Das Geheimnis vom Darss - Gabi Krieg - E-Book

Das Geheimnis vom Darss E-Book

Gabi Krieg

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Beschreibung

Liebe und Verlust – Verrat und Rache. Marie, Journalistin aus Berlin, kommt auf den Darß, um sich neu zu finden. Sie zieht in ein halbverfallenes Haus, alle Warnungen ignorierend, dass ein Fluch auf den alten Mauern liegt. Schon bald streckt eine dunkle Macht die Hand nach ihr aus. Die malerische Ostsee-Idylle verwandelt sich in einen tödlichen Abgrund. Während Marie immer tiefer in eine schuldbeladene Vergangenheit gezogen wird, erkennt sie, dass sie eine ungeahnte Fähigkeit hat. Doch kann diese helfen, die lange verborgenen Geheimnisse ans Licht zu holen? Wem kann sie noch trauen? Was ist wahr und was nicht? Und welche Rolle spielen die beiden Männer, zwischen denen sie steht: der jungenhafte Tom und der dunkle, geheimnisvolle Arvid? Marie weiß nur eins: sie muss all diese Rätsel lösen, oder sie wird nicht überleben.

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Gabi Krieg

DAS GEHEIMNIS VOM DARSS

DIE TOTENFLÜSTERIN

HINSTORFF

Für M. – Mein Licht bei Tag und in der Nacht.

Inhalt

Prolog

I. Zusammenbruch

Prolog 2

II. Neuanfang

III. Entdeckung

IV. Kampf

V. Befreiung

Dank

Das eben ist der Fluch der bösen Tat,Dass sie fortzeugend immer Böses muss gebären.

Friedrich Schiller, Die Piccolomini 1798

Der Mensch erntet, was er gesät hat.

Galater, 6–7

PROLOG

Das letzte, was er hörte, war die Stille. Absolute, vollkommene Stille.

In diesem Augenblick erfasste ihn etwas, das er nicht kannte – Angst. Nie war ihm vor etwas bang gewesen, nicht vor Tod noch Teufel. Aber als das Heulen des Windes und das Brüllen der See in dieser Nacht plötzlich erstarben, als hätte Gott selbst die Hand erhoben, da packte ihn die Angst und umschloss sein Herz wie eine kalte Faust.

Nicht länger quälten die erstarrten Glieder, die ausgelaugten Knochen, die blutig zerschnittenen Hände – nur ein Gedanke zählte, scharf wie die Schneide eines Messers: er hätte es wissen müssen. Es war zu schmal gewesen. Zu schmal, und zu leicht. Zehn Mal hatte St. Marien in der Ferne geschlagen, als er das Bündel an sich nahm. Eine Vorahnung überfiel ihn. Er schüttelte den Moment ab und vertäute das Bündel achtern. Er wusste, was er tat – und warum.

Mit einem einzigen Stoß trieb er das Paddel in den Neuendorfer Untergrund und wendete. Ein Waldkauz zog mit lautlosen Schwingen über ihn hinweg und stieß seinen dunklen Ruf aus. Er zögerte kurz, dann stieß er das Boot ab und hielt im Schutz der Dunkelheit auf die Bülten zu. Nebel lag schwer auf dem Wasser. Er war ihm nur recht. Genau wie der auffrischende Südwester, der ihn jetzt zügig vorantrieb. Er würde den milchigen Dunst bald auflösen, doch bis dahin hatte er sicher im Kuhlenbruch angelegt. Er hatte alles berechnet.

Der Wind blies stetig und hielt das Boot auf Kurs, mehr als die Hälfte war geschafft, der sichere Hafen nicht mehr weit, da schien ein heller Punkt im Nebel auf. Mühsam durchkämpften die auf und ab schwankenden Strahlen des fernen Lichtes die dichten weißen Schleier. Eine Schiffslaterne. Sie hatten sich in der Caasenrinne postiert, der engsten Stelle. Er fluchte leise. Jetzt musste er im großen Bogen über die Binnensee zurück Richtung Wustrow steuern, das Boot dort über die schmalste Stelle des Landes ziehen und meerseitig versuchen, anzulanden. Allein war es kaum zu schaffen, aber ihm blieb keine Wahl. Hätte es den Loop oder Permin noch gegeben, wäre es ein Leichtes gewesen, aufs offene Meer zu kommen. Aber aus Gier und Missgunst hatten die Rostocker und Stralsunder Seefahrer beide Wasserkanäle, die das Fischland einst zur Insel machten, verlandet und damit die Verbindung zwischen Meer und Bodden verschlossen. Nun würde er Stunden brauchen. Lautlos holte er das Segel ein und griff nach den Ruderblättern. Er fluchte noch einmal und legte sich ins Zeug.

Der Wind hatte inzwischen gedreht. Er kam jetzt aus Nordost und frischte mit jeder Minute stärker auf. Noch war ihm das günstig, doch wenn das anhielt, bis er die offene See erreicht hatte … Er schüttelte den Gedanken ab. Bis dahin war noch Zeit. Er ahnte nicht, dass der Sturm, in den er sich gerade begab, nur etwas kleiner war, als der, der zwei Jahre später die geschlossenen Wasserwege wieder aufreißen und zum schlimmsten Sturm aller Zeiten auf Fischland-Darß werden sollte. Selbst wenn: es hätte nichts geändert.

Es war bereits weit nach Mitternacht, als er endlich das offene Meer erreichte. Die Fluten der sich aufbäumenden See erfassten das Netzboot wie einen Spielball. Er begann, sich den rauen Weststrand hochzukämpfen. Der Sturm fegte inzwischen mit Orkanstärke über Land und Meer, der Himmel war von dunklen Wolken schwer verhangen, die Nacht jetzt pechschwarz. Er sah die Hand vor Augen nicht. Wo war das Leuchtfeuer an der Nordspitze?

Die fehlende Orientierung zwang ihn, hart am Land zu manövrieren, um die Brandung zu hören. Er wusste, es war lebensgefährlich, aber seine einzige Chance, in der Finsternis den Kurs nicht zu verlieren.

Immer neu trieb der Sturm das Wasser in riesigen Wellen vor sich her. Die See brüllte wie ein verletztes Tier. Der Himmel öffnete jetzt auch die letzten Schleusen. Es war, als hätte jemand sämtliche Elemente entfesselt, um die Welt in einen schwarzen Schlund hinabzuziehen.

Er war nass bis auf die Knochen, seine Glieder so steifgefroren, dass er sie kaum noch bewegen konnte, seine Muskeln fühlten sich an wie glühende Stahlseile, die Taue, mit denen er das Bündel jetzt am eigenen Leib gesichert hatte, zerrten, vollgesogen und wasserschwer, mit der Kraft eines Mühlsteins an ihm. Die peitschenden Wellen hoben das Boot in die Höhe und ließen es wie ein Spielzeug wieder in die Tiefe fallen.

Doch er gab nicht auf. Seine Fahrt hatte einen Grund, der ging über alles. Mit unbändigem Willen trieb er die Ruderblätter durch die peitschende See. Immer neue Brecher stemmten sich ihm entgegen und brachen über ihn hinweg. In immer neuen Zügen fegte die Gischt hart in sein Gesicht.

Längst galt es nicht mehr, ein Ziel anzusteuern, nur noch, ungefähr auf Kurs zu bleiben, um – egal wo – sicher an Land zu kommen, ohne auf einen der wild am Strand liegenden und weit ins Wasser ragenden Baumriesen geschleudert zu werden. Denn würde der Sturm ihn mit derselben Kraft, mit der er das Boot durch die Wellen trieb, gegen das Totholz schleudern, wäre das sein sicherer Tod. Im Bruchteil einer Sekunde wäre sein Genick gebrochen.

