Das Geheimnis meines Erfolgs - Margit Mössmer - E-Book

Das Geheimnis meines Erfolgs E-Book

Margit Mössmer

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Beschreibung

Es gibt die anderen Kinder. Und es gibt Alex. Die Welt der Gleichaltrigen interessiert Alex nicht. Alex mag gelbes Essen, weißes Plastik, dicke Kataloge, die klackernden Klappen von Postkästen und Nina, die wundervolle, starke Pinguin-Mama-Arme hat. Schon im Kindergarten kann Alex schreiben und lesen, doch die Welt da draußen bleibt trotzdem schwer zu entschlüsseln. Kommt sie mit ihren falschen Bildern zu nahe, schmilzt Alex wie ein fallengelassenes Eis. Schließlich gelingt in einem geheimnisvollen Kraftakt das Unmögliche: Alex fügt sich ein. Aber zu welchem Preis? Einfühlsam und leidenschaftlich erzählt Margit Mössmer diese Geschichte über Anderssein, kindliche Emanzipation und Mutterliebe – durch die Augen des Kindes.

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Seitenzahl: 308

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Über das Buch

Die Geschichte einer schwierigen und großen Mutter-Kind-Liebe, erzählt aus der Perspektive eines Kindes, das auf die Welt kommt und nicht mit ihr einverstanden ist

Die Nachtigall erlernt den Gesang von benachbarten Vögeln und beherrscht etwa 180 unterschiedliche Strophentypen. Alex versucht die Gesänge der Kinder im Kindergarten nachzuahmen und die Gebräuche von Nina, die wundervolle, starke Pinguin-Mama-Arme hat. Aber es gelingt nicht. Einfügen kann sich nur, wer die passende Form hat. Alex passt nicht. Dann fliegt eine Nachtigall ins Zimmer und unterrichtet Alex in der Kunst der Nachahmung. Alles scheint plötzlich ganz einfach. Aber zu welchem Preis?

Die fremde und dennoch zärtliche Perspektive dieses Romans auf die Welt, auf die Menschen, auf die Umstände, unter denen sie leben, ihr Verhalten, ihre Regeln – all das erschüttert den eigenen Blick und führt dazu, nach der Lektüre etwas Neues gesehen, gefühlt und verstanden zu haben.

Über Margit Mössmer

Margit Mössmer, 1982 in Hollabrunn geboren, ist Autorin und Kulturvermittlerin und lebt in Wien. Zahlreiche Preise und Stipendien, u. a.: Ö1-Literaturwettbewerb, Startstipendium des Bundeskanzleramts Österreich, Hans-Weigel-Literaturstipendium. Nach ihrem Debüt »Die Sprachlosigkeit der Fische« (2015), das als bestes Debüt für den Franz-Tumler-Preis nominiert wurde, erschien 2019 der Roman »Palmherzen« (beide bei Edition Atelier).

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Margit Mössmer

DAS GEHEIMNIS MEINES ERFOLGS

ROMAN

Für meinen Vater,von dem ich das Schauen gelernt habe.

Inhalt

Flying Amigo III

Ich bin ein Fisch

Insomnia

Ninas Planet

Ärzte

Doktor Birnbacher

Nemo

Patrick

Goran

Falsche Bilder

Flying Amigo I

Der Tod

Die anderen

Grenzen setzen

Frösche, die keine sind

Zohreh

Ach ja

Wo bin ich?

Die Visitenkarte

Invisible Man

Insomnia

Die Schule

Geheimnisse

Das Wiener AKH

Vaterfiguren

Wenn das nicht schön ist, weiß ich auch nicht

Conny

Angst und Neid

Insomnia

Der Tod im weißen Mantel

Insomnia

Michael

Lea

Insomnia

Die Termine

Faschingsdienstag

Nina, die Henkerin

Gelsen

Insomnia

Flying Amigo II

Sommerferien

Das Leben besteht aus Nicht-Sagen und aus Dialogen

Ich gehe auf Kindergeburtstage

SpongeBob S01E3

Man könnte mal Patrick fragen

Auf Wiedersehen, Alex

Wie es läuft, wenn es gut läuft

Liebe

Rote Sachen

Geschichten

Flying Amigo III

Literatur bei leykam:

Flying Amigo III

Dag dag dag, tschewi tschewi dag! Mit dem Ruf der Amsel musste ich einsehen, dass ich kein Bandit war. Ich erhob mich von meinem Sessel, riss Henry Fonda von der Wand, schlüpfte aus der Hose, nahm endlich den Hut ab, zog die falschen Stiefel aus und kickte sie mit dem Fuß unter den Schreibtisch, wo der falsche Revolver lag. Ich spürte die Butterkeksbrösel unter meinen nackten Sohlen. Sie erinnerten mich daran, wie lange die Nacht gedauert, wie sehr sie aus Stunden, Minuten und Sekunden bestanden hatte. Butterkeksbrösel, wenn man nahe genug herangeht, sehen aus wie Himmelskörper. Sie können von Raum und Zeit berichten. Sie sind Zeugen von Vergangenheit und Gegenwart, Leben und Tod.

Ich ging quer durchs Zimmer über die roten Spuren auf dem Boden. Sie sahen aus wie kleine Flugzeuge. Vor dem Fenster blieb ich stehen, zog das Hemd aus, machte einen großen Schritt auf den Stapel IKEA-Kataloge, lehnte mich mit dem Oberkörper hinaus und blickte zur Amsel in die Wiese hinunter, senkrecht. Es ist nicht weiter bemerkenswert, dass mein Fenster offen stand, auch wenn draußen der Schnee lag. Mir war heiß, heiß wie an jedem Tag.

