Das Geheimnis jenes Tages - Annette Dutton - E-Book
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Das Geheimnis jenes Tages E-Book

Annette Dutton

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Beschreibung

Ein verhängnisvoller Ausflug, eine große Lüge, ein Leben im Bann der Täuschung Die Leipziger Archäologin Nadine soll Knochenfunde an einen Aborigine-Stamm zurückgeben, die deutsche Wissenschaftler im 19. Jahrhundert unrechtmäßig an sich brachten, unter ihnen die bekannte Sammlerin und Naturforscherin Amalie Dietrich. Eines der Skelette weist Schussspuren auf – wurde der junge Mann um der Forschung willen ermordet? Doch noch ehe Nadine ihrem Verdacht weiter nachgehen kann, verschwindet ihre achtzehnjährige Tochter Alina, die sie auf der Reise begleitet hatte, spurlos. Die Polizei sieht zunächst keinen Grund, Ermittlungen aufzunehmen – während in Nadine lang verdrängte Erinnerungen aufsteigen: an jenen Tag im Frühjahr 1984, als ihre Zwillingsschwester starb.

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Annette Dutton

Das Geheimnis jenes Tages

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Ein verhängnisvoller Ausflug, eine große Lüge, ein Leben im Bann der Täuschung

 

D

Inhaltsübersicht

Prolog: Salzkammergut, 1984Siebenlehn, 1842Hörsaal des Anthropologischen Instituts Leipzig, 2009Siebenlehn, 1848Leipzig, 2009Siebenlehn, 1849Bowen, Queensland, Australien, 2009Siebenlehn, 1855Bowen, Queensland, Australien, 2009Siebenlehn, 1855Siebenlehn, 1858Ostküste Australiens, 2002Siebenlehn, 1858Ostküste Australiens, 2002Siebenlehn, 1858Ostküste Australiens, 2002Siebenlehn, 1858Bowen, Queensland, Australien, 2009Hamburg, 1863Bowen, Queensland, Australien, 2009Brisbane, Australien, 1863Bowen, Queensland, Australien, 2009Hamburg, 1864Bowen, Queensland, Australien, 2009Rockhampton, 1864Cormoral, Queensland, 2009Hamburg, 1865Cormoral, 2009London, 1869Cormoral, 2009Bowen, Februar 1872Moorabool State Forest, 2009Station in der Nähe von Bowen, Februar 1872Moorabool State Forest, 2009HeimkehrBowen, 2009In der Nähe von Bowen, 2009EpilogDankNachwortHistorischer HintergrundLiteraturhinweise zu Amalie Dietrich
[home]

PrologSalzkammergut, 1984

Es passierte 1984 während der Osterferien. Vanessa und ich fuhren zusammen auf eine Skifreizeit ins Salzkammergut. Ich war nicht unbedingt scharf darauf, die Ferien zusammen mit meiner jüngeren Schwester zu verbringen. Genau genommen, wehrte ich mich mit Händen und Füßen. Ich war sechzehn Jahre alt, frisch verliebt, und der Gedanke, meinen Freund vierzehn Tage nicht zu sehen, erschien mir unerträglich. Aber Vanessa hatte so lange herumgequengelt, bis mein Vater endlich zustimmte – natürlich nur unter der Voraussetzung, dass ich sie begleitete. Vanessa war erst im März vierzehn geworden. Sie litt unter ziemlich heftigen Asthmaattacken, und mein Vater wollte sich nicht darauf verlassen, dass die Betreuer auch wirklich kontrollierten, ob sie immer ihr Spray dabeihatte.

 

Als es mit dem Zug losgehen sollte, muss ich der übellaunigste Teenie gewesen sein, den man sich vorstellen konnte. Auf dem Bahnsteig wich ich dem Abschiedskuss meines Vaters aus und stieg ein, ohne ein Wort zu sagen. Ich hielt mir sogar die Ohren zu, um nicht hören zu müssen, was mir mein Vater noch hinterherrief. Im Abteil nahm ich meinen Rucksack ab, bugsierte ihn unter einigen Anstrengungen ins Gepäckfach und ließ mich auf meinen Sitz fallen. Verstohlen schaute ich durchs Fenster. Vater drückte Vanessa fest an sich und küsste sie auf die Stirn. Seit dem Tod unserer Mutter hing er noch mehr an uns als früher. Erst als die Trillerpfeife des Schaffners ertönte, löste er seine Umarmung und schob meine Schwester zur Wagentür. Dabei redete er ständig auf sie ein. Wahrscheinlich, um sie zu beruhigen.

Das dumpfe Geräusch sich schließender Türen ließ mich schlucken. Ich fühlte mich nun richtig mies, ohne ein Wort des Abschieds losgefahren zu sein.

Der Zug setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Vanessa trat in das Abteil. Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen von der Wange. Ich verkniff mir die Frage, weshalb sie rumheulte, obwohl sie es doch war, die unbedingt an dieser dämlichen Skifreizeit teilnehmen wollte.

Ohne den Rucksack abzunehmen, setzte sich Vanessa mir gegenüber, und wir blickten beide aus dem Fenster. Vater lief neben uns her, klopfte zum Abschied an die Scheibe und blieb erst stehen, als der Zug an Fahrt aufnahm. Während Vanessa ihm mit beiden Händen zuwinkte, hob ich nur kurz die Hand zum Gruß.

Die Abteiltür wurde aufgerissen, und zwei schwatzende Mädchen gesellten sich zu uns. Vanessa kannte beide vom Kinderchor und wurde gleich kreischend begrüßt.

Ich schloss kurz die Augen und lehnte mich tief in meinen Sitz zurück. Das konnte ja heiter werden. Immerhin würde Vanessa nicht ständig an meinem Rockzipfel hängen. Ich griff nach dem Walkman in meiner Parkatasche und drückte auf die Playtaste. Ein mixed tape, das Thomas extra für mich aufgenommen hatte. Ich wollte mich gerade meinem Herzschmerz hingeben, als mir jemand den Kopfhörer wegriss. Ich sah auf und traute meinen Augen nicht. Es war Thomas. Um mich zu überraschen, hatte er sich hinter meinem Rücken ebenfalls zur Skifreizeit angemeldet. Er zog mich fest an sich, und wir küssten uns leidenschaftlich. Meine Schwester und ihre Freundinnen verstummten augenblicklich und starrten uns neugierig an. Sollten sie doch glotzen! Vierzehn Tage mit Thomas, Tag und Nacht! Die vermeintlich trübseligsten Osterferien ever würden die beste Zeit meines Lebens werden.

Jedenfalls dachte ich das damals.

 

Am dritten Tag nach unserer Ankunft im Jugendgästehaus unternahmen wir neben den Abfahrten einen »Fitnessausflug«, wie unser Gruppenleiter die anstrengende Wanderung zum Sarstein nannte. Als Nächstes stand der über 2000 m hohe Krippenstein, zu dem auch eine Seilbahn hochfuhr, auf unserem Plan. Am folgenden Morgen sollte es losgehen.

Nach dem Aufstehen verriet mir ein Blick aus dem Fenster, dass es über Nacht geschneit hatte. Beim Frühstück kam es zu einem überraschenden Streit zwischen dem Herbergsvater und unserem Gruppenleiter Peter Langen, der an jenem Morgen zufällig mit Thomas und mir am Tisch saß.

»Ich an Ihrer Stelle würde mir die Tour gut überlegen. Zu viel Schnee. Überhaupt kann das Wetter im April rasch umschlagen«, warnte der Herbergsvater und hob mahnend den Zeigefinger. Langen bügelte ihn daraufhin ziemlich unwirsch ab.

»Mischen Sie sich nicht in meine Angelegenheiten!«, brummte er misslaunig.