Er fasste die Ruder noch härter. Noch immer sah er die Hand vor Augen nicht. WO WAR DAS FEUER?

Da – jäh und unverhofft – ließ der Widerstand nach. Als legte das Höllen-Inferno, das ihn seit Stunden umtoste, eine Atempause ein. Als dürften sein schmerzender Körper, seine knotigen Muskeln für einen Augenblick entspannen, bevor er die Ruder erneut ins Wasser stoßen und das Boot gegen den Sturm nach Hause trieb. Nach Hause …

Er sah den Katen vor sich. Seine Mutter beim Schein der Petroleumlampe. Auf einmal spürte er bleischwere Müdigkeit. Eine Müdigkeit, so tief und gewaltig wie das Meer selbst. Aber er würde nicht zulassen, dass sie ihn schwächte. Entschlossen fasste er die Ruder und straffte sich. Er würde nicht aufgeben! Er versuchte, die Küstenlinie wiederzufinden, doch seine Augen schienen ihn zu narren.

Im selben Moment riss die Wolkendecke auf, ein heller Mondstrahl fiel hindurch.

Da erkannte er: Er trieb mitten auf dem Meer, weit weg vom Land. Ohne das Licht des Leuchtfeuers hatte er in der tosenden Brandung den Kurs verloren.

Und noch etwas sah er: eine Säule aus Wasser stand meterhoch vor ihm.

Und in diesem Augenblick, der ihm wie eine Ewigkeit vorkam, hörte er sie – die absolute, vollkommene Stille.

Er hätte es wissen müssen!

Ein Schrei entrang sich seiner Brust. Die Säule brach – zweitausend Kilo Wasser stürzten über ihm zusammen.

Zurück blieb nichts. Nichts von ihm, nichts von seinem Boot, nichts vom Bündel. Nur eines war unsterblich: sein letzter Gedanke – an sie …

I. Zusammenbruch

Es war kurz nach zehn, als die kleine Bialetti auf dem Herd zu fauchen begann und signalisierte, dass der Kaffee fertig war. Marie wusste nicht, wie sie es geschafft hatte, aber sie hatte es geschafft. Pünktlich um 22 Uhr am Vorabend hatte sie abgegeben. Danach hatte sie sich mit einem Glas Wein wahllos durch das Fernsehprogramm gezappt. Erst weit nach Mitternacht war sie wie ein Stein ins Bett gefallen. Jetzt brummte ihr der Schädel. Die linke Schläfe pochte. Es war wohl doch mehr als ein Glas. Sie hielt die Flasche auf der Anrichte gegen das Licht. Fast leer. Sie goss den letzten Rest in den Ausguss und musste an ihren Traum der letzten Nacht denken.

Die einzelnen Bilder waren verschwunden, aber das Gefühl, mit dem sie daraus erwacht war, stellte sich wieder ein: etwas Großes, Schweres, Dunkles lastete auf ihr. Es raubte ihr die Luft und drückte sie nieder. Marie schüttelte sich und atmete tief durch. Mit einem Ruck zog sie die Vorhänge auf.

Jetzt lag ›Der Mittag‹ bereits in den Briefkästen Tausender Abonnenten, prangte in den Auslagen der Kioske und Zeitungsläden, die schon wer weiß wie viele Exemplare verkauft hatten. Ihre Reportage war in der Welt.

Aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Sie hatte abgegeben, das war das Einzige, was zählte.

Noch bekleidet mit dem großen, weißen Herrenhemd, dass sie als Nachthemd benutzte, füllte sie einen Becher mit dem kochend heißen Kaffee, goss Milch dazu und trug das Ganze ins Wohnzimmer. Unterwegs nahm sie die Post aus dem Flur mit und hockte sich aufs Sofa, um den Stapel durchzusehen. Die übliche Mischung: ein Anzeigenblatt, das sich als Stadtteilzeitung tarnte, die Einladung eines Bettenhauses zu irgendeiner Jubiläumsfeier und andere Werbung. Marie wollte den Stapel schon entsorgen, als ihr ein grauer Umschlag auffiel. Sie versuchte, den Absender durch das Adressfenster zu entziffern: ›Amt Fischland-Darß‹ stand klein oben links über ihrem Namen. Marie hatte nicht die leiseste Ahnung, was das sein konnte. Sie riss den Umschlag auf und überflog die Zeilen. Das Amt teilte ihr mit, dass Frau Helga Weber verstorben war. Die Beisetzung fand am Samstag, dem 3. Juli auf dem Friedhof von Darkow statt.

Das war heute! Aber wer war Helga Weber? Sie kannte niemanden, der so hieß. Warum hatte man ausgerechnet sie benachrichtigt?

Ihre Neugier war geweckt. Sie ging zum Schreibtisch, klappte den Laptop auf und gab ›Fischland-Darß‹ ein. Als erstes erschienen Werbeanzeigen und Tourismusinformationen, Angebote für Ferienunterkünfte und Traumurlaub am Ostseestrand‹. Dann ein Wikipedia-Eintrag, der genauer Auskunft gab: Fischland Darß Zingst, eine 45 km lange Halbinsel an der Ostseeküste zwischen Rostock und Stralsund, Teile davon gehörten zum Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft. Marie rief über ihre Suchmaschine eine Landkarte auf und ließ sich die Entfernung berechnen. Knapp 300 Kilometer von Berlin aus. Das konnte sie schaffen bis 15 Uhr, inklusive Rückfahrt am Abend.

Die linke Schläfe pochte heftiger. Unwohlsein überkam sie. Die Fahrt würde ein ziemlicher Schlauch werden. Aber wenn sich das Amt schon so viel Mühe gemacht hatte, sie ausfindig zu machen, sollte sie die Anstrengung wenigstens honorieren. Die leise Stimme im Hinterkopf, die sagte, dass sie die Fahrt vor allem machte, um nicht an ihre Reportage zu denken, schob sie beiseite.

Sie überlegte, was sie anziehen sollte. Irgendwo musste es noch ein schwarzes Kostüm geben. Sie hatte es vor Jahren anlässlich einer Preisverleihung, zu der sie eingeladen war, gekauft. Eine Auszeichnung für die beste investigative Recherche des Jahres. Da sich ihre Figur zum Glück seit Jahren nicht veränderte, passte sie noch immer in den schmal geschnittenen Rock. Auch die hüftlange Jacke mit dem angedeuteten Schößchen ließ sich noch schließen. Mit einer schlichten weißen Bluse und halbhohen Pumps dazu, fand Marie, dass sie angemessen aussah, um bei einer fremden Beerdigung aufzutauchen.

Sie warf einen Blick auf ihr Telefon. Keine Nachricht von Frank. Sie überlegte kurz, ob sie sich melden sollte, verwarf den Gedanken aber wieder. Sie war immer noch zu verletzt, wie wenig ernst er ihre Arbeit nahm. Der gestrige Abend war ein Bespiel dafür. Sie sollte ihn zu einem wichtigen Geschäftsessen begleiten, doch ihre Reportage ging vor. Sie hatten gestritten, weil er ihr Verhalten für eine Laune hielt, statt zu verstehen, dass sie nicht mitkommen konnte. Nein, wenn überhaupt, war es an ihm, sich zu entschuldigen. Marie griff nach dem Autoschlüssel, der auf der Flurkommode lag.

In diesem Augenblick überkam sie erneut ein ungutes Gefühl. Marie zögerte. Sollte sie wirklich fahren? Das Bild des langen Wochenendes, das vor ihr lag, tauchte vor ihr auf. Nein, sie wollte sich nicht aufhalten lassen. Entschlossen schüttelte sie das Gefühl ab und zog die Tür hinter sich zu.

