagen.

Und dann … Dann kam der Tag, an dem ich das Schlimmste erfuhr.

Ich lag bereits im Bett und las. Das war mir erlaubt, bis Miß Brown kam und das Licht löschte.

Meine Mutter kam ins Zimmer. Ihre Augen strahlten. Ich hatte einmal gehört, manche Menschen würden von innen heraus leuchten, und auf sie traf das an diesem Abend zu. Noch nie zuvor hatte ich den Ausdruck so reinen Glücks gesehen.

Sie beugte sich zu meinem Bett herunter und schloß mich in die Arme.

»Rebecca, du sollst es als erste erfahren.«

Ich lehnte meinen Kopf an ihre Schulter.

Sie strich mir über das Haar. »Immer hat es nur uns beide gegeben, das weißt du. Mich und dich. Ja, natürlich auch die Familie, die wir zärtlich lieben. Aber zwischen uns – zwischen dir und mir – bestand stets eine ganz besondere nahe und liebevolle Verbundenheit. Und das soll auch so bleiben, unser ganzes Leben lang.«

Ich nickte. Eine unbestimmte Angst stieg in mir hoch. Dunkel ahnte ich, was sie mir mitteilen wollte.

Und schon kam es: »Ich werde wieder heiraten, Rebecca.«

»Nein, nein«, murmelte ich.

Sie hielt mich ganz fest. »Du wirst ihn ebenso liebgewinnen wie ich. Er ist ein wunderbarer Mann. Ich kenne ihn seit meiner Jugendzeit. Damals war ich kaum älter als du heute. Zwischen uns bestand immer eine ganz besonders innige Freundschaft.«

»Aber du hast doch meinen Vater geheiratet«, erinnerte ich sie.

»Ja, natürlich. Doch ich bin schon sehr lange Witwe. Schon sehr, sehr lange.«

»Gerade zehn Jahre«, warf ich ein. »Er starb kurz vor meiner Geburt.«

Sie nickte. »Du fragst gar nicht …« begann sie.

Das brauchte ich nicht. Ich wußte es. Doch ehe ich antworten konnte, sprach sie es aus: »Ich heirate Mr. Benedict Lansdon.«

Obgleich ich gewußt hatte, daß es sich nur um ihn handeln konnte, erschauderte ich.

Sie fuhr fort: »Du wirst ihn gern haben, Rebecca. Er ist ein ganz außergewöhnlicher Mann.«

Ich schwieg. Was hätte ich auch darauf sagen sollen? Auf ihren ersten Satz hin hätte ich nur antworten können: Niemals. Und auf den zweiten: Ja, ich weiß, er ist außergewöhnlich. Aber ich mag keine außergewöhnlichen Menschen. Mir gefallen ganz gewöhnliche, freundliche, nette Menschen.

»Nichts wird sich ändern«, versuchte sie mich zu beruhigen.

»Doch«, erwiderte ich.

»Nun ja, ein paar kleine Änderungen ergeben sich zwangsläufig – aber nur zum Besseren hin. Oh, Rebecca, ich bin so glücklich. Ich liebe ihn schon lange. Er ist ganz anders als alle Männer, die ich je gekannt habe. In unserer Kindheit erlebten wir gemeinsam viele Abenteuer. Dann habe ich ihn aus den Augen verloren und lernte deinen Vater kennen.«

»Mein Vater war ein großartiger Mann. Ein Held.«

»Ja. Wir waren sehr glücklich. Aber er ist tot. Er würde nicht wollen, daß ich mein Leben lang um ihn trauere. Auch du wirst glücklich sein, Rebecca. Jeder Mensch braucht einen Vater.«

»Ich habe einen Vater.«

»Ich meine einen Vater, der für dich da ist. Der dir hilft, dir Ratschläge gibt und dich liebt.«

»Aber ich bin nicht seine Tochter.«

»Du wirst seine Stieftochter sein, Rebecca, ich bin überglücklich heute abend. Bitte, mach mir nicht das Herz schwer. Du wirst dich bestimmt an den Gedanken gewöhnen. Was liest du gerade?«

»Robinson Crusoe«.