Die Amsel wendete ihren Kopf und sah zu mir nach oben. Sie beobachtete mich dabei, wie ich mich auf das Fensterbrett setzte, wie ein nackter Reiter auf sein Pferd. Wie ich schließlich auch mein linkes Bein über den Rücken des Pferdes schwang, sodass beide Beine in der Luft hingen. Die Amsel war eine gewöhnliche Amsel und hatte daher auf die angenehmste Weise nichts dazu zu sagen. Sie wippte dreimal mit ihrem Schwanz auf und ab und flog in den blätterlosen Holunderbusch. Ich blickte an meinen Zehen vorbei in die Tiefe. Der Schnee dort unten war Februarschnee, wässrig und von der frühen Morgensonne beschienen. Ich rutschte mit meinem Hintern einen Zentimeter nach vorn. Meine Fingerkuppen waren noch dagegen und hefteten sich ans Mauerwerk.

Unten in der Küche war Nina schon mit dem Herrichten des Frühstücks beschäftigt.

„Nina!“, rief ich. „Nina!“

„Was?“

„Kannst du mir helfen?“

„Ich habe zu tun!“

„Nina!“

Sie ging endlich die Treppe hinauf. Unsere Treppe bestand aus zwölf knarzenden Holzstufen, also konnte ich ihren Weg nach oben mitzählen. Eins, zwei, drei, vier, bei fünf zitterten meine Arme vor Anstrengung, mein halber Körper hing schon in der Luft. Zwölf! Aber sie kam nicht in mein Zimmer. Sie ging stattdessen ins Schlafzimmer und öffnete dort die Vorhänge. Ich hörte ein Ratsch! Und noch ein Ratsch! Sekunden, Sekunden, Sekunden. Jetzt musste sie bemerkt haben, dass der Spiegel fehlte, und verwendete zwei weitere Sekunden dafür, sich darüber zu ärgern.

„Ich habe dir Tausend Mal gesagt, du sollst mit dem schweren Spiegel nicht –“ Sie öffnete die Tür und verstummte. Sie stürmte zu meinen Händen. Zu meinen Schultern. Zu meinem Kopf. Zu allem, was noch greifbar war. Sie packte mich unter den Achseln und zog mich ins Zimmer zurück. Wir landeten auf dem Boden, ihr weites T-Shirt hing über meinem Gesicht und ich verlor den Überblick, oder ich schaute gar nicht, denn Nina schlug mir auf die Wangen, küsste meinen Kopf und rief: „Riri! Schau mich an! Riri!“

Frisch geschlüpfte Amsel-Nestlinge können dem Altvogel bereits den Kopf entgegenstrecken. Ihre Augen sind anfangs geschlossen und öffnen sich am vierten Lebenstag. Ich öffnete die Augen und sah: Nina sah mich an. Sie sah, ich war da. Sie griff meinen Körper ab, um sicher zu gehen, dass auch wirklich alles da war. Sie berührte meinen Nacken, an dem noch immer das Halstuch hing. Eine dunkle Linie verlief quer über meinen Hals von Ohr zu Ohr. Ich sah ihren Zeigefinger, planetengroß. Nina tippte mit ihrem Zeigefinger auf meine Stirn und im selben Takt klopfte es.

„Was soll das? Riri! Riri, was? Was machst du da?“ Sie wiederholte es immer wieder. „Was machst du da? Was machst du da? Was machst du für Sachen?“

Dabei machte ich ja gar nichts. Ich lag in ihren Armen wie ein Baby. Nicht einmal meinen Kopf hielt ich selbst, denn den hielt Nina zwischen ihren Händen. Eine einzige, kiloschwere Träne löste sich aus dem Rinnsal, das über ihre Wangen lief, und fiel an der Kinnkante hinunter. Obwohl sie mich im Gesicht erwischte, verstand ich die Träne nicht. Es gab keinen Grund zu weinen. Aber Nina tat mir leid und ich räusperte mich.

„Ich bin nicht Riri.“

„Was sagst du da?“

„Ich bin kein Bandit.“

„Ist gut, Riri. Du bist kein Bandit.“

Ich bin ein Fisch

Zack! Und ich war auf der Welt. Ich war auf dieser Welt und konnte nicht mehr zurück. Ich war still. Kein Schrei, nicht einmal ein leises Quieken. Die Hebamme übergab mich in Ninas starke Arme. Unsere Häute klebten aneinander, mein ahnungsloses Herz heftete sich an ihres wie Konfetti an einen Plastiksessel. Ich war ein Grund zum Feiern. Es hätte unser großer Moment außerhalb ihres Körpers sein können, das war uns beiden klar. Hier bin ich, hier bist du, hallo, wie geht’s? Doch es passierte nicht viel. Ich riss die Augen auf und in Ninas Kopf machte sich eine Erinnerung breit, eine Regel. „Es schreit nicht“, sagte sie. Sie strich mir mit dem Daumen über die Stirn. „Warum schreit es nicht?“ Das erste Warum unseres gemeinsamen Lebens.

Niemand antwortete Nina. Sie sah mich mit ihren großen Augen an – Augen, von denen man mir später sagen würde, ich hätte genau dieselben. Ihre Augen waren verheult, meine starr wie die eines Hais. Nina blickte in meine lidlosen Haiaugen, in mich hinein. Sie hätte lächeln können, doch stattdessen fiel sie immer tiefer ins Schwarz meiner Pupillen, als wäre sie eine, die von hoch oben aus einem Turm gestoßen wird. Oder eine, die beim Gehen in einen Brunnen stolpert. Sie fiel in mich, das große Ungewisse.

Augen, Augen, Augen. Neugeborene schauen nicht. Bis vor kurzem war Nina noch zum Geburtsvorbereitungskurs gegangen. Dort hatte man ihr Fotos von zerknitterten Wesen mit unförmigen Köpfen gezeigt, manche mit Haaren drauf, andere nicht. Manche Babyhäute blau, andere gelb, andere rot. Die einen Körper dicklich, mit kleinen Wülsten an den Gelenken, die anderen feingliedrig, beinahe transparent. Es gab hässliche Gesichter, niedliche Gesichter, verschwollene und faltige Gesichter. Aber alle Babys auf den Bildern hatten geschlossene Augen gehabt.