Prolog 2

Der Docht der Lampe war längst niedergebrannt, doch die Nacht dauerte noch immer an. Sie machte sich nicht die Mühe, den Glühfaden zu ersetzen, noch füllte sie Lampenöl nach. Sie sah nicht einmal nach der Lampe. Es war egal, ob sie leuchtete oder nicht. Sie brauchte kein Licht, um zu sehen. Sie wusste auch so. Wusste in dem Moment, als es geschah. Und hatte es im Vorhinein gewusst.

Für sie würde es fortan immer Nacht sein. Was bedeutete da noch Lampenschein?

Sie verharrte, regungslos. Nicht, weil sie unschlüssig war. Oder weil sie zweifelte. Nein, sie verharrte, weil das Leben aus ihr gewichen war. Ihr war, als könne sie nie wieder die Glieder bewegen, als wöge die Last, die darauf lag, zu schwer. Die Last aus Kummer und Zorn, die sie von nun an in jeder Stunde des Lebens begleiten würde. Aber sie wusste auch, was zu tun war.

Sie erhob sich, ruhig und sicher, um den Weg anzutreten.

Sie legte das Tuch um Kopf und Schultern und schritt in die Nacht hinaus. Ihr Fuß fand auch im Dunkeln sicheren Tritt. Sie schlug den Weg nach Norden ein und marschierte los.

Der Wind hatte sich gelegt, als sie ins Freie kam. Sie ging quer über Wiesen und Felder. Ihr klobiger Schuh versackte im nassen Boden. Kalt umspülte das Wasser der Binnensee ihre Knöchel. So weit war es noch nie ins Land gedrungen. Begierig sog sich der Saum ihres Rockes voll mit dem kal ten Nass und zog schwer wie ein Mühlstein an ihrem gebeugten Rücken. ›Die Schleppe des Todes‹, dachte sie, und schritt beharrlich weiter fort.

Sie erreichte sein Haus mit Beginn der Dämmerung. Zaghaft schickte das Morgenlicht seine ersten Boten in die Welt. Aber heute war es keine Silberlinie, die Wasser und Himmel trennte. Heute war der schmale Grat am Horizont rot. Blutrot.

Sie sah, wie er aus der Tür trat. Sah das Flackern in seinem Blick, als er sie entdeckte.

»Wat willst du?«, fragte er barsch.

»Dat weetst du.«

»Verdammt will ick sin, wenn ick wüsst, wat di in’n Kopp rümgeiht.« Er röhrte breit, sie konnte seine Zähne sehen. Das Lachen würde ihm noch vergehen.

Ihre Augen verengten sich. Ihre Stimme war kalt wie der Hauch der Toten.

»Dat waarst du mi büßen!«

Sekundenlang kehrte das Flackern in seinem Blick zurück.

»Verswinnt, oole Hex. Ick heff to doon.«

Mit einer herrischen Handbewegung verschaffte er sich Raum und wollte an ihr vorbeigehen, sie abschütteln wie eine lästige Fliege. Aber sie versperrte ihm den Weg.

»All dien Gold warrt di nix mehr helpen. Dat swör ick di!«

»Hau af!«

Ärgerlich wies er ihr den Weg. Er wollte sich diesen herrlichen Morgen nicht verderben lassen.

Doch statt zu gehen, machte sie einen Schritt auf ihn zu. Ihr Blick durchbohrte ihn wie ein glühender Nagel. Ihm war, als könne er spüren, wie der heiße Stahl in sein Fleisch schnitt.

»Du büst vermaledeit, Hein Grahl! Un vermaledeit sie wäs din Brut.« Sie reckte eine Faust in den Himmel. »Verdammt un verdorrt alltied un bet in all Ewigkeit!«

Schwarz und drohend bäumte sich ihre Gestalt im Grau des Morgens vor ihm auf. Die Hand gegen ihn und Gott erhoben, glich sie einer der Erynnien. Ein Schauer lief ihm eiskalt über den Rücken.

Zahlreiche Baustellen auf der A24 raubten ihr eine Menge Zeit. Selbst an einem Samstag kam Marie längst nicht so gut durch, wie sie gedacht hatte. Ab dem Dreieck Wittstock wurde es besser. Sie nahm die A19 bis kurz vor Rostock in schnellem Tempo und bog dann auf die B105 Richtung Stralsund ein. Im Stop-and-Go quälte sich eine in der Sonne glitzernde endlose Autoschlange die schmale Bundestraße entlang. Nervös trommelte Marie mit den Fingern aufs Lenkrad. Noch eine dreiviertel Stunde bis zur Beisetzung. Wenn das hier so weiterging, hatte sie die Reise umsonst auf sich genommen. Sie spürte, wie ihre Stimmung gereizt wurde. Die innere Unruhe, die sie seit dem Aufstehen verspürt hatte, verstärkte sich. Sie kurbelte das Fenster herunter. Die Luft, die von draußen hereinkam, war noch wärmer, als die im Wagen.

Gute dreißig Minuten später tauchte der Abzweig Richtung Fischland vor ihr auf. Die letzte Etappe war erreicht. Marie durchquerte Dierhagen, das ›Tor zum Fischland‹, setzte ihre Fahrt durch Wustrow, das alte, beschauliche Fischerdorf, und Ahrenshoop, die ehemalige Künstlerkolonie fort, bis sie kurz dahinter die Grenze zum Darß erreichte. Die Straße führte jetzt durch dichten Wald, durch dessen Blätterdach die Sonne goldene Sprengsel warf. Wie ein Stroboskop tanzten sie auf der Windschutzscheibe, bis die Landschaft sich wieder öffnete und der Blick über weite Wiesen und Felder ging. In Kürze musste sie die Abfahrt rechts nehmen. Sie hatte gerade den Blinker gesetzt, als das Auto plötzlich mitten auf der Strecke zu mucken begann. ›Bitte nicht jetzt‹, dachte Marie. Sie wusste, sie hätte den über zwanzig Jahre alten Alfa längst ersetzen müssen. Aber sie hing an ihm, ganz abgesehen davon, dass sie sich keinen neuen Wagen leisten konnte. ›Jetzt komm schon, nur ein paar Meter noch!‹ Aber der Wagen dachte nicht dran. Stotternd rollte er um die nächste Kurve und blieb wenige Meter danach stehen.

Marie atmete angespannt durch. Jetzt konnte sie die restlichen Kilometer in der Hitze laufen und würde nicht nur zu spät, sondern auch völlig derangiert ankommen. Ein leises Grollen ließ sie aufblicken. Am Horizont brauten sich dunkle Wolken zusammen. Wenn sie sich beeilte, würde sie es vielleicht gerade noch schaffen, trocken zum Friedhof zu kommen, bevor der Guss losbrach. Marie griff nach ihrer Tasche, als es laut an die Scheibe klopfte. Sie sah in ein finsteres Gesicht.

»Irgendwo, irgendwann mal lesen gelernt?«

Ein Mann Anfang fünfzig blickte ungehalten durchs Seitenfenster. Er war schlank, aber muskulös, trug Cargoho sen und robuste Schuhe. Das Hemd über dem T-Shirt war offen, die Ärmel, halb hochgekrempelt, ließen sehnige Unterarme erkennen. Seine tiefe Bräune kam sicher nicht vom Sonnenbaden. Das dunkle Haar fiel ihm in die Stirn. Sein Blick schien Marie zu durchbohren. Halb beklommen, halb ärgerlich stieg sie aus.

»Geht’s auch etwas freundlicher?«

»Nicht bei Ihnen. Gesehen, was da steht?«

Jetzt sah auch Marie das Schild auf dem Zaun vor ihr: ›Privatbesitz‹. Sie war vor der Einfahrt zu einer Weide gestrandet.