Es war Gründonnerstag, der 19. April. Kurz nach sieben Uhr marschierten wir los. Wir verließen das Gästehaus, eingemummt in Nylon-Winterjacken, Skihosen und Wanderschuhen. Von Natur aus um einiges dünner als ich, fror Vanessa leicht. Auf meine Bitte hin hatte sie daher noch schnell ein zweites Paar Strümpfe angezogen. Ich gab ihr meinen Lippenbalsam, und sie trug ihn dick auf.

Der Schnee lag hoch. Unser Weg begann östlich der Herberge und schlängelte sich dann zwischen den Bäumen hindurch aufwärts Richtung Berg. Schon bald versanken unsere Stiefel im Neuschnee. Wir stapften langsam, doch stetig voran. Unser Atem kondensierte zu dampfenden Wölkchen. Der Schnee hatte sich in Regen verwandelt. Trotzdem ließ mich Thomas, der noch nie in den Bergen gewesen war, unser unwirtliches Wanderziel mit anderen Augen sehen. Im Gegensatz zu mir störte ihn der zunehmend peitschende Regen überhaupt nicht.

»Magisch«, sagte er mehrmals wie zu sich selbst, den Blick fest auf den Berg geheftet. Er drückte meine Hand.

Gegen halb zehn Uhr erreichte unsere Gruppe die Schönbergalm, die Mittelstation zwischen Sektion I und II der Krippensteinseilbahn. Unsere Jacken waren mittlerweile völlig durchnässt. Langen saß mit den Betreuern zusammen, und gemeinsam berieten sie die Lage. Die beiden jungen Männer hörten ihm aufmerksam zu und nickten. Die Hüttenwirtin brachte uns Tee. Als sie erfuhr, dass wir noch weitergehen wollten, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und beschwor uns, mit der Seilbahn ins Tal zurückzufahren. Wir Älteren lachten. Die rundliche Frau wirkte in ihrer Dramatik wie eine Laiendarstellerin aus dem Volkstheater.

»Euch kleben ja die nassen Kleider am Leib«, rief sie noch aus.

»Dann müssen sie sich eben warm laufen«, antwortete Langen arrogant und gab das Zeichen zum Aufbruch. Wenige Minuten später marschierten wir weiter.

Plötzlich stieg dichter Nebel auf, und keine zehn Minuten später verwandelte sich der Regen wieder in dichtes Schneegestöber. Man konnte kaum fünfzig Meter weit sehen. Zwei Arbeiter der Materialseilbahn, die von ihrem Baustellenstützpunkt zurückkehrten, begegneten uns. Sie sprachen einen unserer Betreuer an: »Kehren Sie bloß um! Da zieht ein Unwetter auf! Wir fahren auch zurück ins Tal.« Doch Langen entschied sich für den Weitermarsch. Einer der Betreuer trat neben ihn.

»Vielleicht ist es doch besser, wenn wir umkehren. Das Wetter …« Doch Langen ließ ihn gar nicht erst ausreden.

»Wir haben einen Kompass«, unterbrach er den Jüngeren, »und ich kenne die Wettervorhersage.« Er zeigte auf eine im Wind schwankende Gondel, die an uns vorbeifuhr. »Die Seilbahn fährt ja auch noch rauf. So schlimm wird es also nicht sein«, erklärte er fast fröhlich, und die Gruppe setzte ihren Weg fort.

»Die fährt bei diesem Wetter garantiert nicht mehr lange«, riefen uns die Arbeiter hinterher.

Es lag sicherlich nicht nur an der Kälte, dass mir ein Schauder über den Rücken lief. Zum dritten Mal hatte man uns jetzt gewarnt.

Oben am Dachstein wütete bereits der Schneesturm, aber das wussten wir nicht. Die hohen Felswände, die das Tal umrahmten, waren nie ganz außer Sicht und gaben uns das Gefühl, zu wissen, wo wir uns befanden.

Der im Neuschnee nur schwer erkennbare Pfad führte nun einen steileren Hang hinauf, und wir mussten aufpassen, wohin wir traten. Der Wald war lichter geworden. Ich bemerkte, wie Vanessa, die mit ihren Freundinnen vor mir herging, in der eisigen Zugluft schlotterte, doch sie beschwerte sich nicht. Die Mädchen schnatterten längst nicht mehr. Jede hielt, so gut es ging, ihren hochgestellten Jackenkragen zu, und schweigend stiegen sie hintereinander den schmaler werdenden Pfad hinauf. Ich drehte mich um, weil ich sehen wollte, ob noch jemand hinter uns ging, war aber nicht sonderlich überrascht, die Letzte der Gruppe zu sein. Thomas und ich waren immer wieder mal kurz stehen geblieben, um uns zu umarmen und zu küssen. So langsam wie wir kamen nur noch meine Schwester und ihre Chormädchen voran.

Der Wind wehte stärker, pfiff uns um die Ohren, und nun begann auch ich, heftig zu zittern. Ich ging dicht hinter Thomas. Schließlich zog ich mir die Wollmütze tiefer ins Gesicht. Keiner von uns wusste, wie lange wir noch durchhalten mussten, bis wir am Ziel waren. Zu diesem Zeitpunkt fragte ich mich das erste Mal, ob es nicht besser wäre, umzukehren.

 

Vanessas Freundinnen warteten am Wegesrand und riefen nach mir, bis ich zu ihnen aufgeschlossen hatte. Sie hatten meine Schwester zu beiden Seiten untergehakt. Vanessa hustete und keuchte abwechselnd so stark, dass ihre Knie nachgaben. Ich griff nach dem Spray in meiner Jackentasche und schob ihr das Mundstück zwischen die Lippen. Sie drückte fester als nötig auf den kleinen Behälter, um die erlösende Dosierung freizugeben, die sie sofort tief einatmete. Sie kniete jetzt im Schnee, ihre Freundinnen hockten neben ihr.

Als das Medikament zu wirken begann und Vanessa sich einigermaßen beruhigt hatte, zog ich sie hoch und umarmte sie. »Was ist mit deinem Spray? Du hast es doch nicht etwa vergessen?«

Sie schüttelte den Kopf und öffnete ihre andere, zur Faust geballte Hand; darin lag der gleiche graue Inhalierer wie der, den ich gerade gezückt hatte.

»Leer«, erklärte sie. »Hab den falschen mitgenommen.« Ehe ich sie ausschimpfen konnte, mahnte Thomas uns zum Weitergehen.

»Wir sind zurückgefallen«, sagte er. Ich sah mich um. Die anderen waren weder zu sehen noch zu hören.

»Beeilt euch!«, forderte ich Vanessas Freundinnen auf. »Dann holt ihr sie bestimmt bald ein. Sagt ihnen, dass wir wegen Vanessa langsam machen müssen.« Die Mädchen blickten einander besorgt an, liefen aber schließlich los. »Bittet Langen, dass er uns entgegenkommen soll. Ich weiß nicht, wie lange Vanessa durchhält«, rief ich ihnen hinterher. Es dauerte keine drei Minuten, und die beiden Gestalten waren im Nebel verschwunden.

Dichtes Schneetreiben hatte eingesetzt. Der schneidende Wind drang in heftigen Böen durch unsere Kleidung wie der eisige Atem einer bösen Gottheit. Wir rückten näher zusammen, hielten einander fest. Ich bibberte vor Kälte, spürte aber auch ein schmales Rinnsal Schweiß den Rücken hinunterlaufen. Ich sah Thomas an, dann Vanessa und konnte in ihren Augen erkennen, was ich selbst empfand.

Angst. Eine Scheißangst.

Wir schwiegen und warteten auf die Rückkehr der anderen. Warum sollten wir uns den Hang hinaufquälen, wenn die Gruppe ohnehin bald bei uns sein würde und wir dann gemeinsam zur Alm zurückwanderten?