»Ein spannendes Buch, nicht wahr? Gestern sah ich Pedrek darin lesen.«

Ich nickte.

Sie küßte mich. »Ich wollte unbedingt, daß du es als erste erfährst. Gute Nacht, mein Schatz.«

Sie fühlte sich unbehaglich, weil ich durch meine ablehnende Haltung ihr Glück getrübt hatte – wenn auch nur ein wenig. Ich wußte, sie würde sich mit dem Gedanken trösten, daß ich noch ein Kind und bestimmt nur eifersüchtig sei.

Vielleicht hätte ich mich erfreut zeigen sollen, aber ich verabscheute Heuchelei.

In der Familie herrschte eitel Freude. Anläßlich der Verlobung lud Onkel Peter zu einer festlichen Abendgesellschaft ein. Die Hochzeit sollte bald stattfinden.

Meine Großeltern wollten zur Trauung nach London kommen. Sie hatten ihre Glückwünsche bereits brieflich übersandt und ihre Zufriedenheit über die bevorstehende Heirat zum Ausdruck gebracht. Auch Onkel Peter freute sich sehr. Er mochte meine Mutter und war stolz auf Benedict, der es ohne seine Hilfe zu einem Vermögen gebracht hatte. Ich vermute, ihm lag Benedict mehr am Herzen als sein eigener Sohn Peterkin, der sein Leben dem Wohltätigkeitswerk der Mission verschrieben hatte, oder Helena, die mit Martin Hume eine vorbildliche Ehe führte.

In unserem Haus herrschte dagegen eine eher gedrückte Stimmung.

Das Personal schien besorgt in die Zukunft zu blicken, machte aber mir gegenüber keinerlei Andeutung darüber. Ohne jedes Schuldgefühl belauschte ich ihre Gespräche. Ich mußte unbedingt wissen, welche Zukunftssorgen sie beschäftigten. In unserem kleinen Haus entging mir kaum ein Wort.

Einmal hörte ich Mr. und Mrs. Emery miteinander reden. Sie räumte Wäsche in den Schrank, die ihr Mann ihr reichte. Da sie sich in der Nähe meines Zimmers befanden, brauchte ich die Tür nur einen Spaltbreit zu öffnen – ein solches Benehmen schien mir angesichts der besonderen Umstände durchaus erlaubt –, um jedes Wort zu verstehen.

Sie sagte: »Ich mache mir keine Sorgen. Bestimmt bekommen wir rechtzeitig Bescheid.«

»Sie haben dort ein neues Haus. Aber wie ich Mrs. Mandeville kenne, läßt sie die Leute, die ihr treu gedient haben, nicht im Stich.«

»Das schon, falls sie in dieser Frage überhaupt etwas zu bestimmen hat, aber …«

»Warum denn nicht? Schließlich ist sie die Herrin, oder?«

»Du hast ja recht. Ich hoffe, er überläßt die Entscheidungen in den häuslichen Dingen ihr.«

»Ich bezweifle, daß er das Haus kauft, bevor alles entschieden ist.«

»Also, ich weiß nicht. Er ist doch bereits so gut wie gewählt. Das heißt, wenn er die Nachwahl verliert, dann gewinnt er eben die nächste Wahl. Die allgemeinen Wahlen finden schon bald statt. Ja, ich rechne damit, daß er das Haus kauft. Schließlich ist er bereits als Kandidat aufgestellt worden.«

»Glaubst du, er kommt ins Parlament?«

»Er gehört zu den Menschen, die alles erreichen, was sie anstreben.«

»Vergiß nicht, was das letztemal passiert ist. Schließlich war er in einen handfesten Skandal verwickelt.«

Ich lauschte noch aufmerksamer. Das durfte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. Was für ein Skandal? Wußte meine Mutter davon?