„Ist es okay?“ Ninas Frage war dorthin gerichtet, wo eine Hebamme stand. Die antwortete, alles wäre gut, doch Ninas Gehörgänge waren verstopft, gefüllt mit Seen aus Schweiß und Tränen, umgeben von Ohrmuschelgebirgen, also fragte sie noch einmal, lauter, kräftiger: „Ist mein Kind in Ordnung?“ Frische Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Nase. Eine Krankenschwester kam, nahm mich von Ninas Brust und wickelte mich in ein Tuch. Ihr Gesicht, eine Eierschale.

„Können Sie bitte warten?“ Nina lag da, wie Wäsche im Wasser, hob ihren Kopf an und entdeckte das Durcheinander zwischen ihren Beinen. Wer konnte schon sagen, was von all dem ihr Körper war und was meiner, was das alles sollte, was hier geschah.

„Wir sehen uns das an“, sagte ein Arzt, der sich hinter einem Vorhang versteckt hatte.

„20.2.2001. Schönes Datum, Frau Koch. Und auch noch Glück gehabt, weil knapp am Wassermann vorbei.“ Nina versuchte zu lächeln, schließlich war es eine gute Entwicklung, dass die Frau, die eben noch mit aller Gewalt ihr Knie in Ninas Bauch gestemmt hatte, jetzt für Scherze aufgelegt war. Doch im nächsten Moment seufzte die Hebamme tief und beschwerte sich darüber, dass Ninas Nachwehen nicht schneller einsetzten, damit sie ihre Arbeit fertig machen konnte. Endlich wusch sie ihr das Blut von den Schenkeln, injizierte ihr etwas und begann zu nähen.

Ninas Halswirbelsäule hätte nicht das Gewicht einer Fliege stützen können. Ihr Kopf hing so schwer herab, dass das Kinn auf dem rechten Schlüsselbein auflag. Ihr Körper war gerade gevierteilt worden, langsam fügten sich die Teile wieder zusammen, im Dunst des Zimmers aber hatte sich ihre Angst zu sterben gehalten. Ein grauhäutiger Jesus am Kreuz blickte sie aus der Ecke an. Seinen Kopf hatte er genauso hängen gelassen wie Nina ihren. Er war nackt, obwohl die kalte Luft durchs gekippte Fenster kam.

Ich schrie zum ersten Mal. Und hörte nicht mehr auf.

Insomnia

Beim Verlassen des Krankenhauses schaute Nina die Hebamme noch ein letztes Mal fragend an. „Ich weiß auch nicht, Frau Koch.“ Sie tat, als hörte sie mein Schreien nicht, und zeichnete mir mit dem Daumen ein Kreuz auf die Stirn. „Aber ich sehe, Sie haben Hilfe zuhause.“

„Hilfe?“, fragte Nina.

Die Hebamme zeigte auf die kleine Frau, die gerade mit dem Auto die Auffahrt heraufgekommen war und auf uns zuging.

„Ach so, meine Mutter.“ Nina sah die kleine Frau für einen Moment lang an, dann schaute sie zurück zu mir, ins Maxi Cosi. „Ich geh mit diesem Kind so nicht heim.“

„Du bist nur müde“, sagte Ninas Mutter zu Nina und „Gott schütze Sie“ zur Hebamme. Die machte einen erleichterten Eindruck, als wir doch ins Auto stiegen. Während der Fahrt sprach Ninas Mutter kein Wort, Nina weinte leise, ich weinte laut.

Was viele nicht wissen, ist, dass das Erste, das man wahrnimmt, wenn man einen Raum betritt, der Geruch ist. Es sind weder die Größe des Raumes noch die Höhe der Decke oder die Farben der Wände. Es ist der Geruch. Meine Nase ist Trägerin und Archivarin unzähliger Gerüche und damit unzähliger Szenerien, Orte und Menschen. Das Krankenhaus roch nach Leuchtstoff. In unserem Zuhause roch es nach Fructis-Shampoo.

Nina legte mich in ihr Bett und wir schliefen. Schliefen wir? Schlief ich? Es verging ein Tag und es verging eine Nacht. Es verging eine Mondphase oder ein Mondphasenzyklus. Sie trug mich durchs Zimmer. Irgendwann legte sie mich in ein eigenes Bett. Das einzigartige Mikroklima gibt ein Gefühl von Wärme und Gemütlichkeit, hieß es im Katalog. Ich lag auf dem Rücken und schrie, wie ich es im Krankenhaus gelernt hatte. Nina sah mich mit ihren großen Augen an, wie sie es im Krankenhaus gelernt hatte. Sie beugte sich über das Bett, der Kragen ihres T-Shirts dunkel gefärbt. „Schlaf endlich“, flehte sie mich an. Mit zittriger Stimme fing sie an zu singen. Während sie sang, klemmte sie etwas an die Gitterstäbe meines Bettes und auf einmal, als sie fertig gesungen hatte, schwebte sie über mir: die Sichel. Nina tippte sie mit dem Zeigefinger an und sie begann gefährlich hin und her zu schwingen. „Schau mal“, ein gefühlvolles Flüstern, „der Mond.“

Ich strengte mich an, Nina klarzumachen, dass ich damit nicht einverstanden war. Leider konnte ich ihr Gesicht nicht finden und leider war das noch nicht alles. Sie zog an einer Schnur, die aus der Sichel kam, und es wurde unerträglich heiß im Zimmer. So heiß, dass es wehtat. Nina nahm mich aus dem Bett und trug mich im kochenden Zimmer herum. Ich tobte.

Nina brauchte ewig, um die Sichel wieder von dort wegzunehmen, und mir wurde klar, sie bestimmte, was passierte und wann es passierte. Sie konnte mein Universum einrichten, wie es ihr passte. Sie war die mächtige Herrscherin in diesem Reich und sie hätte mich in ihrer Verzweiflung über mich zermalmen können wie einen Käfer.

Ich begriff, sie war die Einzige, die mir helfen konnte.

Die Babywaage stand auf dem Tisch und warf einen bedrohlichen Schatten an die Wand. Nina hatte sie auf Anraten von Doktor Birnbacher gekauft. Durch das reduzierte Design fügt sich die Waage unauffällig in die Umgebung ein, stand in der Beschreibung. Von unauffällig konnte keine Rede sein, sie war vielmehr ein drittes Familienmitglied. Nina redete sogar mit ihr.