Schneebeladene Tannenwipfel, scharfkantige Steilhänge. Das Gebirge wirkte fremd auf mich, feindlich. Dabei hatte mich Vater fast jedes Jahr zum Wandern in die Berge mitgenommen.

Plötzlich flaute der Sturm ab, es wurde still. Nur der Wildbach weit unter uns, den wir im Sturm nicht hatten hören können, rauschte leise. Eine unwirkliche Ruhe breitete sich über den Hang aus wie eine tropfenschwere Decke. Das dumpfe Klatschen eines Schneebrockens, der sich von einem Ast löste, ließ uns zusammenfahren. Es roch nach Moos und Tannennadeln. Der nasse Schnee kitzelte mich in der Nase. Vanessa sprach schließlich aus, was wir alle dachten: »Wann kommen sie endlich? Sie kommen doch, oder nicht?«

Ich nahm Vanessas Hand, suchte Thomas’ Blick.

»Natürlich kommen sie, aber vielleicht sollten wir ihnen ein paar Schritte entgegengehen. Das Wetter scheint ja besser zu werden.« Ich sah auf meine Uhr. Schon Viertel vor vier. Ich sah Thomas an: »Sollen wir nicht lieber runter zur Alm? Das könnten wir schaffen, bevor es dunkel wird, und bergab ist es auch einfacher für Vanessa.«

Thomas nagte an seiner Unterlippe. Er überlegte, dann sah er mir ernst ins Gesicht. So kannte ich ihn nicht.

»Aber was, wenn sie schon ganz nah sind? Sie denken, sie finden uns hier, und wir sind dann nicht da?«, fragte er. Ich atmete hörbar aus. Er hatte recht. Die Gruppe durfte keine Zeit verschwenden, um nach uns zu suchen.

Vanessa rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht.

»Ich habe eine Idee. Thomas geht den Pfad hinauf, und du gehst gleichzeitig hinunter zur Alm und gibst dort Bescheid, wo wir sind und dass wir die Gruppe verloren haben.«

»Und was ist mit dir? Du willst doch nicht etwa allein hier bleiben?«, fragte ich ungläubig.

»Nadine hat vollkommen recht«, mischte sich Thomas ein, »du kannst hier nicht alleine bleiben. Du gehst mit ihr. Was meinst du, Nadine?«

Ich nickte gedankenverloren. Mir war nicht wohl dabei, mich von Thomas zu trennen, aber nur so erhöhten wir unsere Chancen, Hilfe zu finden. Ich sah meine Schwester an.

»Also gut. Gehen wir.« Ich umarmte Thomas und sah ihm weinend eine Weile hinterher, bis er zwischen den Tannen verschwunden war. Ich schluckte schwer und spürte die Angst wie eine bleierne Faust im Magen. »Los jetzt!«, befahl ich meiner Schwester. Ich drehte mich talwärts und ging entschlossen voran.

Die Wetterbesserung sollte nicht lange anhalten. Wieder trieben mächtige Regenwolken über den Himmel – und allmählich wurde es dunkel. Die Schatten des Berges wurden immer undurchdringlicher und länger. Wie ein Sargdeckel, der sich langsam auf das kalte Tal herabsenkte. Vanessa berührte meine Schulter. Ich wandte mich zu ihr um.

»Ich kann nicht mehr«, sagte sie und klang so schwach, dass ich erschrak.

»Dann machen wir eine kurze Pause.«

»Nein, du gehst weiter, und ich warte hier. Auf dich oder auf Thomas.«

Ich versuchte, sie zum Weitergehen zu bewegen, aber ich sah selbst, dass sie dazu keine Kraft mehr hatte. Verzweifelt blickte ich in den grauen Himmel, dann den Berg hinauf. Wo waren die anderen, wo war Thomas? Panik überwältigte mich. Vanessa und ich, wir waren ganz allein auf diesem gottverdammten Berg. Der Sturm hatte nur eine Pause gemacht, um neue Kraft zu tanken. Heftige Böen peitschten mir den Schneeregen ins Gesicht wie schmerzhafte Ohrfeigen. Die Alm konnte ich im eintönigen Grau noch immer nicht ausmachen, doch ich sah wieder die Gondeln, die dorthin und danach weiter ins Tal fuhren. Sie fuhren! Ich sprang auf, kreuzte immer wieder wie verrückt die Arme über meinem Kopf, in der Hoffnung, einen Passagier auf uns aufmerksam zu machen. Es dauerte einige Minuten, ehe ich begriff, dass ich nur meine Energie verschwendete. Niemand kam herauf, niemand fuhr hinunter. Die Gondeln waren leer.

Ich beschloss, Vanessas Vorschlag zu folgen. Ich führte sie zu einer hohen Tanne, die ganz nahe am Weg stand. Hinter dem Baum bot eine Felswand Schutz.

»Ich bin bald wieder da. Wenn Thomas zuerst bei dir ist, gib ihm einen Kuss von mir.« Ich fasste in die Innentasche meiner Jacke. »Hier. Kaubonbons. Aber nicht alle auf einmal, hörst du? Den Inhalierer hast du, ja?« Vanessa nickte, setzte sich unter die Tanne und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm.

»Danke.«

Mir schossen die Tränen in die Augen, als ich sie zum Abschied umarmte. »Ich komme wieder, bevor es dunkel ist.«

 

Alles war still, bis auf den Wind, der immer lauter heulte. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Plötzlich zog auch noch Nebel auf, und ehe ich wusste, wie mir geschah, fand ich mich in einer unwirklichen Welt wieder. Einzig die Tannen, die wie Gespenster aufragten, und die dicken Flocken, die mich umwirbelten, leisteten mir Gesellschaft.

Dann prasselte heftiger Regen auf den wieder dichter werdenden Wald nieder. Zunächst bewegte ich mich im Schutz der Bäume, aber sobald der Weg über eine Lichtung führte, trommelten die Tropfen wie Dutzende kleiner Nadeln auf meinen Schädel. Ich erkannte den Pfad nicht mehr; bald würde es vollständig dunkel sein. Ich weinte nun laut, stolperte aber dennoch weiter vorwärts. Ich hatte meiner Schwester versprochen, so schnell wie möglich zurückzukommen. Ich wollte Thomas wiedersehen. Ich wollte leben.

Auf einmal hörte ich Hunde bellen.

»Hier, hierher!«, schrie ich wie wild, doch der Wind schluckte jedes meiner Worte.

Die Schatten des Berges hatten sich nun vollständig über das Tal gelegt. Es war finster, alles um mich herum verschmolz mit dem schwarzen Gebirge. Ein Rabe krächzte über meinem Kopf, ehe er mit kräftigen Flügelschlägen davonflog, und mein Herz krampfte sich zusammen.

Durch den Schneeregen hindurch sah ich plötzlich Lichter blinken. In Fetzen drang der schrille Ton von Sirenen an mein Ohr. Sie suchten uns! Durch die Wolken brach hier und da das Licht eines Suchscheinwerfers, der das Profil des Gebirgspasses für den Bruchteil einer Sekunde grell ausleuchtete. Mit dem Surren eines übergroßen Insekts erhob sich ein Hubschrauber.

»Hierher, hier!«, schrie ich aus der Dunkelheit heraus, als würde es irgendeinen Unterschied machen. Der Wind hatte so stark aufgefrischt, dass die Bäume schwankten. Ich wimmerte, konnte kaum noch atmen. Sie suchen uns, sagte ich mir. Sie suchen uns, und sie werden uns finden. Das Hundegebell wurde lauter, und ich sah nun Lichtstreifen, die von den Taschenlampen der Suchmannschaft stammen mussten. Dem Geräusch nach zu urteilen, entfernte sich der Hubschrauber wieder. Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte, und fing an zu beten. Das hatte ich zuletzt getan, als meine Mutter im Sterben lag. Genutzt hatte es nichts. Ich war müde, unendlich müde, und legte mich auf die Seite in den Schnee. Ausruhen, nur für ein paar Minuten, sagte ich mir.