»Aber es hat sich alles aufgeklärt, oder?«

»Anscheinend. Anfangs waren alle von seiner Schuld überzeugt gewesen. Alle glaubten, er hätte sie umgebracht.«

»Soweit ich weiß, hat sich zweifelsfrei herausgestellt, daß sie das Zeug selbst eingenommen hat.«

»Jedenfalls kam ihr Tod ihm sehr gelegen.«

»Gelegen! Diese Geschichte hat ihn seinen Sitz im Parlament gekostet. Er hatte ihn so gut wie in der Tasche.«

»Wer weiß. Sein Bezirk ist eine Hochburg der Tories, und er ist ein Liberaler.«

»Die Tories waren ganz schön nervös. Es sah tatsächlich so aus, als hätte er es geschafft. Er wäre in die Geschichte eingegangen. Zum erstenmal seit ungefähr hundert Jahren hätten die Tories in diesem Bezirk verloren.«

»Aber das Wunder ist nicht geschehen.«

»Nein. Weil seine arme Frau unter geheimnisvollen Umständen gestorben ist.«

»Aber ich sagte dir doch, es hat sich aufgeklärt. Er hat sie nicht umgebracht.«

»Meiner Meinung nach war es so das beste. Die Tories haben ihren Sitz behalten.«

»Ach, du und deine Tories. Ich bin für die Liberalen.«

»Was verstehst denn du schon davon?«

»Bestimmt nicht weniger als du. So! Hier sind wir fertig. Komm mit. Ich muß mich um das Essen kümmern.«

Leise schlich ich von der Tür weg.

Dieses Gespräch hatte mich innerlich aufgewühlt, und eine böse Vorahnung überfiel mich.

Er war schon einmal verheiratet gewesen. Seine Frau war gestorben … unter mysteriösen Umständen. Seine erste Frau. Und bald sollte meine Mutter seine zweite Frau werden.

Ich überlegte, was ich tun konnte. Sollte ich sie warnen? Doch mußte ihr dieser lange zurückliegende Skandal bekannt sein. Scheinbar störte sie sich nicht daran. Sie verhielt sich, als hätte er sie verzaubert.

Gerne hätte ich mit jemandem darüber gesprochen. Die Emerys oder eines der Mädchen zu fragen hatte wenig Zweck, denn von ihnen würde ich keine zufriedenstellende Auskunft bekommen.

Es blieb mir nur eine Möglichkeit, und zwar Pedrek. Ich mußte ihn um Hilfe bitten. Gemeinsam konnten wir herausfinden, was dahintersteckte.

Er half mir bereitwillig. Vom Butler der Cartwrights, mit dem er befreundet war, erfuhr er, Benedict Lansdon hätte sich vor längerer Zeit schon einmal in Manorleigh zur Wahl gestellt. Kurz vor dem Wahltermin verstarb seine Frau, eine farblose, ziemlich nervöse Person. Ihm sagte man eine sehr enge Freundschaft mit Mrs. Grace Hume nach. Man munkelte, Benedict hätte seine Frau umgebracht, damit sie ihm nicht mehr im Weg stünde. Diese Gerüchte hielten sich bis zur Wahl. Es gelang ihm nicht, seine Unschuld zu beweisen. Ohne dieses Gerede hätte Benedict Lansdon höchstwahrscheinlich einen Parlamentssitz errungen. Aufgrund des Skandals erlitt er jedoch eine schwere Niederlage. Später fand man einen Brief, den seine Frau vor ihrem Tod geschrieben hatte. Darin stand, sie würde sich das Leben nehmen, weil sie an einer unheilbaren Krankheit leide und große Schmerzen habe.

Dieser Abschiedsbrief entlastete ihn völlig, aber die Wahl hatte er verloren. Er zog sich ganz von der Politik zurück.

Seine Vergangenheit barg also ein düsteres Geheimnis. Und dieser Mann wollte meine Mutter heiraten und sie mir wegnehmen!

Entgegen den Versprechungen meiner Mutter veränderte sich alles zum Schlechten. Ich bekam sie kaum noch zu Gesicht. Die ganze Familie schmiedete Pläne für die Hochzeit. Onkel Peter wünschte ein großes Fest.