Ich konnte noch mit nichts und niemandem reden. Ich schrie. Wobei, das sagt sich so leicht. Mit allem, was mir an Kraft zur Verfügung stand, saugte ich die Luft, das menschliche Lebenselixier, ein, fügte im Inneren meines Körpers meinen Schmerz dazu und stieß die schmerzerfüllte, wasserschwere Luft wieder aus. Dauerte das Einsaugen und Vermischen, also der Moment der Stille, besonders lange, war das das Anzeichen für eine Riesenwelle, die umso vernichtender ausfallen, Nina erfassen und in den Abgrund ziehen würde. Wenn ein Baby schreit, so richtig schreit, dann reicht es nicht zu sagen, es stelle einem dabei die Haare auf. In Wahrheit betrifft dieses Schreien jede einzelne Zelle des Hörenden und hätten Zellen Haare, dann würde es ihnen die Haare aufstellen. Man möchte das nicht hören. Man möchte es nicht hören! Sogar Tiere möchten es nicht hören. Vor allem Tiere. Kommt ein Hund mit einem schreienden Baby zusammen, beginnt er heftig zu winseln. Dabei sagen manche, Hunde seien gut, um Babys zu beruhigen. Wir hatten keinen Hund.

Ninas Planet

Vor meiner Geburt hatte Nina als Frisörin gearbeitet. In der Frisierstube Biene lobte man sie für ihr Talent, mit Haaren umzugehen. Lob ist für die meisten Menschen angenehm und deswegen löste es bestimmt ein erfreuliches Gefühl in Nina aus. Aber von einem Gefühl kann man sich nichts kaufen, schon gar keinen Golf. Die Biene zahlte ihr 5.000 Schilling im Monat. Der neue VW Polo kostete 250.000 Schilling. Also arbeitete Nina an Samstagen im Spar in der Wiener Straße als Affe. An nur einem Tag verdiente sie dort so viel wie bei der Biene in einer ganzen Woche.

Ein Affe braucht starke Arme, um Bananenschachteln tragen zu können. Und er muss alles, was im Obst- und Gemüseregal liegt, wenden, nachschlichten, drapieren, aussortieren. Die Früchte, die nicht einzeln, sondern in Netzen oder Plastiksäcken abgepackt in den Regalen liegen, muss er noch genauer kontrollieren. Dort verstecken sich schimmlige Zitronen, verbeulte Mandarinen, faulige Zwiebeln. Nina hatte gelernt, dass Obst und Gemüse lebendige Organismen waren, die atmeten und Vorratsstoffe verbrauchten. Ein Apfel mag es gerne kühl und feucht, eine Banane trocken und warm. Dieser Widerspruch war unüberwindbar und Nina musste viele Bananen wegschmeißen. Wie beim Menschen bestehen Bananenhände aus mehreren Fingern. Wenn Nina eine Bananenhand sah, dachte sie an das schwere Gewicht von Kartons. Wenn ich eine Bananenhand sah, wuchs aus ihr die Frage, welchem Wesen diese Hand einmal gehört haben mochte. Einem riesigen Bananenmann vielleicht, der mit tiefer Stimme spricht, tief wie die Stimme vom Steinbeißer in der Unendlichen Geschichte, Ninas Lieblingsfilm, als sie ein Kind war. Oder die Stimme des Universum-Sprechers im Fernsehen, die sie auch ganz gernhatte. Oder Michaels Stimme.

Michael und Nina kannten sich aus der Berufsschule. Michael lernte dort alles über Einzelhandel und Nina alles über Haare: Haar und Kopfhaut beurteilen, reinigen und pflegen, Kopfhaut mit verschiedenen Techniken massieren, Haare mit klassischen Techniken schneiden, Haare mit verschiedenen Umformungstechniken gestalten, Geräte, Materialien und Arbeitsmittel auswählen und einsetzen sowie Arbeitsschritte planen und durchführen, Arbeitsergebnisse kontrollieren, und: Kunden serviceorientiert betreuen. Das bedeutet, sie hatte gelernt, wie man freundlich lächelt. Also lächelte sie auch freundlich, als sie Michael damals die Tür zu unserem Zuhause öffnete. Vielleicht hatte sie in diesem Moment ein Tic Tac im Mund, sicher hatte sie die Haare frisch gewaschen. Und sicher blickte sie Michael ins Gesicht, weil Menschen das tun, wenn sie jemandem die Tür öffnen. Ich weiß nicht, was sie dort im Türrahmen sah. Weiße Streifen auf Orange. T-Shirt, kurze Hosen. Ein Papagei auf der linken Schulter, wie ein Pirat. Mit seiner guten Stimme sagte Michael etwas wie Ich hatte schon Angst, ich komme zu spät oder Ich hatte schon Angst, ich finde nicht her, denn Michael, meinte Nina einmal, hatte vor vielen Dingen Angst.

Als es vorbei war, verabschiedeten sie sich und machten ein neues Date aus. Sie verabredeten sich noch einmal und noch einmal und noch ein paar Male, so lange, bis sie irgendwann einfach aufhörten, einander zu treffen. Nina musste also keine neue Zahnbürste mehr für ihn verschwenden und im Haus war es wieder still. Sie verbrauchte allein auch kaum Strom, nur manchmal lief der Fernseher, begleitet vom Rauschen in den Wänden. Legte sie die gefaltete Tagesdecke auf die blaue Couch, lag sie abends immer noch so da. Niemand hatte sie verwurschtelt oder in ein anderes Zimmer getan. Keine knarzenden Stufen, wenn es nicht die eigenen Schritte waren. Keine riesigen Schuhe, die fast den ganzen Raum zwischen Eingangstür und Treppe einnahmen. Nina behielt wieder die Übersicht. Lichtkippschalter, Türschnallen, Fenstergriffe, wassergefüllte Radiatoren, zwei Schneidbretter, ein Kübel, ein Tisch und Sessel mit Filzklebepunkten an den Beinen, lautlos. Unter der Woche Fructis-Shampoo, am Wochenende Bier-Shampoo, Kapuzenpullover mit Fischskelett-Print, einmal pro Woche Wäsche waschen, die Tagesdecke auf den nackten Schenkeln, der blaue Stoff der Couch darunter.