 

Ich wusste erst nicht, wo ich war. Jemand fasste mich an der Schulter und redete auf mich ein. Ich schlug die Augen auf und blinzelte in den Strahl einer Taschenlampe. Dann sprudelten die Worte nur so aus mir heraus, Vanessa und Thomas und dass wir gleich losmussten, um sie zu finden. Man legte mir eine silberne Decke um die Schultern, flößte mir heißen Tee ein und verfrachtete mich in einen Hubschrauber.

Ich musste wieder eingeschlafen sein, denn als ich die Augen aufschlug, sah ich Thomas’ Gesicht über mir.

»Nadine«, flüsterte er und strich mir mit dem Handrücken zart über die Wange.

»Wo bin ich? Was ist passiert?«, fragte ich und blickte mich um. Ich lag in einem Krankenhauszimmer, und erst allmählich dämmerte mir wieder, was geschehen war. Ich war in Sicherheit. Thomas offenbar auch. Ich legte meinen Arm um seinen Hals und zog ihn zu mir herunter. »Wir haben es geschafft«, hauchte ich in sein Ohr. Thomas strich mir übers Haar und sagte nichts. »Wo sind die anderen? Wo ist Vanessa?« Thomas legte sein Gesicht in die Mulde zwischen meiner Schulter und meinem Nacken. Ich spürte, wie Tränen meine Haut benetzten. Seine Tränen. »Sieh mich an!«, forderte ich ihn auf. »Wo ist Vanessa?« Ich stemmte mich mit zitternden Armen im Krankenbett auf, bis ich Thomas direkt in die Augen sehen konnte. »Sag es mir, jetzt!«

Thomas griff nach meinen Händen. Er schluckte, und ich sah, wie sich sein Adamsapfel bewegte.

»Ich habe es tatsächlich bis zur Gruppe geschafft und Langen überzeugt, dass sie umkehren müssen. Doch dann schneite es immer stärker, und wir fanden den Weg nicht mehr. Der Kompass war auch keine Hilfe. Gott sei Dank hat uns die Bergwacht gefunden, dich dann ja auch, aber Vanessa …« Er senkte den Blick. Ich fasste ihn bei den Armen und schüttelte ihn.

»Vanessa? Was ist mit Vanessa?«

Thomas atmete hörbar aus. »Sie haben sie noch nicht gefunden.«

Ich ließ entsetzt los: »Aber ich kann die Stelle beschreiben. Ich muss sofort mit jemandem von der Bergwacht reden. Jetzt!«

Thomas drückte einen Knopf, und wenig später erschien eine Schwester. Ich tobte. Mir ging es gut, ich musste nur jemandem sagen, wo sie Vanessa finden konnten!

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, doch dann tauchte endlich mein Vater auf, mit ihm zwei Leute von der Bergwacht und im Schlepptau ein Pfarrer. Thomas stand auf, um Platz für meinen Vater zu machen. Dieser zitterte, als er mich in den Arm nahm, doch ich wehrte ihn ab. Wir mussten Vanessa finden. Dringend!

Mein Vater räusperte sich. »Nadine, du liegst schon seit 36 Stunden in der Klinik.«

»36 Stunden? Und was ist mit Vanessa?«

»Sie haben sie nicht finden können.«

Ich sah meinen Vater ungläubig an. »Aber das kann doch gar nicht sein.«

Er biss sich auf die Unterlippe. »Sie hatte sich in eine Art Mulde geflüchtet und mit Latschenzweigen zugedeckt.«

»Wo ist sie jetzt? Ich will sie sehen!«

»Ich weiß es nicht. Sie war nicht mehr da.« Mein Vater schüttelte den Kopf, Tränen liefen ihm über die Wangen, seine Lippen bebten. So hatte ich ihn zuletzt beim Tod meiner Mutter erlebt. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.

Thomas, der die ganze Zeit über in der Ecke gestanden hatte, setzte sich leise aufs Bett neben meinen Vater und legte den Arm um ihn. Ich starrte nur vor mich hin.

»Vanessa ist wahrscheinlich tot«, hörte ich meinen Vater wie aus weiter Ferne sagen, »die Bergrettung glaubt nicht, dass jemand so lange in der Kälte überleben kann.«

»Tot?«

»Ja, erfroren.«

Ich heulte auf wie ein verwundetes Tier, und als Thomas mich in den Arm nehmen wollte, schlug ich ihm ins Gesicht. Er ließ es wortlos geschehen, hielt sich nicht einmal die Wange. Mein Vater saß nur mit hängenden Armen da, den Blick auf den Linoleumboden gerichtet. Der Pfarrer trat auf mich zu, griff nach meiner Hand, doch ich schüttelte ihn ab.

»Verpissen Sie sich! Verpisst euch alle!«

Die drei tauschten Blicke. Ich drückte mein Gesicht ins Kissen und schluchzte hemmungslos. Dann hörte ich Schritte und eine Tür, die sich hinter ihnen schloss. Doch Thomas kam zu mir zurück.

»Sie sind weg.«

Er legte sich neben mich aufs Bett und hielt mich fest.

 

Drei Tage nachdem ich im Krankenhaus aufgewacht war, fand man meine Schwester. Mit entsprechender Kleidung hätte sie vielleicht in ihrer Schneemulde ausharren und so lange überleben können.

Ich fragte einen Assistenzarzt im Krankenhaus, was passiert, wenn jemand erfriert. Der Typ war neu hier und wusste nicht, dass ich die Schwester der Toten war, die bei den Einheimischen und in der Presse gerade für Wirbel sorgte.

»Bei einer Erfrierung«, sagte er, »ziehen sich zuerst die Kapillaren zusammen, das sind die Haargefäße unter der Haut. Auf Dauer führt das zu Schmerzen durch eine Mangelversorgung. Der Schmerz zieht hoch, von den Händen über die Ellbogen hinauf in die Schultern. Gleichzeitig zieht ein Schmerz von den Füßen über die Knie bis zur Hüfte. Die Haut kühlt ab, aber die Organe können noch warm sein und weiterarbeiten. Kurz vor dem Tod beginnt der Körper, die unwichtigeren Organe abzuschalten, um Herz, Lunge, Gehirn und einen Teil der Leber weiter am Leben zu erhalten. Bei 29 Grad erweitern sich die Blutgefäße schlagartig. Woran das liegt, weiß ich nicht, aber vielleicht ist es ein letzter Versuch, dem Körper nochmals Wärme zuzuführen. Das Blut fließt zurück in die unterkühlten Arme und Beine, den Betroffenen wird warm, und sie beginnen, sich zu entkleiden. Deshalb werden Erfrorene manchmal halb nackt oder nackt gefunden, falls sie nicht schon vor diesem Stadium eingeschlafen sind – wie die Tote nahe der Schönbergalm. Die hatte sich ja auch obenrum alles vom Leib gerissen, und die Bergwacht fand sie kniend mit dem Gesicht im Schnee.« Seine letzten Sätze rissen mir beinahe das Herz aus dem Leib, obwohl ich bereits wusste, wie meine Schwester umgekommen war.

»Tut es weh, so zu sterben?«

Er zuckte mit den Schultern. »Das Sterben nicht, aber der Weg bis dahin schon.«

[home]

Siebenlehn, 1842

Es war Herbst. Wie jedes Jahr um diese Zeit ging die einundzwanzigjährige Amalie mit ihrer Mutter in den Zellwald, um Pilze zu suchen.