»Tut mir leid, das hab ich nicht gesehen.«

»Wie wär’s mit Wegfahren?«

»Ich hab ne Panne.«

»Die Ausreden kenne ich.«

»Ich hab wirklich ne Panne. Glauben Sie, ich halte in dieser Einöde zum Spaß?«

»Was weiß ich? Ihr erzählt doch alles Mögliche.«

»Wer sind denn ›ihr‹, bitte schön?« Marie spürte, wie ihre Gereiztheit wuchs und ärgerte sich, dass sie sich überhaupt auf eine Diskussion einließ.

»Leute wie Sie. Ihr glaubt, ihr könnt euch alles erlauben. Über die Dünen laufen, Abgrenzungen überschreiten, wild parken. Aber es gibt Regeln, auch hier oben!«

»Hören Sie, ich hab keine Ahnung, mit wem Sie ein Problem haben, aber ich gehöre ganz sicher nicht dazu.«

»Typisch. Jeder Tourist denkt, er sei was Besseres als die anderen.«

»Ich bin keine Touristin! Und nach dieser Begegnung werde ich das hier sicher auch nie werden. Ich bin auf dem Weg zu einer Beerdigung und mein Wagen ist liegen geblieben.«

Der Mann sah sie unverwandt an. Marie fühlte sich unwohl unter seinem dunklen Blick. Sie verteidigte sich.

»Außerdem: Ich halte mich an Regeln. Immer.«

»Ist das so?« Für einen Moment schien es, als blitze Spott in seinen Augen auf. Er musterte sie.

»Beerdigung, sagen Sie?«

Marie nickte. Mühsam beherrscht sah sie auf ihre Uhr.

»Die genau jetzt stattfindet. Vier Stunden Fahrt umsonst.«

Vielleicht hätte sie doch auf ihr Bauchgefühl am Morgen hören und nicht fahren sollen. Irgendwie war der Wurm in dieser Reise. Marie sah auf den Wagen des Mannes, der hinter ihr geparkt war. Ein weißer Pick-up. ›Arvid Johannson – Hausmeisterservice‹ stand in grünen Buchstaben auf der Fahrertür.

»Entweder Sie ziehen meinen Wagen aus der Einfahrt oder Sie müssen warten, bis der Abschleppdienst da ist.«

Sie holte ihr Telefon aus der Tasche und suchte nach der ADAC-Nummer.

»Gehen Sie schon.«

Überrascht sah sie auf.

Er verzog noch immer keine Miene. Mit der Sonne im Rücken wirkte sein Gesicht noch dunkler.

»Sie können den Wagen danach holen.«

»Danke …«

Der Mann antwortete nicht. Marie wusste nicht, was sie noch sagen sollte und wandte sich ab. Nach wenigen Schritten hörte sie, wie der Pick-up hinter ihr gestartet wurde. Er hatte nicht mal gefragt, ob er sie mitnehmen konnte.

Wie ein langes gerades Band streckte sich die Straße, die in den Ort hineinführte, vor ihr aus. Nirgendwo ein Baum, der Schatten spendete. Nur endlose Wiesen rechts und links, auf denen Kühe, träge vor sich hinstarrend, wiederkäuten. Die Temperatur war noch weiter angestiegen. Marie spürte, wie ihr der Schweiß in kleinen Bächen den Körper hinunterlief. Schwarz zu tragen in sengender Sonne half nicht gerade. Sie spürte einen Schmerz an der linken Ferse. Die Pumps waren zu lange nicht getragen, der erste begann bereits, eine Blase zu bilden. Der Kopfschmerz vom Morgen drohte, zurückzukommen. ›Was für eine Schnapsidee, hierherzukommen‹, dachte Marie.

Aus der Ferne war ein zweites Grollen zu hören. Marie sah zum Horizont. Die Wolken waren inzwischen fast schwarz und deutlich näher gerückt.

Jäh spürte sie erneut das ungute Gefühl, dass sie schon am Morgen in Berlin gehabt hatte. Was bedeutete das?

›Nichts‹, dachte Marie. Sie war eindeutig überarbeitet. Vielleicht sollte sie wirklich mal Urlaub machen. Sie nahm sich vor, sich darum zu kümmern. Wenn alles vorüber war, wenn sie nach ihrer letzten Reportage endlich den festen Job hatte. Aber jetzt musste sie sich beeilen. Vielleicht bekäme sie wenigstens noch das Ende der Trauerfeier mit. Sie beschleunigte ihren Schritt – und überhörte die Warnung ein drittes Mal. Sie hatte gut einen Kilometer zurückgelegt, als ein Cabrio neben ihr abbremste.

»Falls ich Sie ein Stück mitnehmen kann, sagen Sie einfach Ja.«

Marie sah in ein charmant lächelndes, von struwwelig blonden Haaren umrahmtes Gesicht.

»Das wär großartig, danke!«

Der Mann lehnte sich zur anderen Seite und öffnete die Tür. »Springen Sie rein.«

Marie hatte sich selten so erleichtert gefühlt.

»Ich bin Tom. Tom Kunow. Aber Tom reicht.«

Er streckte ihr lachend eine Hand entgegen. Marie schlug lächelnd ein.

»Marie Cammin.«

»Kamin wie der Kamin?«

»So ähnlich. Nur mit c und zwei m.«

»Dachte mir gleich, dass du was Besonderes bist.« Tom grinste zu ihr hinüber. Was bei jedem anderen abgeschmackt oder dreist geklungen hätte, wirkte bei ihm unkompliziert und fröhlich. Auch dass er einfach ins Du gewechselt war, passte zu seiner jungenhaften Unbedarftheit. Marie musste lächeln.

»Wenn das schon reicht, besonders zu sein …«

»Von wo aus Berlin kommst du?«

»Woher weißt du, dass ich aus Berlin komme?«

»Erstens läuft kein Einheimischer auf dieser Straße zu Fuß. Und zweitens steht ein kleines rotes Auto im Graben. Mit Berliner Kennzeichen.«

Da hätte sie auch selbst draufkommen können. Was war los mit ihr?

»Ich hatte eine Panne. Leider am schlechtesten Platz, den man sich denken kann.«

Tom lachte. »Oh, du bist Arv begegnet.«

»Du kennst ihn?«

»Den kennt jeder hier.«

Marie war kurz davor, nachzufragen, was er damit meinte, ließ es aber.

»Soll ich dich zur Tankstelle bringen?«

Tom bremste ab und ging in die Kurve, mit der der Zubringer in eine der Hauptstraßen des Ortes überging.

»Das wäre wahnsinnig nett, aber ich müsste erst zum Friedhof.«

Tom sah sie überrascht an. Marie nickte und überlegte, wie sie es am besten formulieren sollte.

»Ich bin zu einer Beerdigung eingeladen.«

Tom zuckte die Achseln. »Also dann: zum Friedhof.« Die Beisetzung war beinahe vorüber. Tom hielt unter einer Gruppe von alten Bäumen, die den Vorplatz der mit Holzschindeln verkleideten kleinen Kirche säumen. Über den Zaun hinweg, der den Friedhof umgab, sah Marie einen winzigen Trauerzug um eine frisch ausgehobene Grabstelle stehen. Sie sah zu Tom und lächelte.

»Vielen Dank noch mal!«

»Da nich für.« Er lächelte jungenhaft zurück.

Marie stieg aus und ging auf die schmiedeeiserne Friedhofspforte zu. Das leise Kreischen erinnerte sie gerade noch rechtzeitig daran, ihr Telefon auszustellen. Sie näherte sich einem kleinen, mit niedrigen Buchsbäumen eingefassten Geviert, in dem sich die Urnengräber befanden. Außer dem Pfarrer waren nur zwei weitere Personen anwesend, eine jüngere Frau, die Marie auf Anfang zwanzig schätzte, und eine Frau etwa in Maries Alter. Unbeirrt von Maries Auftauchen fuhr der Pfarrer in seiner Grabrede fort.