»Nichts liebt die Öffentlichkeit mehr als romantische Liebesgeschichten«, behauptete er. »Und wenn du ins Parlament willst, schadet Publicity nicht, jedenfalls nicht, solange man dich mit angenehmen Dingen in Verbindung bringt.«

»Das ist typisch Onkel Peter«, sagte meine Mutter lachend. Damals lachte sie sehr oft. »Mir ist es vollkommen gleich, ob wir eine große Hochzeit oder ein Fest im kleinen Kreis feiern.«

Tante Amaryllis ergriff natürlich Onkel Peters Partei.

Benedict Lansdon kümmerte sich um das Haus in Manorleigh. Meine Mutter hatte mich mitgenommen, weil sie unbedingt wollte, daß ich es mir ansah. »Schließlich werden wir uns die meiste Zeit dort aufhalten, denn wir dürfen auf keinen Fall den Wahlbezirk vernachlässigen.«

»Was geschieht mit unserem Haus?« fragte ich.

»Wahrscheinlich verkaufe ich es. In London steht uns bald das Haus deines … Stiefvaters zur Verfügung.«

Ich fühlte, wie ich rot wurde. Mein Stiefvater! Wie sollte ich ihn anreden? Ich konnte unmöglich Mr. Lansdon zu ihm sagen. Onkel Benedict? Er war nicht mein Onkel. Allerdings nannte ich etliche Mitglieder unserer Familie Onkel, obwohl sie im Grunde kein Anrecht auf diese Bezeichnung hatten. Onkel war ein vager Begriff. Ich beriet mich mit Pedrek. Staunend stellte ich fest, wie aus einer Nebensächlichkeit ein so großes Problem wurde. Sollte ich etwa Vater zu ihm sagen? Niemals! Blieb also nur Onkel. Ich fühlte mich dieser peinlichen Situation hilflos ausgeliefert, und das verwirrte mich mehr und mehr.

Meine Mutter tat so, als merke sie meine Verwirrung nicht, und verhielt sich, als wäre alles in bester Ordnung.

»Wir haben sein Haus in London. Es bietet mehr als genug Platz für uns alle. Und dann natürlich noch das Anwesen in Manorleigh. Oh, es wird herrlich werden, Becca.« Im Überschwang ihrer Gefühle gebrauchte sie neuerdings wieder diesen vertrauten Kosenamen aus meiner Babyzeit. »Es gefällt dir bestimmt. Das Haus in Manorleigh liegt am Stadtrand, fast auf dem Land. Du kannst dort herrliche Ausritte unternehmen. Und du bekommst ein schönes Schulzimmer. Miß Brown – wir alle – setzen große Hoffnungen in dich.«

»Was ist mit Mr. und Mrs. Emery?«

»Oh, ich habe – wir haben darüber gesprochen. Ich frage die beiden, ob sie mit uns nach Manorleigh möchten.«

Diese Antwort erleichterte mich ein wenig. Wenigstens mußte ich nicht auf die vertrauten Gesichter verzichten. Und sie mußten sich keine Sorgen um ihre Arbeit machen.

»Bestimmt kommen sie gerne mit. Zufällig habe ich gehört, wie sie miteinander gesprochen haben und …«

»Aha. Was sagten sie denn?«

»Sie machten sich Sorgen, was mit ihnen geschehen wird. Aber sie hofften, dir läge das Wohl deiner Leute am Herzen.«

»Selbstverständlich. Ich gebe den beiden gleich Bescheid. Dann können sie sich ihre Entscheidung in Ruhe überlegen. Was sagten sie denn noch?«

Ich schwieg. Fast hätte ich ihr erzählt, was sie über seine erste Frau gesagt hatten. Doch der Augenblick ging vorüber. Anscheinend war ihr mein Zögern nicht aufgefallen.

»Ach, weiter nichts. Jedenfalls kann ich mich an nichts erinnern.«

Zum erstenmal log ich sie an.

Er hatte sich bereits zwischen uns gestellt.