»Nur Pfifferlinge und Steinpilze!«, sagte ihre Mutter warnend, »und zeig sie mir, bevor du sie in den Korb legst; man kann sich sonst schnell den Tod nach Hause tragen. Pass auf, wenn du Arnikablumen oder Baldrian findest, die nehmen wir auch mit.«

Wenig später waren sie bereits tief in den Wald vorgedrungen. Die weißhaarige Frau bückte sich mit fast jugendlichem Eifer, um aus dem grünen Moos die gelben Schwämme zu pflücken, und Amalie legte den gleichen Einsatz an den Tag. So stiegen sie gemächlich den Hügel hinauf. Oben angekommen, fiel der Blick des Mädchens auf den beschaulichen Waldbach, der gluckernd die Steine in seinem Bett umfloss. Wie viele Kiesel er wohl über die Jahre auf diese Weise glatt geschliffen hatte?, dachte Amalie.

Von hier oben entdeckten Mutter und Tochter einen jungen Mann am Flussufer. Er lag auf der Seite, das Gesicht ihnen zugewandt, war aber offenbar mit irgendeiner Sache im Gras zu beschäftigt, um Amalie und ihre Mutter Cordel zu bemerken. Selbst aus der Entfernung fiel Amalie auf, dass er gut gekleidet war. Vorsichtig tat sie einen Schritt nach vorne. Das braune gewellte Haar fiel ihm in die Stirn, als er den Kopf noch weiter vornüberbeugte. Sie schaute ihre Mutter fragend an. Was machte er da nur? Cordel zuckte mit den Schultern und stellte sich neben ihre Tochter, um ebenfalls einen guten Blick auf den Fremden zu erhaschen. In der linken Hand hielt er etwas, das er durch ein großes Augenglas aufmerksam betrachtete. Plötzlich hob er den Kopf. Die beiden traten erschrocken zurück, doch Amalie hatte noch sehen können, dass er ein feines, blasses Gesicht hatte. Er schien sie nicht bemerkt zu haben. Neugierig geworden, wagte sie sich erneut vor; dabei verbarg sie sich hinter einer Tanne, und nur ihr Kopf lugte hervor. Neben dem Mann lagen eine grüne Blechkapsel und ein Strohhut im satten Gras. Am nächsten Stamm lehnte ein langer Stock, an dem ein Beutel befestigt war. Amalie drehte sich zu ihrer Mutter um und bedeutete ihr mit einer raschen Geste näher zu kommen. Der Fremde musste Herr Dietrich sein, der Zauberer und Hexenmeister, von dem die alte Krummbiegel erst gestern so wunderliche Dinge erzählt hatte. Es hieß, er hätte seine Stellung als Apotheker aufgegeben, um sich ganz dem Studium der Pflanzenwelt zu widmen. Er lebte zur Miete im Forsthof, angeblich, weil er dort genügend Platz für seine Sammlungen hatte, von deren Verkauf er seinen Lebensunterhalt zu bestreiten erhoffte. Er sah ganz anders aus als die Bauern aus dem sächsischen Siebenlehn. So zart, so fein. Ein gelehrter Mann, der mehr wusste als alle Männer von Siebenlehn zusammen.

Amaliens Herz schlug schneller. Diese Begegnung war aufregend. Was könnte er ihr nicht alles beibringen, sollte sie ihn je kennenlernen! Plötzlich griff er nach seinem Hut, und sein Blick fiel auf die halb verborgenen Frauengestalten. Er stand auf, klopfte sich die Hosen ab und kam langsam auf sie zu. Amalie war tiefrot angelaufen.

»Was sollen wir denn jetzt tun?«, flüsterte sie ihrer Mutter zu. Die zuckte mit den Schultern.

»Na, was schon? Wir gehen ihm entgegen. Komm!« Sie zog die Tochter am Ärmel, und beide traten sie aus dem Schatten. Der junge Herr war inzwischen auf dem Hügel angelangt, doch anstatt sich vorzustellen, warf er als Erstes einen Blick in Amaliens Korb. Er rieb sich die schlanken Hände.

»Sieh an, was haben wir denn da?«, fragte er genüsslich, den Blick noch immer auf den Korbinhalt geheftet. »Arnica montana und Valeriana officinalis? Hoffentlich haben Sie noch einige für mich stehen lassen.« Er lachte, hob den Kopf und sah Amalie unvermittelt in die Augen. Sie blickte verschämt zur Seite.

»Was hat er außer Arnika noch gesagt?«, zischte ihr die Mutter ins Ohr, während er jede einzelne ihrer gesammelten Pflanzen in die Hand nahm und ausgiebig begutachtete. Amalie wusste es nicht. War das etwa einer jener Zaubersprüche gewesen, von denen die alte Krummbiegel gesprochen hatte? Als er sie abwartend anschaute, antwortete Cordel schließlich: »Nein, nein, wir haben sie nicht alle abgepflückt. Hier, wollen Sie die haben? Wir finden wieder welche.« Mit ausgestrecktem Arm ging sie auf den Herrn zu, und Malchen, wie sie ihre Tochter meist nannte, folgte ihr. »Nehmen Sie!«, forderte Cordel ihn auf und hielt ihm einen Strauß hin, den sie noch nicht in ihren Korb gelegt hatte.

»Was soll ich denn damit?«, fragte der Herr und klang ein wenig hochmütig. »Die Blumen wurden ja ganz ohne Sinn und Verstand gepflückt. Gedankenlos abgerissen, ohne Wurzelblätter. Was wollen Sie damit? Ein hübscher Strauß ist es ja auch nicht gerade.«

Cordel zog die Hand mit den verschmähten Blumen zurück.

»Wozu brauche ich denn Wurzelblätter?«, antwortete sie in gekränktem Ton. »Ich setz die Blumen mit Spiritus an. Arnika ist gut gegen das Reißen, und den Baldrian trockne ich zu Tee. Ich hab schon manchem damit gutgetan.«

»Soso«, antwortete der Herr, »haben Sie denn noch mehr Kräuter da?« Er zeigte auf Cordels Korb, der neben ihr auf dem Boden stand.

»Nur Pilze«, antwortete Cordel knapp. Sie klang noch immer beleidigt.

»Na, dann nehmen Sie sich in Acht! Kennen Sie sich denn damit aus?«

»Wir sammeln nur Pfifferlinge und Steinpilze.«

»Es gibt hier noch andere essbare Sorten, aber Sie müssen sich sicher sein.«

»Na, ich nehme immer eine Zwiebel oder …«, hob Cordel an.

»Oder einen silbernen Löffel«, fiel der Herr Amaliens Mutter ins Wort. »Das ist ja alles Unsinn und Aberglaube! Wissen, Wissen und nochmals Wissen, das allein schützt vor Irrtum und damit vor dem Tod!«

Der junge Mann rückte die Kapsel zurecht, die über seinem Rücken hing, ergriff seinen Stock samt Beutel und zog die Augenbrauen hoch. »Ich weiß aber, wo diese Pilze stehen. Dort gibt es so viele, eine ganze Trage könnten Sie damit füllen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Stelle.« Als die beiden zögerten, stemmte er die Hände in die Seiten und legte den Kopf schief. »Sie trauen mir wohl nicht? Kommen Sie, ich werde Sie nicht enttäuschen! Also, vorwärts!«

Amalie war schon im Begriff, ihm zu folgen, doch die Mutter hielt sie zurück.

»Nein, nein. Ich zweifle nicht an Ihrer Kenntnis, denn wir können uns ja denken, wer Sie sind. Sie sind der Herr Dietrich, der bei der Krummbiegel oben wohnt«, wehrte Cordel ab.

Wilhelm Dietrich lachte auf. »Die Krummbiegel hat Ihnen von mir erzählt? Na, da hätte ich gerne zugehört.« Als vertraue er dem Mädchen mehr als Cordel, wandte er sich plötzlich an Malchen: »Was hat die Alte denn von mir gesagt? Ich wär ein Hexenmeister und so weiter? Ach, ich kenn doch ihr Geschwätz. Ich lach mich noch halb tot dabei.« Er schüttelte den Kopf und lachte so laut, als hörte er die Krummbiegel gerade reden.