Ohne ihren Blick zu heben, spürte Marie, dass die ältere Frau sie musterte. Plötzlich fühlte sie sich wie ein Eindringling. Sie blickte auf und sah zu der Frau hinüber, als müsse sie sich dafür entschuldigen, die Feier zu stören. Die Frau reagierte nicht. Marie entdeckte, dass Tom hinter ihr aufgeschlossen hatte und fühlte sich fast ein wenig erleichtert. ›Wie absurd‹, dachte sie. ›Ich kenne ihn genauso wenig wie alle anderen hier.‹ Trotzdem war es irgendwie tröstlich, dass er nicht einfach weitergefahren war. Der Pfarrer ließ nun eigenhändig die Urne ins Grab sinken. Marie überlegte, ob das hier so üblich war oder ob man nur aus Kostengründen den Sargträger eingespart hatte. Helga Weber, wer immer sie war, schien weder besonders viel Geld noch besonders viele Freunde oder Angehörige gehabt zu haben. ›Aber vielleicht hatte man in dem Alter auch nicht mehr viele Menschen, die einen kannten‹, dachte Marie. Sie erinnerte sich an die Daten auf der Todesanzeige: 19.01.1940–23.05.2021. Helga Weber war 81 Jahre alt geworden.

Der Pfarrer kam ans Ende seiner Rede. Er griff ein wenig von der dunklen, feuchten Erde, die neben dem frisch aus gehobenen Grab aufgehäuft war, und ließ sie auf die Urne rieseln.

»Aus der Erde sind wir genommen, zur Erde sollen wir wieder werden, Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.«

Er trat beiseite, um den Trauergästen Platz zu machen. Für einen Augenblick schien Unsicherheit zu herrschen, als wisse niemand, was zu tun war. Die ältere Frau trat entschlossen vor. Sie verharrte einen kurzen Moment regungslos vor dem offenen Grab, dann trat sie wieder beiseite und reihte sich neben dem Pfarrer ein. Die jüngere Frau trat vor. Sie als einzige hatte einen kleinen Trauerstrauß dabei und wischte sich eine Träne aus dem Auge, bevor sie die drei weißen Rosen in die Gruft warf. Danach folgte Tom, der, wie der Pfarrer, respektvoll eine Handvoll Erde auf die Urne rieseln ließ.

Jetzt war Marie an der Reihe. Sie trat ans Grab und bedauerte, nicht auch an eine Blume gedacht zu haben. Sie ergriff die Schaufel, um, den beiden Männern gleich, mit ein wenig Erde das Grab symbolisch zu verschließen. Als sie die Schippe anhob, spürte sie, wie einer ihrer Absätze im feuchten Lehm versank. Zu allem Unglück blieb der Schuh auch noch stecken, als sie ihn wieder herausziehen wollte. Sekundenlang geriet sie ins Straucheln. Wieso hatte sie bloß keine flachen Schuhe angezogen? Ihr war schon aufgefallen, dass sie als Einzige elegant gekleidet war. Die beiden anderen Frauen trugen normale Alltagskleidung, wobei die der älteren deutlich teuer war. Marie erkannte exquisite Stoffe auf einen Blick, auch wenn sie sich diese selbst nicht leisten konnte. ›Vielleicht gerade deshalb‹, dachte sie und sah auf die Urne unter ihr. ›Ruhe in Frieden, Helga Weber, wer immer du warst.‹ Marie verharrte noch einen Moment, dann ging sie an ihren Platz zurück. Der Pfarrer blickte auf die Versammelten und hob die Hand zum Segen.

»Der Herr segne und behüte dich; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden. Amen.«

Die kleine Gruppe begann, sich zu zerstreuen. Die junge Frau nickte dem Pfarrer zu und wandte sich ab. Sie schien es eilig zu haben. Die ältere wechselte einen stummen Blick mit Tom. Marie war unschlüssig, was sie tun sollte. Der Pfarrer nahm ihr die Entscheidung ab.

»Frau Cammin?« Er kam auf Marie zu und sah sie freundlich an. Marie nickte.

»Gerhard Lüdtke.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen.« Marie reichte ihm die Hand. »Waren Sie es, der mich verständigt hat?«

»Genau genommen war es Annika, die junge Dame, die so schnell fort musste.«

Der Pfarrer sah in die Richtung, in der die junge Frau verschwunden war. »Sie hat Frau Weber zuletzt betreut.«

Marie nickte, obwohl ihr die Informationen nichts sagten.

»Ich habe noch etwas für Sie. Wenn Sie einen Augenblick Zeit haben, ziehe ich mich rasch um, dann können wir in Ruhe sprechen.«

»Ja, sicher. Ich warte hier.« Marie nickte.

»Kommen Sie ruhig mit, drinnen ist es kühler.«

Der Pfarrer ging voran. Marie sah sich zu Tom um, der immer noch mit der älteren Frau zusammenstand. Beide sahen zu Marie hinüber. Tom löste sich und kam auf Marie zu.

»Alles okay?«

»Der Pfarrer will noch kurz mit mir sprechen.«

Marie zögerte.

»Wieso bist du hier? Kanntest du die Verstorbene?«

Tom lächelte.

»Ich kenne jemanden, der Hilfe braucht. Ich hab ihr versprochen, sie zur Werkstatt zu bringen.«

Marie schüttelte lächelnd den Kopf.

»Du bist zu nett für diese Welt.«

»Nicht zu jedem, keine Sorge«, grinste Tom charmant. Die Frau war jetzt herangekommen und musterte Marie mit zurückhaltender Neugier.

»Ihr kennt euch?«, fragte sie mit Blick zu Tom.

»Darf ich vorstellen? Marie Cammin. Und …«

»Katja Branderup«, unterbrach die Frau Tom und streckte Marie eine Hand entgegen. »Guten Tag.«

Ihr Händedruck war fest und trocken. Sie war etwa 1,70 groß und schlank, ihr langes blondes Haar war im Nacken zu einer perfekten Banane gesteckt. Ihr Blick ruhte intensiv auf Marie.

»Freut mich«, entgegnete Marie und spürte, dass der Blick der Frau sie verlegen zu machen begann. Sie sah zu Tom.

»Der Pfarrer …«

»Lass dir Zeit …«, winkte Tom entspannt ab. Marie warf ihm ein dankbares Lächeln zu und ging in Richtung Kirche. Kaum war sie weg, sah die Frau Tom durchdringend an.

»Wer ist das?«

Marie betrat die Kirche, angenehme Kühle umfing sie. Erst jetzt spürte sie wieder, wie drückend die Luft draußen war. Sie atmete durch und sah sich um. Die holzvertäfelten Wände und Decken schimmerten honigfarben im Licht, dass von außen durch die hohen Sprossenfenster drang. Das mit farbigen Stützbalken verzierte Tonnengewölbe des Daches war ebenfalls aus Holz und verstärkte den Eindruck von Geborgenheit, den man sofort empfand, sobald man den Innenraum der Kirche betrat. Bibelsprüche zierten die Längsbalken und schmiedeeiserne Kerzenleuchter, die von der Decke hingen, unterstrichen den schlichten Charakter der Ausstattung. Marie fiel ein Schiff auf, dass zwischen den beiden Leuchtern im Mittelgang von der Decke hing. Es hatte einen schwarz-roten Rumpf und weiße Segel.

»Das ist Hans, ein Gaffelschoner.« Pfarrer Lüdtke war hinter Marie getreten. Er hatte den schwarzen Talar samt Beffchen gegen einen normalen Straßenanzug getauscht und blickte mit Marie zusammen zum Schiff über ihnen hoch. »Ein hiesiger Bürger hat es gebaut und der Kirche zur Einweihung geschenkt.«

»Hat es eine besondere Bedeutung?«

»Modellschiffe findet man oft in den Kirchen an der Küste. Meist sind es Dankesgaben von Seeleuten nach glücklich überstandenen Gefahren. Aber dies hier ist kein Votivschiff, es symbolisiert eher das Leben der Menschen an der Küste im Allgemeinen.«

Marie betrachtete die Einzelheiten des Schiffes genauer.