Meine Großeltern trafen in London ein. Ihre unverhohlene Bewunderung für Benedict Lansdon und ihre Freude über die bevorstehende Hochzeit enttäuschten mich sehr.

In unserer Familie sprach man von nun an häufig über Wahlbezirke und allgemeine Wahlen.

»Die Chancen für die Liberalen stehen im Augenblick nicht besonders gut«, meinte mein Großvater. »Gladstone liegt zwar nicht schlecht, aber er könnte erneut über die irische Frage stolpern.«

»Wenn die Zeit dafür reif ist, wird bestimmt auch dieses Problem gelöst«, entgegnete meine Mutter. »Im Grunde wollen wir gar nicht, daß alles so schnell geht. Benedict muß zuerst Gelegenheit haben, sich im Parlament Gehör zu verschaffen.«

»Das wird ihm zweifellos gelingen«, fügte meine Großmutter im Brustton der Überzeugung hinzu.

Schon bald nach ihrer Ankunft fiel ihr mein verändertes Verhalten auf.

Meine Großmutter wollte ungestört mit mir reden, und an einem dieser nebligen Tage im Spätherbst gingen wir im Park spazieren. Ein sanfter Südwestwind trieb sein Spiel mit den Nebelschwaden, und die dampfende Feuchtigkeit legte sich angenehm auf die Haut. Der unverwechselbare Geruch des Herbstes lag in der Luft. An den Bäumen hingen die letzten bunten Blätter.

Nach einiger Zeit brach sie das Schweigen. »Ich glaube, du fühlst dich ein wenig ausgeschlossen, stimmt’s?«

Ich gab keine Antwort. Sie nahm meinen Arm.

»Dazu besteht kein Grund. Zwischen dir und deiner Mutter ändert sich nichts.«

»Doch«, erwiderte ich brüsk. »Er ist andauernd da.«

»Du wirst dich bei ihm wohl fühlen. Er wird wie ein Vater für dich sein.«

»Ich habe einen Vater. Niemand hat zwei Väter.«

»Mein liebes Kind, dein Vater ist vor deiner Geburt gestorben. Du hast ihn gar nicht gekannt.«

»Aber ich weiß, daß er Pedreks Vater das Leben gerettet hat. Und ich will keinen anderen Vater.«

Sie drückte meinen Arm. »Die Heirat kommt für dich überraschend. Viele Menschen empfinden in einer solchen Situation genauso wie du. Du fürchtest dich vor der Veränderung. Ja, natürlich ändert sich einiges. Aber hast du schon mal daran gedacht, daß dein Leben dadurch schöner werden könnte?«

»Mir gefiel es, wie es war.«

»Deine Mutter ist sehr glücklich.«

»Ja«, stimmte ich ihr bitter zu. »Seinetwegen.«

»Deine Mutter und du, ihr wart ständig zusammen. Durch den Tod deines Vaters war das unvermeidlich. Ich weiß, zwischen euch beiden besteht eine sehr enge, besondere Verbindung. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Aber sie und Benedict … sie waren immer schon gute Freunde.«

»Warum hat sie dann meinen Vater geheiratet? Er muß ihr doch nähergestanden haben.«

»Benedict ging nach Australien und verschwand aus ihrem Leben. Irgendwann sind beide eine Ehe eingegangen.«

»Ja. Und mein Vater hat einem Mann das Leben gerettet. Seine Frau ist gestorben.«

»Warum betonst du das so, Rebecca?«

»Immerhin ist sie unter merkwürdigen Umständen gestorben.«

»Wer hat das gesagt?«

Ich preßte die Lippen zusammen. Auf keinen Fall durfte ich die Emerys verraten.

»Sag mir, was du gehört hast«, drängte sie.

Ich schwieg eisern.

»Bitte, Rebecca, sag es mir«, bat sie inständig.