Malchen wagte einen scheuen Blick. Mein Gott, sah er gut aus! Das hatte die Krummbiegel nicht erwähnt. Das Gesicht vornehm, die blauen Augen groß und klug. Wenn er sprach, hatte er ein lebhaftes Mienenspiel. Wie gern sie ihn ansah! Sie fühlte ein Ziehen in der Bauchgegend. Gar nicht einmal unangenehm, nur ungewohnt und seltsam. Aber ein bisschen Furcht hatte sie auch vor ihm. Das hing wohl mit dem großen Respekt zusammen, den sie vom ersten Moment an in seiner Nähe empfunden hatte. Nur vorm Pastor hatte sie ähnlichen Respekt. Die jungen Burschen aus dem Dorf machten sie jedenfalls nicht verlegen und ließen sie auch nicht besonders schüchtern werden.

Die beiden Frauen folgten ihm schließlich. Herr Dietrich führte sie auf merkwürdigen Pfaden durch den Wald. Zwischen dürren Zweigen, die mit lang herabhängenden grauen Flechten bewachsen waren, mussten sie sich hindurcharbeiten. Unter ihnen lag ein elastischer Teppich aus dunklem Moos, der sich endlos ausdehnte. Aber der Blick reichte nicht weit; ständig mussten sie Geäst auseinanderbiegen, und dabei kamen ihnen dauernd Spinnweben vors Gesicht, so dass Amalie abwehrend die Hände nach vorne streckte. Manchmal erhob sich ein Pilz aus dem einfarbigen Moosgrün, der sich durch seine dunklere Färbung abhob. Einmal blieb Amalie stehen und zeigte darauf.

»Den lassen wir, es ist nur ein Habichtsschwamm. Nur weiter!«, befahl Herr Dietrich, und die Frauen gehorchten.

Endlich war der Spuk vorbei. Amalie atmete auf und sah sich um. Eine weite Lichtung mit zahlreichen Baumstümpfen breitete sich vor ihnen aus. Durch den plötzlichen Gegensatz wirkte dieser Ort außergewöhnlich. Keine Flechten mehr, sondern smaragdgrünes, glänzendes Moos, dazwischen schwankende Gräser, und tatsächlich … so viele Pilze! Es war, als hätte sie eine höhere Macht aus einem riesigen Korb über die Lichtung geschüttet. Nicht nur, dass sie auf der flachen Ebene wuchsen, nein, auch die Baumstümpfe zeigten eine Fülle von Schwämmen in fast allen Farben. Die Sonne warf spielende Lichter auf das kurze Gestrüpp, das hier und da den Boden der Lichtung bedeckte. Wieder blickte Amalie verstohlen nach dem Fremden. Herr Dietrich sah so glücklich aus! Sein Gesicht hatte beinahe einen verklärten Ausdruck. Er machte eine einladende Handbewegung, als sei er hier der Herr und böte das, was sich hier fand, gnädigst zum gefälligen Gebrauch an.

»Sehen Sie? Dieser Anblick war die kleine Unbequemlichkeit durch das Dickicht doch wohl wert! Sammeln Sie, aber zeigen Sie mir alles, bevor Sie es in den Korb legen, denn hier wächst Gut und Böse friedlich nebeneinander.« Er bückte sich, und Amalie, die wie gebannt an seiner Seite blieb, sah mit Staunen, wie er mit zarter Sorgfalt ein kleines Etwas aus dem Boden löste, es auf seine flache Hand legte und mit glücklichem Ausdruck betrachtete.

»Sag bloß, du bist auch hier?«, fragte er mit freudiger Stimme. Er sah Amaliens Blick und hielt ihr die offene Hand hin: »Sehen Sie nur, ein Erdstern.«

»Ach, wie hübsch!«, rief Amalie aus. »Ein Erdstern? Den habe ich noch nie gesehen!«

»Die Menschen haben Augen und sehen doch nichts – nichts außer ihrem kleinlichen, eitlen Kram. Aber hier ist es schön, nicht? Schauen Sie hier zwischen Moos und Gras die kleinen blauen Glockenblumen und das zierliche weiße Hungerblümchen? Und dort, diese dicke Spinne, wie sich ihr feines Netz wie ein duftiger Schleier über das Ganze legt?«

Dietrich kniete am Stamm nieder, holte sein Augenglas hervor und betrachtete interessiert jede Einzelheit. Er schien seine Damengesellschaft bereits vergessen zu haben, so sehr hatte er sich in die kleine Wunderwelt vertieft. Doch die beiden Frauen standen nur staunend da und beobachteten ihn. Er blickte auf und rief: »Aber so sammeln Sie doch! Hier, hier, Hallimasch, nicht der hellgelbe, sondern dieser bräunliche. Es sieht aus wie mit feinem Zimt bestreut. Wenn Sie sich dieses Kennzeichen merken, können Sie ihn gar nicht mit dem Schwefelkopf verwechseln. Lassen Sie diesen schwarzen Einsamen hier nur stehen, das ist die Totentrompete und nicht essbar. Aber diese Kapuziner und die Schmerlinge nehmen Sie ja mit, die sind gut.«

Malchen brachte noch einen schönen, festen Pilz und fragte schüchtern: »Das ist doch ein Steinpilz?«

Dietrich nahm ihn ihr aus der Hand, drehte ihn um, zog sein Taschenmesser hervor und schnitt ihn an.

»Passen Sie auf!«, sagte er. Mit einem Ausruf des Staunens trat sie einen Schritt zurück. Die soeben noch helle Fläche des angeschnittenen Pilzes färbte sich dunkel, und diese Färbung schien sich sogar zu vertiefen. War das seine Magierhand, die diesen Schatten auf den Pilz zauberte?

»Das ist Boletus satanas, ein ganz gefährlicher Mordgeselle! Achten Sie auf das hübsche rote Polster unter dem Hut. Und wo Sie ihn finden, da rotten Sie ihn aus. Ein kleines Stück davon kann eine ganze Familie verderben.« Er zertrat den Pilz.

Solange die drei im Wald waren, kamen sie nur langsam vorwärts, denn jede Art von Gewächs und jeder Laut nahmen Wilhelm Dietrichs Interesse in Anspruch, aber schließlich hatten sie den Wald hinter sich gelassen. Cordel setzte den von Pilzen schweren Korb ab. Zögerlich wandte sie sich an ihren Begleiter: »Herr Dietrich, Ihnen haben wir all die vielen Pilze zu verdanken. Da müssten Sie die doch eigentlich mit uns essen.« Dietrich schien einen Augenblick zu überlegen.

»Warum nicht? Aber ich weiß gar nicht, wer Sie sind. Wohin soll ich denn kommen?«

»Wir wohnen in der Niederstadt, ungefähr das letzte Haus, wenn Sie Richtung Muldental gehen. Beutler Nelle, das sind wir. Jedes Kind kennt uns. Im Fenster liegen bunte Bälle, lederne Puppen und dergleichen. Das ist unser Geschäft. Sie können uns nicht verfehlen.« Dietrich schaute Amalie an, als er Cordel antwortete.

»Gut. Wenn es Ihnen recht ist, komme ich morgen Abend.«

 

Als Amalie im Bett lag, dachte sie an den kommenden Abend. Mit fieberhafter Erregung malte sie sich das Wiedersehen mit Herrn Dietrich aus. Vor allen Dingen aber durchlebte sie noch einmal den heutigen Nachmittag. Welch ein Erlebnis! Ein bis dahin unbekanntes Glücksgefühl durchströmte ihre Seele, während sie sich stets aufs Neue jedes Wort, jeden Blick und jede Geste ins Gedächtnis zurückrief. Alles war so märchenhaft, so verklärt gewesen. Der warme Klang seiner Stimme, die klugen blauen Augen, der verzauberte Wald.