»Wie kunstvoll die Segel gearbeitet sind.«

Der Pfarrer sah Marie erfreut an. Es gab nicht viele Besucher, die sich für die kunsthandwerklichen Details seiner Schätze interessierten.

Marie erinnerte sich, weshalb er sie hergebeten hatte.

»Sie sagten, Sie hätten etwas für mich?«

»Richtig.« Der Pfarrer zog einen Umschlag aus seiner Jackentasche und reichte ihn Marie. Marie sah Lüdtke erstaunt an.

»Ein Brief?«

»Er lag in der Schublade von Frau Webers Nachtschrank. Annika fand ihn beim Ausräumen des Zimmers.«

Marie sah auf den Umschlag. Ihr Name stand darauf, in blassblauer, zittriger Handschrift: Marie Cammin, Berlin.

»Wenigstens hatten wir eine Ortsangabe. Sonst wäre es für unsere Gemeindeverwaltung schwierig geworden, Sie zu finden.« Der Pfarrer lächelte.

»Kannten Sie Frau Weber gut?«

Marie schüttelte verwirrt den Kopf.

»Ehrlich gesagt, weiß ich überhaupt nicht, wer sie war.«

»Nun, sie hatte in jedem Fall einen Grund, Ihnen zu schreiben.« Der Pfarrer sah auf seine Uhr. »Ich muss leider weiter. Eine Trauung im Nachbarort. An Samstagen hat die Kirche noch Konjunktur.«

Er verzog das Gesicht in leiser Ironie.

»Wenn Sie noch Fragen haben, melden sie sich gern. Meine Tür steht jederzeit offen.«

»Danke schön.«

Marie nickte, bemüht, sich ihre Verwirrung nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Der Pfarrer ging ins Innere der Kirche zurück. Sie blieb im Eingang stehen und sah nachdenklich auf den Brief in ihren Händen. Marie Cammin, Berlin.

Der Anblick ihres Namens auf dem Umschlag löste ein flaues Gefühl aus. Sie hatte diese Schrift noch nie gesehen. Wie kam eine völlig fremde Frau dazu, ihr zu schreiben? Was mochte in dem Brief stehen?

»Alles okay?«

Toms Stimme riss Marie aus ihren Gedanken.

»Alles prima«, bemühte sie sich um einen leichten Ton. »Von mir aus können wir …«

»Von mir aus auch«, grinste Tom.

Gemeinsam gingen sie zu dem kleinen offiziellen Parkplatz der Kirche vor dem Friedhofsareal, wo er sein Cabrio abgestellt hatte. Die blonde Frau wartete auf sie. Marie bemerkte, dass ihr Blick sofort auf den Brief fiel. Sie steckte ihn in ihre Tasche.

»Eigentlich ist es ja üblich, nach einem Begräbnis eine Kaffeetafel abzuhalten, aber in diesem Fall …« Katja Branderup ließ ihren Satz mit einer bedauernden Geste auslaufen. ›Bedauern worüber‹, dachte Marie. ›Dass Helga Weber ein einsamer Mensch war? Oder ein mittelloser?‹

»Deshalb würde ich Sie sehr gern auf einen Kaffee zu mir einladen«, setzte die Frau, gewinnend lächelnd, fort.

»Das ist wirklich nett, aber …«

Als würde sie den Grund für Maries Ablehnung ahnen, fiel die Frau Marie ins Wort: »Da fällt mir ein: Ich hab mich ja noch gar nicht ganz vorgestellt. Ich bin die Bürgermeisterin von Darkow.«

»Ach, daher kennen Sie Frau Weber?«, entfuhr es Marie. »Wir sind ein kleiner Ort. Hier kennt man zum Glück jedes Gemeindemitglied noch persönlich. Kommen Sie.« Mit einer Geste forderte sie Marie auf, ihr zu folgen.

»Ich würde Ihre Einladung wirklich sehr gern annehmen, aber wir sind auf dem Weg zur Autowerkstatt.«

»Richtig, Tom hat mir erzählt, dass Ihr Wagen liegengeblieben ist.« Katja Branderup wechselte einen schnellen Blick mit Tom.

»Wissen Sie was? Lassen Sie ihn das einfach erledigen. Er kann sich um Ihren Wagen kümmern, während wir Frauen einen verdienten Moment Pause machen.«

Ihr Lächeln war so beruhigend und einladend, dass Marie auf der Stelle spürte, wie die Anspannung, die sie seit dem Morgen begleitet hatte, nachließ. Sie sah zu Tom.

»Wär das okay?«

»Natürlich wäre es das«, antwortete Katja Branderup an Toms Stelle und sah zu ihm.

»Wer könnte eine so charmante Bitte abschlagen?«

Katja Branderup zog amüsiert eine Braue hoch und ging zu ihrem Wagen, einem schwarzen Range Rover, dessen frisch polierter Lack in der Sonne glänzte. Als Marie folgen wollte, flammte ein stechender Schmerz an ihrer linken Ferse auf. Sie zog scharf die Luft ein. Katja hatte bereits die Beifahrertür geöffnet und ging auf ihre Seite des Wagens. Marie biss die Zähne zusammen und humpelte hinterher. Sie hatte Mühe, in ihrem engen Rock den hohen Sitz zu erklimmen. Die cremefarbenen Lederpolster verströmten Neuwagen-Duft. Katja sah durchs Seitenfenster zu Tom. Sie hupte energisch. Tom schlug die Tür seines Cabrios zu und eilte über die Straße. Er nahm auf dem Rücksitz Platz. Nach einer kurzen Fahrt über die Bäderstraße erreichten sie die Tankstelle, an der Tom ausstieg. Marie gab ihm ihren Wagenschlüssel.

Katja gab Gas und bog bei der nächsten Abzweigung wieder in den Ort ein. Zum ersten Mal nahm Marie die Umgebung richtig wahr. Flache, reetgedeckte Häuser mit bunt verzierten Haustüren reihten sich entlang der Dorfstraße aneinander. Hinter frisch gestrichenen Zäunen und üppigen Hecken blühten farbenprächtige Sträucher, in den Vorgärten wetteiferten Sonnenblumen und Stockrosen darum, wer als erstes den Dachfirst erreichte.

»Das ist ja ein richtiges Bullerbü«, rief Marie entzückt.

»Es ist schon ganz nett hier. Aber auch nicht so idyllisch, wie es auf den ersten Blick aussieht.«

Katja Branderup bog in eine Einfahrt ein und brachte den Wagen zum Stehen.

»Da wären wir.«

Vor ihnen, auf einer kleinen Anhöhe und beschattet von altem Baumbestand, lag ein stattliches Landhaus. Zwischen den weißverputzen Klinkerwänden war das historische Fachwerk zu erkennen. Über das gesamte Gebäude spannte sich ein riesiges Schilfrohrdach. Die grünen Fensterläden harmonierten farblich mit der mit prächtigem Schnitzwerk verzierten Haustür, ein hohes Giebelzeichen über dem Eingang rundete den harmonischen Gesamteindruck ab.

Katja führte Marie durch die Eingangsdiele hindurch in einen Raum, dessen Wände vom Boden bis zur Decke mit alten blauweißen Fliesen gekachelt war. Zusammen mit einer antiken Eckbank, einem Gläserschrank aus derselben Epoche und einem alten knorrigen Holztisch schien das Zimmer wie aus einem anderen Jahrhundert.

»Was für ein beeindruckender Raum!«, rief Marie unwillkürlich.