»Als sie starb, dachten alle, er hätte sie umgebracht, weil er sie los sein wollte. Und wegen dieses Skandals hat er die Wahl verloren. Später entdeckte man, daß sie Selbstmord begangen hatte.«

»Das stimmt«, bestätigte meine Großmutter. »Die Leute sagen anderen gerne etwas Schlechtes nach. Und ganz besonders, wenn es sich um eine bekannte Persönlichkeit handelt.«

»Aber sie ist tot.«

»Ja.«

»Ich wünschte, meine Mutter würde ihn nicht heiraten.«

»Rebecca, urteile erst über ihn, wenn du ihn kennengelernt hast.«

»Ich kenne ihn gut genug.«

»Nein, ganz bestimmt nicht. Wir kennen nicht einmal die Menschen genau, die uns sehr nahestehen. Er liebt deine Mutter. Und sie liebt ihn. Daran gibt es nicht den geringsten Zweifel. Sie war so lange allein. Zerstör ihr Glück nicht!«

»Ich?«

»Ja, du. Sie kann nicht glücklich sein, wenn sie weiß, daß du unglücklich bist.«

»Ich kann mir kaum vorstellen, daß sie überhaupt noch irgend etwas oder irgend jemanden außer ihn beachtet.«

»Augenblicklich ist sie überglücklich und freut sich auf die Zukunft. Verhalte dich ihm gegenüber nicht feindselig. Laß ihr die Freude. Warte, bis du dir deiner Gefühle sicher bist. Du baust Vorurteile gegen ihn auf. Und das ist falsch. Mit der Zeit wirst du merken, daß sich im Grunde gar nichts verändert hat. Sicher, du wohnst in einem anderen Haus. Aber was bedeuten schon Häuser? Das sind nichts weiter als Mauern, zwischen denen man lebt. Und du besuchst uns oft in Cornwall. Pedrek wird auch dort sein.«

»Pedrek schicken sie in die Schule.«

»Nun, es gibt so etwas wie Ferien. Glaubst du vielleicht, er besucht nie wieder seine Großeltern, nur weil er zur Schule geht?«

»Er ist sehr reich, dieser … dieser …«

»Benedict. Ja, inzwischen. Willst du ihm das etwa zum Vorwurf machen? Weißt du, die ganze Situation ist nicht so ungewöhnlich, wie du es dir einbildest. Viele junge Leute sind gegen eine Wiederverheiratung ihrer Eltern. Rede dir bloß nicht ein, er wäre ein Schurke. Seit Aschenbrödel haben Stiefeltern einen schlechten Ruf. Aber du bist doch viel zu vernünftig, um dich von derartigen Dingen beeinflussen zu lassen.«

Innerlich fühlte ich mich ein wenig erleichtert. Meine Großeltern hatten mir immer sehr viel Wärme und Verständnis entgegengebracht. Ich sagte zu mir: Und sie sind ja auch noch da. Falls es zu schlimm wird, gehe ich einfach zu ihnen.

Wieder drückte sie meinen Arm. »Nun sag schon, was dich noch beschäftigt.«

»Ich … ich weiß nicht, wie ich ihn anreden soll.«

Unvermittelt blieb sie stehen und sah mich an; dann lachte sie. Zu meiner Überraschung stimmte ich in ihr Lachen ein.

Sie nahm sich zusammen und machte ein ernstes Gesicht.

»Das ist allerdings ein schwerwiegendes Problem! Wie könntest du ihn nennen? Stiefpapa? Nein, wirklich nicht. Stiefvater? Stiefpaps? Oder einfach Vater?«

»Das kann ich nicht«, sagte ich nachdrücklich. »Ich habe einen Vater, und der ist tot.«

Der harte Zug um meinen Mund konnte ihr nicht entgangen sein.

»Wir wär’s mit Onkel Benedict?«

»Er ist nicht mein Onkel.«

»Irgendeine verwandtschaftliche Beziehung besteht. Um hundert Ecken herum. Immerhin kannst du ihn mit gutem Gewissen Onkel Benedict oder Onkel Lansdon nennen. Das also hat dir Sorgen bereitet!«

Sie wußte genau, daß das nicht mein einziges Problem war. Trotzdem war uns beiden nach diesem Spaziergang leichter ums Herz.