Und sonst – Ruhe. Welches Chaos sich damals gerade in ihrem Unterleib zusammenbraute, das wusste sie ja nicht. Was sie außerdem nicht wusste, war, dass es mit mir auf der Welt schwieriger wurde, Michael nicht brauchen zu wollen.

Ärzte

Wie ein Schwarm Heuschrecken war ich in Ninas Leben gerauscht und über sie hergefallen. Jede Minute mit mir, eine Heuschrecke. Anfangs hatte sie sich noch nach jedem Tier einzeln gebückt, aber der Schwarm wurde Tag für Tag dichter und irgendwann, nach Wochen und Monaten, konnte Nina keine einzelnen Übel mehr sehen, sondern stand inmitten einer flimmernden, lärmenden, alles zerfressenden Katastrophe.

Nina rief Doktor Birnbacher an und fragte, was sie mit mir machen solle. Der Birnbacher sagte, das Leben sei ein Lotteriespiel oder eine Pralinenschachtel oder so etwas Ähnliches und dass man eben auch ein Schreibaby aus Abrahams Wurstkessel fischen konnte. Schreien sei nichts anderes als Kommunikation, sie solle das nicht negativ sehen. Er sage es gerne noch einmal, vor allem einer jungen Mutter wie ihr: Es handle sich um Anfangsschwierigkeiten, wie es sie nun einmal zwischen Mutter und Kind gebe, mein Schreien würde sich legen. Sie solle sich entspannen, ein Baby reagiere sofort, wenn die Mutter angespannt ist.

Also strengte sich Nina an, entspannt zu sein. Sie hielt ihre Tränen zurück und trug mich durchs Zimmer, obwohl sie wusste, dass mein Toben im Liegen, im Stehen, im Gehen ein und dasselbe war. Sie schaukelte und tätschelte mich. Sie legte mich auf die blaue Couch, fütterte mich mit Tropfen gegen Blähungen, streichelte meinen Bauch, schob meine Beine behutsam hin und her, als wären sie das Gestänge an den Rädern einer alten Lokomotive. Sie wollte mich zum Laufen bringen, ich sollte endlich funktionieren. Sie nahm mich an die Brust und versuchte, mich zum Trinken zu überreden. Alle ihre Anstrengungen waren mir ganz egal. Ich schrie.

„Normal ist das nicht“, sagte Patrick, der uns am Küchentisch zwischen CD-ROM-Türmen sitzend beobachtet hatte, während er Nina ein E-Mail-Konto auf ihrem neuen Computer einrichtete. Nina wollte eigentlich keinen Computer. Schon gar keinen, der den vierten Platz an unserem Tisch besetzte. Nina brauchte auch kein E-Mail-Konto, aber es war angenehm, dass Patrick eine Beschäftigung hatte. Er kannte sich gut mit EDV-Sachen aus. Auf dem Computer gestaltete er Werbematerial für Firmen. Zum Beispiel arbeitete er an der Beklebung für die Fensterfront der Pizzeria Jovanotti in der Wiener Straße. Patrick war selbstständig. Und er war Ninas Bruder. Er schlief oft auf unserer blauen Couch.

Patrick stellte sich vor uns hin und sah mich an. Er roch nach Leder. „Schaut aus wie zehn Tage durchgewatscht“, sagte er.

Ich bemerkte, wie Nina die Kraft aus den Armen schwand. Sie ließ mich sanft auf ihren Schoß sinken. In dem Moment, als mein Kopf ihren Oberschenkel berührte, klebte da ein dünner, roter Faden, der von meinem rechten Ohr zum Hals führte. Wir fuhren ins Krankenhaus.

Die Ärztin in der Ambulanz drückte Nina aufrichtig die Hand und sagte, sie solle sich keine Vorwürfe machen, es könne schon vorkommen, dass man so etwas übersieht. Wir standen im Gang, rechts und links von uns saßen Patienten und starrten uns an.

Die beidseitige Mittelohrentzündung, meinte sie, würde wenigstens erklären, „warum Ihr Kind, wie Sie es mir schildern, so viel schreit“.

Diese Rechnung war aber falsch. Ich war seit sieben Monaten auf der Welt, das heißt, ich schrie seit sieben Monaten. Die Mittelohrentzündung gab es erst seit einem Tag.

Nina hörte der Ärztin gar nicht richtig zu, ihr Blick war an ihrem Long Bob hängen geblieben. Trotz der schlecht gemachten Meschen wirkte die Ärztin jung und verständnisvoll. Also nahm Nina noch einmal alle Kraft zusammen, um unsere Lage zu erklären.

„Mein Kind schläft nicht“, sagte sie.

„Das tut mir sehr leid. Haben Sie Stillen als Einschlafhilfe probiert?“

„Ich meine gar nicht. Nie. Nie, nie, nie.“

Die Ärztin pflichtete Nina bei, dass das eine schwierige Situation war. Als sie anfing, von ihren eigenen Kindern zu reden, unterbrach Nina sie und sagte möglichst laut, um gegen mein Schreien anzukommen: „Ich glaube, mein Kind schreit nicht, weil die Ohren entzündet sind, sondern die Ohren sind entzündet, wegen dem vielen Schreien! Es ist umgekehrt, verstehen Sie?!“

Die Ärztin lächelte freundlich oder unbeholfen oder mitleidig und griff in ein Prospektregal, das dort in unserer Nähe stand. Durch mein Toben konnte man sie nicht mehr verstehen, sondern nur noch sehen, wie sich ihre Lippen bewegten, während sie uns eine babyblaue Broschüre entgegenhielt.