Katja Branderup lächelte. Marie sah sich bewundernd um und trat näher an den Fliesenspiegel, um die einzelnen Motive auf den Kacheln genauer zu studieren. Es handelte sich durchweg um die Darstellung alter Schiffe, die sich vor allem durch die Formen ihrer kräftig vom Wind geblähten Segel unterschieden.

»Wunderschön!«

»Echte Delfter. Man erkennt sie daran, dass die Farben wärmer sind als bei heutigen Nachbildungen.«

»Hat Ihre Familie etwas mit der Seefahrt zu tun?«

Marie drehte sich interessiert zu Katja herum.

»Eher mit Handel. Mein Ururgroßvater hatte Geschäftsbeziehungen in mehrere Länder. Aber das ist lange her.«

Katja ging an Marie vorbei in den anschließenden Raum. Das Thema schien für sie beendet. Das große, lichtdurchflutete Wohnzimmer, in das sie nun traten, war elegant und modern eingerichtet. Bodentiefe Terrassentüren an der Südwestseite gaben den Blick über einen sattgrünen, kurz gehaltenen Rasen hinweg auf den Bodden frei. Von einem Privatsteg aus hatte man direkten Zugang ans Wasser. Üppig blühende Pflanzen und Sträucher, nach Wuchshöhe gestaffelt, markierten die Ränder des Grundstücks. Marie war beeindruckt.

»Ihr Haus ist wirklich etwas Besonderes.«

Katja winkte bescheiden ab. »Alter Familienbesitz. Ich habe mir nur erlaubt, etwas Moderne einziehen zu lassen. Setzen wir uns am besten nach draußen, da ist es luftiger.«

Sie öffnete die Türen zur überdachten Terrasse.

»Machen Sie es sich bequem. Ich bin gleich zurück.«

Während Katja Branderup ins Innere des Hauses verschwand, nahm Marie in den großzügigen Terrassenmöbeln Platz. Das Pochern an ihrer linken Ferse war inzwischen unerträglich geworden. Sie zog ihren Fuß zur Hälfte aus dem engen Schuh. Die Erleichterung setzte sofort ein. Marie genoss das langsame Abebben des Schmerzes und ließ ihren Blick in den Garten schweifen. Wie ruhig es hier war. Wie friedlich. Der dunkle Himmel färbte das Wasser des Boddens schiefergrau, die Oberfläche war spiegelglatt. Der Wind hatte sich vollständig gelegt. Die Natur schien für einen Moment stillzustehen. Marie schloss die Augen und genoss die Stille. Das leise Schieben der Glastüren signalisierte Katjas Rückkehr. Sie balancierte ein Tablett mit Kaffee und Gebäck in ihren Händen. Marie sprang auf, um behilflich zu sein – und knickte unmittelbar mit einem Schmer zensschrei ein. Sie konnte sich gerade noch am Tisch festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

»Um Gottes willen, was ist denn?« Katja stellte eilig das Tablett ab.

»Nichts«, wiegelte Marie ab. »Nur eine Blase gelaufen.« Sie zog ihren Fuß aus dem Pumps, in den sie unwillkürlich zurückgeschlüpft war.

»Das sieht böse aus«, sagte Katja.

Die Blase war geplatzt, die Haut hatte sich nach oben geschoben und dabei das rohe Fleisch bloßgelegt. Maries Seidenstrumpf war blutverklebt.

»Das müssen wir desinfizieren. Warten Sie, ich hole was.«

Katja verschwand ins Haus zurück. Marie sah sich kurz um, dann schob sie blitzschnell den engen Rock hoch, um die Strumpfhose auszuziehen. Als sie das verklebte Nylon von der Wunde löste, biss sie die Zähne zusammen. Was von der zerstörten Haut nicht mit dem Strumpf zusammen abgerissen war, hing in Fetzen über der nässenden Wunde, die jetzt wieder zu bluten begann. Katja kehrte mit einem Desinfektionsspray und einem Blasenpflaster zurück.

»Wieso haben Sie nicht eher was gesagt?«, fragte sie, während Marie ein zweites Mal die Zähne zusammenbiss, als sie das Antiseptikum auftrug.

»Ich dachte, es geht schon.«

»Also, die können sie jedenfalls nicht mehr anziehen«, stellte Katja mit Blick auf Maries schwarzen Lederschuh fest und verschwand ein zweites Mal.

»Ich hoffe, die passen. Sonst müssen Sie auf Hausschuhe umsteigen.« Sie reichte Marie ein Paar bequeme Turnschuhe nebst dicken Socken. Marie sah Katja dankbar an.

»Das ist wirklich so lieb. Vielen Dank!«

»Nicht dafür.« Katja winkte ab und lächelte.

»Jetzt haben wir uns den Kaffee aber verdient. Obwohl Sie entschuldigen müssen. Ich war nicht auf Besuch eingerichtet. Das ist alles, was im Haus war.«

Auf einer zweiteiligen Porzellan-Etagere türmten sich feines Gebäck und Schokoladen, daneben dampften immer noch leise zwei große Cappuccini.

»Das hab ich nicht mal im Haus, wenn ich auf Besuch eingerichtet bin.«

»Greifen Sie zu! Sie können sicher eine Erfrischung gebrauchen.«

Katja rückte die Etagere näher zu Marie. »Hatten Sie eine lange Fahrt?«

»Ich komme aus Berlin. Das ging ganz gut.«

»Aus Berlin.« Katja sah Marie nachdenklich an. Marie nahm einen Schluck von ihrem Cappuccino.

»Sie sind sehr freundlich, Frau Branderup. Vielen Dank.«

»Sagen Sie Katja zu mir.« Katja beugte sich zu Marie, als vertraue sie ihr ein Geheimnis an. »Wir sind hier oben nicht so steif, wie man denkt.«

Genau betrachtet waren Katjas Worte keine Erklärung über den Menschenschlag der Region, sondern leise Erpressung: Wer das Angebot ablehnte, machte sich zum Spielverderber. Aber Marie hatte keinen Grund, spitzfindig zu sein. Sie fühlte sich wohl in Katjas Gegenwart und streckte ihr gern die Hand entgegen. »Marie.«

»Also dann, Marie, willkommen in Darkow.«

Katja lächelte und hob ihre Kaffeetasse, als wolle sie Marie zuprosten. Sie trank aber nicht, sondern musterte Marie über den Rand hinweg.

»Ich wusste gar nicht, dass Helga Weber Verwandte hatte?«

»Oh, wir sind nicht verwandt.«

Katja sah Marie abwartend an.

»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, warum ich zur Beerdigung eingeladen wurde«, fuhr Marie fort.

Ein Klingeln an der Haustür unterbrach das Thema.

»Das wird Tom sein.«

Katja lächelte und verschwand im Haus. Marie hörte Stimmengemurmel von drinnen, es klang nach einem unangenehmen Wortwechsel, aber als Katja mit Tom an ihrer Seite zurückkehrte, wirkten beide locker und entspannt. Marie sah Tom besorgt entgegen.

»Nichts mehr zu machen, stimmt’s?«

»Nur die Zündkürzen und ein paar Kontakte. Das wird wieder. Aber nicht mehr heute.«

Maries Erleichterung bekam einen kleinen Dämpfer.

»Tja, dann werde ich mir wohl ein Zimmer suchen.«

»Kommt nicht in Frage«, widersprach Katja energisch. »Du übernachtest bei mir.«

»Das kann ich nicht annehmen.«

»Wieso nicht?«

»Ich möchte deine Großzügigkeit nicht noch mehr ausnutzen.«

»Unsinn! Außerdem wirst du nichts finden, schon gar nicht für eine Nacht. Wir haben Hochsaison.«

»Hier ist es doch nicht übel.« Tom ließ sich in einen der weich gepolsterten Gartenstühle fallen und grinste.