Da fiel ihr die Krummbiegel wieder ein, was hatte die noch gesagt? »Warte nur, wenn der dich ansieht! Der kann dich mit einem Blick verhexen, und du kommst nicht wieder los von ihm! Dann musst du dein Leben lang Molche und Drachen durch die Welt schleppen!« Hach, was sich die Krummbiegel so alles ausdachte. Als ob das etwas Schlimmes wäre! Im Gegenteil: Ein unbeschreibliches Glück müsste es doch sein, immer mit diesem Mann zusammen zu sein. Wenn sie vor die Wahl gestellt würde, sie würde jubeln: Her mit der Bürde!

Was hatte er genau gesagt, als er den Erdstern vom Boden löste? Sie haben Augen und sehen nichts. Wie recht er hatte! Die Leute waren blind – sie selbst eingeschlossen. Bis heute hatte sie nicht einmal geahnt, dass es auch auf der Erde Sterne gab.

Wie unermesslich reich musste Herrn Dietrichs Leben sein! Die Krummbiegel hatte ihn bettelarm genannt. Na und? Was wusste die denn schon? Ja, er mochte vielleicht nicht so viel Geld haben wie andere, aber dafür besaß er einen Reichtum, von dem die verbitterte Alte keine Ahnung hatte. Freilich, was verstand die schon von der wundersamen Pflanzenwelt?

Morgen schon sollte sie ihn wiedersehen. Morgen, morgen!

Endlich schlief Amalie ein, und im Traum hörte sie seine Stimme. Erdstern, Totentrompete, Satanspilz, und sie sah die Pilze nebeneinander, wie sie wuchsen. Doch der Erdstern behielt die Oberhand über die anderen. Er wurde größer und immer größer, Dietrich pflückte ihn, konnte ihn aber nicht in der Hand halten, so groß wurde er, bis er leuchtend hell den ganzen Wald durchstrahlte.

 

Wilhelm Dietrich war tatsächlich zum Abendessen in ihrem bescheidenen Heim aufgetaucht, und auf diesen einen Abend folgten weitere Besuche. Zunächst wandte er sich vorwiegend an Cordel, ließ sich ihre getrockneten Teebündel, Umschläge und Salben zeigen und gab ihr bei dem einen und anderen Kraut bereitwillig Auskunft.

Gottlieb schimpfte mit seiner Frau: »Was hast du uns da eingebrockt? Gelegenheit macht Diebe, und Umgang bringt Liebe! Siehst du denn nicht, wie das Mädchen nur noch Augen für den merkwürdigen Mann hat?«

Ganz allmählich, es ergab sich im Verlauf mehrerer Wochen, wandte sich Wilhelm Dietrich an Malchen, wenn er über die Pflanzen sprach. Sie saß mit glühenden Wangen da und strengte alle Kräfte an, um zu verstehen, was er ihr sagte. Bücher brachte er ihr mit, auch Pilzbücher, mit bunten Bildern, die er ihr erklärte, wobei er umständlich die Ähnlichkeiten und Unterschiede aufzeigte. Oft ließ er eines der Bücher da und stellte ihr Aufgaben. Wenn er wiederkam, prüfte er ihr Wissen. Welches Glück, wenn er mit ihr zufrieden war!

Ihrer Mutter ging das allmählich reichlich weit, und sie fragte eines Abends: »Gibt es denn wirklich so viele Pilze?«

»Ja«, antwortete Wilhelm Dietrich trocken, »es gibt an die sechstausend Arten.« Da schlug ihre Mutter entsetzt die Hände ineinander.

»Aber Herr Dietrich, nein, Sie halten uns zum Besten«, protestierte ihr Vater, »und wenn wirklich so viel Zeugs im Wald steht, so geht das uns nichts an.«

Wilhelm Dietrich schien den Hinweis, dass es nun genug sei mit seinen Besuchen, nicht verstehen zu wollen.

»Nur noch einige wichtige Familien«, entgegnete er lächelnd, »dann hören wir ganz gewiss auf.«

Malchen sah ängstlich zu ihm auf, sagte aber nichts. Bald danach leuchtete sie Dietrich hinaus. Beim Gutenachtsagen drückte er ihr einen winzigen Streifen Papier in die Hand, den sie verwirrt in ihr Ledertäschchen schob. Erst in ihrer Kammer holte sie den kostbaren Streifen mit fieberhafter Erregung hervor und las: »Dein Herz sei mein Herz!«

Ja, mein Herz ist dein Herz!, jubelte sie innerlich.

 

Ein halbes Jahr später heirateten sie, und Amalie zog zu Wilhelm auf den Forsthof, wo er eine große Wohnung vom alten Ehepaar Clausen gemietet hatte. Darin richtete sich das Paar voller Eifer für die gemeinsame Arbeit ein. Hohe Gestelle für Herbarien bedeckten alle Wände bis hinauf zur Decke. In der großen Nebenstube standen die Schränke, zum Teil schon gefüllt mit Büchern, Mineralien, Insekten, Amphibien, Muscheln und Samen.

Bei schönem Wetter ging das junge Paar gleich nach der Morgensuppe auf die Wanderschaft. Es lag stets ein Plan vor, was gesammelt werden sollte. Doch auf Schritt und Tritt bot sich eine unerwartete Gelegenheit zu Erklärungen und Belehrungen nach der anderen. Wilhelm machte es aufrichtige Freude, seine begeisterte und begabte Frau in allen Dingen zu bilden und ihr Interesse für die Naturwissenschaft zu vertiefen.

»Die Hauptsache ist«, sagte er, »dass du deine Sinne schärfst. Sieh und höre, nein, lausche! Nicht nur dein Auge und Ohr, deine Seele muss vernehmen, was die Natur uns offenbaren will. Gib dich ihrem Zauber hin! Deine Seele muss sich weiten. Das Untersuchen, Trennen und Zählen kommt zuletzt! Wenn du erst die Natur liebst und erkennst, so begehrst du keine lauten Freuden, keine äußeren Dinge, auf die andere Menschen Wert legen. Du fühlst dich dann nie allein, denn jeder Feldweg zeigt dir liebe Bekannte.«

Wilhelm Dietrich setzte sich mit seiner jungen Frau ins Gras, pflückte eine Blume und lehrte sie, diese Pflanze genau zu betrachten und zu beschreiben. Er brachte ihr die botanischen Bezeichnungen bei, ließ sie sich an dem Duft erfreuen und ging dann vorsichtig an das Trennen und Zerlegen. Zart löste er den Kelch von der Blumenkrone und zeigte Malchen Stempel und Staubfäden. So brachte er ihr das Linnésche System bei.

Ja, das waren reiche, wohlige Tage für Amalie! Die Liebe war die beste Lehrmeisterin. Wie klein fühlte sie sich diesem wunderbaren Mann gegenüber; demütig bat sie ihn um Geduld, wenn sie anfangs die Klassen und Ordnungen durcheinanderwarf. Wilhelm fand aber keinen Grund zur Ungeduld, im Gegenteil: Er war erstaunt über ihr Gedächtnis und ihre schnelle Auffassungsgabe.

Es überraschte Amalie selbst, mit welchem Eifer sie beim Sammeln zugange war. Kein Berg war ihr zu hoch oder zu steil, keine Wiese zu sumpfig, kein Graben zu breit und kein Bach zu tief. Flink flogen Schuhe und Strümpfe von den Füßen, wenn die begehrte Pflanze vom jenseitigen Ufer geholt werden sollte. Hindernisse überwand sie lachend. Dietrich gab ihr allerlei Kosenamen; bald war sie seine Gemse, bald sein Adler oder sogar sein Maulwurf, wenn sie unermüdlich tief in die Erde grub, um die oft wunderbar geformten Wurzeln herauszuholen.