Die Menschen kommen sich einzigartig vor mit ihren Gefühlen, dabei schwimmt die Menschheit seit Jahrtausenden im selben Gefühlspool. Jedes Gefühl wurde schon Trilliarden Mal gefühlt. Gefühle werden nicht geboren wie Babys, und plötzlich ist da etwas Individuelles, Unvergleichliches. Sie entstehen weder sozusagen aus dem Nichts wie neuartige Viren noch werden sie bei archäologischen Ausgrabungen als etwas längst Verschollenes gefunden und wiederbelebt. Alles bleibt in der Gefühlswelt immer beim Alten. Der Menschenaffe war wütend und Nina war es auch. Nina war wütend auf mich. Nina war still und reglos wütend auf mich. Ausgerechnet hier und jetzt, in der Psychosomatischen Ambulanz, von deren Existenz uns nicht erst eine Broschüre, sondern auch der Birnbacher hätte erzählen können, ausgerechnet hier also, wo Nina mich dem Primarius präsentieren wollte, musste ich ihr in den Rücken fallen und ein unauffälliges Kind sein. Ich saß auf ihrem Schoß und schaute den Arzt über den Schreibtisch hinweg an. Nina füllte inzwischen das Formular aus: Ich mache mir viele Sorgen, Ich weine oft, Ich bin sehr müde und kann trotzdem nicht schlafen, Ich habe Angst, Ich kann nicht mehr lachen.

„Da steht, wenn ich mehr als vier Punkte ankreuze, kann es sein, dass ich eine psychische Krise habe. Aber ich habe keine psychische Krise, also wenn, dann haben wir beide eine Krise, weil diese vier Punkte, die müsste mein Kind eigentlich genauso ankreuzen.“ Sie sah mich wütend oder vorwurfsvoll oder hoffnungslos an. „Also wenn es einen Stift halten könnte.“

Ein paar Wochen später und ein Viertel Kilogramm weniger, hatten wir einen neuen Termin. Und zwar bei Frau Hamidi im zweiten Bezirk in Wien.

Frau Hamidi war eine ausgebildete Cranio-Sakral-Therapeutin. Nina hatte sie auf einer Homepage gefunden, auf der Mediziner aller Art nach Gemeinden und Bezirken aufgelistet waren. Wir saßen gemeinsam mit Patrick am Küchentisch und warteten. Die Homepage brauchte etwa 15 Sekunden, um zu laden. Der Klick auf den Button Kassen/Kosten dauerte noch einmal so lange. Als sie die Zahlen auf dem Bildschirm sah, legte Nina ihre Hände über den Mund und Patrick fing laut zu lachen an. „Das verlangt die in der Stunde, Nina!“, rief er. „In der Stunde! Für so einen Eso-Hexen-Scheiß!“

Nina zog ihren Kopf einmal zur rechten, einmal zur linken Schulter, so dass es in der Wirbelsäule knackte wie bei einer Boxerin, atmete laut aus, stand auf und ging in die Küche.

Patrick las sich den Text durch und redete einfach weiter. „Fluid-Tide, was soll denn das heißen? Primäre Respiration. Subtile Pulsation. Ich glaub, ich spinn. Und schau, da, das Behandlungszimmer. Das ist gar kein echtes Arztzimmer, das ist einfach eine Wohnung.“

Nina schreckte die Eier ab, kam an den Tisch zurück und legte mit glühroten Fingerkuppen ein Ei in den Becher vor Patrick. Apropos Wohnung, hätte sie sagen können. Zwei Worte.

„Aber borgst du’s mir trotzdem?“, fragte sie, ohne ihn anzusehen. Sie starrte stattdessen auf seine Füße. Patrick saß mit den Straßenschuhen da. Mit der rechten Hand griff er nach dem Löffelchen und schlug damit so kräftig aufs Ei, dass die Schalensplitter nur so über die Tischplatte schossen. Mit jedem Schlag hätte Nina ihn fragen können, wie lange das Austauschen der Fenster in seiner Wohnung eigentlich noch dauern würde, bis wann er bei uns bleiben wollte. Es wären kleine Worte gewesen. Wann ziehst du aus? Vier Worte. Ein Fragezeichen am Schluss. Worte, klein wie frischgeschlüpfte Babyvögel. Aber Menschen gewöhnen sich an, nicht alles geradeheraus zu sagen. Für viele ist es eine Option, Worte zurückzuhalten. Irgendetwas in ihrem Gehirn funktioniert in gewissen Situationen auf eine gewisse Art, weswegen sie es tun, beziehungsweise eben nicht tun, weswegen sie schweigen.

Frau Hamidi, Hamidi, Hamidi. Hamidi ist ein Name, den ich gerne laut ausgesprochen höre, bei dessen Klang ich an Vanillepudding oder weißes Plastik denke. Im Behandlungszimmer mit dem Orangenduft, den Orchideen auf dem Fenstersims und den gerahmten Zeugnissen an der Wand atmete Nina das erste Mal seit Monaten. Nicht ein, sondern aus. Ausatmen wird unterschätzt.

Anders als der Name vermuten ließ, hatte Frau Hamidi nichts Großartiges gesagt. Sie hörte sich nur Ninas Erzählungen an. Sie mussten sich beide anstrengen, weil es wirklich eine Herausforderung war, neben meinem Toben bei der Sache zu bleiben. Nina erzählte von unserer schwierigen Geburt, von unseren schwierigen Tagen und Nächten. Von den Heuschrecken. Sie erzählte und wiederholte einzelne Worte, wenn Frau Hamidi sie durch mein Kreischen hindurch nicht verstanden hatte. Sie redete über mich, über sich. Sie erwähnte, wie schwer es ihr fiel zu essen, weil ich nicht aß. Sie wisse, sie müsse essen, aber es käme ihr unfair mir gegenüber vor.

Frau Hamidi legte mich auf die Liege und Nina schaute auf meine halbnackten Gliedmaßen, die ich zitternd in die Luft streckte, umgeben von Bodystoff, der nicht um meinen Körper spannte, wie er sollte. Frau Hamidi packte meinen Kopf mit beiden Händen. Sie packte ihn, sage ich, weil sie ihn wirklich packte. Diese großen Hamidi-Hände an meinem kleinen Kopf. Ich spürte, wie die fleischigen, kräftigen Hamidi-Handinnenflächen durch meine Haut bis zu meinem Schädelknochen vordringen wollten. Das hier hatte nichts mit einer Kopfmassage zu tun, so wie Nina sie in der Berufsschule gelernt hatte. Nina hätte die Behandlung abbrechen und sagen können: Danke, aber nein danke. Lieber nicht. Lassen Sie das. Aber wie gesagt, Menschen schweigen.