»Das wäre also geklärt«, stellte Katja selbstverständlich fest.

Einen Moment lang hatte Marie das Gefühl, überfahren worden zu sein, aber wollte sie wirklich Widerspruch einlegen?

»Ich komme aus dem Danke-Sagen bald nicht mehr heraus«, lächelte sie zu Katja.

Die winkte entspannt ab. »Das Haus ist groß. Ich freu mich über Gesellschaft.«

»Bleibt nur noch die Frage, was es zum Abendessen gibt: Pizza oder Räucherfisch?« Tom grinste zu Marie.

»Also, wenn ich das entscheiden darf: Räucherfisch!«

»Als wär sie eine von uns«, lächelte Tom.

Wie auf sein Wort hin fuhr ein Windstoß in die Büsche vor der Terrasse, drückte den Lavendel nieder und zerrte lautstark an der Markise unter dem Glasdach. Ein tiefes Grollen begleitete ihn. Sekunden später zuckte der erste Blitz auf und tauchte die Umgebung in grelles Licht. Ein gewaltiges Krachen folgte. Dann öffnete der Himmel seine Schleusen. Das Unwetter, das sich den ganzen Nachmittag lang angekündigt hatte, entlud sich mit Macht. Regen peitschte, Sträu cher bogen sich im Wind, selbst die Bäume neigten ihre Kronen. Das Wasser des Boddens war jetzt aufgewühlt und so schwarz wie der Himmel selbst.

Im strömenden Regen fuhr Tom Marie kurz vor Ladenschluss zum nächsten Supermarkt, wo sie noch schnell eine Zahnbürste und was sie sonst für die Nacht brauchte besorgte. Als sie zurückkehrten, hatte Katja in der Zwischenzeit ein Gästezimmer für Marie gerichtet. Es befand sich im ersten Stock, verfügte über ein eigenes Bad und war ebenso geschmackvoll eingerichtet wie der Rest des Hauses. Auf dem Bett lag ein frischer Hausanzug. Auf dem Boden davor standen unbenutzte Korksandalen. Eine Stehlampe verbreitete gemütliches Licht. Katja hatte wirklich an alles gedacht.

Marie schloss die Tür hinter sich. Zum ersten Mal seit der Beerdigung war sie allein. Erleichtert schlüpfte sie aus dem engen Kostüm, öffnete das Fenster einen Spalt und legte sich aufs Bett. Das kühle Leinen, das sie empfing, war eine Wohltat nach dem heißen, schwülen Tag. Eine leichte Brise kam durchs Fenster. Marie sah, wie der Regen sich in dicken Tropfen am Rand der Dachgaube sammelte und lauschte dem Rauschen des Wassers. Sie wünschte, diesen Moment für immer festhalten zu können. Stattdessen setzte sie sich auf, öffnete ihre Handtasche und zog den Brief hervor.

Marie Cammin, Berlin.

Nachdenklich strich sie mit dem Finger über den Schriftzug und zögerte einen letzten Moment, dann riss sie entschlossen das Kuvert auf. Ein einfaches Blatt Papier, eng beschrieben mit derselben zittrigen Handschrift, lag darin. Marie zog es heraus und las.

Liebe Marie, ich wünschte, ich hätte diesen Brief eher geschrieben. Ich habe viele Gelegenheiten in meinem Leben verpasst, zu viele. Mein Ende naht, und diese letzte will ich ergreifen. Du kennst mich nicht, ich bin deine Tante, deine Mutter war meine jüngere Schwester.

Du bist jetzt die Letzte aus unserer Familie, daher soll alles, was mir gehört, dein sein. Entscheide selbst, was du mit dem Haus machst, aber überlege gut, bevor du entscheidest. Achte auf die Zeichen, Marie. Nutze die Kraft. Und hüte dich vor der doppelten Acht! Versprich es!

Ich umarme dich von ganzem Herzen, Deine Tante Helga

Die letzten Zeilen wurden zusehends unleserlich, bis sie am Ende fast ganz ausliefen. Als hätte die Kraft Helga Weber noch beim Schreiben verlassen. Marie ließ den Brief sinken. Ihr Herzschlag verdoppelte sich. Sie hatte eine Tante? Ihre Mutter hatte eine Schwester? Wieso wusste sie das nicht? Wieso hatte ihre Mutter das nie erzählt? Sie hatte nur von ihren Eltern gesprochen, also Maries Großeltern, die im ehemaligen Ost-Berlin gelebt hatten und noch vor Maries Geburt gestorben waren. Und auch das nur selten. Ansonsten gäbe es keine Verwandten, hatte sie gesagt. Aber das stimmte offenbar nicht! Warum hatte sie gelogen? Ihre Schwester verheimlicht? Warum durfte Marie ihre Tante nicht kennenlernen?

»Marie?« Katja stand in der Tür. Marie hatte sie nicht kommen hören. Katja sah das Papier in Maries Hand.

»Helga Weber war meine Tante«, brachte Marie hervor.

»Nein!« Katja schien mindestens so überrascht wie Marie selbst. »Und das wusstest du nicht?«

»Ich hatte nicht die leiseste Ahnung.«

»Was schreibt sie denn genau? Zeig mal.« Katja streckte abrupt ihre Hand nach dem Brief aus. Marie zog ihn instinktiv zurück.

»Das war’s schon. Sonst schreibt sie nicht viel.«

Aus einem ihr selbst unerklärlichen Grund wollte Marie nicht mehr erzählen. Sie merkte selbst, dass sie etwas schroff klang und setzte nach.

»Sie war wohl schon zu schwach. Offenbar hat sie die Zeilen kurz vor ihrem Tod geschrieben.«

Katjas Blick lag immer noch fragend auf Marie. Dann lächelte sie.

»Ich glaube, auf den Schreck kannst du einen Drink vertragen.«

Marie nickte, erleichtert, dass Katja nicht verstimmt war.

»Ich mach mich nur rasch frisch.«

»Wir sind im Speisezimmer«, sagte Katja freundlich und ging.

Marie sah auf den Brief in ihren Händen. Sie faltete ihn sorgfältig und steckte ihn zurück in ihre Tasche.

Der Tisch war einfach, aber edel gedeckt. Gestärkte Servietten neben alten Porzellantellern. Marie erkannte das blauweiße Zwiebelmuster sofort. Echtes Meißner. Der lange, schmale Holztisch erinnerte an eine Refektoriums-Tafel, wie man sie in alten Klöstern fand, die Spuren der Zeit hatten sich in die Tischplatte eingegraben, ihr Holz schimmerte in einem warmen Honig-Ton. Die moderne Lampe darüber, die ein angenehm gedimmtes, auf den Tisch fokussiertes Licht verströmte, verhinderte hingegen, dass man sich aus der Zeit gefallen fühlte.

Auf einer großen silbernen Platte, appetitlich auf frischen Salatblättern arrangiert, lag herrlich duftender Räucherfisch. Daneben ein Korb mit Schwarzbrot und eine Schale frisch geriebenen Meerrettichs. Tom ließ gerade eiskaltes Störtebeker in die typisch windschiefen Gläser fließen.

»Das Einzige, was zu Räucherfisch passt. Außer Klarem natürlich«, lachte er und reichte Marie ein bernsteinfarbenes, klares Pils.

»Auf die große Neuigkeit in deinem Leben.«

Katja lächelte zu Marie und erhob ihr Glas.

»Große Neuigkeit?« Tom sah neugierig in die Runde.

»Die Verstorbene war Maries Tante.«

»Ach was?«

Tom wechselte einen Blick mit Katja. Dann starrten beide auf Marie. Marie hatte plötzlich das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen. Als hätte sie etwas verheimlicht.

»Ich bin genauso überrascht wie ihr.«