Mit anderen Menschen mochten beide nichts zu tun haben. Nur wenn sie jemanden mit einer Krankheit oder einem Leiden trafen, blieb Wilhelm freundlich stehen, ließ sich geduldig die Geschichte erzählen und gab dann seinen Rat, so dass bald die Rede ging, Herr Dietrich könne wirksamer helfen als der beste Doktor. Auch hierbei hörte Amalie aufmerksam zu und lernte.

Kamen die beiden von solchen Wanderungen schwer beladen, schmutzig und erschöpft nach Hause, dann erwartete sie stets ein gedeckter Tisch. Amaliens Mutter setzte ihnen eine Suppe oder einen Brei vor. Wenn Cordel dann meinte, nun sei es doch für heute genug mit der Botanik, dann lachten die beiden nur.

 

Im nächsten Jahr erwarteten die Dietrichs ein Kind. Wilhelm selbst sprach nur noch von seinem künftigen Sohn. »Ich selbst werde seine Ausbildung in die Hand nehmen. Ich will ihn früh auf weite Reisen mitnehmen, damit er abgehärtet wird, denn er muss später weit hinaus in die Ferne, in noch unerforschte Länder; er soll neue Arten finden, die den Namen Dietrich tragen werden. Und Gottlieb muss er heißen.«

»Ach, Wilhelm«, seufzte Amalie, »deinetwegen will ich hoffen, dass es ein Junge wird.«

»Natürlich wird es ein Junge«, behauptete er zuversichtlich. Amaliens Mutter schüttelte den Kopf. Und das wollte ein Naturforscher sein!

Nicht lange danach, an einem regnerischen Märztag, war es so weit. Cordel steckte den Kopf zur Tür herein.

»Ein sehr kleines Mädchen!«, rief sie in Wilhelms Arbeitszimmer hinein und verschwand gleich wieder.

Nur ein Mädchen? Ein sehr kleines noch dazu? Welch eine Enttäuschung! Er beugte sich wieder über seine Arbeit.

Das Kind war zu früh zur Welt gekommen. Mutter und Tochter schwebten wochenlang in Lebensgefahr. Cordel hatte Tag und Nacht keine Ruhe. Doch endlich waren die beiden über dem Berg. Das Kind wurde auf den Namen Charitas Concordia Sophie getauft. Unter der liebevollen, fürsorglichen Obhut der Großmutter wuchs das Mädchen heran. Die gute Cordel hatte es die meiste Zeit um sich, so dass sich Amalie ganz ihrer Arbeit widmen konnte. Cordel erzählte dem lebhaften Kind die biblischen Geschichten und lehrte es, morgens und abends zu beten. Sie spielte und scherzte aber auch mit ihm. Doch eines Tages, als die kleine Charitas gerade mal vier Jahre alt war, starb die Großmutter ganz plötzlich.

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Hörsaal des Anthropologischen Instituts Leipzig, 2009

Nadine Weber warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, während sie das Pultmikrophon ausrichtete. Noch zehn Minuten bis zum Ende ihrer Vorlesung. Sie räusperte sich. Das Thema ging ihr an die Nieren, viel stärker als andere, die mit ihrem Beruf als Anthropologin zu tun hatten; daher hatte sie auch ihre Tochter gebeten, ihr an diesem Vormittag zuzuhören. Falls Alina überhaupt erschienen war, saß sie entweder ganz oben oder irgendwo zwischen den anderen Studenten, die keinen freien Platz mehr in den Reihen hatten ergattern können und mit dem Treppenaufgang des Auditoriums vorliebnehmen mussten.

Nadine kratzte sich am Hinterkopf, hob den Blick von ihrem Manuskript und schaute ins Auditorium.

»1866/67 schickte Amalie Dietrich zwei Schädel und einen Unterkiefer aus Gladstone und Rockhampton nach Hamburg. 1870/71 folgten acht Skelette aus Bowen. Es lässt sich anhand der heute zur Verfügung stehenden Quellen nicht mehr zuverlässig rekonstruieren, wie sie an die Gebeine gelangt ist. Über den möglichen Erwerb gibt es nur eine Erinnerung von Sokolowsky, damals wissenschaftlicher Assistent am Zoo Hagenbeck. 1932 berichtete er, einmal mit Amalie Dietrich über die Sammlungsstücke geplaudert zu haben. Zitat Sokolowsky: Es ist ihr nicht immer leicht geworden, Skelette und Schädel von Eingeborenen zu erwerben. Die Australneger trieben damals einen lebhaften Ahnenkult und stellten die Schädel ihrer Vorfahren auf Bambusstellagen, von denen sie regelrecht gemopst werden mussten, wenn man sie erwerben wollte. Zitat Ende.«

Ein leichtes Raunen ging durch die Reihen der Studenten. Einige schüttelten den Kopf. Nadine wartete, bis wieder Ruhe im Hörsaal eingekehrt war, und fuhr dann mit ihrem Vortrag fort:

»Amalie Dietrich arbeitete und lebte in einem Teil Queenslands fernab jeglicher Zivilisation. In einer Region, die man vor allem für Einwanderer geöffnet hatte, darunter zahlreiche Deutsche, in der aber auch Goldsucher und Glücksritter unterwegs waren. Die Siedler gerieten vielfach in Konflikt mit den dort lebenden Aborigines. Für unseren Forschungsbereich ist es wichtig zu wissen, dass die Tötung von Aborigines damals nicht als Straftat betrachtet wurde. Immer wieder kam es zu Massakern an den Ureinwohnern. Oft wurden die getöteten Aborigines von sogenannten Knochensammlern ausgeschlachtet, die deren Gebeine an wissenschaftliche Gesellschaften, Museen und Sammler in Europa verkauften. In Australien kennt man Amalie Dietrich als ›Angel of Black Death‹. Sie gilt als erbarmungslose Frau, die nicht zögerte, Aborigines ermorden zu lassen, wenn ihr reicher Auftraggeber Godeffroy mal wieder dringend nach neuen Skeletten verlangte. Beweise dafür gibt es allerdings nicht. Es ist bezeichnend für die geringe Wertschätzung von Frauen in den Wissenschaften der damaligen Zeit, dass keinem Mann, der im gleichen Auftrag wie Amalie Dietrich unterwegs war, jemals ein solches Etikett verpasst worden ist. Vermutlich hat sie, genau wie die meisten ihrer männlichen Kollegen auch, die Skelette aus Bowen über die sogenannten Bone Hunters beschafft. Genaues wissen wir nicht. Doch als sicher ist anzunehmen, dass die Überreste, die sie an Godeffroys Museum nach Hamburg schickte, Angehörigen der Birri Gubba zuzurechnen sind, also den ursprünglichen Bewohnern des Gebietes von Bowen.

In den frühen Morgenstunden des 4. Dezember 1943 verbrannten die meisten anthropologischen Belegstücke aus dem Museum Godeffroy. Ein einziger Schädel aus Amalie Dietrichs Sammlung hat das Feuer jedoch unbeschadet überstanden.«

Nadine nahm ihre Brille ab und legte sie vor sich aufs Podium.

»Nach jahrelangen Verhandlungen unseres Instituts mit den zuständigen Behörden in Australien ist es mir eine große Freude, Ihnen ankündigen zu dürfen, dass mir die Ehre zuteilwerden wird, anerkanntermaßen unrechtmäßig erworbene Human Remains in ihr Ursprungsland zurückzubringen.« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als die Studenten applaudierten.

»Wurde auch Zeit«, hörte sie jemanden aus den vorderen Reihen skandieren.

»Bringt die Toten nach Hause!«, fiel ein anderer Student ein.