„Geburtstrauma“, sagte Frau Hamidi. „Der Kopf ist deformiert.“

Aus Ninas Auge floss eine Träne.

„Zum Glück sind Sie rechtzeitig bei mir. Im ersten Jahr lässt sich das noch richten.“

Nachdem Frau Hamidi meinen Schädel lange genug gedrückt und gedreht hatte, nahm sie ihre Fingerspitzen zusammen und rieb meine Ohren. Sie rieb sie fest, bis sie violett waren wie Orchideenblüten, während mein Gesicht vom Schreien blau war wie unsere Couch. Nachdem sie meine Ohren lange genug gerieben hatte, stach sie mir mit einem heißen Zeigefinger auf meine Nasenwurzel. Es wäre passend, jetzt sagen zu können, ich schrie wie nie zuvor, aber Nina hatte schon alles von mir gehört. Ich spürte, wie etwas Kühles durch meinen Kopf ging und meinen ganzen Körper erfasste. Es war, als hätte sich ein Rochen über mich gelegt und mich mit seinen Flossen gestreichelt. Etwas war durch Frau Hamidi in Bewegung gebracht worden und mein Schreien entfernte sich, bis es irgendwann nicht mehr zu hören war.

Nina staunte. War das nur ein schneller Zaubertrick oder hatte Frau Hamidi mich soeben repariert?

„In diesem Kind wohnt eine alte Seele“, sagte Frau Hamidi in die ungewohnte Stille und ließ mich los. „Für so ein Kind brauchen Sie viel Energie.“

„Aber ich habe keine Energie“, sagte Nina wie eine Verkäuferin, der die Ware ausgegangen war. „Ich bin müde.“

Sie bemerkte, dass ich immer noch ruhig war, und lachte den Satz schnell beiseite. Fröhliche Luft strömte aus ihrem Mund und es war, als müsste sie selbst gar nichts dafür tun, als würde diese Luft die großen Scheine einfach so aus ihrer Geldbörse herausheben und in den Raum blasen. Frau Hamidi fing das Geld auf, es sank in ihre weltgroßen, gescheiten Handflächen, die meinen Schädel jetzt so gut kannten, und sagte: „Auf Wiedersehen, Alex.“

„Und, hat sie so Kerzen aufgestellt, ein Pentagramm auf den Boden gezeichnet und Alex hineingelegt!?“ Anstatt quer durchs Haus zu brüllen, hätte Patrick aufstehen und Nina mit dem Kinderwagen helfen können, der immer ein bisschen zu sperrig für die kleine Fläche zwischen Tür und Treppe war.

„Pscht!“ Sie schüttelte Schnee von ihrem Schal, die Flocken trafen auf meine heiße Stirn. „Alex ist gerade eingeschlafen.“ Sie schlüpfte aus den Schuhen und fuhr mit den Zehen den Boden ab, bis sie den Tretschalter der Stehlampe neben dem Treppenaufgang ertastete.

Ich schlief nicht.

„Hast du’s absichtlich so finster?“ Blaues Licht ließ Patricks Gesicht aus dem Wohnzimmer hervortreten.

„Vielleicht noch mit schwarzer Katze und Umhang und so?“

„Was hast du da?“ Nina schob Decke und Polster zur Seite und ließ sich neben ihm auf die blaue Couch fallen, das Leintuch unter ihr in Falten.

„Laptop.“

„Woher?“

„Wie meinst du das, woher?“

Sie blickte durch die offene Tür auf die schwarze Gestalt meines Kinderwagens. „Keine Ahnung, wie die das gemacht hat, aber es war gut, richtig gut. Danke, echt. Ich gebe dir das Geld nächste Woche wieder.“

Patrick zog sich die Kapuze seines Pullovers ins Gesicht und sang: „I am human and I need to be loved, just like anybody else does.“

Nina verwuschelte ihm mit allen fünf Fingern die Haare. „Du bist so ein Trottel, Patrick.“

„Gern geschehen. Und jetzt schau mal, was ich grad mach. Was sagst?“

Nina schaute auf den Bildschirm und sah in diesem Moment etwas zum ersten Mal, das wir später alle immer sehen würden, wenn wir mit dem Auto die Wiener Straße entlang fuhren: eine Pizza Margherita, in die die meisten Leute am liebsten sofort hineinbeißen wollten. Der Käse zerfloss heiß und goldig gelb, das Basilikum knallte in einem frischen Grün, die Tomaten lagen da, duftend und fleischig-rot. Die Pizza war kein vollständiger Kreis mehr, ein Stück wurde schon herausgeschnitten und dort, in diesem fehlenden Stück, stand in blau-weiß gestreiften Buchstaben, die aussahen wie Meer und Strandkörbe und Möwenrufe: Pizzeria Jovanotti.

„Das ist genial, Patrick“, sagte Nina.

Patrick hatte ein Gespür für die Sprache von Marken. Schon als Kind hatte er Logos gezeichnet. Jedes Logo, das ihm unterkam. Er zeichnete den Nike-Haken, das Adidas-Dreiblatt, die Regio-Kaffee-Krone, den Mercedes-Stern oder die Alfa-Romeo-Schlange. Stundenlang saß er damals an seinen Logos und war deswegen Ninas stiller Bruder. Weil niemand in der Familie wusste, was man mit dem Talent, Logos zu zeichnen, anfangen konnte, begann er mit 16 Jahren eine Schlosserlehre wie viele Buben in seiner Klasse. Er schweißte, flexte und hämmerte jahrelang für den Metallbau-Meisterbetrieb Schmöller in der Prager Straße. Er arbeitete manchmal bis spät am Abend, oft draußen im Freien, auch im Winter. Zum Glück hatte es an dem Abend, als Patrick aus fünf Metern Höhe von einem Gerüst fiel und in den Garten eines Einfamilienhauses stürzte, minus 12 Grad. Er war so dick angezogen, dass ihm bis auf eine Gehirnerschütterung und eine Fleischwunde vom Reißverschluss seiner Jacke, der sich beim Aufprall unter die Haut geschoben hatte, nichts passiert war.

Trotzdem war durch den Unfall etwas Großes in ihm erschüttert worden und er ging nie wieder zum Schmöller zurück. Stattdessen ging er mit seinen Logo-Zeichnungen zum Tätowierer in unserer Stadt. Der Tätowierer schnallte ihm einen hautfarbenen Gummilappen um die Wade und drückte ihm die Nadel in die Hand. Patrick hatte Hunderte Motive geübt und war bereit. Er führte die Nadel zur Wade und da passierte es: Seine Hand fing zu zittern an.

Doktor Birnbacher diagnostizierte damals einen aufgabenspezifischen Tremor. Patricks Hand zitterte nur bei bestimmten Anforderungen.

Doktor Birnbacher

Die Ordination von Doktor Birnbacher roch nach Nirosta und Traubenzucker. Ich saß wie immer auf Ninas Schoß, fixierte wie immer die große Uhr an der Wand und bemerkte erst gar nicht, wie der Birnbacher sein Stethoskop an meine Brust legte. Nina erzählte von Frau Hamidis Arbeit mit meinem Kopf.

„Dass gerade Sie für so etwas Geld ausgeben, Frau Koch. Ich möchte ja die Integrität einer Kollegin nicht anzweifeln“, er lachte oder räusperte sich, „aber die Schädelplatten eines Babys wissen von allein, was zu tun ist, und fügen sich zusammen, wenn sie sich zusammenfügen.“

Er nahm das Stethoskop von mir weg und äußerte wieder einmal seine Sorge, dass ich für meine zwölf Monate viel zu leicht wäre und dass wir seit drei Monaten auf meinen acht Kilogramm herumdümpeln würden, was so auf keinen Fall weitergehen könne. Während er redete, sah er ausschließlich Nina an und am Ende stellte er wie gewohnt eine Bronchitis fest.

„Kann das vom Schreien kommen?“

Der Doktor lachte oder räusperte sich wieder. „Das Schreien kommt von den Koliken.“

Wer gut aufgepasst hat, bemerkt, dass das nicht Ninas Frage war.

„Ich schreibe Ihnen was Neues auf. Nicht ganz billig, aber wirkt.“

Wieder schaute er nur Nina an.

„Sie meinen für mich?“

„Haben Sie Beschwerden?“

Nina durfte sich nicht wie beim letzten Mal verwirren und auch nicht wie beim vorletzten Mal abspeisen lassen. Sie musste sich konzentrieren, bei der Sache bleiben und Dinge einfordern.

„Sie meinen gegen das Schreien.“

„Gegen die Koliken, korrekt.“ Mit dem rechten und dem linken Zeigefinger tippte er etwas in den Computer, wobei er nach jedem Tipper tief seufzte. Das habe er nun vom neuen Jahrtausend. Er wäre die letzten Jahrzehnte prima ohne Computer zurechtgekommen. Nina nickte zustimmend oder gleichgültig oder interessiert.

„Wirklich wichtig ist jedenfalls die Gewichtszunahme, Frau Koch“, sagte er und gerade als Nina ihn fragen hätte können, ob er schon einmal ein schreiendes Kind essen gesehen hatte, fragte er: „Frau Hawlicek, was stehen Sie denn die ganze Zeit hier herum?“

Nina drehte ihren Kopf. Ich schaute mit. Eine Frau schlich in flauschigen Pantoffeln quer durchs Zimmer. Ich blickte von den Füßen, ihren schönen Kittel entlang nach oben. Auf ihren Wangen links und rechts hatte sie je drei schwarze Striche, auf ihrer Nasenspitze einen schwarzen Punkt aufgemalt. Auf dem Kopf trug sie einen Haarreifen mit Katzenohren. Die Katze legte dem Doktor einen Zettel auf den Tisch.

„Danke“, sagte der Birnbacher dankbar oder ernst oder genervt.

Die Katze nickte und schlich wieder zur Tür. An ihrem Hintern baumelte ein Schwanz aus Fell herab.

Nina schüttelte das Bild der Arzthelferin aus ihrem Kopf und konzentrierte sich wieder auf meinen. „Ich will, dass jemand in den Kopf hineinschaut“, sagte sie selbstbewusst.

„Ein EEG?“

„Eine Tomografie“, sagte sie schon weniger selbstbewusst.

„Ich glaube nicht, dass das nötig ist. Das kostet, Frau Koch, und Sie müssen lange auf einen Termin warten.“ Er rollte ein Stück vom Schreibtisch weg, ließ die Fingerkuppen aber an der Tischkante liegen.

„Ja, das verstehe ich.“ Nina rieb mit den Knöcheln ihrer rechten Hand an ihrem rechten Auge.

„Bindehautentzündung?“

„Wie?“

„Ihr Auge. Sieht nicht gut aus. Ich schreibe Ihnen was auf.“

Nina drückte mich näher an sich und spielte auf meinem flachen Bauch Klavier.

„Ich weiß nicht, Herr Doktor, ich kann nicht mehr. Was soll ich machen?!“ Nina hob die Hand zum Himmel, beziehungsweise zur Lampe, die an der Decke der Ordination klebte wie ein Käfer, der sich totstellt. Eigentlich hatte sie die Frage mit Nachdruck, laut, mit Rufzeichen hinter dem Fragezeichen, gestellt, aber Doktor Birnbacher sah einfach nicht von seinem Computerbildschirm auf, er stellte sich ebenfalls tot.

Er drückte mehrmals auf dieselbe Taste der Tastatur und fluchte leise, ehe er „Ich verstehe“ sagte.

Alle verstanden alles.

„Was ist denn eigentlich mit Ihrer Mutter?“

„Die lebt in Bregenz.“